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Wo ist Michael? Gefallen in Afghanistan? Verschollen im Elbsandsteingebirge? Oder hat der junge Mann seinem alten Leben einfach Ade gesagt und verbringt die Tage abgeschieden auf Spitzbergen, wo er als Söldner böse Russen belauscht? Fenya und Joon immerhin glauben im Bilde zu sein, wenn sie sich in trauter Zwiesprache über Michaels Feldpost an das ungeklärte Schicksal ihres einzigen Kindes heranrobben - doch sind dessen Briefe auch authentisch? Erfasst vom Rausch ständiger Perspektivwechsel und verblockt mit dem Irrwitz einer wundersamen Tierfabel, fördert dieses dystopische Theater beständig bittere Wahrheiten zu Tage: Gesa hat einst abgetrieben und postuliert das Nichtmuttersein noch im Alter als feministischen Akt, Fenya hingegen erschafft sich den Sohn fortwährend als ikonische Vorspiegelung, um den Schmerz über die eigene Unfruchtbarkeit wachzuhalten. Der Zwist der Frauen und die unterschwellig dampfende Potenz der Ehemänner entwickeln am paradiesischen Alterswohnsitz von Tuvanaro ein viriles Eigenleben, das zwischen bleierner Lethargie und ausschweifendem Libertinismus mäandert. Glasiert wird das disruptive Setting von der neobarocken Dekadenz eines selbsternannten Tsunamigottes, der als autokratisch-verpeilter Alt-Hippie über eine von Idioten und Umweltfrevlern bevölkerte Insel wacht, die ihren elysischen Garten Eden zum toxischen Ort pimpen: Je weiter die Menschen sich dort von ihren Ängsten entfernen, umso drastischer treten Tod und Vergänglichkeit an sie heran. Der verstörend-mitleidlose Sprachduktus dekodiert das Drama insbesondere in seiner lakonischen Überhöhung als hochtourigen Zeitkommentar, als düstere Vorstudie zur zechenden, spätkapitalistischen Selbstdressur, die den Nahkampf aus monströser Vergangenheits- und aktueller Krisenbewältigung gegen sich selbst und aus sich selbst heraus führt. Hier folgen beiläufige Beschreibungen extremer Brutalität und Gewalt der Definition freudscher Triebabfuhr, wonach gelacht werden darf, wenn das Blut fließt. Herget hat seine episodisch gewirkte Groteske als Feldversuch angelegt, der die alles entscheidende Frage aufwirft, ob vollkommene Gefühllosigkeit in der Denkweise eines Anders Breivik möglicherweise doch reproduzierbar sei, wenn schon nicht real, dann bei der Inszenierung verworrener Grausamkeiten.
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Seitenzahl: 121
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Tsunamigott, address unknown. Erfasst vom Rausch ständiger Perspektivwechsel und verblockt mit dem Irrwitz einer wundersamen Tierfabel, fördert dieses Theater-im-Theater beständig bittere Wahrheiten zu Tage: Gesa hat einst abgetrieben und postuliert das Nichtmuttersein noch im Alter als feministischen Akt, Fenya hingegen erschafft sich ihren Sohn fortwährend als ikonische Vorspiegelung, um den Schmerz über die eigene Unfruchtbarkeit wachzuhalten. Der Zwist der Frauen und die unterschwellig dampfende Potenz der Ehemänner entwickeln am paradiesischen Alterswohnsitz von Tuvanaro ein viriles Eigenleben, das zwischen bleierner Lethargie und ausschweifendem Libertinismus mäandert. Glasiert wird das disruptive Setting von der neobarocken Dekadenz eines selbsternannten Tsunamigottes, der als autokratisch-verpeilter Alt-Hippie über eine von Idioten und Umweltfrevlern bevölkerte Insel wacht - ein elysischer Garten Eden und toxischer Ort zugleich: Je weiter die Menschen sich dort von ihren Ängsten entfernen, umso drastischer treten Tod und Vergänglichkeit an sie heran.
Der verstörend-mitleidlose Sprachduktus dekodiert das Drama insbesondere in der lakonischen Überhöhung als hochtourigen Zeitkommentar, als düstere Vorstudie zur zechenden, spätka-pitalistischen Selbstdressur, die den Nahkampf aus monströser Vergangenheits- und aktueller Krisenbewältigung gegen sich selbst und aus sich selbst heraus führt. Hier folgen beiläufige Beschreibungen extremer Brutalität und Gewalt der Definition freudscher Triebabfuhr, wonach gelacht werden darf, wenn das Blut fließt. Herget hat seine episodisch gewirkte Groteske als Feldversuch angelegt, der die alles entscheidende Frage aufwirft, ob vollkommene Gefühllosigkeit in der Denkweise eines Anders Breivik möglicherweise doch reproduzierbar sei, wenn schon nicht real, dann bei der Inszenierung verworrener Grausamkeiten.
Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Neben seinem naturwissenschaftlichen Studium in Darmstadt publizierte er für Zeitungen im deutschsprachigen Raum. Es folgten literarische Förderpreise und Stipendien. Journalistische Tätigkeiten unter anderem für taz, Frankfurter Rundschau und Passauer Neue Presse. Über Jahrzehnte zeichnete Herget als Kulturredakteur bei einem Stadtmagazin verantwortlich, heute schreibt er für und über das Theater und den Hörfunk. Bekanntheit erlangten seine Dramen und Hörstücke, in denen er als weltweit erster Autor die Coronapandemie thematisierte. Er lebt in der Nähe von Kiel.
Tsunamigott, address unknown
Über das Stück
für den Mann mit den Ein-Euro-Büchern und den Zähnen von Günter Willumeit
Personen und Getier
FRAU FENYA
HERR JOON
FRAU GESA
HERR VITUS
DER ERZÄHLER
DIE ÄRZTIN
MICHAEL
TAXIFAHRER
TSUNAMIGOTT
LANDWIRT
SKORPION
PARADIESVOGEL
SCHILDKRÖTE
sowie dreiundzwanzig weitere sprechende Objekte,
Körperzellen und Knallchargen
Anmerkungen
Einlass zu diesem Theater wird ausschließlich Personen gewährt, die sich unmissverständlich von Putin und dessen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine distanzieren. Zu diesem Zweck liegen für Besuchende am Eingang und im Foyer Unterschriftenlisten aus. Ergänzend sind auch Distanzierungen gegenüber Dieter Nuhr, Lars Eidinger oder Juli Zeh möglich, die vom Theaterpersonal mit einem wohlwollenden Lächeln quittiert werden und optional eine zwanzigprozentige Ticket-Rabattierung für die nächsthöhere Preisgruppe beinhalten. Bei einer glaubhaften wie schriftlich niedergelegten Abkehr von prominenten Impfgegnern wie Daniela Katzenberger und Lisa Fitz oder russlandfreundlichen Coronaleugnern wie Michael Wendler haben Zuschauer zudem das Anrecht auf ein Gratis-Programmheft und die kostenfreie Garderobenbenutzung. Außer bei den Frauen Fenya und Gesa sowie den Herren Joon und Vitus dürfen sämtliche Rollen im Stück mehrfach, veränderlich und genderfluid besetzt werden. Wo immer es sich dramaturgisch anbietet, sollten sich die Darstellenden tunlichst häufig und im fliegenden Wechsel auf offener Bühne verkleiden, um dem Theater-im-Theater-Affen Zucker zu geben. Der improvisationswütige Autor möchte dies keinesfalls als bedeutungsschwangere Reminiszenz an Crossdressing, Hosenrollen oder das Travestie-Theater missverstanden wissen, er glaubt vielmehr an die Schönheit des Stegreifs bei situativen Theaterproben sowie an die Notwendigkeit enger geschnallter Gürtel inner- und außerhalb des Bühnenbetriebs. Mit verschlanktem Ensemble, in kargster Ausstattung und bei deutlich gedimmter Raumtemperatur trüge die Aufführung sämtlichen Einsparmaßnahmen der Berliner Ampel-Regierung vollumfänglich Rechnung und hinterließe beim Publikum gleichnishaft ein Gefühl schicksalsgemeinschaftlicher Solidarität, welche beizeiten monetär auf die Konten der Ukrainehilfe umzuleiten ist. Auf der Bühne ist das Diktat des Rotstifts in eine Erotik der Askese und des Verzichts zu transformieren. Reue, Einkehr und Selbsterkenntnis sollten wiederrum aus performativen Rollenstudien erwachsen. Hierbei könnte die Figur des Erzählers exemplarisch ein Textbuch mit sich herumtragen, das sie zweifelsfrei als „lernendes“, also entwicklungsfähiges Individuum ausweist, das sich unter der gegenseitigen Beeinflussung von Darstellenden und Zuschauenden achtbar bemüht, toxischer Männlichkeit zu entsagen und tradierte Denk- und Verhaltensweisen über Bord zu werfen. Neben der im Stück aufgegriffenen Musik dürfen gerne weitere Kompositionen verwendet werden. Ligeti, PJ Harvey, John Zorn und der späte Scott Walker gehen natürlich immer, schwarzhumorige Arrangements von Voodoo Jürgens wären eine Überlegung wert, würden jedoch einige der zuvor beschriebenen Forderungen und Maßnahmen, die das ideologische Rückgrat der Inszenierung bilden, konterkarieren.
ÄRZTIN Werde ich noch gebraucht?
ERZÄHLER Für die Rolle, meinen Sie?
ÄRZTIN Für später. Als Ärztin gewissermaßen.
ERZÄHLER Kommt drauf an, wo es einen hinzieht am Abend. Das Publikum.
ÄRZTIN Also, ich geh dann mal, Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Aber dass er tot ist, haben Sie mitbekommen?
ERZÄHLER Michael? Traurige Geschichte. Wir reden später drüber, solche Schicksale bleiben gemeinhin auf der Strecke, wenn es am Vorabend nicht gezogen hat.
ÄRZTIN Wo spielen wir morgen?
ERZÄHLER Auf dem Land. An der Grenze zu Polen. In einer Scheune.
ÄRZTIN Vielleicht lässt sich dem Tod dort ein Schnippchen schlagen.
ERZÄHLER Jeder Heuboden ist willkommen. Besser als Stadttheater. Grässlicher Brutalismus. Lässt sich nicht mehr beheizen.
ÄRZTIN Mir ist kalt.
ERZÄHLER Scheiß Siebziger. Aber die Bürgermeister sind zu feige, ihre scheußlichen Mehrzweckhallen in die Luft zu jagen. Ständig stehen ihnen Erben von irgendwelchen dänischen Stararchitekten auf den Füßen. Hinterher explodiert nur der Gaspreis, wenn alles unter Denkmalschutz gestellt wird.
ÄRZTIN Ich glaub, ich brüte eine Scheiß-Siebzigerjahre-Kälte-Phobie aus.
ERZÄHLER Sogar die Klimakleber drücken sich vor dem Beton.
ÄRZTIN Spielen die denn Theater?
ERZÄHLER Nö. Die meinen es ernst.
ÄRZTIN Ist der Witz in Tüten!
ERZÄHLER besorgt Sie frieren doch nicht wirklich?
ÄRZTIN alarmiert Hier! Schon stellen sich erste Härchen! Sie präsentiert sie dem Erzähler, der ihren nackten Unterarm begutachtet, woraufhin der Ärztin aus dem Publikum heraus eine Pferdedecke angereicht wird, die sie sich dankbar über die Schulter wirft.
ERZÄHLER Wir müssen sparen. Eisern. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken.
ÄRZTIN Wie könnt ich’s negieren, wenn noch beim Schlussapplaus die Zähne klappern!
ERZÄHLER Bleiben Sie meinetwegen bei der Kunst, aber machen Sie sich keine Illusionen. Sie werden künftig einem missmutigen Sparbrötchen die Stirn bieten müssen. Ich will ja nicht rumkritteln, aber mein Nuscheln wird immer schlimmer. Ich meine, ich habe kein Wort verstanden von dem, was ich eben gesagt habe, bei jeder skandalträchtigen Neuerung verschlägt’s einem die lallende Sprache. Hinter jedem Dichter steht eine mächtige Muse. Nicht, dass ich nichts zu sagen hätte, aber jede ästhetische Reduktion hinterlässt eine schwere Zunge und verletzte Eitelkeiten. Sagen Sie frei raus, was aus mir geworden ist!
ÄRZTIN Ein Finanzbuchhalter, gefangen im Körper eines Narren. Wenn ich sie wäre, würde ich an dieser schlaffen Oberlippe arbeiten.
ERZÄHLER Sie wissen, ich schätze konstruktive Kritik. Selbst, wenn alle Züge abgefahren sind.
ÄRZTIN Ach, was soll’s. Sie haben eben keine Antenne für die postmoderne Leere und ihr gebrochenes Bewusstsein.
ERZÄHLER Zu lang.
ÄRZTIN Sie sind tatsächlich infiziert, innerhalb der Grenzen des guten Geschmacks.
ERZÄHLER Muss gekürzt werden. Kürzer, kürzer, kürzer!
ÄRZTIN Mistkerl! Nehmen Sie’s nicht persönlich.
ERZÄHLER Mistkerle fliegen ebenfalls raus.
ÄRZTIN An diesem Mistkerl habe ich das ganze Wochenende über bis morgens um fünf gearbeitet.
ERZÄHLER Der Mistkerl eben war der beste Kackstiefel, von dem ich je gehört habe. Bei Gott! Stärkt das ihr angeknackstes Ego?
ÄRZTIN Geht das nicht zu weit?
ERZÄHLER Was würden Sie tun, um sich aus der Schlinge eines postmodernen Traumas zu befreien?
ÄRZTIN Klassische Anspielungen.
ERZÄHLER Zweideutigkeiten?
ÄRZTIN Dialektische Sprünge.
ERZÄHLER Wie die frühe Virginia Woolf?
ÄRZTIN Der späte Ionesco.
ERZÄHLER Der mittlere Sartre, okay?
ÄRZTIN Gut möglich, dass ich den Mistkerl ins Zentrum eines abendfüllenden Bilderrätsels stelle. Der erste Akt würde - nichts wird gesagt. Der zweite könnte - nichts wird gesagt und der letzte leuchtet einfach die Unendlichkeit des Raums aus.
ERZÄHLER Zwischen Orient und Okzident?
ÄRZTIN Zwischen uns.
ERZÄHLER Gestrichen!
ÄRZTIN Keine Ergüsse zu nachtschlafender Zeit, soll mir recht sein. Aber merken Sie sich eines: Talent lässt sich nicht unterdrücken!
ERZÄHLER Ich mache in den hellen Momenten meiner erbarmungswürdigen Existenz den Eindruck eines altruistischen Märchenonkels auf Sie? Wenn man romantisch veranlagt ist, sind letzte Eindrücke oft trügerisch.
ÄRZTIN Uh-huh, ich krieg garantiert keine Gänsehaut. Bilden Sie sich nichts drauf ein, nur weil ich am ganzen Körper schlottere.
ERZÄHLER erwägend Denken Sie wirklich, wir könnten sterbetechnisch einen Neustart wagen? Jetzt, wo Michael gegangen ist und alle Welt nach gemütvollen Proletarier-Komödien lechzt?
ÄRZTIN Ich habe große Lust, Leben zu schenken. Deswegen hat man doch Medizin studiert. Ich ertrage es nicht, Leute krepieren zu sehen, vor, auf und neben der Bühne. Wer hat uns eigentlich gebucht?
ERZÄHLER blättert in einer Kladde. Ein Paradiesvogel, so steht’s geschrieben.
ÄRZTIN Sie schenken den Unterlagen Glauben? Gut. Tiere gehen immer.
ERZÄHLER Seine Kumpel bereiten mir Kopfzerbrechen. Abstoßende Kreaturen mit toten Augen, Stacheln und gepanzertem Chitin. Je weniger Zaster die armen Teufel haben, desto ekelhaftere Fantasien entwickeln sie.
ÄRZTIN Können Sie sich noch an die Lotto-Tippgemeinschaft erinnern? Heiliger Bimbam, den Mob hatten wir erst im Frühjahr.
ERZÄHLER Sind die im Anschluss nicht rüber in den Polacken-Puff?
ÄRZTIN Alter Schwede, die haben’s vielleicht krachen lassen. Bis über die Oder hat man die Einschläge gehört.
ERZÄHLER Wir können uns die Auftraggeber nicht aussuchen, wir sind bankrott. Sackpleite. Ich werde dem Techniker kündigen müssen, dem Fahrer fürs Bühnenbild ebenfalls. Allen, die nicht an der Rampe stehen. Morgen. Nächste Woche. Ach, ich weiß nicht. Sie haben im Sprinter sicher Platz für die Kulissen?
ÄRZTIN Im Doppelbett?
ERZÄHLER Sie schlafen in einem Doppelbett?
ÄRZTIN Ist mir als Luxus geblieben. Was ist, soll ich mich entschuldigen? Sie wollen mir doch nicht den Duke unterjubeln? Nee, oder?
ERZÄHLER Den kriegt der Tierschutz. Harte Entscheidung, trotz zweifelhafter Papiere. Mir bricht’s das Herz, keine Frage, aber die Töle entwickelt einen derart gesunden Appetit auf Biofleisch, dass einem schwindelig wird.
ÄRZTIN Vielleicht findet sich ein Plätzchen an meinen Füßen.
ERZÄHLER Haben Sie ihn neulich nicht gefüttert? Dass er um Dosenware einen Bogen macht, müsste Ihnen doch aufgefallen sein?
ÄRZTIN Mit freilaufenden Angus-Rindern und Geflügel aus Gruppenhaltung locke ich den Duke an jeden Napf der Welt.
ERZÄHLER Der Bursche frisst uns langsam die Haare vom Kopf.
ÄRZTIN Es sind nicht mehr viele von uns übrig.
ERZÄHLER Pelé ist tot.
ÄRZTIN Wusste nicht, dass er krank war.
ERZÄHLER Der Tod ist ein Massaker. Beckenbauer ist auch schon in Ungnade gefallen.
ÄRZTIN Heutzutage sterben Leute, die früher nicht gestorben sind.
ERZÄHLER Einige Überlebende fühlen sich schuldig, weil sie überlebt haben. Er greift sich an die Seite. Mir ist komisch.
ÄRZTIN Ich versteh Sie kaum, wenn Sie nuscheln. Hatten Sie nen Schlaganfall? Strecken Sie die Zange raus. Erzähler tut es. Ziemlich kurz. Immerhin ist sie nicht gespalten. Er zieht die Zunge zurück.
ERZÄHLER Schon beim Aufwachen war dieser Schwindel. Vor Sonnenaufgang fiel der Buchfink tot vom Ast. Als ich aus dem Fenster sah, parkte die Müllabfuhr in zweiter Reihe vor dem Haus gegenüber. Ehemalige Fußballer hatten sich als Totengräber verkleidet, sie trugen Pelé auf einer Bahre nach draußen und kickten ihm zu Ehren auf dem Fahrweg. Während sie sich in einen blinden Rausch spielten, verspeiste der Duke den toten Pelé und streifte sich dessen Trikot mit der Nummer zehn über. Inzwischen hatten sich die Müllmänner die Straße hinaufgearbeitet. Unter den Protesten der Spieler fingen sie das in den brasilianischen Nationalfarben gewandete Tier ein und warfen es in den Häcksler.
ÄRZTIN Sie haben sich einen Virus eingefangen. Neben der Kürzeritis.
ERZÄHLER Ich möchte auf See bestattet werden, versprechen Sie’s mir?
ÄRZTIN Wenn wir ihn nicht relaunchen, brauchen wir den Paradiesvögeln unseren Michael gar nicht erst unter die Nase zu reiben. Weder tot noch lebendig.
ERZÄHLER erleichtert Wir sollten ihn beerdigen - der Meinung sind Sie also auch?
ÄRZTIN Aus der Inszenierung nehmen? Als bewährten Sidekick? Wir wollten das Drama ursprünglich nach ihm benennen, erinnern Sie sich?
ERZÄHLER Himmel, wie naiv wir nur waren. Fast wie Kinder. Dumm wie Bohnenstroh. Haben Sie in letzter Zeit in den Spiegel geschaut? Sie sehen fürchterlich aus. Mit der Inflation ist das gesamte Ensemble vergreist. Über Nacht, so scheint‘s. Fühlen Sie sich nicht manchmal wie ein Gespenst?
ÄRZTIN Der Micha ist der Teil von mir, der nicht sterben darf.
ERZÄHLER Schmarren, Sie haben doch gehört, wie neulich einige im Rang Roland Kaiser skandiert haben. Okay, sollen sie doch, der Kaiser ist ja Sozi! Aber bei DJ Robin und Schürze bin ich raus, von jetzt auf gleich, ich kann doch auf Sie zählen?
ÄRZTIN Holla, die Waldfee! Hat da ein Rest von Grandezza in der Krämerseele des Pfennigfuchsers überlebt?
ERZÄHLER Ischgl und der Bierkönig sind rote Linien.
ÄRZTIN Wie Oder und Neiße?
ERZÄHLER Vergessen Sie Definitionen! Und Grenzen! Der Wind hat sich gedreht. Gegen uns. Alles fließt, nichts bleibt.
ÄRZTIN Alles über siebzig Minuten muss man erklären, vierteilen wie im Fernsehen, es ist eine Tragödie! Ich fühl mich wie die Cutterin von „Lola rennt“, immer schnell, schnell! Meine Gebärmutter sackt ab, rauscht ungebremst durch den Beckenboden. Altes Frauenleiden, haben Sie eine Vorstellung von Hitzewallungen?
ERZÄHLER Ich radiere mich als Erzähler aus dem Stück, wenn’s die Leute ins Tingeltangel zieht, großes Indianer-Ehrenwort! Orte, an denen man der Ironie den Riegel vorschiebt und der dumme August das Zepter schwingt, gehören großräumig umfahren. Unwahrscheinlich, dass diese Hanswurste im Parkett je etwas von Ironie verstehen werden, doch was unternehmen wir, wenn Jan und Jedermann plötzlich bizarre Allergien gegenüber verflochtenen Erzählformen entwickeln? Abwägend Müssen wir kürzen.
ÄRZTIN Der Mensch findet Halt in der Zerstreuung, die Kunst aber wirft ihn tausendfach auf seine Bedeutungslosigkeit zurück.
ERZÄHLER Wie lange waren wir weg?
ÄRZTIN Neun Monate.
ERZÄHLER Wir könnten Schwangerschaften als schöpferische Time-outs camouflieren.
ÄRZTIN Mutterschutz? Holen Sie mal Luft.
ERZÄHLER Unbezahlt natürlich. Damit kommen wir über den Winter.
ÄRZTIN Mistkerl!
ERZÄHLER Ich sollte Sie als Trostpflaster besetzen. Trotz ungezügelter Gebärmutter. Idealerweise in einer Doppelrolle als griechische Nymphe und Mutter Teresa. Irritiert Was ist, haben Sie ein Haar im Mund?
ÄRZTIN Entschuldigung, mir liegt gerade ein Geschmack von Pflaumen in Salbei auf der Zunge. Die Mangold-Törtchen in der Rotunde während der Pause. Die Lachsforellen-Klopse mit Kapernschmand. Die alten Zeiten. Manchmal schmecke ich Premierenfeiern noch nach Jahrzehnten aus meinen Erinnerungen heraus.
ERZÄHLER Gestern ist mir tatsächlich der Geruch von Ziegenkäse mit Wasabinüssen in die Nase gestiegen, nachdem ich die Ravioli-Dose auf den Campingkocher gestellt und die Abfalleimer am Badesee nach Pfandflaschen abgesucht hatte.
ÄRZTIN Warum spielen wir nicht mehr für die Hautevolee? Schaut die jetzt Netflix? Solche Serien, in denen es nie hell wird?