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Muslimische Friedensrichter tragen keine Robe und haben keine juristische Ausbildung. Und doch sind sie Schlüsselfiguren einer islamischen Paralleljustiz, die das deutsche Rechtssystem zunehmend aushebelt. Gemeinsam mit deutschen Strafverteidigern setzen sie durch, dass Messerstecher, Betrüger und Mörder straflos bleiben. Polizei und Gerichte schauen den Machenschaften ohnmächtig zu. Joachim Wagner beschreibt spektakuläre Fälle und enthüllt, wie unsere Justiz vor einer fremden Rechtskultur kapituliert. Friedensrichter klingt nach einem ehrbaren Beruf. Doch unbemerkt von der Öffentlichkeit und sogar der Justiz hat sich in muslimisch geprägten Einwanderervierteln eine islamische Paralleljustiz etabliert. In den Verhandlungen zwischen den Täter- und Opferfamilien geht es oft alles andere als friedlich zu: Um Schulden einzutreiben oder die Gegenseite einzuschüchtern wird erpresst, geprügelt und geschossen und selbst mit Mord gedroht. Sind sich Täter und Opfer einig, wird die Strafjustiz massiv behindert. Richter erleben regelmäßig, dass sich Opfer und Zeugen schlagartig an nichts mehr erinnern, frühere Aussagen bagatellisieren oder Aussagen vor Gericht verweigern. Dadurch wird das Strafmonopol des deutschen Rechtsstaates systematisch unterlaufen. Joachim Wagner hat intensiv recherchiert. Er hat Strafakten analysiert und ausführlich Kriminalbeamte, Staatsanwälte, Richter, Strafverteidiger, Streitschlichter und Islamwissenschaftler interviewt. Sein Buch ist auch ein Justizkrimi, der in eine verborgene Welt führt: Es schildert die rätselhaften Rituale von Familien- und Stammesfehden und die Machtkämpfe von kriminellen arabischen und türkischen Clans.
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Joachim Wagner
Richter ohne Gesetz
ISLAMISCHE PARALLELJUSTIZ GEFÄHRDET UNSEREN RECHTSSTAAT
Econ
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Redaktionsschluss: 5. Juli 2011
Econ ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-8437-0151-8
© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011© Joachim Wagner, 2011Alle Rechte vorbehaltenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Inhalt
Einleitung
Das islamische Strafrecht und die Tradition der Schlichtung
Stiftet Frieden zwischen euren Brüdern
Blutgeld statt Blutrache
Eigene Gesetze: Schlichtung, Wiedergutmachung, Selbstjustiz
Handlanger der Bosse
Schmerz als Wahrheitsdroge
Hohe Provisionen
Schuldverlagerung: Der jüngste Sohn übernimmt die Verantwortung
Selbstjustiz
Revierkämpfe
Haftbefehle
Schattengerichtsbarkeit
Imame im Zwielicht
Streitschlichtung in der Moschee
»Die Schläge kommen aus dem Paradies«
Islamische Dachverbände und Vereine
Abwiegeln und Totschweigen
Die Mission der Familien-Union
Paralleljustiz – eine Folge fehlgeschlagener Integration
Religion vor Rechtsstaat
Religion, Integration und Gewalt
Das Geburtsregister des Urdorfes
Generationskonflikt und Gangsta-Rap
»Die Familie steht über dem Gesetz«
Hohe Kriminalitätsraten in der Parallelgesellschaft
Der Krieg der Clans
Politisch gewollt: Kriminalstatistik ohne Migrationshintergrund
Der Riesenstammbaum
Reichtum ohne Ausbildung und akademische Grade
Angsträume
Porträts von Friedensrichtern und Streitschlichtern
Der »arabische Friedensrichter« von Berlin
Der »Kofi Annan« von Bremen
Der Imam von Essen
Die Folgen der Schlichtung für die Strafjustiz
Folter im Keller
Rache auf der Hochzeit
Die Dame des Herzens
Verhängnisvolle SMS
Gescheiterte Schlichtungen
Erfolgloses Feilschen um Schmerzensgeld
Arabische Trauermusik nach Blutrache
Der Missbrauch der Strafjustiz durch die Opfer
Aussagewechsel für höhere Wiedergutmachungen
Das Strafverfahren als Geldquelle
Polizei und Streitschlichter
Der Berliner Schlingerkurs
Das Essener Modell: Kooperation statt Konfrontation
Anwälte an der Grenze zur Strafvereitelung
Besser nichts wissen
Geld sammeln für das Opfer
Die Kapitulation der Strafjustiz
Polizei: Im Beweisdickicht
Staatsanwaltschaft: Ratloses Klagen
Richter: Träge Routine
Der wehrhafte Rechtsstaat
Schlichterteam als Feuerwehr
Kampf ums Recht
Gegen Friedensrichter ermitteln
Wahrheitsfindung – eine von Anwälten missachtete Pflicht
Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Daran kann sich Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky noch genau erinnern: Dass er »ausgelacht und durch den Kakao gezogen wurde«,1 als er vor fünf Jahren zum ersten Mal öffentlich den Begriff Friedensrichter erwähnte und über eine islamische Gerichtsbarkeit in seinem Berliner Stadtteil berichtete. Keiner wollte ihm glauben, dass in Strafverfahren mit muslimischen Verdächtigen Streitschlichter oder sogenannte Friedensrichter zwischen Täter und Opfer und deren Familien vermitteln. Ihre Ziele: Sie wollen Konflikte zwischen den beteiligten Familien entschärfen und privat regeln. Die Geschäftsgrundlage bei den meisten Verständigungen: die Beweislagen zugunsten mutmaßlicher Messerstecher, Entführer oder Erpresser verfälschen, um mildere Strafen oder sogar Straffreiheit für die Täter zu erwirken. Das geschieht in erster Linie dadurch, dass Täter, Opfer und andere Zeugen vor der Polizei oder bei Gericht Aussagen verweigern, bagatellisieren oder sich nicht mehr erinnern können. »Es ist gang und gäbe«, weiß der Neuköllner Lehrer und Psychologe Kazim Erdogan, »dass man Verfahren beeinflussen möchte. Die Aussagen der Zeugen ändern sich von der Polizei bis zur Hauptverhandlung.«
Was Bürgermeister Buschkowsky erst vor wenigen Jahren entdeckte, ist einigen Berliner Strafverteidigern seit Jahrzehnten bekannt. Rechtsanwalt Nicolas Becker entsinnt sich, 1975, gleich zu Beginn seiner Karriere, einem türkischen Friedensrichter begegnet zu sein: »studiert, elegant gekleidet, mit guten Beziehungen zu Polizei und Justiz«. Dieser Friedensrichter beschränkte sich damals auf die Vermittlung bei Straftaten wie Betrug oder Körperverletzung. Mit Tötungen wollte er nichts zu tun haben. Auch sein Anwaltskollege Detlef Kolloge ist schon in den neunziger Jahren auf einen Streitschlichter gestoßen, einen Palästinenser, der vorgab, eine wichtige Rolle in der europäischen PLO zu spielen. Der Mittler wollte wissen, ob es sich positiv auf den Prozessverlauf auswirken würde, wenn sich die Familien einigten. Es ging um eine hohe Schlichtungssumme. Kolloge winkte ab. Eine Verständigung könne nach seinem Selbstverständnis als Verteidiger das Verfahren nicht beeinflussen. Und im Übrigen gedenke er nach den Regeln der deutschen Strafprozessordnung zu verteidigen.
Friedens- und Schlichtungsgespräche sind aus der organisierten Kriminalität bekannt, bei der italienischen und bei der russischen Mafia, bei Vietnamesen oder Rockerbanden. Im Sommer 2010 wurde zum Beispiel nach heftigen Kämpfen in Hannover ein Rockerfrieden zwischen den Hells Angels und den Bandidos geschlossen. Macht- oder Revierkämpfe und Blutrache können ohne Friedensgespräche zu einer unendlichen Kette von Gewalttaten oder jahrelangen Blutfehden führen, an denen letztlich keine der Parteien ein Interesse hat.
Die Schlichtung im muslimischen Kulturkreis hingegen hat ihre Wurzeln in einer jahrtausendealten Tradition und besitzt deshalb eine gesellschaftliche Bedeutung. In archaischen Zeiten gehörte sie zum Brauchtum arabischer Stämme und ist später vom islamischen Recht aufgenommen werden. Die Schlichtung kommt deshalb auch in der gesamten Bandbreite der Kriminalität zum Einsatz, bei schweren Verbrechen wie Mord und Totschlag, bei Alltagskriminalität wie Betrug, häuslicher Gewalt und Schlägereien und selbst bei Ehrverletzungen wie Beleidigung oder Verleumdung.
Die Mehrzahl aller deutschen Richter, Staatsanwälte, Kriminalbeamten und Strafverteidiger hat vermutlich noch nie von einem Friedensrichter oder Streitschlichter gehört und ist ihm erst recht nicht in der Praxis begegnet. Das ist kein Wunder. Die Streitschlichtung zwischen Opfer und Täter nach Straftaten wird in Deutschland nur in Regionen mit einem großen muslimischen Bevölkerungsanteil praktiziert – und in der Regel im Verborgenen. Es ist eine Art Schattenjustiz, die ihre Wirkung am besten ohne Wissen der Strafverfolgungsorgane entfaltet.
In muslimisch geprägten Städten und Regionen haben Kriminalisten und Robenträger mittlerweile gemerkt, dass eine Paralleljustiz gegen sie arbeitet, die sie freilich nur selten dingfest machen können. Sie ärgern sich im Stillen – allenfalls noch in der Kantine –, wenn sorgfältig geknüpfte Beweisketten plötzlich reißen oder wenn Angeklagte den Gerichtssaal überraschend mit einem Freispruch statt mit einer Gefängnisstrafe verlassen.
Nur wenige haben den gefährlichen Einfluss von Absprachen zwischen Tätern und Opfern im muslimischen Kulturkreis auf die deutsche Strafjustiz bislang öffentlich angeprangert. Am deutlichsten hat das die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgesprochen: »Mich beschleicht … ein ungutes Gefühl, denn das Recht wird aus der Hand gegeben und auf die Straße verlagert oder in ein paralleles System verschoben, in dem dann ein Imam oder andere Vertreter des Korans entscheiden, was zu geschehen hat.«2 Ebenso prononciert ist die Kritik des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer: »Ich habe zahlreiche Hinweise, dass es vor allem in Städten eine Kultur der Schlichtung gibt, die nach den Grundsätzen der Scharia abläuft. Makler mit hohem Ansehen fällen nach Anhörung beider Seiten eine Art Richterspruch gegen Geld. Es ist typisch für eine Parallelgesellschaft, dass sie auch eine eigene Justiz aufbaut.«
Ein exemplarischer Fall:3 Sie war noch Richterin auf Probe im Kriminalgericht Berlin-Moabit, im zweiten Dienstjahr ohne viel Erfahrung. Die Anklage, die sie im Juli 2009 zu verhandeln hatte, schien mit einer Reihe aussagebereiter Zeugen gut unterfüttert. Der Tatort im Juni 2008: der Wohnwagen eines libanesischen Gebrauchtwagenhändlers in Berlin-Kreuzberg. Melih M.4 wollte von einem Landsmann 17000 Euro zurückhaben, die er ihm für den Kauf von Autos in Italien geliehen hatte. Hamit S. jedoch konnte oder wollte seine Schulden nicht bezahlen. Auf Vorschlag des Friedensrichters Hassan Allouche trafen sich die beiden Streithähne zu einem Gütetermin. Der verlief indes nicht gütlich. Der zahlungsunwillige Schuldner erhielt unversehens einen Messerstich und erlitt eine einen Zentimeter tiefe Fleischwunde. Voller Wut stellte er bei einer Polizeistreife, die sich zufällig in der Nähe aufhielt, eine Strafanzeige gegen Melih M. Daraufhin wollte auch der Geldverleiher eine Strafanzeige wegen Betruges gegen den säumigen Zahler stellen. Davon hielten ihn aber, wie es in einem späteren Schriftsatz seines Anwaltes hieß, »ältere arabische Mitbürger« ab, um »dortigen Sitten und Riten entsprechend, das Problem intern zu lösen«.
Das versuchte der angezeigte mutmaßliche Messerstecher auch. Melih M. bot seinem Opfer Geld an, wenn er die Strafanzeige zurücknähme. Als dieser sich bockig zeigte, soll Melih M. den harten Weg eingeschlagen haben: Er soll seinem Schuldner mit dem Tod gedroht und angedeutet haben, dass man auch seine Tochter entführen könne. Parallel ließ Melih M. seinen Anwalt vortragen, dass sich der Vorfall ganz anders abgespielt habe: Nicht er, sondern das Opfer habe ihn mit dem Messer angegriffen. Er habe sich nur verteidigt und dabei müsse es zu dem Unfall mit dem Messer gekommen sein.
Zwei Monate später hisste der säumige Schuldner die weiße Fahne. Sein Anwalt teilte der Polizei mit, dass sein Mandant sich mit dem angezeigten Melih M. »geeinigt« habe und sie »die Sache beenden« würden. Hamit S. verzichte »auf seine Rechte, nimmt die Anzeige zurück und bittet, das Verfahren einzustellen«. Im islamischen Recht kann eine Strafanzeige zurückgenommen werden, nicht aber im deutschen Strafrecht, wenn es – wie hier – um eine gefährliche Körperverletzung geht. Also mahlten die Mühlen der deutschen Justiz weiter.
In der Hauptverhandlung verweigerten die Zeugen entweder die Aussage, relativierten sie (die Stichwunde war plötzlich nur ein »Kratzer«), oder sie hatten nichts gesehen. Besonders unverschämt fand die Richterin den Auftritt des Friedensrichters Hassan Allouche als Zeuge. Der erklärte der Jungrichterin nämlich großspurig, dass eigentlich er als Friedensrichter für den Fall »zuständig« sei: »Ich soll alle Probleme in der arabischen Gemeinde schlichten, alle Nationalitäten kommen jetzt zu mir aus der gesamten Bundesrepublik«, notiert das Gerichtsprotokoll den Beginn seiner Aussage. Allouche berichtete über seine Vermittlungsversuche im Wohnwagen, aber nichts über seine Rolle als Streitschlichter nach dem Messerstich. Die Ehefrau des Opfers schilderte anschließend vage den Hintergrund des merkwürdigen Prozessgeschehens: Man wolle sich vertragen. »Die Sache wurde vergessen. Mein Mann will keinen Streit.« Es ist typisch, dass solche Verständigungen, und erst recht ihre Einzelheiten, für Staatsanwälte und Richter im Dunkeln bleiben.
Die Richterin fühlte sich überfordert. Sie hakte nicht konsequent nach, worauf man sich geeinigt hätte, und fragte sich, was wohl ältere Kollegen an ihrer Stelle getan hätten: »Ich war völlig machtlos und alle guckten nur auf den Friedensrichter.« Sie stellte das Verfahren wegen geringer Schuld ein. Am Ende der Verhandlung überreichte ihr der Friedensrichter Allouche seine Visitenkarte und fragte sie, ob man künftig nicht in dem einen oder anderen Fall zusammenarbeiten könne.
Das Fazit: Ein arabischer Streitschlichter und seine Klienten spielten mit der Berliner Strafjustiz Katz und Maus. Ein Bagatellfall, der sich hierzulande in vielen Variationen auf allen Ebenen der Strafverfolgung und in allen Kriminalitätsbereichen wiederholen kann, wenn Täter und Opfer aus dem islamischen Kulturkreis stammen.
Im Gegensatz zur Blutrache oder zum Ehrenmord ist diese Schattenjustiz eine bislang wenig beleuchtete Facette der muslimischen Parallelgesellschaft. Ein ganzes Bündel von Fragen drängt sich auf. Wie verbreitet ist die Schlichtung als Gegenjustiz zur deutschen Strafgerichtsbarkeit? Mit welchen Mitteln behindert oder untergräbt sie unsere Justiz? Welche Folgen hat die Nebenjustiz für die Kriminalitätsbekämpfung in muslimisch geprägten Vierteln? Zementieren die »Richter ohne Gesetz« Strukturen organisierter Kriminalität in arabischen, türkischen und kurdischen Milieus? Stehen sich Scharia und deutsches Strafrecht in allen Bereichen unversöhnlich gegenüber? Oder gibt es auch Bereiche, in denen beide Rechtsordnungen zum wechselseitigen Nutzen verschmelzen? Und zum Schluss die wichtigste Frage: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es, um die bisherige Ohnmacht des Rechtsstaats gegenüber der islamischen Paralleljustiz zu überwinden?
Anmerkungen
1 Zitate ohne Fußnoten stammen in der Mehrzahl aus 23 qualitativen, halb standardisierten Interviews mit Kriminalbeamten, Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern und Islamwissenschaftlern. Je nach Kompetenz und Perspektive wurden die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt. Hinzu kommen als Quellen für Zitate kürzere Gespräche mit Experten in den Bereichen Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und islamisches Strafrecht.Die Idee zu diesem Buch ist bei der Lektüre eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung von Johannes Boie in der Ausgabe vom 31. Juli/1. August 2010 entstanden. Dem jungen Kollegen schulde ich Dank für die Begegnung mit einem faszinierenden Sujet.
2 Heisig, Das Ende der Geduld, S. 142
3 Hinweise auf die entsprechenden Aktenzeichen verdanke ich Kriminalbeamten, Staatsanwälten und Strafverteidigern. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurde auf die Nennung der Aktenzeichen verzichtet, sie sind aber dem Autor und dem Verlag bekannt.
4 Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden auch alle Namen von Zeugen und Tatverdächtigen verfremdet.
Das islamische Strafrecht und die Tradition der Schlichtung
11.November 2009 in Essen-Katernberg: Kurz vor Mitternacht schoss Faris A. Abdul L. gezielt in den Fuß. Eine bewusste Machtdemonstration, weil das Opfer angeblich schlecht über ihn geredet hatte. Monate vergingen mit Versöhnungsgesprächen zwischen beiden Familien. Ohne befriedende Wirkung. Im Frühjahr 2010 trafen sich die Großfamilien A. und L. auf einer Hochzeit, bei der pikanterweise Braut und Bräutigam aus den verfeindeten Clans stammten. Für den Bruder des verletzten Opfers war dieses Fest der Liebe mit sechshundert Gästen indes kein Anlass zu verzeihen. Während die anderen tanzten, passte er den Täter vor der Tür ab und schoss ihm nach einem Gerangel ohne Vorwarnung ins Bein. Dieser Schuss in ein ähnliches Körperteil wie bei der vorausgegangenen Tat ist nach islamischem Talionsrecht erlaubt. »Talio« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Vergeltung«. In Sure 2, Vers 178, heißt es: »Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die Wiedervergeltung vorgeschrieben: ein Freier für einen Freien, ein Sklave für einen Sklaven und ein weibliches Wesen für ein weibliches Wesen.«5 Nicht im Tal von Baalbek oder in Ostanatolien angewendet, sondern in Essen im Ruhrgebiet, wird daraus eine archaische Rache, die dem deutschen Rechtsstaat und seiner Rechtskultur fremd ist.
»Es gilt das Grundgesetz, und nicht die Scharia«, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2010 auf dem Landesparteitag der rheinland-pfälzischen CDU unmissverständlich fest. Dabei weiß sie sich mit dem Zentralrat der Muslime einig. Der hatte nämlich 2002 in seiner »Islamischen Charta« die vom »Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland« ausdrücklich »bejaht«. Indem sich der Zentralrat der Muslime zum deutschen Grundgesetz bekennt, ist der Konflikt mit der Scharia aber keinesfalls ausgestanden. Denn in islamisch dominierten Einwanderervierteln driften, was noch aufzuzeigen sein wird, Rechtsbewusstsein und -kultur von Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft auseinander und damit auch Grundgesetz und islamisches Recht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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