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Als im September 2015 die Grenzen Deutschlands für Flüchtlinge geöffnet wurden, stellte niemand die Frage: Wie integrationsfähig ist Deutschland? Heute ist die Willkommenskultur der ersten Monate verblasst, Ernüchterung dominiert. Ignoriert wurde damals, dass die Integrationsprobleme vieler Muslime nicht gelöst waren, als die neuen Zuwanderer kamen, von denen rund 70 Prozent aus muslimischen Ländern stammen. Der bekannte TV-Journalist Joachim Wagner kommt in seinem brisanten Buch "Die Macht der Moschee" zu dem Ergebnis, dass die kulturelle Integration in die deutsche Staats- und Gesellschaftsordnung bei der Mehrheit der Muslime gescheitert ist. Die Politik hat die tiefe Verwurzelung vieler Muslime im Islam und der von ihm geprägten Kultur unterschätzt. Angst vor islamistischem Terrorismus und der Fremdheit des Islam mindern die Integrationsbereitschaft der deutschen Zivilgesellschaft. Die Schule, die wichtigste Integrationsagentur, ist mit dem Mehr-Fronten-Kampf Integration, EU-Binnenwanderung und Inklusion überfordert. Ohne eine radikale Umsteuerung der Zuwanderungspolitik wird sich die Kluft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vertiefen und die Gefahr sozialer und kultureller Konflikte steigen. Joachim Wagner versucht in diesem Buch den vagen Eindruck, dass bei der Integration von Muslimen etwas schiefläuft, auf seine Substanz hin abzuklopfen. Dabei arbeitet er mit empirischen Untersuchungen, Alltagserfahrungen und Interviews. Er fragt nach den Folgen der Zuwanderung für die innere Sicherheit und die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Mithilfe dieser Zwischenbilanzen wird das Konfliktpotenzial vermessen, das die Zuwanderung von 1,7 Millionen Muslimen seit 2011 vermutlich mit sich bringen wird. Im Zentrum des Buches stehen also folgende Fragen: Ist die kulturelle Integration der Muslime ge- oder misslungen? / Ist die kulturelle Prägung durch den Islam eine Ursache dafür, dass bei vielen Muslimen die Integration schlechter gelingt als bei Zuwanderern aus westlichen Kulturen? / Welche Rolle spielt die Zuwanderungswelle nach dem 15. September 2015 für die kulturelle Integration der Muslime? / Hat sich die Kluft zwischen muslimischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellschaft vertieft? / Wie groß ist das Konfliktpotenzial der Zuwanderung nach dem 15. September 2015? / Wie viel humanitär begründete Zuwanderung ist mit der Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft vereinbar?
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Seitenzahl: 462
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Joachim Wagner
Die Macht der Moschee
Scheitert die Integration am Islam?
Aktualisierte Neuausgabe
Titel der Originalausgabe: Die Macht der Moschee
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
ISBN 978-3-451-38149-2
Aktualisierte und überarbeitete Sonderausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © Mrs_ya/shutterstock
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-03194-6
ISBN E-Book 978-3-451-81947-6
Einleitung
»Gottes-Dienst«: Der Islam prägt das Leben im Alltag
Unantastbar und unveränderbar: Koran und Sunna als Wegweiser
Haribo ist haram: Erlaubtes und Verbotenes im Islam
Fatale Re-Islamisierung: Neue Hürden für die Integration
Bei der Flucht im Gepäck: Kultur und Konflikte der Heimatländer
Zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit: der Einfluss der Herkunftsländer auf die Verbände
Reisen, Telefon, Fernsehen, Internet: der wachsende Einfluss der Herkunftsländer
Übersehen und unterschätzt: Die kulturelle Integration von Muslimen
Umstrittene Leitkultur: der Begriff der kulturellen Integration
»Mischmasch«: die Familiensprache als Integrationshürde
RTL und Al Jazeera: der Medienkonsum von Muslimen
Kaum deutsche Freunde: Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft
Gespaltene Identitäten: Muslime in der Diaspora
Enttäuschte Erwartungen: Segregation von Deutschtürken
Grundgesetz und Wertegemeinschaft: mangelnde Akzeptanz unserer Wert- und Rechtsordnung
Bürger zweiter Klasse: Diskriminierung und Ausgrenzung von Muslimen
Tabuisiert: Kulturelle und religiöse Integrationshindernisse
Die »größte Baustelle«: die Ungleichbehandlung der Geschlechter
»Der Macho lebt«: religiöse Erziehung und patriarchalisches Familienbild
Fordernd und arrogant: der religiös-moralische Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch
Intoleranz: die Einteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige
Schein ist wichtiger als Sein: die Kultur der Ehre
Mohammed statt Voltaire: die versäumte Aufklärung
Identitätsstiftend: Die Rolle der Religion im Integrationsprozess
»Generation Allah«: steigende Religiosität und religiöse Praxis
Unterschiedliche Integrationsdefizite: fundamentalistische, religiös-konservative und säkulare Muslime
Integrationsagentur und Konfliktfeld: Die Schule
Ein Spiegelbild der Einwanderungsgesellschaft: die multikulturelle Schülerschaft
Zwischen Idealismus und Frust: die engagierte Lehrerschaft
Wenn die Minderheit zur Mehrheit wird: Segregation
Schüler als Gotteskrieger: Gewaltprävention in der Schule
Konkurrenten: Koranschulen und staatliche Schulen
Glaube kontra Evolution: religiöse, ethnische und politische Konflikte
»Du Jude«: Disziplinlosigkeit, Mobbing, Gewalt
Notbetreuung für deutsche Kinder: islamische Feier- und Fehltage
Dauerbrenner: der Streit um das Beten in der Schulzeit
Gefälligkeitsgutachten: Schwimm- und Sportunterricht
Wunder Punkt: Klassenfahrten und Ausflüge
Schlechte Zeugnisse im Ramadan: Fasten gefährdet Gesundheit und Leistungen von Schülern
Hohe Ziele und wenig Unterstützung: die schwierige Zusammenarbeit mit muslimischen Eltern
Schule als Lebensraum: Erziehung auf Kosten der Bildung
Ziele der Schule: Integration, Miteinander oder Nebeneinander?
Kein Reparaturbetrieb der Gesellschaft: die überforderte Schule
Alte und neue Feindbilder: Antisemitismus und Homophobie
Teil der Alltagskultur: muslimischer Antisemitismus
Religiöse Intoleranz: Hass auf Homosexuelle
Die Bedeckung der Scham: Die islamische Kleiderordnung
Symbol des Unbehagens: das Kopftuch
Symbole der Fremdheit: Niqab und Burka
Unscharfe Grenzen: Rücksicht, Toleranz und falsche Toleranz
Integrationshindernisse: Die konservativen muslimischen Verbände
In Sippenhaft für DITIB: der Ansehens- und Bedeutungsverlust des politischen Islam
Ein unerfüllter Traum: der liberale Islam
»Das Trennende steht im Vordergrund«: Moscheevereine
Mäßig erfolgreich: Lehrer als Kulturmittler
Enttäuschende Fortschritte: Die soziale Integration von Muslimen
In der Segregationsfalle: Kinderkrippen und Kindergärten
Geringe Fortschritte, Stagnation und erhebliche Rückschritte: Schulen
Erfolglose Bewerbungen: berufliche Bildung
Geplatzte Träume: Muslime am Arbeitsmarkt
»Weißer Fleck«: kulturelle und religiöse Einflüsse auf Bildungs- und Berufskarrieren
Heterogene Schülerschaft: Hohe Migrantenanteile senken das Leistungsniveau
Zwischenbilanz: Die gescheiterte Integration vor der Flüchtlingskrise
Soziale Integration: Schule kann das Elternhaus nicht ersetzen
Kulturelle Integration: die verdrängte Rolle von Religion, Tradition und Kultur
Verflogene Illusionen: Der Abschied von der Willkommenskultur
Akademiker und Analphabeten: das Bildungsniveau der Flüchtlinge
Zuwanderung in Parallelgesellschaften: die Segregationsgefahr steigt
Traurige Bilanz: Integrationskurse
Engpässe in Schulen: Lehrermangel, Seiteneinsteiger, Stundenausfall
Jugendliche Flüchtlinge: die Bildungsverlierer von morgen?
Graue Wirklichkeit: schlechte Integrationsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt
Fazit
Unterschätzt: die Herkulesaufgabe Integration
Überlastet: der Mehr-Fronten-Kampf der Schulen
Vier Modelle des Zusammenlebens: Assimilation, Integration, Miteinander und Nebeneinander
Ohne Rendite: die Kosten der Zuwanderung
Ausblick
Unverzichtbar: eine Obergrenze für Zuwanderung
Entlasten und aufrüsten: die Integrationsleistung der Schulen verbessern
Mehr Transparenz und weniger Abhängigkeit: eine neue Basis für die Zusammenarbeit mit muslimischen Verbänden
Mehrheitskultur und Minderheitenschutz: Wertevermittlung als gesellschaftliche Aufgabe
Literatur
Über den Autor
»Neukölln sagt NEIN zu Zwangsheirat und arrangierter Ehe – Neukölln sagt ja für die selbstbestimmte Partnerwahl aller jungen Menschen«, lautete der Text einer gemeinsamen Erklärung, den nach den Vorstellungen der damaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey möglichst viele Vorstände von Moscheevereinen und Imame unterzeichnen sollten. In einem Brief vom 16. Oktober 2015 lud die Buschkowsky-Nachfolgerin die 20 Moscheen des Berliner Stadtteils zu einer »gemeinsamen Neuköllner Kampagne« ein – mit einer feierlichen Unterzeichnung der Erklärung gegen Zwangsheirat im Rathaus und mehrsprachigen Plakaten in U-Bahnhöfen und auf Litfaßsäulen. Giffeys Pech: Zwei Drittel der Imame und Moscheevereine gingen auf ihre Einladung gar nicht ein. Nur sieben reagierten und erklärten sich bereit, die Initiative zu unterstützen. Ein Imam deutete an, dass die Bürgermeisterin bei einem Zusammentreffen damit rechnen müsse, dass er den Handschlag verweigern werde.
Diese gescheiterte Initiative enthält mehrere Botschaften. Obwohl Franziska Giffey als langjährige Bildungsstadträtin und Bürgermeisterin der religiös-kulturelle Kosmos der muslimischen Gemeinden eigentlich vertraut sein müsste, forderte sie Geistliche zu einer politischen »Kampagne« gegen eine Tradition auf, die in religiös-konservativen Milieus bis heute gelebt wird. Muslimische Vorbeter zu einer Initiative aus dem politischen Alltag der Berliner Republik einzuladen, noch dazu zu einem Thema aus einem Kernbereich muslimischen Lebens, verrät, dass Giffey die Kommunikationsbereitschaft eines Teils der muslimischen Geistlichkeit mit der deutschen Gesellschaft völlig falsch eingeschätzt hat. Andererseits offenbart das Ausbleiben jeder Reaktion bei zwei Dritteln der angeschriebenen Imame und Moscheevorstände eine krasse Missachtung deutscher Gebräuche und Höflichkeitsregeln. Ein verstörender kultureller Dissens.
Der Islam ist im Einwanderungsland Deutschland mittlerweile die zweitgrößte Religionsgemeinschaft, die kontinuierlich wächst. Zwischen 2011 und Ende 2018 sind mindestens 1,7 Millionen Muslime dazugestoßen.
Zwischen Flensburg und Bodensee sind zwei gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Durch die nachlassende Bindungswirkung der beiden großen christlichen Kirchen ist das Land einerseits säkularer geworden. 1970 waren noch 95 Prozent der westdeutschen Bevölkerung Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche, 2018 nur noch 53 Prozent mit abnehmender Tendenz. Demgegenüber ist der Glaube an Allah lebendig und vital. Er besetzt offensiv öffentliche Räume – durch den Bau von Moscheen und die Umwidmung von nicht mehr genutzten Kirchen in muslimische Gotteshäuser. Und er hat mit der Einführung eines muslimischen Religionsunterrichts in einigen Bundesländern und der Gründung von Fakultäten für »islamische Theologie« in unserem Bildungswesen Fuß gefasst.
Diese Entwicklung ist bis vor vier, fünf Jahren auf wenig Widerstand gestoßen. In Deutschland hat die Religion wie in vielen westlichen Gesellschaften an sozialer Bedeutung verloren. Eine steigende Zahl von Bürgern braucht Religion nicht mehr für ihre Sinn- und Weltdeutung. Im Alltagsleben wird sie durch die Wegweiser Vernunft und Humanität ersetzt. Wenn im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten eine »moderne Glaubenslosigkeit« (Kardinal Lehmann) dominiert, können nach der Analyse des Kulturwissenschaftlers Fuad Kandil bei areligiösen oder wenig religiösen Bürgern leicht »emotionale Vorbehalte und Akzeptanzschwierigkeiten auftreten, wenn sie mit einer religiösen Weltsicht und einer vorwiegend religiös geprägten Kultur zusammentreffen«.1 Dieses Aufeinandertreffen von religiösen und areligiösen Teilwelten ist der Nährboden für einen langen Entfremdungsprozess zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Europa. Er begann mit der Iranischen Revolution 1979, bekam einen kräftigen Schub durch die Anschläge am 11. September 2001 in den USA und schlägt sich in einer islamkritischen bis islamfeindlichen Haltung weiter Teile der Bevölkerung in Deutschland und seinen Nachbarländern nieder.2
Das war die Lage vor 2015 und 2016, den Jahren der Flüchtlinge und des islamistischen Terrorismus in Europa. Die Flüchtlinge kamen zu 70 bis 80 Prozent aus muslimischen Ländern, in denen der »Islam einen Krieg gegen sich selbst führt« (Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels) und Pläne für den »Heiligen Krieg« gegen den Westen entworfen wurden. Als nach dem Pariser Anschlag im November 2015 bekannt wurde, dass die Mehrzahl der Attentäter als Flüchtlinge getarnt auf der Balkanroute aus Syrien nach Frankreich gekommen war, war die humanitäre Hilfe für zugewanderte muslimische Flüchtlinge unlösbar mit der inhumanen Gewalt der Gotteskrieger verknüpft. An dieser Nahtstelle überschneiden sich und verschmelzen die Diskurse über die Integration von Muslimen und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus.
Wenn Politik und Gesellschaft von Integration sprechen, benutzen sie einen unscharfen Begriff, über dessen inhaltliche Ausfüllung bis heute kein Konsens besteht – weder in der Politik noch in der Wissenschaft. Soziologen haben deshalb zum Teil sehr komplexe Integrationsmodelle entworfen, die bis zu vier verschiedene Arten von Integration unterscheiden.
Wenn im öffentlichen Diskurs von Integration die Rede ist, ist in erster Linie die sogenannte strukturelle oder soziale Integration gemeint: Schulerfolg, berufliche Bildung, Studium, Arbeit, Einkommen, soziale Lage und Wohnung. In diesen Feldern belegt die Bundesrepublik einen Spitzenplatz auf der europäischen Integrationsrangliste. Das haben die OECD und selbst Hilfsorganisationen wie Pro Asyl und das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nation, anerkannt.3 Dieser Erfolg beruht auf unserer Wirtschaftskraft, dem Interesse von Firmen und Unternehmen an Arbeitskräften und der Hilfsbereitschaft eines Teils unserer Bevölkerung.
Unverzichtbar für den Erfolg in Bildung und Beruf ist aber auch eine kulturelle Komponente: die Sprache als Kommunikationsmittel und Kulturträger.4 Sie ist zugleich die Basis für die sogenannte kulturelle Integration, nach einer vorläufigen Arbeitsdefinition der Verbundenheit mit Deutschland und der Akzeptanz unserer Rechts- und Wertordnung.5 Zum einfacheren Verständnis soll sich im Folgenden auf die beiden tragenden Säulen der Integration beschränkt werden: auf die soziale und die kulturelle. Sie hängen voneinander ab, sind Zwillinge.
Unter Religionssoziologen, Migrationsforschern, Integrationsbeauftragten und Islamwissenschaftlern setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass die Bedeutung der kulturellen Integration bisher unterschätzt wurde. Für den Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick ist das ein »wunder Punkt«. In den Augen des Göttinger Islamwissenschaftlers Tilman Nagel ist es das »größte Versäumnis der letzten drei Jahrzehnte«, dass die »kulturelle Integration nicht ernsthaft in Angriff genommen wurde«. Warum hat sie bisher nur eine Nebenrolle gespielt?
In den ersten Jahrzehnten der Einwanderung ging die Politik davon aus, dass der größte Teil der muslimischen Migranten in ihre Heimatländer zurückkehren würde. Sie mussten nur so viel Deutsch lernen, wie sie an ihrem Arbeitsplatz benötigten. Als sich im Laufe der Jahre herausstellte, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland bleiben wollte, hat die Politik den Schalter nicht umgelegt. Sie meinte, dass jeder, der bei uns zur Schule geht oder arbeitet, automatisch eingegliedert ist. Das war ein Irrtum, wie wir inzwischen wissen. Mohammed Atta, einer der Attentäter des 11. September 2001, hat Deutsch gesprochen, sein Ingenieurstudium bei uns abgeschlossen, und er war kriminell nicht vorbelastet. Er war Vorzeigemigrant, bevor er sich in einen Terroristen verwandelte. Hinzu kommt, dass sich Politik und Gesellschaft in der kulturellen Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der Muslime getäuscht haben. »Man hat nicht damit gerechnet«, bilanziert Konfliktforscher Zick, »dass Menschen, die einwandern, ihre kulturellen Wurzeln behalten« und sich nicht verwestlichen. Für Tilman Nagel haben sich die Deutschen »Illusionen über die tatsächliche Fremdheit des Islam gemacht«. Und Bürger haben, verleitet durch ihr eigenes Verständnis von Religion als einer privaten Angelegenheit, über Jahre gedacht, dass Muslim sein etwas Privates ist. Auch das ist, wie wir mittlerweile realisieren, ein Irrtum. Vom Anspruch her ist der Islam eine Religion, die die Staats- und Gesellschaftsordnung mitbestimmen will und das in vielen muslimischen Ländern auch tut. Das versuchen seine Repräsentanten natürlich auch in der Diaspora.
Ländervergleichende Studien zeigen, dass Religion und Kultur Wertorientierungen prägen. Über religiöse und kulturelle Konfliktfelder ehrlich zu sprechen scheitert häufig daran, dass Muslime versuchen, negative Ausprägungen des Islam möglichst weit von Religion oder Kultur wegzurücken oder zu relativieren. So hat der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Aiman Mazyek lange vom Terror von Al-Qaida und IS behauptet, er sei entweder »unislamisch« oder ein »Missbrauch des Islam«. Ähnliche Argumentationsmuster tauchen auch im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Mann und Frau im Islam auf. Im April 2012 behauptete zum Beispiel der frühere DITIB-Vorstandsvorsitzende Ali Dere in der Islamkonferenz sogar dreist, dass »Geschlechterungleichheit nicht dem Islam zuzuschreiben ist«.6 Diese Distanz zu Religion verfliegt hingegen, wenn es gilt, den Islam in einem positiven Licht darzustellen. In seinem Buch Was machen Muslime an Weihnachten? zitiert Mazyek den Koran über 110 Mal.
Ein anderes beliebtes Argumentationsmuster, um negative Einflüsse von Religion, Kultur und Tradition im Islam zu relativieren und zu entkulturalisieren, sind Verweise auf religions- und kulturbedingte Missstände in anderen Kulturen und Religionen: Zwangsehen und Ehrenmorde kommen auch in Indien vor, sexuelle Belästigungen wie in der Kölner Silvesternacht auch auf dem Oktoberfest.7 Für eine redliche und offene Diskussion über die kulturelle Integration von Muslimen ist es daher bedeutsam, diese Entlastungsstrategien auf ihre Berechtigung hin abzuklopfen und die religiösen Quellen von für uns befremdlichen Verhaltensweisen beim Namen zu nennen, unter anderem durch Hinweise auf entsprechende Stellen im Koran. Nach dem Motto des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein: »Sagen, was ist.«
Dabei ist klar, dass gerade im Islam die Einflüsse von Religion, Kultur und Tradition nicht immer zu trennen sind. Der Koran hat viele Traditionen aus vorislamischen Zeiten rezipiert, zum Beispiel die Grundmuster des Strafens. Und in islamischen Ländern prägt die Religion in hohem Maße auch die Alltagskultur. Es gibt aber auch Traditionen wie Ehrenmorde oder Zwangsheiraten ohne religiöse Verortung. Für die Fragestellung des Buches ist es aber ohne Belang, ob bestimmte Verhaltensweisen kultur-, religions- oder traditionsbedingt sind. Für die kulturelle Eingliederung von muslimischen Zuwanderern in Deutschland ist allein entscheidend, ob die mitgebrachten und hier gelebten Werte, Einstellungen, Sitten und Gebräuche mit unserer Wert- und Rechtsordnung vereinbar sind – unabhängig davon, ob sie nun in Religion, Kultur oder Tradition wurzeln. Wenn im Text die Begriffe »Kultur«, »kulturelle Integration«, »Wert- und Kulturkonflikte« oder »Mehrheits- und Minderheitskultur« auftauchen, ist damit immer ein weiter Kulturbegriff gemeint, der Religion, Kultur und Tradition umfasst. In diesem begrifflichen Rahmen sollen folgende Fragen im Zentrum des Buches stehen:
Ist die kulturelle Integration der Muslime ge- oder misslungen?Ist die kulturelle Prägung durch den Islam eine Ursache dafür, dass bei vielen Muslimen die Integration schlechter gelingt als bei Zuwanderern aus westlichen Kulturen?Welche Rolle spielt die Zuwanderungswelle nach dem 5. September 2015 für die kulturelle Integration der Muslime?Hat sich die Kluft zwischen muslimischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellschaft vertieft? Wie viel humanitär begründete Zuwanderung ist mit der Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft vereinbar?Der öffentliche Diskurs über diese Fragen ist bisher von Pauschalurteilen sowie positiven oder negativen Einzelbeispielen infiziert, die Integration, je nach Stoßrichtung, in hellem Sonnenlicht erstrahlen lassen oder in dunkle Nacht tauchen. Diesen Defiziten soll auf zwei Wegen begegnet werden. Einmal durch die Auswertung von Studien der Rechtssoziologie sowie der Migrations- und Bildungsforschung. Mit ihrer Hilfe sollen Analysen und Wertungen auf eine möglichst breite empirische Basis gestellt werden. Zum anderen durch den Besuch von Schulen und Gesprächen mit Lehrern und Schülern. Die Schule ist neben der Familie die wichtigste Integrationsagentur – als Sprungbrett für berufliche Bildung, Studium und Arbeitsmarkt sowie als Vermittlerin der deutschen Wert- und Rechtsordnung. In keiner anderen Institution prallen die muslimischen und westlichen Wertewelten so unmittelbar aufeinander wie in der Schule – mit einem entsprechenden Konfliktpotenzial. Um die Integrationsleistung von Schulen zu ergründen, sind Gespräche mit 65 Lehrern, fünf Schulräten beziehungsweise Schulamtsdirektoren und 29 vorwiegend muslimischen Schülern an 21 Grundschulen, Realschulen, Mittelschulen, integrierten Gesamtschulen und Gymnasien in Berlin, Hamburg, Dortmund, Hanau und Nürnberg geführt worden. Alle Schulen lagen in sozialen Brennpunkten oder gemischten Wohnvierteln mit hohen Migrantenanteilen. Das Buch beschäftigt sich also nur mit einem Teil der Schullandschaft: nicht mit Schulen in Berlin-Grunewald oder Hamburg-Blankenese, sondern mit Schulen in Berlin-Neukölln oder Hamburg-Billstedt. Interviewt wurde außerdem eine Reihe von Migrationsbeauftragten, Islamwissenschaftlern, Religionssoziologen und Konfliktforschern.
Das Buch erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch.
1 Kandil, Traditionelle Religiosität in einer areligiösen Gesellschaft, in: Die Rolle der Religion im Integrationsprozess, hrsg. von Bülent Ucar, S. 534 (552)
2 Vgl. hierzu S. 20, 74
3 OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig: »Insgesamt ist der Trend bei der Integration von Zuwanderern in Deutschland positiv und gelingt besser als in Ländern mit vergleichbarer Migrationsgeschichte«. http://www.oecd.org/berlin/presse/deutliche-fortschritte-bei-der-integration.de … gelesen am 17. Januar 2019
4 Vgl. S. 182ff, 196ff
5 Vgl. S. 27ff, 254
6 http://www.ditib.de/detail_pos 1.php?id=3&lang=de
7 Rohe, Der Islam in Deutschland, S. 111 und S. 255
»Der Islam strukturiert den Alltag eines Muslim«, sagt Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime. Was der Satz für gläubige Muslime bedeutet, erklärt der lauteste und wohl politisch wirksamste muslimische Frömmigkeitsverstärker der Republik so: »Islamkonformes Leben« ist »in weit gefasstem Verständnis« ein »Gottes-Dienst«, der »nicht nur religiöse Handlungen im engeren Sinne umfasst, sondern eben auch die tägliche Arbeit (Beruf), das Streben nach Wissen (Schule und Studium). Ja, selbst der Dienst an der Familie und die Liebe des Mannes zu seiner Frau oder die der Frau zu ihrem Mann ist im Islam Gottesdienst (Ibada).«1 Am Ende seines Buches Was machen Muslime an Weihnachten? dankt Mazyek deshalb auch »in erster und letzter Linie« seinem »Herrgott«: »Gott ist mir näher als meine Halsschlagader (Sure 50: 16).« Erst in den nächsten Absätzen folgen dankende Verbeugungen vor seinen »Eltern« und seiner »Familie, insbesondere meiner Frau«. Die Rangfolge bei einem deutschstämmigen Autor wäre eine andere: zuerst der Dank an die Ehefrau oder die Familie. Ein Dank an Gott kommt fast nie vor.
Der Koran ist das heilige Buch des Islam und als Gottes Wort der zentrale Wegweiser für alle Gläubigen. In der Sunna sind die traditionellen Handlungsweisungen Mohammeds in Form von Berichten überliefert. Zusammen legen die beiden Schriften die Leitlinien für Muslime in allen Lebenslagen fest, in privaten wie öffentlichen, spirituellen wie gesellschaftlichen.
Für viele Muslime sind die Botschaften des Korans unantastbar. Dieser Dogmatismus ist nach einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) unter Muslimen verbreitet. Für 57 Prozent gibt es nur eine bindende Interpretation von Glaubensregeln. Diese Einstellung lässt wenig Raum für Liberalisierung und Modernisierung – und damit auch für Integration. Der Koran taugt jedoch nicht in allen Lebenslagen als Wegweiser für klare Orientierungen. Zwar gilt die Heilige Schrift als unveränderbar, aber sie ist zugleich in hohem Maße widersprüchlich. Für den Politologen Hamed Abdel-Samad enthält der Koran zum Beispiel zwei »Botschaften«: die der »Liebe« und die des »Hasses«.2 IS-Kämpfer berufen sich ebenso auf den Koran wie Reformmuslime. Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide etwa versteht den Islam als eine Religion der Barmherzigkeit. Geradezu virtuos gelingt es den verschiedenen Strömungen im Islam, für sie unangenehme oder widersprüchliche Stellen im Koran zu verschweigen, nicht wortgetreu zu interpretieren oder als nicht zeitgemäß zu ignorieren. Auch in Deutschland legen Verbände, Moscheevereine und Imame den Koran in bunter Vielfalt aus. Am Ende hat wohl »jeder Muslim seine eigene Interpretation des Koran«, wie der Ethnologe Wulf Köpke anmerkt.
Was bedeutet diese Diversität unter Muslimen im Verhältnis zu Nichtmuslimen im Alltag? Sie ist für die politische und gesellschaftliche Integration und Partizipation der Muslime eine hohe Hürde und häufig Keim für innermuslimische Konflikte. Nach zwölf Jahren Islamkonferenz sind die Akteure dort so zerstritten wie am Anfang, was ihre Gesprächsfähigkeit für die Politik erheblich einschränkt und die Legitimität ihrer Forderungen mindert.
Seit Jahren backt Frau Germer, Lehrerin an der Schule Kerschensteinerstraße in Hamburg-Harburg, in der Vorweihnachtszeit Knusperhäuschen für Schüler der ersten Klasse und belebt damit eine alte Tradition, die auf das Märchen »Hänsel und Gretel« zurückgeht: »Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?« Dekoriert hat sie die kleinen Lebkuchenhäuser früher mit Haribo-Gummibärchen. Eines Tages erklärten türkische Eltern ihr, dass Haribo-Gummibärchen mit Gelatine hergestellt werden, die Schweinefleisch enthält, und baten sie, diese nicht mehr zu benutzen, weil sie nach ihrer Religion haram seien, verboten. Nach dieser Beschwerde hat sie die muslimischen Eltern aufgefordert, sich die Dekoration für die Knusperhäuschen selbst zu besorgen, was sie auch getan haben. Inzwischen gehört es zum Grundwissen von Grundschullehrerinnen, dass sie Gummibärchen von Katjes oder aus einem türkischen Supermarkt mit Halal-Siegel kaufen müssen, wenn sie die Essensvorschriften religiöser Muslime einhalten wollen.
Der Islam ist eine Religion, die Gläubigen Verhaltensregeln an die Hand gibt, die festlegen, was halal (erlaubt) und was haram (verboten) ist. Diese Vorschriften sollen Muslime täglich in ihrem Glauben unterstützen und festigen. Wenn sie diese befolgen, bringen sie dadurch Gehorsam gegenüber Gott zum Ausdruck und bekräftigen, dass sie zur Umma gehören, der Glaubensgemeinschaft der Muslime. Für einen guten Muslim reicht es nicht, privat spirituell zu sein. Er muss seinen Glauben auch nach außen dokumentieren – und zwar in allen Lebensbereichen: durch das Einhalten von Kultvorschriften wie Beten oder Fasten und das Befolgen von Regeln für das gesellschaftliche und kulturelle Leben: Essgewohnheiten, Kleidungsstil, Hygiene, Gefühlsleben, Sexualität, Kunst, Freizeit, Finanzen und soziales Engagement.3 Nach Schätzungen von Experten enthält der Koran 200 bis 300 religiöse, moralische und soziale Vorschriften.
Diese Regeln werden in der Praxis selektiv befolgt – gestaffelt nach dem Grad der Religiosität. Für säkulare Muslime spielen sie fast keine Rolle, für Gläubige prägen sie den Alltag.
Für Hussein vom Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasium ist zum Beispiel ein »wichtiger Punkt, was erlaubt und verboten ist«. Seine Klassenkameradin Sueda fastet, weil sie ein »Muslim ist und das machen muss«. Merve vom Hamburger Kurt-Körber-Gymnasium ist überzeugt, dass die »Religion vollkommener wird und man eine neue Spiritualität erreicht, wenn man die Gebote Gottes verwirklicht«. Rauchen, Alkohol und Schweinefleisch stehen bei den meisten muslimischen Schülern auf dem Index. In anderen Bereichen gehen viele Schüler lockerer mit der Gut-oder-Böse-Welt des Korans um.
Zum Teil skurril anmutende Orientierungsschwierigkeiten tauchen bei Produkten und Verhaltensweisen auf, die es zu Mohammeds Zeiten noch nicht gab. Can Yörenc, Kulturmittler an der Schule Kerschensteinerstraße, wurde jüngst von einer Schülerin gefragt, ob Nagellack halal oder haram sei. Ein anderer Schüler wollte wissen, ob er während des Fastens im Ramadan einen Asthmaspray benutzen dürfe. In beiden Fällen gab es nach Studium des Korans beziehungsweise Rücksprache mit einem Imam grünes Licht. Geklärt ist mittlerweile auch die lange offene Frage, ob Tattoos islamisch sind. Sie sind unislamisch. »Mit Tattoos ist man nicht rein, weil Allah uns geschaffen hat, wie wir sind. Tattoos bedeuten, sich einzumischen in das, was er geschaffen hat«, erläutert Hussein.
Die Einteilung der Welt in Gut und Böse im Islam ist eine Wurzel für ein Bündel von Wert- und Religionskonflikten, die der kulturellen Integration der Muslime im Wege stehen: Sie spielt eine Rolle in der »Angstpädagogik« (Ahmad Mansour), bei Auseinandersetzungen innerhalb der muslimischen Community, bei der Missionierung von Islamisten und Salafisten sowie Kontroversen zwischen Muslimen und Arbeitgebern am Arbeitsplatz.
In vielen Schulen registrieren Schulleiter und Lehrer, wie konservative, islamistische und salafistische Schüler Druck auf liberale Mitschüler ausüben, sich an die Kult- und Verhaltensregeln zu halten, und sich dabei zu Sittenwächtern aufspielen. Da kriegt eine Schülerin zu hören, dass sie eine »Schlampe sei, wenn sie nicht fastet oder kein Kopftuch trägt«. »Sie beobachten und kontrollieren sich gegenseitig, ob jemand ein guter oder schlechter Muslim ist«, fällt dem Schulleiter der Neuköllner Otto-Hahn-Schule André Koglin immer wieder auf. Ein Teil der Jugendlichen hat das Erlaubt-Verboten-System so verinnerlicht, dass man bereits von einer »Generation Haram« spricht.
1 Mazyek, Was machen Muslime an Weihnachten?, S. 145
2 Die Zeit vom 6. Oktober 2016, S. 54
3 Göle, Europäischer Islam, S. 203
Wer aus der Türkei auswandert, um in einer Zeche zu arbeiten, oder vor Assads Truppen flüchtet, um hier eine neue Existenz aufzubauen, der gibt seine Religion, Kultur und Tradition in Essen oder Hamburg nicht auf. Im Gegenteil. Im Diaspora-Bewusstsein wächst ihre Bedeutung eher noch – als Anker in einer fremden Welt. Syrer, Afghanen oder Tunesier wandern mit einem bunten Strauß von Meinungen, Einstellungen, Feindbildern und Vorurteilen ein. Nach Ansicht des Migrationsforschers Ruud Koopmans (Wissenschaftszentrum Berlin) hat der »Einfluss aus dem Ausland und das Konfliktpotential durch Zuwanderung« zugenommen. Das Denken und Fühlen der meisten muslimischen Migranten ist durch eine epochale Entwicklung in ihren Heimatländern geprägt: der Re-Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Diese friedliche Revolution in den Heimatländern hat, bisher unterschätzt, auch den Alltag der Muslime in Deutschland re-islamisiert. Diese Veränderungsprozesse sind vielfach parallel verlaufen. Zum Beispiel bei den Türken in der Türkei und ihren Landsleuten in Deutschland. Nach den Daten des World Values Survey verstanden sich 75 Prozent der Türken 1990 als religiös, 2011 waren es bereits 85 Prozent.1 Die Religiosität der Deutschtürken ist von 57 Prozent 2000 auf 82 Prozent 2013 hochgeschnellt.
Dieses »Islamische Erwachen« war eine Bewegung gegen Modernisierung und Verwestlichung, gegen Kolonialisierung und US-Imperialismus, gegen die westliche Demokratie und die Emanzipation der Frau. Der Traum von einer Wiedergeburt des Kalifats, der Blütezeit des Islam, führte zu einer größeren Religiosität, einer Rückbesinnung auf die islamische Kultur mit Geschlechtertrennung, strengeren Bekleidungsvorschriften und einer stärkeren Betonung der Scharia. Diesen historischen Hintergrund zu gewärtigen ist ein unverzichtbarer Schlüssel, um die Integrationsprobleme der hier lebenden und der mit der Flüchtlingswelle neu hinzugekommenen Muslime besser zu verstehen.
Nach empirischen Studien ist in muslimischen Ländern die Gläubigkeit ein selbstverständlicher und natürlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens – von großer Bedeutung für die Lebensführung und die Befolgung religiöser Normen. In Ländern wie der Türkei oder Marokko sehen über lange Zeiträume stabile 90 Prozent der Bürger den Glauben an Gott als wichtig für ihr Leben an.2 Nach Umfragen des amerikanischen PEW Research Centers gibt es in der Türkei und den arabischen Ländern ein großes Potenzial radikal-konservativer Grundüberzeugungen.3 Dem Satz, dass »eine Frau ihrem Mann immer gehorchen muss«, stimmen in Ägypten 85 Prozent zu, in der Türkei immerhin noch 65 Prozent. Auch die verklemmte Sexualmoral, die sich in der Silvesternacht 2015/2016 Bahn brach, könnte aus den Heimatländern importiert sein. Nach einer UN-Studie über das Geschlechterverhältnis im Nahen Osten und Nordafrika aus dem April 2017 haben mehr als 60 Prozent der Männer in Ägypten berichtet, dass sie Frauen oder Mädchen auf der Straße sexuell belästigt haben. In Marokko waren es mehr als 50 Prozent, im Libanon ein Drittel. Außerdem hat sich nach den Anschlägen am 11. September 2001 in mehrheitlich muslimischen Ländern ein negatives Bild vor allem der Vereinigten Staaten, und, wenn auch weniger, Europas verfestigt.4 In der muslimischen Welt wird der Westen als Eindringling und Usurpator wahrgenommen. Mit diesen Meinungen, Feindbildern und Komplexen im Gepäck ist ein Teil der Flüchtlinge in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen.
Die weitaus größte Zahl sucht hier Schutz vor Bürgerkrieg und Verfolgung – mit friedlichen Absichten. Zugleich werden damit aber auch fundamentalistische Einstellungen nach Europa und Deutschland verpflanzt. In ihnen sieht der Migrationsforscher Koopmans auch die Hauptursache für Islamismus, Salafismus und terroristische Gewalt. Nach einer Analyse sozialer Daten kommt er zu dem Ergebnis, dass »soziale und ökonomische Charakteristika« wie Bildung und Beschäftigung zwar aufzeigen, »warum manche Muslime oder manche Christen stärker fundamentalistisch oder fremdengruppenfeindlich sind als andere, den Unterschied zwischen den religiösen Gruppen erklären sie aber nicht«.5 Gewichtiger ist für Koopmans, dass Fundamentalismus und Fremdgruppenfeindlichkeit »als kulturelles und religiöses Erbe aus ihren Herkunftsländern importiert« werden: »Die Migranten werden nicht zu Fundamentalisten, weil sie hier so schlecht behandelt werden, nein, sie kommen aus Ländern, in denen Fundamentalismus und Fremdgruppenfeindlichkeit stark ausgeprägt sind.«6 Und wo seit Jahren Bürgerkriege toben. In Afghanistan, Irak und Syrien stammen die Zündsätze der Gewalt aus dem Kampf »von zwei islamischen Lagern um die Vorherrschaft, vergleichbar mit den Religionskriegen im 16. und 17. Jahrhundert in Europa«, analysiert Koopmans.
Nach einer repräsentativen Umfrage des türkischen Metropol Instituts ist jeder fünfte Türke der Auffassung, dass Gewalt im Namen des Islam unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann und der Anschlag auf Charlie Hebdo eine Strafe für Gotteslästerung war.7 Erschreckend ist, dass 44 Prozent der türkischen Muslime glauben, dass die Pariser Bluttaten das Werk ausländischer Geheimdienste waren. Nach Meinungsumfragen befürworten in Tunesien ein Drittel der Jugendlichen den Salafismus und 5 bis 7 Prozent terroristische Gewalt.8 Aus keinem Staat der Welt sind mehr IS-Kämpfer in den »Heiligen Krieg« nach Syrien gezogen als aus Tunesien, nach Schätzungen der UN mehr als 5000. Der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri stammte aus Tunesien. Umfragen des PEW Research Centers, welche die Einstellungen von Muslimen in der Türkei und arabischen Ländern mit Einstellungen von muslimischen Zuwanderern in westeuropäischen Ländern direkt vergleichen, bestätigen dasselbe Phänomen: Fundamentalistische Potenziale und Akzeptanz religiöser Gewalt sind in den Herkunftsländern in der Regel stärker als in ihrer neuen, zweiten Heimat, in Europa.9 Einige Flüchtlinge aus diesen Ländern haben diese Einstellungen im Gepäck.
Eine hohe Hürde für die kulturelle Integration von Muslimen ist nach wie vor der starke Einfluss, in einigen Fällen sogar die Abhängigkeit der muslimischen Verbände von Ländern im Nahen und Mittleren Osten. »Die muslimische Landschaft in Deutschland stellte ein Spiegelbild der religiösen Verhältnisse im Heimatland dar«, urteilte Thomas Lammers über die Entstehungsphase muslimischer Organisationen in den Achtziger- und Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Diese Bilanz ist, etwas abgeschwächt, immer noch aktuell. Viele muslimische Verbände unterhalten heute noch enge Verbindungen zu den Mutterorganisationen in den Herkunftsländern der Zugewanderten.
Ein Paradebeispiel ist die Deutsch-Türkische Union der Anstalt für Religion (DITIB), die Auslandsvertretung des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) in Ankara. Sie bildet alle Prediger für Deutschland aus, wählt sie aus und entsendet sie für drei bis fünf Jahre nach Köln, Frankfurt am Main oder München. Auf sie wird später zurückgekommen.10
Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) ist ein Ableger der politischen Bewegung um den mittlerweile verstorbenen Necmettin Erbakan. Sie hat sich vor einigen Jahren gespalten. Einige Verfassungsschutzämter beobachten sie, andere nicht. Zur Organisation gehören nach Angaben des Generalsekretärs Bekir Altaş 420 Moscheevereine. Die Zentrale in der Türkei bildet Imame aus, verwaltet die Finanzen, organisiert Pilgerreisen nach Mekka und schickt Imame nach Deutschland. Im Kielwasser der Einwanderung war die Zahl der Moscheegemeinden und Mitglieder in einem Umfang gestiegen, dass ihr Bedarf an ausgebildeten Imamen und Religionslehrern nicht mehr mit eigenem Personal befriedigt werden konnte, auch weil die Imam-Ausbildung nach Meinung Altaş’ in Deutschland »noch in den Kinderschuhen steckte«. Da viele muslimische Gemeinden in Europa und im Nahen und Mittleren Osten in ähnlichen Personalnöten steckten, sah die Diyanet Mitte der Nullerjahre eine Chance, durch personelle und finanzielle Hilfe für muslimische Verbände und Moscheevereine ihren religiösen Einfluss zu vergrößern und ihr konservativ-islamistisches Religionsverständnis weltweit zu exportieren. Sie legte ein Imam-Hilfsprogramm für muslimische Verbände und Moscheevereine auf, das nach Altaş zwei Modelle anbot: eine Überlassung von Diyanet-Imamen für zwei Jahre ohne finanzielle Unterstützung aus Ankara und eine Abordnung und Finanzierung solcher Geistlicher für fünf Jahre durch die Religionsbehörde. Milli Göruş entschied sich für das Zwei-Jahre-Modell, um nicht in eine zu starke Abhängigkeit von Ankara zu geraten. Zwischen 2013 und 2019 haben zeitweise bis zu 92 Imame aus der türkischen Religionsbehörde in deutschen Milli-Göruş-Moscheen Allah gedient.
Nach Angaben der türkischen Botschaft in Berlin sollen in den Moscheen der »Union Türkisch-Islamischer Kulturvereine« (ATIB) im April 2015 25 Imame beschäftigt gewesen sein, die ebenfalls von der Diyanet bezahlt wurden.11 Auch hier gibt es eine gewisse finanzielle Abhängigkeit von Ankara. Damit gar nicht erst Zweifel über die Loyalitäten der nationalistischen ATIB auftauchen, spricht sie in ihrem Internetauftritt von Deutschland gleich »als zweiter Heimat«.
Der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) wird als Dependance der türkischen Sülemanci-Bewegung mit Hauptsitz in der Türkei verstanden.12 Eine eingeschworene Gemeinschaft mit wenig Öffnung nach außen und einer ausgeprägten Neigung der Anhänger, untereinander zu heiraten.
Eine religiöse Abhängigkeit von Iran lässt sich auch bei der schiitischen Ali-Taouil-Moschee durch ihr Verhalten beim Neuköllner Runden Tisch »Schule im Ramadan« belegen.13 Die Moschee war über längere Phasen der Gespräche nicht entscheidungsfähig, weil sie den Entwurf der Handreichung dem europäischen Zentrum der Schiiten in Hamburg (»Blaue Moschee«) weiterleiten musste, das seinerseits Religionsgelehrte in Teheran um Zustimmung bitten musste. Zurück an den Neuköllner Verhandlungstisch kam dann ein vielfach geänderter und aus schiitischer Sicht nicht mehr veränderbarer Entwurf. Deshalb konnten die Ali-Taouil-Moschee und die beiden anderen schiitischen Gotteshäuser in Berlin-Neukölln die Handreichung am Ende nicht unterstützen. Es fehlte das grüne Licht aus Teheran.
Die ernüchternde Erkenntnis des Neuköllner Integrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch: »Selbst eine so einfache Handreichung zum Fasten in der Schule kann man mit den Autoritäten vor Ort nicht verhandeln, weil sie vom Ausland abhängen und von dort gesteuert werden.« Aufgrund dieses Verfahrens wird man auf eine ähnliche Abhängigkeit bei allen Moscheevereinen schließen können, die der »Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands« (IGS) angehören.
Auf eindeutige Abhängigkeiten stoßen wir auch bei der Lahore-Ahmadiyya. Die ist nach Ansicht der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter straff organisiert. Das bestätigt indirekt der Imam der Ahmadiyya-Moschee Amir Aziz in Berlin-Wilmersdorf, der ältesten Moschee Deutschlands. Er spricht freimütig darüber, dass die Gemeinschaft ein Oberhaupt und einen obersten Rat hat: »Unser Hauptsitz« ist in Lahore / Pakistan.14 Dort gebe es einen »sogenannten Hauptsekretär«, der der »administrative Chef der Organisation« sei. Daneben wirke ein »weiterer Abteilungsleiter zum Beispiel für Finanzen und Missionierung«. Aziz sagt, dass er »frei entscheiden« könne, was er in Berlin predigt, aber dann wohl doch nicht ganz: »Es darf nicht gegen die Ahmadiyya-Politik verstoßen. Wir müssen unsere Ideologie promoten.«
Der Verfasser hat den Islamrat, den Zentralrat der Muslime, VIKZ und ATIB schriftlich gefragt, wie sie ihre Imame rekrutieren, wer sie finanziert und ob sie Hauptsitze im Ausland haben. Bei den Verbänden VIKZ und ATIB hat er sich überdies erkundigt, ob die türkische Religionsbehörde Diyanet für einen Teil ihrer Imame aufkommt. Keiner der Verbände hat geantwortet – ebenso wenig wie die Diyanet.
Die Herkunftsorientierung der muslimischen Verbände hat mehrere Wurzeln. Viele Gemeinden haben nicht genug Geld, um den Bau von Moscheen und die Gehälter von Imamen zu finanzieren. Außerdem fehlen in Deutschland Vorbeter mit theologischer Qualifikation. Deshalb waren und sind viele Moscheevereine bis heute auf die Hilfe ihrer Mutterorganisationen angewiesen.
Finanzielle, personelle, religiöse und politische Einflüsse beziehungsweise Abhängigkeiten von muslimischen Verbänden und Moscheevereinen von ihren Herkunftsländern hat die deutsche Politik Jahrzehnte übersehen oder ignoriert. Sie hat diese Verbindungen, wenn überhaupt, bisher allein unter dem Aspekt der inneren Sicherheit gesehen, aber nicht als Integrationshindernis. Es existiert deshalb eine riesige Erkenntnislücke zwischen der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND) und der Beobachtung extremistischer Bestrebungen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die Landesämter für Verfassungsschutz. Obwohl das Bundesinnenministerium seit zwölf Jahren in der Islamkonferenz mit den muslimischen Verbänden an einem Tisch sitzt, hat die Bundesregierung bis heute keinen Einblick in die Finanzlage, die internen Machtverhältnisse und die religiösen und personellen Verbindungen zu den Mutterorganisationen. Gut geschützt durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit weiß niemand hierzulande, wer in den Moscheevereinen des Islamrates oder der VIKZ das Sagen hat, der jeweilige Vorsitzende oder ein Emir oder ein Rat von Religionsgelehrten im fernen Kuwait oder Riad.
Der Neuköllner Integrationsbeauftragte Mengelkoch schätzt, dass 75 Prozent der 20 Moscheevereine in seinem Stadtteil »aus dem Ausland gesteuert oder starkem Einfluss aus dem Ausland ausgesetzt sind«. Das ist eine faire Schätzung auch für die Bundesrepublik, gehen doch allein auf das Konto der DITIB 32 Prozent der 2800 Moscheevereine.
Serkat von der Hamburger Otto-Hahn-Gesamtschule sieht mit seinen Eltern regelmäßig türkische Nachrichten, die er freilich nicht immer als neutral empfindet. Seine Mutter skypt jeden Tag eine Stunde mit Familienmitgliedern in der Türkei. Früher fuhr seine Familie jedes Jahr in den Sommerferien an den Bosporus, heute alle zwei Jahre. Kein Wunder, wenn er meint, »relativ gute Kontakte zur Türkei zu haben«.
Nach Beobachtungen der Neuköllner Schulrätin Gisela Unruhe ist die Bindung der Muslime an die Heimat »unterschiedlich ausgeprägt, sehr stark vor allem bei Türken«. Nach Schätzungen mehrerer Lehrer fahren 90 Prozent aller türkischen Kinder in den Sommerferien in die Türkei, vorwiegend aus finanziellen Gründen, aber auch um die Familienbande zu stärken.
Kontakte zur Heimat zu pflegen helfen heute Fernsehen und soziale Medien. Durch sie ist die Welt kleiner geworden – mit negativen Auswirkungen auf die kulturelle Integration der Muslime in Deutschland. Nach dem Eindruck der Leiterin der Frankfurter Berthold-Otto-Schule Ingrid König ist für Kinder ein »Flachbildschirm« das »Fenster zur Welt, aus dem sie ihre Muttersprache hören und mit dem sie die Nabelschnur zur alten Welt täglich erneuern«.15
Durch die neuen Kommunikationsmittel ist der »Einfluss der Türkei« nach Ansicht des Neuköllner Psychologen Kazim Erdogan »heute stärker als in den Achtzigerjahren«. Auch der ehemalige Lehrer und Lehrerfortbilder Kurt Edler ist überzeugt, dass der Einfluss der Herkunftsländer »durch Fernsehen und Internet wieder größer geworden ist«. Per Satellitenschüssel lassen sich normale türkische und arabische Fernsehsender empfangen, aber auch Hetzsender. Durch den Medienkonsum sind Türken und Araber mit zwei Werte- und Kulturwelten verbunden. Dieser Spagat erleichtert es, den familiären Zusammenhalt aufrechtzuerhalten und der Kultur des Heimatlandes verbunden zu bleiben. Er macht es aber auch schwerer, die Sprachkompetenz im Deutschen zu verbessern und sich der deutschen Kultur zu nähern.
1 Zitiert nach Haci-Halil Uslucan https://www.bpb.de/tuerkeistämmige-in-deutschland-heimatlos-oder-ueberall-zuhause … gelesen am 3. März 2018
2 Brinkmann, Sozialdemographische Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung, in: Einwanderungsgesellschaft Deutschland, S. 145 (152)
3 Schirra, ISIS – Der globale Dschihad, S. 54: »Dass es in den arabischen Staaten ein großes Potenzial islamistischer Grundüberzeugungen gab und gibt, wurde vom Westen ausgeblendet.«
4 Hafez, Freiheit, Gleichheit und Intoleranz, S. 191
5 Koopmans, WZB-Mitteilungen 143, 53 (55)
6 Ebd. S. 55
7 20 Prozent der Türken akzeptieren religiöse Gewalt, in: https://www.faz.net/aktuell/politik/20-Prozent-der-tuerken-fuer-gewalt … gelesen am 27. August 2015
8 Heute-Sendung im ZDF vom 30. Dezember 2014
9 Focus vom 17. Januar 2015, S. 38; Pew Institute, The Great Divide: How Westeners and Muslims view each other, 13-Nation Pew Global Attitudes Survey, Washington 2006
10 Vgl. S. 160ff
11 BT-Drucksache 18/9353, S. 8
12 Lemmen, Islamische Organisationen in Deutschland, in: Muslime in Deutschland, hrsg. von Antes/Ceylan, S. 309 (318)
13 Vgl. hierzu auch S. 168
14 Schreiber, Inside Islam, S. 28f
15 König, Schule vor dem Kollaps, S. 12
»Was ist deutsch?«, fragt die Religionslehrerin und Autorin Lamya Kaddor.1 Und Marina und Herfried Münkler fragen, »was es heißt, aus Fremden ›Deutsche‹ zu machen«.2 Es sind Fragen nach der nationalen Identität der Deutschen, die viele Bürger, Wissenschaftler und Politiker umtreibt, ausgelöst vor allem durch eine Massenzuwanderung von Muslimen in den letzten Jahren. Wenn in Deutschland über den Islam geredet wird, dann in erster Linie über den islamistischen Terror, der Krieg gegen die westliche Kultur führt und der das staatliche Gewaltmonopol wie die Demokratie westlicher Prägung ablehnt, zwei Säulen unserer politischen Kultur. Erst in zweiter Linie geht es um den Islam in unserem Alltag. Wir debattieren über das Kopftuch am Arbeitsplatz, vor Gericht und in der Schule, über Burka, Burkini und Niqab in der Öffentlichkeit, über die Verweigerung eines Handschlages bei der Begrüßung von Frauen oder Gebetsräume in Schulen und Universitäten. Das sind für Muslime Fragen der gelebten Religion, Kultur oder Tradition, für Nichtmuslime Fragen nach der Vereinbarkeit von Mehrheits- und Minderheitskultur. Im öffentlichen Diskurs ist bisher nicht realisiert worden, dass Themen der kulturellen Integration in jüngster Zeit häufiger und intensiver diskutiert werden als die soziale Integration. »Spätestens seit den Silvesterereignissen auf der Kölner Domplatte wird der Integration in das deutsche Wert- und Normensystem ein ähnlich hoher Stellenwert zugeschrieben wie der Bildungs- und Arbeitsmarktintegration«, erkennt das Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration.3 Auch in Teilen der Politik reifte nach den Silvesterübergriffen die Einsicht, dass Zuwanderer ohne kulturelle Integration in Deutschland nicht ankommen: »Wir haben die Bedeutung von Religion unterschätzt«, räumte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Spätsommer 2016 ein.4
Den Begriff der kulturellen Integration so zu definieren, dass sich hinter ihm eine Mehrheit versammeln kann, ist bisher nicht geglückt. »Integration« ist trotz aller Klärungsversuche ein unscharfer Begriff geblieben. Das gilt in gleichem, wenn nicht in noch stärkerem Maße für den Begriff der Kultur. Was ist deutsche Kultur, in die sich Muslime integrieren sollen? Trotz dieser semantischen Hürden ist es aus migrationspolitischen Gründen unverzichtbar, Antworten auf diese Fragen zu finden, entweder durch Begriffsbestimmungen oder, wenn das nicht gelingt, durch einen Katalog von Indikatoren, mit dessen Hilfe beurteilt werden kann, ob kulturelle Integration erfolgreich oder gescheitert ist.
Konsens besteht darüber, dass Integration ein langjähriger Prozess ist, dass er eine Zweibahnstraße ist, die von Muslimen und deutscher Mehrheitsgesellschaft gewollt sein muss, dass Integration »fördern« und »fordern« bedeutet und dass die Hauptverantwortung für die Integration bei den Zuwanderern liegt und erst in zweiter Linie bei Staat und Zivilgesellschaft des Aufnahmelandes.
Bei der inhaltlichen Ausfüllung des Wortes Integration dominieren zwei Denkschulen. Die eine nutzt den »assimilatorischen Integrationsbegriff«, die andere den »additiven Integrationsbegriff«.5 Hinter diesen Begriffen verbirgt sich politischer Sprengstoff, den weite Kreise in Politik und Gesellschaft bisher nicht erkannt haben, auch weil die Wissenschaft die Unterschiede zwischen beiden Definitionen gern verschleiert. Die beiden Begriffe beschreiben nämlich unvereinbare Gesellschaftsmodelle und messen deshalb Erfolg oder Misserfolg bei der Eingliederung an völlig unterschiedlichen Integrationsindikatoren.
Die herrschende Meinung versteht unter Integration eine positive, assimilatorische Identifikation mit Deutschland und seiner Rechts- und Wertordnung. Nach einer OECD-Umfrage fordern 80 Prozent der Bevölkerung, dass Zuwanderer deutsche Lebensgewohnheiten annehmen sollen. Diese Position vertritt in der Politik Bundesinnenminister Horst Seehofer in seinem »Masterplan« und die CSU in ihrem Grundsatzprogramm: »Integration heißt, dass diejenigen, die zu uns kommen, sich anpassen … Wir wollen, dass die Zuwanderer nach unseren Regeln leben.« Die überwältigende Mehrheit der Deutschen will bei der Zuwanderung also die kulturelle Hegemonie verteidigen, auch wenn sie es selten öffentlich sagt. Häufig wird sogar – politisch korrekt – behauptet, dass man aus Respekt vor der Kultur der Zuwanderer keine Assimilation erwarte.
Bündnis 90/Die Grünen, die Linke, muslimische Verbände sowie Soziologen und Autoren mit Migrationshintergrund nähern sich dem Integrationsbegriff aus einer ganz anderen Perspektive: aus der Realität des Einwanderungslandes Deutschland.6 Für sie stehen die Kulturen der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheitsgesellschaften additiv nebeneinander, das heißt gleichberechtigt und gleichrangig. Der Hintergrund: Die große Mehrheit der Zuwanderer lebt hierzulande mit Doppel- oder Mischidentitäten in zwei Kulturen. Charakteristisch für die Mehrzahl der Migranten ist, dass sie sich mit Deutschland verbunden fühlen und die deutsche Rechtsordnung akzeptieren, nicht aber ihre eigene kulturelle Identität aufgeben wollen. Für 76 Prozent der Deutschtürken ist nach einer Münsteraner Studie »Bedingung guter Integration, … selbstbewusst zu seiner eigenen Kultur/Herkunft« zu stehen.7
Völlig offen ist weiter, in welche deutsche Kultur sich Muslime und andere Migranten integrieren sollen. Den Deutschen fällt es schwer zu erklären, was Deutschsein bedeutet. Benedikt Mehl, Leiter des Pirckheimer-Gymnasiums in Nürnberg, denkt im Zusammenhang mit kultureller Integration an die Lektüre deutscher Klassiker, an einen Besuch des Konzentrationslagers Dachau und das Feiern christlicher Feste. Das sind sicher alles richtige Fingerzeige, offenbart aber gleichzeitig die Probleme, die bei der Annäherung an den Begriff der kulturellen Integration zu lösen sind.
Im Kielwasser der Masseneinwanderung hat deshalb der Begriff der Leitkultur als Orientierungsmarke für die Eingliederung von Migranten eine Renaissance erlebt. Bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft hinein besteht ein starkes Bedürfnis nach Orientierung, an der sich eine kulturelle Integration ausrichten kann. Nach einer Umfrage des Instituts »policy matters« im Auftrag der CSU-Landtagsfraktion bejahen 87 Prozent der Bürger die Frage, dass »bei der Integration unsere Leitkultur zum Maßstab gemacht« werden soll. Ein ganz anderes Bild entsteht jedoch bei der Antwort auf die Frage, ob der Begriff der Leitkultur »gut beschreibt, was unsere Gesellschaft zusammenhält und unser Lebensgefühl ausmacht«. Zwar stimmten dieser These immer noch 60 Prozent der Bürger zu, bei den Grünen-Anhängern lehnten sie dagegen 70 Prozent ab. Diese Diskrepanz zeigt, dass es eine von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Leitkultur hierzulande nicht mehr gibt, sondern mehrere Leitbilder: konservative, nationale, liberale, grüne und multikulturelle.
Der entscheidende Dissens zwischen CDU / CSU und AfD auf der einen Seite und SPD, Grünen und FDP auf der anderen ist die Rolle des Grundgesetzes in der Leitkulturdebatte. Während Letztere im Grundgesetz eine geeignete und ausreichende Richtschnur für die Integration sehen, gehen Erstere davon aus, dass es unterhalb der Schwelle des Grundgesetzes Werte und Traditionen in Form von ungeschriebenen Regeln gibt, die eine Gesellschaft verbindet und kittet. In den Worten de Maizières: »Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und uns von anderen unterscheidet.« Zustimmung erhält der Innenminister überraschend vom grünen Oberbürgermeister in Tübingen Boris Palmer. Er ist zu der Einsicht gekommen, »dass es für die Integration der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum nicht ausreicht, die Werte des Grundgesetzes hochzuhalten«. Das lässt wegen seiner »großen Entfaltungsspielräume« zu, ein »Pascha, eine Umweltsau oder ein Schwulenverächter zu sein, solange man nicht gegen Gesetze verstößt«. Ein »Gemeinwesen – gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig – benötigt« daher nach Auffassung Palmers einen »Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung«, um »Vielfalt zu leben, ohne die eigene Identität zu verlieren«.8 Das ist eine zutreffende Analyse.
In der Debatte um die Leitkultur geht es im Kern um den Gesellschaftsentwurf der Zukunft, um die Alternative zwischen einer von christlich-jüdischer Tradition und westlichen Werten geprägten Gesellschaft oder einer multikulturellen Gesellschaft, die von der Mehrheit der Migranten und vom grün-linken Milieu propagiert wird. Nach Umfragen wird das Modell einer multikulturellen Gesellschaft von 20 bis 30 Prozent der deutschen Bürger favorisiert.9 Sie verstehen kulturelle Vielfalt als Bereicherung und Anerkennung der Realitäten einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft – mit einer großherzigen Toleranz gegenüber anderen religiösen und kulturellen Identitäten im Rahmen unseres Grundgesetzes.
Da eine befriedigende, von der Mehrheit getragene Definition von kultureller Integration bisher nicht gelungen ist, soll sie für eine Integrationsbilanz durch eine Reihe von Indikatoren ersetzt werden, mit denen die Migrationsforschung kulturelle Integration von Migranten misst: Sprachkompetenz, Medienkonsum, Kontakte zum Herkunftsland und zur Mehrheitsgesellschaft, kulturelle Identitäten, Akzeptanz unserer Wert- und Rechtsordnung, Diskriminierung und Ausgrenzung.
Ceren von der Hamburger Otto-Hahn-Schule spricht mit der Mutter Deutsch, mit dem Vater Deutsch und Türkisch und mit den Geschwistern überwiegend Deutsch. Hussein, ein Kurde aus dem Libanon, redet mit seinem Vater Arabisch, weil der nicht gut Deutsch spricht, mit der Mutter Arabisch und Deutsch und mit den Geschwistern »Mischmasch«, also Deutsch und Arabisch durcheinander. »Die Schüler sprechen ein Mix aus Deutsch und Türkisch, nicht im Unterricht, aber in den Pausen und im Alltag, wenn ihnen nicht die richtigen Worte einfallen«, sagt die Dortmunder Politiklehrerin Jenny Taubert-Düz.
Beim Sprachgebrauch der interviewten Schüler in der Familie ist ein Muster erkennbar: Fast alle Kinder lernen auch die Sprache ihres Herkunftslandes und nutzen sie zu Hause. Mit dem Vater oder der Mutter oder beiden sprechen die Schüler in der Regel Türkisch, Arabisch, Paschtun oder Twi. Es kommt häufig vor, dass sie mit den Eltern verschiedene Sprachen nutzen, je nachdem, welche Sprache die besser beherrschen. Da die Kommunikation mit einem Elternteil oft durch fehlende Vokabelkenntnisse erschwert ist, wechseln Kinder regelmäßig zwischen zwei Sprachen. Mit ihren Geschwistern reden die Jugendlichen überwiegend Deutsch oder Mischmasch. Für nur etwa 20 Prozent der Befragten war Deutsch die erste Sprache.
Es gibt vor allem vier Gründe dafür, dass muslimische Migranten in Hamburg-Billstedt und Berlin-Neukölln weiter ihre Herkunftssprache gebrauchen. Ein Elternteil spricht gar kein Deutsch oder nur so schlecht, dass es praktisch keine Alternative zu Türkisch oder Arabisch gibt. Viele Eltern wollen ferner aus kulturellen Gründen, dass ihre Kinder die Heimatsprache erlernen. Für Bereket aus Somalia (Albert-Einstein-Gymnasium, Maintal) soll »durch die Sprache der Heimat die kulturelle Identität« bewahrt werden. Nach einer Hamburger Umfrage finden 95 Prozent der türkeistämmigen Eltern es wichtig, dass ihre Kinder in ihrer Herkunftssprache lesen und schreiben können.10 Das dritte Motiv für die Heimatsprache ist, dass sich Kinder nur mit ihr mit Familienangehörigen in der Heimat verständigen können. Und viertens sehen etliche Eltern in der Zweisprachigkeit einen Vorteil in der Berufswelt und der Mehrheitsgesellschaft.
Es besteht ein Konsens darüber, dass das Beherrschen der deutschen Sprache eine Schlüsselrolle für die Integration in das Bildungssystem und in die Mehrheitsgesellschaft spielt. Deshalb ist die Familiensprache für alle Migranten ein Schlüssel für die Sprachbildung und den Erfolg im Bildungssystem.
Die wenigen empirischen Studien über die Sprachnutzung in muslimischen und anderen Familien mit Migrationshintergrund offenbaren, welche Gräben beim Spracherwerb zu überwinden sind. Nach einer Studie des Bonner Instituts für Berufsbildung sprechen nur 7 Prozent »nur Deutsch« und am häufigsten Deutsch zusammen mit Türkisch oder Arabisch (69 Prozent).11 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nach ihr verständigen sich bemerkenswerte 71 Prozent der Türkeistämmigen zu Hause in ihrer Herkunftssprache, ein wenig mehr als in russischen Haushalten (68 Prozent) und erheblich mehr als in polnischen (52 Prozent).12 In Berlin und in städtischen Regionen Hessens und Nordrhein-Westfalens sprechen mehr als 75 Prozent der vier- bis fünfjährigen Einwandererkinder zu Hause kein Deutsch.13
Über die Deutschkenntnisse von muslimischen Migranten gibt es keine verlässlichen Erkenntnisse, da alle bisherigen Studien auf Selbsteinschätzungen der Befragten beruhen und dadurch mit einem hohen Risiko von Fehleinschätzungen belastet sind. In einem Punkt sind sich jedoch alle Lehrer einig: »Die Sprache zu Hause ist eine Crux« (Bernd Tißler, ehemaliger Leiter der Stadtteilschule Hamburg-Barmbek). »Es gibt Kinder, die sind in zwei Sprachen perfekt, andere sind in beiden Sprachen unfertig«, weiß ein Hamburger Grundschulleiter aus seiner langjährigen Erfahrung: Deutsch als Zweitsprache ist seine größte Baustelle. Die Schüler sind hier geboren und können es trotzdem nicht. Wortfindungsschwierigkeiten fallen ihm immer wieder auf. »Doppelte Halbsprachigkeit«, nennt Christiane Mika von der Dortmunder Libellen-Grundschule dieses Phänomen.
Mit den mangelhaften Sprachkenntnissen muslimischer Eltern ist ein besonders wunder Punkt bei der Integration muslimischer Zuwanderer angesprochen: ihre zum Teil miserablen Sprachkenntnisse nach zehn bis zwanzig Jahren in Deutschland. Ein unverdächtiger Sozialarbeiter eines Moscheevereins: »Wir haben … Menschen, die trotz einer Aufenthaltsdauer von 30 bis 35 Jahren immer noch nicht die Sprachprobleme überwunden haben und somit Schwierigkeiten haben, einen Brief zu verstehen, oder Schwierigkeiten haben, einen Arzttermin einzuholen oder bei einem juristischen Problem zum Anwalt zu gehen und dem darzulegen, was für ein Problem sie haben.«14 Das Fazit der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani und Ahmet Toprak: »Die Sprachkompetenzen in den muslimischen Familien sind in beiden Sprachen … häufig eingeschränkt und insbesondere in der dritten Generation erstaunlich schwach ausgeprägt.«15
Wenn muslimische Schüler und Schülerinnen deutsches Fernsehen anschalten, dann sehen sie in erster Linie private Sender wie Sat 1, Pro 7, n-tv oder RTL. Halil vom Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasium findet ARD und ZDF »langweilig, eintönig«: »Sturm der Liebe spricht uns nicht an.« Wenn überhaupt, werden in der ARD Talkshows wie Anne Will oder Frank Plasberg gesehen, häufig für den Politik- oder Gesellschaftskundeunterricht. Die beliebteste Sendung bei muslimischen Jugendlichen ist jedoch die heute show im ZDF. Generell gilt jedoch, dass muslimische wie deutsche Jugendliche sehr wenig fernsehen. Auch Zeitungen werden kaum noch gelesen. Die Hauptinformationsquelle ist mittlerweile das Internet.
Wenn türkeistämmige Jugendliche fernsehen, dann häufig als Teil des Familienlebens. Serkat und Alyena von der Otto-Hahn-Schule in Hamburg schauen mit ihren Eltern zusammen türkische Nachrichten, Shows und Serien. 19 Prozent der muslimischen Jugendlichen sehen nach der Studie Muslime in Deutschland keine oder überwiegend nichtdeutsche Programme, 38 Prozent deutsche und nichtdeutsche Programme gleich häufig. 42 Prozent der muslimischen Jugendlichen bevorzugen nur oder überwiegend deutsche Sender. Unter den Jugendlichen gibt es also, wenn sie überhaupt auf die Einschalttaste drücken, eine Präferenz für deutsche Sender mit potenziell positiven Auswirkungen auf ihre Sprachfähigkeit und ihre kulturelle Integration. Allerdings leben die muslimischen Jugendlichen medial mehrheitlich in zwei Kulturen.
Das gilt noch stärker für ihre Eltern. Nach der Studie Muslime in Deutschland nutzt knapp ein Drittel überwiegend und oder nie deutsches Fernsehen, 31 Prozent sehen gleich häufig deutsche beziehungsweise nichtdeutsche Programme und 32 Prozent nur oder überwiegend Sender der Herkunftsländer.16 Bei Erwachsenen ist die Heimat also via Satellit sehr präsent. Bei Nour mit palästinensischen Wurzeln von der Neuköllner Otto-Hahn-Schule stehen zu Hause zwei Fernsehapparate: einer für deutsche, ein anderer für arabische Programme.
Nach einer neueren Studie der Hanns-Seidel-Stiftung sieht in Bayern keine Migrantengruppe so wenig deutsches Fernsehen und liest so wenig deutsche Zeitungen wie die Deutschtürken.17 Entsprechend gibt es auch keine Gruppe, die so häufig Heimatsender einschaltet, weit über dem Durchschnitt anderer Migrantengruppen. Das hängt einmal mit der leichten technischen Empfangbarkeit der türkischen Sender zusammen, aber auch mit der kulturellen Nähe zu ihrer Heimat. Bei der Mediennutzung lebt die Mehrheit der Türkeistämmigen in einem Kulturexil – mit negativen Auswirkungen auf ihre Sprachkompetenz und einer sich vertiefenden kulturellen Distanz zu Deutschland.
Nach einem langen Arbeitstag kam der Neuköllner Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch auf die Idee, Integrationspolitik nicht nur zu organisieren, sondern auch privat zu leben. Zu einer Party mit deutschen Freunden lud er deshalb einige muslimische Gäste dazu. Zunächst wurde bei guter Stimmung deutsche Tanzmusik aufgelegt. Bis die muslimischen Gäste protestierten und baten, muslimische Musik zu spielen. Das wurde gemacht. Da seine deutschen Freunde danach aber nicht tanzen konnten, wurde die Musik wieder gewechselt. Darauf sind die muslimischen Gäste gegangen. Diese kleine Episode zeigt, wie kompliziert Integration sein kann – nicht muss.
Kontakte der muslimischen Minderheit zur deutschen Mehrheitsgesellschaft sind ein wichtiger Indikator für das Gelingen oder Misslingen von Integration. Je mehr Kontakte Türken und Araber zu Einheimischen haben, desto besser verstehen sie die Deutschen – und umgekehrt. Persönliche Kontakte sind das wirksamste Mittel gegen Vorurteile. Auch gegen Islamfeindlichkeit.
Kontakt ist ein weiter Begriff, der mit sehr unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt werden kann. Ein kurzes Treffen ist zwar ein Kontakt, entfaltet aber wenig bis keine integrative Kraft. Das tun Kontakte erst, wenn sie eine gewisse Qualität und Dauer haben, zum Beispiel Freundschaften, Einladungen, Mitgliedschaften in Vereinen oder Heiraten. Solche gesellschaftlichen Verbindungen gelten als Lackmustest für kulturelle Integration.
Heben Untersuchungen nur auf Kontakte ab, scheint die Beziehung zwischen muslimischer Minderheit und deutscher Mehrheitsgesellschaft intakt. Nach der Studie Muslimisches Leben in Deutschland haben 80 Prozent der Muslime häufigen Kontakt zu Deutschen am Arbeitsplatz, 77 Prozent in der Nachbarschaft, 70 Prozent im Freundeskreis und 67 Prozent in der Familie.18 Nach der Münsteraner Studie des Exzellenzclusters »Religion und Politik« berichten 61 Prozent der türkeistämmigen Zuwanderer, dass sie sehr viel Kontakt zu Menschen deutscher Herkunft haben.19 Über die Intensität und die Dauer dieser Begegnungen sagen diese Studien allerdings nichts. Die wenigen verfügbaren Untersuchungen und Alltagserfahrungen legen nahe, dass das Hineinwachsen von Muslimen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft von sehr verschiedenen Faktoren abhängt.
Aufschlussreiche Einblicke erlaubt eine Langzeituntersuchung des Essener Zentrums für Türkeistudien, die Kontakte zwischen Deutschtürken und Herkunftsdeutschen in Nordrhein-Westfalen zwischen 2001 und 2015 verfolgt hat. Die ernüchternde Bilanz: Die Kontakte zwischen beiden Bevölkerungsgruppen stagnieren seit 15 Jahren.20 Der zweite Befund: Zwischen Rhein und Ruhr sind zwei auseinanderdriftende Trends in der türkischen Community im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft zu beobachten, die vermutlich auch in anderen Bundesländern anzutreffen sind. Etwa zwei Fünfteln der Türkeistämmigen gelingt es, relativ normale und unkomplizierte Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft aufzubauen. Bei zwei anderen Fünfteln ist dagegen eine deutliche Tendenz zur Selbstisolierung und Entfremdung von der deutschen Gesellschaft zu erkennen. Drei Faktoren dürften dabei eine Rolle gespielt haben: eine Ausdehnung und Vertiefung muslimischer Parallelgesellschaften beziehungsweise sozialer Brennpunkte mit einer Mehrheit von Familien mit Migrationshintergrund, eine stärkere Religiosität und der Einfluss von Erdogans nationalistisch-islamistischem Weltbild mit osmanischen Großmachtfantasien.
Nach zwei Studien leben zwischen 20 bis 25 Prozent der Muslime in von Migranten dominierten sozialen Brennpunkten wie Dortmund-Nordstadt oder Berlin-Neukölln.21 Ihre durch Ghettoisierung bedingte Isolation bedrückt zunehmend Psychologen und Lehrer. Für den Neuköllner Psychologen Kazim Erdogan sind die »Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft geringer geworden. Es sind Regionen nicht funktionierender Parallelgesellschaften entstanden. Es werden Fronten gebildet – gegeneinander und nebeneinander.« In Nürnberg-Gibitzenhof registriert Benedikt Mehl, Leiter des Pirckheimer-Gymnasiums, dass sich »Milieus verfestigen und viele unter sich bleiben«.
Lehrer in Brennpunktschulen stellen fest, dass ihre Schüler nur wenige Berührungspunkte mit der deutschen Gesellschaft haben. Nach den Erfahrungen von André Koglin, Leiter der Neuköllner Otto-Hahn-Schule, haben seine »Schüler kaum Kontakte zur deutschen Gesellschaft und kaum deutsche Freunde«. Seine Kollegin vom Kreuzberger Robert-Koch-Gymnasium Eva Maltusch meint gleichfalls, dass die muslimischen Schüler »nicht im deutschen Freundeskreis drin sind«, weshalb sie viele Exkursionen in die deutsche Gesellschaft macht, zum Beispiel auf die Pfaueninsel oder ins Theater.
Diese Eindrücke von Lehrern bestätigen fast alle muslimischen Schüler in Brennpunktschulen. Alle interviewten Schüler des Helmholtz-Gymnasiums im Dortmunder Norden haben »keine deutschen Freunde, die gibt es hier nicht«. Ähnlich geht es Ceren von der Otto-Hahn-Schule in Hamburg-Billstedt: »Wir haben einen multikulturellen Freundeskreis. Wir haben nur drei deutsche Jungen und ein deutsches Mädchen in der Klasse.« Hinzu kommt bei vielen muslimischen, insbesondere türkischen Schülern eine emotionale Komponente bei der Wahl ihrer Freunde. Aleyna aus derselben Klasse »fühlt sich mit Türken wohler«. Auch Ekrem vom Helmholtz-Gymnasium ist aus diesem Grund »vorwiegend mit Türken zusammen«.
Nur wenig dichter scheinen nach Umfragen die Kontakte von muslimischen Jugendlichen in überwiegend deutsch geprägten Gegenden und gemischten Vierteln zu sein. Der Migrationsforscher Mustafa Gençer fasst zusammen: »Heute leben deutsche und türkische Jugendliche nebeneinander. Junge Türken verbringen einen größeren Teil ihrer Zeit mit Gleichaltrigen aus der gleichen ethnischen Gruppe als mit Deutschen. In der Phase der Pubertät setzen sich Verhaltensregeln durch, die auf elterliche Erziehungsmaßnahmen zurückgehen, welche sich an traditionell türkischen und islamischen Werten orientieren.«22 Nach der Studie Muslime in Deutschland waren nur 9 Prozent der muslimischen Schüler nur oder überwiegend mit einheimischen Deutschen befreundet.23