Riesen und Zwerge - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - E-Book

Riesen und Zwerge - Kriminalroman E-Book

Burkhard Ziebolz

4,0

Beschreibung

Packende Handlung mit viel Lokalkolorit.Die Entdeckung des jungen Biologen Thorsten Gröning ist sensationell: Es ist ihm gelungen, einen Wachstumsfaktor zu isolieren, der der Medizin in Zukunft ungeahnte Möglichkeiten bieten kann. Doch einige seiner Kollegen sind allzu erpicht darauf, Grönings Wissen für sehr viel Geld an die mächtige Pharmaindustrie zu verkaufen. Seine Ergebnismappe verschwindet aus dem Labor, und wenige Tage später wird ein Kollege ermordet aufgefunden. Hans Fröhlich und Hans-Jörg Meyer von der Braunschweiger Kripo schalten sich ein. Thorsten Gröning beschließt, für einige Zeit unterzutauchen, da die Polizei ihn des Mordes verdächtigt. Er kann nun niemandem mehr vertrauen ..."Die Handlung benötigt nicht viel Zeit um in Schwung zu kommen. Schon nach einigen Seiten sind die wesentlichen Handlungsstränge angelegt, und diese Spannung wird bis zum Ende gehalten. " - Ein Kunde, Amazon-

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Burkhard Ziebolz

Riesen und Zwerge - Kriminalroman

 

Saga

Riesen und Zwerge - Kriminalroman

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2006, 2022 Burkhard Ziebolz und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726127812

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Personen, Namen und Handlungen

dieses Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen

oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Erster Tag, Dienstag, 10 Uhr

Gedämpfte Musik und das Klirren von Gläsern, die der Barmann hinter seinem Tresen spülte, gewannen gelegentlich die Oberhand über das leise Lärmen, das von der Rezeption des Hotels herüberdrang.

Albert Jahnke beachtete die ein- und auscheckenden Gäste nicht. Er saß in der Cafeteria des Sheraton am Frankfurter Flugplatz, ordnete ein letztes Mal seine Gedanken und wartete.

Er war sehr früh gekommen und hatte eine Kleinigkeit gefrühstückt. In eine Besprechung sollte man nie mit nüchternem Magen gehen, denn hungrige Leute neigen dazu, Verhandlungen früher abzubrechen, als es vielleicht gut ist. Und das bevorstehende Gespräch war ganz bestimmt eines der wichtigsten seines Lebens.

Der Tag war sehr warm, und er hatte Durst. Jahnke bedeutete der jungen Bedienung, ihm ein alkoholfreies Bier zu bringen. Sie nahm die Bestellung mit einem Lächeln auf und gab sie – ohne Lächeln – an den Barmann weiter.

Außer Jahnke waren nur noch fünf Gäste in der Cafeteria. Direkt vor ihm saßen zwei Männer in dunklen, gutgeschnittenen Anzügen, die offenbar gerade ein Geschäft miteinander machten; soweit er es hören konnte, ging es um eine Summe von einigen hunderttausend Dollar. Eine elegante junge Frau an einem Tisch rechts von ihm las entspannt in einem Buch. Und ein Vater saß mit seinem kleinen Sohn an der Bar und bestellte diesem gerade eine Limonade.

Jahnke dachte daran, wieviel von der bevorstehenden Unterredung abhing. Sie würde ihm das Geld verschaffen, alles auf einen Schlag, und wahrscheinlich mehr, als er brauchte. Und er würde die nötige Unterstützung haben, um seinen Plan durchführen und seine Forschungsarbeiten starten zu können. Vor seinem geistigen Auge sah er neue Techniken und neue Produkte, die alle mit seinem Namen verknüpft waren. Sein – im Moment noch – fiktives Institut würde wachsen und zu einem feststehenden Begriff in der Welt der Forschung werden. Albert Jahnke schloß einen Moment die Augen hinter der Brille und genoß die Vorfreude auf die künftige Anerkennung und auf die Bewunderung, die er schon so lange vermißt hatte und die ihm seiner Ansicht nach zustand.

Er bekam sein Bier und nahm einen vorsichtigen Schluck. Es war kalt und herb, schmeckte fast wie ein richtiges. Sein Blick folgte dem sich wackelnd entfernenden Hintern der Bedienung, die ihm gleichzeitig mit dem Glas die Rechnung gebracht hatte. Fünfzehn Mark. Reichlich teuer, aber in Anbetracht des künftigen Geldsegens konnte man das schon mal ausgeben. Er blickte sich um.

In diesem Augenblick sah er John Wright auf der Rolltreppe, die vom Untergeschoß heraufführte. Wright nahm Kurs auf die Rezeption und sah sich suchend um. Die Cafeteria war neben der Hotellobby und zu dieser hin offen. Wright entdeckte Jahnke und winkte ihm grüßend zu.

Jahnke beobachtete, wie der Amerikaner zwischen den Tischen und Stühlen hindurch auf ihn zukam. Er war nicht jünger geworden, die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Wright mußte jetzt Mitte vierzig sein, hatte aber schon schlohweißes Haar. Er war sehr groß und dünn und bewegte sich auf die gleiche schlaksige Weise wie John Wayne in seinen Filmen. Jahnke hatte ihn in der Vergangenheit deshalb oft geärgert.

Dann standen sie sich gegenüber und grinsten über das ganze Gesicht. Sie schüttelten sich die Hände, und Wright setzte sich.

»Freut mich, dich mal wieder zu sehen, Albert.«

»Freut mich auch. Was willst du trinken?«

Wright bestellte Kaffee. Er wollte einen klaren Kopf behalten, denn auch er erwartete eine ganze Menge von dem bevorstehenden Gespräch.

Seit fünf Jahren arbeitete er für Richardson Pharmaceuticals, einen der großen amerikanischen Pharma-Multis. Richardson Pharma war die Nummer drei der Weltrangliste, mit einem schier unerschöpflichen Potential an neuen Produkten und zukunftsweisenden Technologien. Eine Auswahl der besten Köpfe des Landes arbeitete hier und tat sein Möglichstes, um die Firma immer weiter nach vorne zu bringen.

Wright war einer von vielen in der Produktentwicklung, nicht besser und nicht schlechter als die meisten seiner Kollegen. Vor ein paar Tagen hatte ihn sein Freund Albert angerufen. Er hatte sich gefreut, denn sie hatten seit dem Kongreß in Seattle vor zwei Jahren nichts mehr voneinander gehört. Wie immer hatte der Deutsche ihm damals von seinen hochfliegenden Plänen erzählt. Und – auch wie immer – hatte er nicht gewußt, wie er sie finanzieren sollte.

Was er ihm aber diesmal am Telefon kurz umrissen hatte, rückte alles in greifbare Nähe, was Jahnke sich je erträumt hatte. Wenn nur etwas an der Sache dran war, hatte er ausgesorgt, er und jeder andere, der an dem Projekt beteiligt war.

Wright hatte sich sofort nach dem Telefonat einen Termin bei seinem Forschungsleiter, George C. Svokos, geben lassen. Das hatte ihn eine Menge Mut gekostet, denn er wußte um die Schwächen und Risiken des Vorhabens und hatte keine Ahnung gehabt, ob sein Chef sich darauf einlassen und ihn unterstützen würde.

Svokos hatte ihn zu sich gebeten. Zwei Stunden später hatten sie immer noch zusammengesessen; die Möglichkeiten, die Jahnkes Angebot für die Richardson Pharmaceuticals bot, hatten den Zeitaufwand gerechtfertigt.

Am Ende des Gesprächs hatte Wright einen neuen Job und einen genauen Fahrplan für seine Aktionen während der nächsten Tage. Svokos hatte ihn von den Pflichten des Tagesgeschäftes befreit und zum Leiter einer Task Force gemacht, die sich mit der Akquisition des neuen Projektes beschäftigen sollte. Seine Perspektiven für die Zukunft hatten sich innerhalb kürzester Zeit extrem verbessert, und er sah endlich eine Möglichkeit, sich aus der breiten Front der wissenschaftlichen Mitarbeiter hervorzuheben.

Wie mit seinem Boß besprochen, hatte er Jahnke sofort wieder angerufen und sich mit ihm verabredet. Er hatte sowieso vorgehabt, in der nächsten Woche nach Frankfurt zu fliegen, wo er einen Kongreß besuchen wollte. Was lag also näher, als sich bei dieser Gelegenheit zu treffen.

Jahnke wollte sich nicht auf dem Kongreßgelände verabreden, da die Gemeinde der Biotechnologen nicht groß war und er vermeiden wollte, daß ein Bekannter sie zusammen sah. So machten sie das Sheraton zu ihrem Treffpunkt.

Natürlich brannte Wright darauf, auf den Punkt zu kommen. Er hatte sich während der drei Kongreßtage auf nichts anderes konzentrieren können. Trotzdem zwang er sich, zunächst ein paar höfliche Erinnerungsfloskeln mit Jahnke auszutauschen. Die beiden hatten ein Jahr lang zusammen in einem Labor der Uni von Boston gearbeitet und sich dabei angefreundet, und auch ihre Frauen verstanden sich sehr gut. Es gab eine Menge gemeinsamer Erinnerungen an Barbecue-Parties und Picknicks auf dem Land, die man aufwärmen konnte. Sie unterhielten sich auf englisch, obwohl der Amerikaner auch ein ganz passables Deutsch sprach.

Schließlich kamen sie aber doch zum Thema, und Wright signalisierte die Bereitschaft seiner Firma.

»Uns ist natürlich an den Exklusivrechten gelegen. Alles andere ist nicht von Interesse.«

Er sah seinen Freund prüfend an, wollte dessen Reaktion testen, und nahm dann einen Schluck aus der Tasse.

»Erzähl mir noch mal genau, wie euer Ansatz aussieht und wie das Umfeld sich darstellt.«

Jahnke verzog sein blasses Gesicht zu einem undurchdringlichen Lächeln. Ein dicker Fisch zappelte schon sicher an der Angel, der Anfang war gemacht.

*

Thorsten Gröning war ein Glückskind. Zumindest war dies die Ansicht seiner Freunde und Kollegen, und sie wurden fast täglich darin bestätigt.

Er hatte Glück mit der Promotionsstelle am Biozentrum gehabt. Die meisten seiner Kommilitonen mußten nach dem Diplom zunächst einige Zeit warten, bis sie einen der begehrten Jobs bekamen. Gröning war direkt nach der Diplomprüfung auf einen seiner Prüfer zugegangen und hatte ihn nach einer Stelle gefragt. Dem Professor hatte der sportliche junge Mann mit den blauen Augen, der gerade eine sehr gute Prüfung abgelegt hatte, gefallen. Zufällig war gerade ein Platz frei geworden, und er hatte ihm ein verbindliches Angebot gemacht.

Als er das Thema für seine Dissertation bekam, hatte er ein zweites Mal Glück gehabt, obwohl er zunächst sehr daran zweifelte. An der gleichen Aufgabe war nämlich schon ein anderer Aspirant gescheitert. Zwei Jahre zuvor hatte dieser das Handtuch geworfen, nach beinahe achtzehn Monaten, die keinerlei verwertbares Ergebnis geliefert hatten.

Es ging um die Isolierung eines Wachstumsfaktors. Bisher hatte ihn noch niemand praktisch nachgewiesen oder gar isoliert, aber man wußte, daß es ihn geben mußte, und hatte ihn in der Literatur auch schon theoretisch beschrieben.

Gröning machte sich unbedarft an die Arbeit, ohne viel über seinen gescheiterten Vorgänger nachzudenken; er ignorierte dessen Ansätze und begann bei Null. Das war gut so, denn er brachte viele neue Arbeitstechniken mit, die es zwei Jahre zuvor noch nicht gegeben hatte und die ein wesentlich effektiveres Vorgehen ermöglichten.

Nach anderthalb Jahren harter Arbeit hatte er den Faktor isoliert und stabilisiert. Weitere drei Monate später war er charakterisiert und hatte den Namen hGFαG (human Growth Factor, das zweite ›G‹ stand für ›Gröning‹) erhalten. Das allein hätte schon genügt, zwei Dissertationen befriedigend zu füllen, aber die Neugierde und der Forscherdrang des jungen Mannes kannten keine Grenzen und trieben ihn immer weiter.

Er begann mit Tests, die das praktische Anwendungspotential des neuen Faktors abstecken sollten. Seine Ergebnisse waren eine absolute Sensation. Die Institutsleitung hielt die Sache für wichtig genug, alle Angestellten um Stillschweigen darüber zu bitten. Obwohl selten ein Tag verging, an dem nicht Neuigkeiten über Grönings Projekt im Haus die Runde machten, gelang das anscheinend wirklich. Zumindest gab es lange Zeit keinerlei Anzeichen dafür, daß schon irgend etwas nach außen gedrungen war.

Die größte Schwachstelle in der Kette der Geheimnisträger war Thorsten Gröning selber. Der blonde Doktorand hatte ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis. So stand er auch jetzt wieder mitten im Labor und referierte seiner Arbeitsgruppenleiterin Monika Naumann den aktuellen Stand der Arbeit. Sein bester Freund am Institut, Steffen Osswald, Spätaussiedler aus Polen und am gleichen Tag wie Gröning am Institut als Doktorand eingestellt, hatte sich zu ihnen gesellt und hörte zu.

Gröning beschrieb einen Versuch, den er vierzehn Tage zuvor begonnen hatte und dessen erste Ergebnisse jetzt vorlagen.

»Der angebrochene Fingerknochen liegt in der Nährlösung. Die Nährlösung ist so abgestimmt, daß das Material nicht kontaminiert werden kann, mit einem hohen Anteil an Bakteriostatika. Dann habe ich hGFαG in niedriger Konzentration dazugegeben. In Abständen von anfangs zwei, später zwölf Stunden wurde die Bruchstelle am Knochen mikroskopisch untersucht und der Knochen vermessen und gewogen. In bestimmten Zeitabständen wurde frisches hGFαG zugesetzt, um die Zersetzung des Faktors auszugleichen. Gut, oder?«

Er strahlte in die Runde.

»Wo hattest du den Knochen her?«

Steffen Osswald wirkte sehr interessiert.

»Ein Kumpel von mir ist Arzt. Er arbeitet in der Unfallstation Holwedestraße.«

»Das mußt du mir genauer erklären. Wie hast du ihn gekriegt?«

Monika Naumann stand zwar zu ihren Leuten, nahm aber ihre Aufsichtspflicht sehr ernst. Inkorrektheiten duldete sie nur, wenn sie gut begründet werden konnten und eine bestimmte Dimension nicht überstiegen. Sie musterte Gröning aus schräggestellten, katzenhaften Augen.

Doktor Naumann war Mitte dreißig und trotz ihres aparten Äußeren weder verheiratet noch sonst irgendwie gebunden. Schuld daran, so erzählte man am Institut, sei die Arbeit, die ihr ganzes Denken bestimme und keine Zeit für private Dinge lasse. Tatsächlich brachte sie täglich zwölf bis dreizehn Stunden im Institut zu. Sie hatte sich während ihrer Diplomarbeit an diesen Rhythmus gewöhnt und ihn beibehalten. Wie der Großteil ihrer Kollegen in der Abteilung war sie überzeugte Forscherin, und die ständige Suche nach Neuem bestimmte ihr Leben.

Gröning lächelte sie an. Er mochte seine Chefin. Sie war immer da, wenn er einen Diskussionspartner brauchte, und hatte ein wissenschaftliches Know-how, von dem sich viele andere im Biozentrum, darunter einige aus den oberen Etagen, eine Scheibe abschneiden konnten.

»Ich hatte einen Vertrag mit dem Mann, alles ganz korrekt. Hat zwölf Bier gekostet, aber dafür hat er sich verpflichtet, mich anzurufen, wenn etwas Interessantes reinkommt.«

Doktor Naumann war nicht so sicher, ob dieses Vorgehen völlig korrekt gewesen war.

»Vor dem Gesetz rückt das in die Nähe des Organhandels, oder?«

Gröning verdrehte in gespielter Ungeduld die Augen.

»Das ist etwas übertrieben. Bernd, das ist mein Kumpel, hat mir versprochen, daß der Vorbesitzer das Ding nicht mehr braucht, sie hätten es sowieso weggeworfen. Es war eine Amputation. Der Mann war mit der Hand in eine Stanze gekommen, sie war böse zerquetscht, und Teile mußten abgenommen werden. Einer der kleineren Handknochen war noch in Ordnung und für meinen Versuch geeignet. Ich habe ihn mir gleich abgeholt, in einer Kühltasche. Tag, Herr Kempe!«

Der Hausmeister des Instituts hatte mit seiner Werkzeugtasche den Raum betreten. Durch seine dicken Brillengläser blinzelte er kurzsichtig wie ein Maulwurf in Richtung der kleinen Gruppe und grüßte freundlich zurück. Dann machte er sich an die Überprüfung der Wasserleitung.

»Wie sieht das Ergebnis aus?«

Wenn Frau Naumann auf etwas gespannt war, war sie immer kurz angebunden.

»Es war so: Die Bruchstelle schloß sich innerhalb weniger Stunden. Nach sechs Stunden war der Bruch komplett verheilt, man konnte kaum noch eine Spur der Stelle sehen. Das fand ich schon ziemlich toll, zumal die Versuchsbedingungen sicherlich noch optimiert werden müssen. Aber das Beste kam erst noch.«

Er blickte prüfend in die Runde. Die beiden Zuhörer hingen an seinen Lippen.

»Es fand Knochenwachstum statt. Der Fingerknochen in der Nährlösung ist in den Tagen danach tatsächlich signifikant gewachsen und hat an Gewicht zugenommen. Und das ist wirklich ein Hammer.«

Erster Tag, Dienstag, 10.20 Uhr

John Wright war mehr als beeindruckt.

»Und die Ergebnisse sind reproduziert?«

Jahnke nickte.

»Sie wurden alle mindestens zweimal gemacht, bis auf den letzten, den mit dem Knochenstück. Das liegt zu kurz zurück, aber wir werden es wiederholen. Und es wird ganz sicher wieder klappen.«

Er leerte sein Glas und winkte der Bedienung, um nachzubestellen. Die lange Rede hatte seine Kehle ausgetrocknet.

»Du bist dir über die Entwicklungsmöglichkeiten, die in dieser Entdeckung stecken, im klaren?«

Sein Freund nickte.

»Deshalb bin ich hier.«

»Es gibt theoretisch eine ganze Anzahl von Anwendungen, für die ich mir den Wachstumsfaktor vorstellen könnte. Angefangen von beschleunigter Heilung bei Brüchen bis hin zu Zwergwuchs ist alles drin. Ich schätze, auch das Militär könnte interessiert sein. Die suchen doch immer nach Möglichkeiten, ihre Verletzten schnell wieder hochzupäppeln. Und im sportlichen Bereich sind ebenfalls Applikationen möglich.«

»... die allerdings teilweise illegal wären«, beendete Wright den Satz.

»Natürlich. Ich will dir nur die Größe des möglichen Marktes aufzeigen, und dazu gehören auch solche Sachen.«

Der Amerikaner nippte nachdenklich an seinem Kaffee. Das meiste von dem, was Jahnke ihm eben erzählt hatte, hatte er sich aufgrund der Informationen, die dieser ihm am Telefon gegeben hatte, schon zusammengereimt.

»Wie gesagt, wir sind natürlich sehr an eurem Wachstumsfaktor interessiert, allerdings nur auf Exklusivbasis.«

Das war nicht ganz die Wahrheit und stellte seine Maximalforderung dar. Die Firma, die das Monopol auf den Faktor hätte, würde unendlich viel Geld verdienen, und Richardson Pharmaceuticals wäre damit sicherlich innerhalb kürzester Zeit die Nummer Eins auf dem Weltmarkt. Aber natürlich würden sie sich zur Not das Monopol auch mit jemandem teilen – sie konnten es sich gar nicht leisten, auf dieses Projekt zu verzichten. Aber das mußte er Jahnke ja nicht gleich auf die Nase binden.

»Wie denkst du dir denn unsere Gegenleistung?«

»Ein klares Geschäft. Ich liefere das Material, ihr bezahlt einmalig eine bestimmte Summe. Du weißt von meinen Plänen, ein eigenes Forschungsinstitut zu gründen, dazu brauche ich reichlich Geld. Aber noch etwas ist nötig: die praktische Unterstützung der Richardson Pharmaceuticals.«

Wright machte sich ein paar Notizen auf einer Papierserviette.

»Was meinst du damit?«

»Eine Garantie für Forschungsaufträge eurer Firma, für die ersten fünf Jahre nach Gründung des Instituts. Außerdem Zugriff auf einige eurer Großgeräte. Am Anfang werde ich für große Investitionen keine Luft haben.«

Der Amerikaner wiegte den Kopf hin und her. Svokos hatte ihm weitreichende Vollmachten mitgegeben, und bisher konnte er an Jahnkes Vorschlag nichts erkennen, was dem Geschäft ernstlich im Wege stand.

»Die Aufträge sollten kein Problem sein. Die Sache mit den Geräten auch nicht, du kannst uns mal eine Liste zusammenstellen. Die wichtigste Frage für mich ist im Moment: Wieviel Geld willst du?«

Jahnke sah ihn an. Der andere war sein Freund, aber Geschäft war Geschäft.

Er räusperte sich.

»Zwanzig Millionen Dollar. Und du weißt, daß das nicht zuviel verlangt ist.«

*

HGFαG konnte Knochenwachstum unter Laborbedingungen induzieren, daher lag der Schluß nahe, daß dies auch am Menschen gelingen mußte. Was das für medizinische Möglichkeiten implizierte, wußte jeder der Anwesenden.

Steffen Osswald staunte.

»Mensch, Thorsten, du hast ausgesorgt.«

Grönings Lächeln verschwand langsam.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn ich weitermachen kann und alles korrekt läuft, gibt es keine Probleme. Ich habe aber irgendwie ein ungutes Gefühl.«

Er stockte.

Monika Naumann blickte ihn an.

»Was für ein Gefühl?«

Gröning war etwas verlegen und spielte mit einer kleinen, gelben Pipettenspitze herum, die er von einem der Tische genommen hatte. Anscheinend fiel es ihm schwer auszusprechen, was ihn bedrückte.

»Es geht um Doktor Jahnke. Er ist natürlich unser Abteilungsleiter und hat sicher ein Recht darauf, aber ich finde, er interessiert sich etwas zu sehr für meine Arbeit. Gestern abend habe ich ihn erwischt, wie er an meinem Schreibtisch saß und in meinen Aufzeichnungen über den letzten Versuch blätterte. Er dachte wohl, ich wäre nicht mehr da, und war etwas erschrocken, als ich ins Zimmer platzte. Und das war schon das dritte Mal in den letzten vier Wochen, daß ich so etwas beobachtet habe.«

Mario Böhl, einer der vielen anderen Doktoranden am Institut, betrat das Labor. Er grüßte kurz in die Runde und wandte sich dann einem Rotationsverdampfer zu, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund gedreht hatte und in dem sich eine braune Flüssigkeit zu sirupartiger Konsistenz verdickte. Die Kollegen halfen sich bei Bedarf mit Geräten aus, deshalb war Böhl oft in Grönings Labor, und dieser kam zu Böhl, wenn er Geräte benutzte, die dort standen.

Gröning wirkte immer noch etwas unbehaglich.

»Versteht mich nicht falsch, ich hätte ihm alles gesagt, was er hätte wissen wollen, wenn er mich gefragt hätte. Aber dieses heimliche Rumkramen in meinen Sachen gefällt mir nicht.«

Jahnke war als Abteilungsleiter auch Monika Naumanns Chef. Daß sie sein Verhalten trotzdem kritisch sehen konnte, sprach für sie.

»Das war sicher nicht in Ordnung. Die Arbeit gehört dir, und wenn er etwas darüber wissen will, soll er dich gefälligst fragen. Hast du ihn zur Rede gestellt?«

»Schon. Aber er ließ sich auf kein Gespräch ein. Er sagte nur, daß er als mein Boß über meine Ergebnisse verfügen könne, wann immer er wolle. Schließlich sei er verantwortlich für alles, was in seiner Abteilung passiere.«

Doktor Naumanns hübsches Gesicht rötete sich vor Zorn.

»Wenn so was noch mal vorkommt, sag es mir bitte. Zur Not schalte ich Waldmann ein, der hat für Führungsverhalten dieser Art kein Verständnis.«

Professor Waldmann war der wissenschaftliche Direktor des Instituts und Vorgesetzter von Jahnke und den vier anderen Abteilungsleitern des Hauses.

Gröning schien immer noch nicht alles gesagt zu haben, was er sagen wollte.

»Jahnke ist heute in Frankfurt, auf der ›Biosciences‹, nicht wahr?«

»Ja.«

»Weißt du, was er dort macht?«

Doktor Naumann schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Ahnung. Warum fragst du?«

»Ach, es ... ist eigentlich nichts. Aber dieses heimliche Rumsuchen in meinen Papieren gibt mir so ein komisches Gefühl. Könnte es sein, daß er ... Kapital aus meiner Arbeit schlagen will?«

Es kostete ihn große Überwindung, den Verdacht auszusprechen, das sah man ihm an.

Monika Naumann runzelte die Stirn.

»Das glaube ich wirklich nicht, er ist kein Krimineller. Und er weiß, daß er erledigt ist, wenn so was rauskommt.«

Der Doktorand war nicht überzeugt.

»Sicher hast du recht. Aber ich werde trotzdem vorsichtig sein.«

»Klar. Hast du eigentlich Sicherungskopien deiner Versuchsprotokolle?«

»Keine Papierkopien. Es gibt nur das Laborjournal und Dateien, auf denen alles drauf ist, auf Festplatte und Diskette.«

Der Hausmeister wuselte immer noch irgendwo unter der Spüle herum und war nur zu hören, aber nicht zu sehen. Gemessen an der Zahl der Flüche pro Minute schien der Fehler, den er im Wasserleitungssystem gefunden hatte, schwerwiegender zu sein, als er anfänglich gedacht hatte.

Monika Naumann beendete das Gespräch und verließ das Labor, sie hatte einen wichtigen Termin in der Stadt. Gröning blieb mit Steffen Osswald zurück.

»Wäre wirklich schade, wenn mir Jahnke dazwischenkäme. Bisher lief alles so gut.«

»Da brennt schon nichts an. Du kannst immer beweisen, daß du der Entdecker bist.«

Einen kleinen polnischen Akzent hatte Osswald immer noch, obwohl er schon seit ein paar Jahren in Deutschland lebte und auch vorher viel deutsch gesprochen hatte. Seine Eltern waren nach dem Krieg in Polen geblieben, weil sie den Bauernhof der Großeltern nicht aufgeben wollten. Als dieser dann in staatlichen Besitz übergegangen war, war es zu spät gewesen, das Land zu verlassen.

Einen großen Teil seiner Prägung hatte Steffen in den polnischen Schulen, in den sozialistischen Jugendorganisationen und an der Uni erfahren, aber er hatte sich immer nur halb als Pole gefühlt. Zu Hause wurden deutsches Brauchtum und Sprache gepflegt, und seine Familie spielte lange Zeit mit dem Gedanken, nach Deutschland zu gehen. Drei Jahre zuvor hatte sie dann die Gelegenheit dazu bekommen.

Gröning sah ihn an, mit einer Mischung aus Zuneigung und Mitleid. Steffens Kleidung lag immer kilometerweit neben dem aktuellen Trend, eine Folge der Umstände, unter denen er aufgewachsen war. Mit seinem grobknochigen Gesicht und dem kleinen Bauchansatz stellte er rein äußerlich einen völlig anderen Typ dar, als er selbst es war. Trotzdem konnte er sich keinen besseren Freund vorstellen.

Mario Böhl, der bisher mit seinem Versuchsaufbau beschäftigt gewesen war, hatte wohl mit einem Ohr ihrem Gespräch zugehört.

»Dein Laborjournal kann theoretisch als Beweis dienen, daß du die Arbeit gemacht hast, das stimmt schon. Und die Technik zur Isolierung und Stabilisierung ist so komplex, daß man sich schwertun würde, sie nachzukochen. Aber gerade deshalb würde die Industrie für eine genaue Beschreibung sicher eine Menge zahlen. Und ich traue Jahnke durchaus zu, daß er dein Zeug verkauft.«

Die anderen beiden wandten sich ihm zu, sogar der Hausmeister hörte auf, mit seinem Werkzeug zu klappern. Normalerweise wurde ein solcher Verdacht nicht offen ausgesprochen.

»Hast du irgend etwas bei ihm beobachtet, aus dem du das schließen kannst?«

Gröning musterte Böhl distanziert. Obwohl die beiden schon lange auf dem gleichen Korridor arbeiteten, waren sie nie richtig miteinander warm geworden. Vielleicht waren ihre Lebensumstände zu unterschiedlich. Böhl war der Sohn reicher Eltern, deren Bankkonto ihm ein luxuriöses Leben gestattete. Sein Porsche war noch recht neu, und seine Wohnung war etwa dreimal so groß wie die seiner Kollegen.

Grönings Eltern waren gestorben, als er dreizehn gewesen war, seitdem hatte er sich allein durchgeschlagen. Während des Studiums hatte er im »Friedrich«, einer Kneipe im Magniviertel, gearbeitet. Die Arbeitszeit ließ sich mit seinen Vorlesungen ganz gut vereinbaren, trotzdem war die Doppelbelastung recht anstrengend gewesen. Innerhalb von fünf Jahren hatte er sich zum Geschäftsführer hochgearbeitet. Obwohl ihm die Branche eine Menge hätte bieten können, entwickelte er keinerlei Ambitionen in der Gastronomie.

Seine Leidenschaft war ausschließlich die Forschung, um ihrer selbst willen. Etwas zu finden, daß noch kein anderer vor ihm gefunden hatte, das machte für ihn den Reiz an der Sache aus. Akademische Lorbeeren und die Anerkennung der Kollegen waren natürlich auch wichtig, aber nicht der eigentliche Grund seiner Berufswahl. Die Befriedigung der Neugierde war es, die ihn antrieb.

Bei Böhl lag die Sache anders. Er hatte das Biologiestudium eher zufällig gewählt, weil er sich irgendwann mal entscheiden mußte und keine Lust gehabt hatte, schon ins Berufsleben zu starten. Und er promovierte eigentlich nur, weil es seine Familie von ihm erwartete.

»Ich kenne ihn besser als ihr, er ist mein Betreuer. Ich glaube, er würde alles tun, um seinem großen Ziel ein Stück näherzukommen.«

Jahnke war seit vier Jahren Abteilungsleiter. Als Verwaltungsmensch war er eine Kanone, er kannte sich im Paragraphendschungel aus wie kein zweiter. Als Forscher jedoch war er von chronischer Erfolglosigkeit geplagt. Normalerweise hatte ein Abteilungsleiter in den Augen der fachlich vorgebildeten Öffentlichkeit maßgeblichen Anteil an den Resultaten seiner Mitarbeiter, aber bei ihm war dies anders. Der Mann hatte keine Ideen, und das war in der Biotechnologie-Szene bekannt. Gute Ergebnisse, die aus seiner Abteilung erwuchsen, wurden daher automatisch seinen Untergebenen zugeordnet, die sich in diesem Klima besser profilieren konnten als in jeder anderen Abteilung. Ihr Nachteil war der Mangel an wissenschaftlicher Betreuung ihrer Arbeit.

Er litt sehr unter der fehlenden persönlichen Anerkennung, sah er sich doch selbst als ambitionierten, aber glücklosen Forscher, der durch die willkürlichen Vorgaben seiner Vorgesetzten eingeschränkt wurde. Auf dem Nährboden der Frustration war über die Zeit Jahnkes Traum gewachsen, der Traum vom eigenen, etablierten Forschungsinstitut, an dem er den Kurs bestimmen konnte.

Gröning kannte diese fixe Idee, wie alle Kollegen. Er seufzte.

»Du denkst also ...«

Böhl nickte.

»Schließ dein Laborjournal besser zusammen mit den Disketten ein.«

Offenbar hatte er wirklich das ganze Gespräch mitangehört.

»Laß nichts mehr offen liegen, sonst kannst du deine Techniken bald in der Zeitung lesen. Und wenn einer deine Methoden vor dir veröffentlicht, dann ...«

»... dann sind zweieinhalb Jahre Arbeit für die Katz gewesen«, vervollständigte Osswald mit Grabesstimme.

Erster Tag, Dienstag, 10.30 Uhr

John Wright war von der Höhe des Betrages nicht so beeindruckt, wie ein außenstehender Beobachter es vielleicht erwartet hätte. Die Summe, die Albert Jahnke genannt hatte, war kein Wucherpreis, das wußten beide. Dennoch – vielleicht ginge es auch billiger. Im Moment galt es, etwas Zeit zu gewinnen.

»Das kann ich nicht entscheiden. Ich telefoniere nachher mit George.«

Jahnke kannte den Chef seines Freundes von einem früheren Besuch bei Richardson Pharma. Er grinste den Amerikaner an.

»Ich bin zuversichtlich, daß wir ins Geschäft kommen werden.«

Der andere blieb ernst. Man hatte ihm für den Abschluß dieses Geschäftes einen satten Bonus und einen großen Schritt vorwärts in der Firmenhierarchie versprochen. Wenn es allerdings nicht klappte, hatte er ein Problem.

Sein Chef war dafür bekannt, unnachsichtig gegenüber Versagern zu sein, und wer ein Versager war, bestimmte er selbst. Für den Betroffenen hieß das in jedem Fall, daß er große Schwierigkeiten haben würde, einen neuen Job zu finden.

»Erzähl mir was über die Rahmenbedingungen der Arbeiten. Hast du direkten Zugriff auf die Ergebnisse?«

Nun wurde auch Jahnke wieder ernst. Sein zweites Bier kam gerade. Er widmete sich dem Glas und vermied es, sein Gegenüber anzusehen.

»Nicht direkt. Ehrlich gesagt gibt es noch ein kleines Problem. Du weißt, daß einer meiner Doktoranden der eigentliche Sachbearbeiter ist. Er ... wird kein Geschäft mit seiner Arbeit machen wollen, weil er glaubt, dies könne seine Promotion gefährden.«

Er hatte Gröning zwar nicht gefragt, ob das so war, kannte ihn aber gut genug, um sich die Antwort ausrechnen zu können. Aber auch wenn der junge Mann zugesagt hätte, wäre das schlecht gewesen. Einer allein ist immer besser als zwei, die teilen müssen. Jahnke brauchte das ganze Geld für seinen Plan und hatte keine Lust, jemandem etwas abzugeben.

»Was ihr braucht und was ihr auch bekommt, sind Kopien seiner Protokolle. Die gebt ihr dann als Ergebnisse eurer eigenen Forschung aus.«

Dies war der kritische Moment der Verhandlungen, das wußte Jahnke. Er beobachtete den anderen gespannt.

Wright konnte seine Überraschung nicht verbergen, mit Schwierigkeiten dieser Art hatte er nicht gerechnet. Er faßte sich schnell. Die Planung, die er für das Geschäft gemacht hatte, stürzte nicht komplett zusammen, würde aber in großen Teilen überarbeitet werden müssen. Eine kleine Zornesfalte bildete sich in der Mitte seiner Stirn.

»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Ich dachte, wir machen einen völlig legalen Deal, statt dessen geht es jetzt in Richtung Diebstahl geistigen Eigentums und Industriespionage. Dazu kriege ich nie das Okay.«

Jahnke musterte ihn leidenschaftslos.

»Du kriegst das Okay. Ihr könnt euch gar nicht erlauben, auf den Wachstumsfaktor zu verzichten. Mit ein bißchen Unterstützung von eurer Seite habe ich Grönings Ergebnisse in ein paar Tagen in den Händen. Und falls er nachher klagen will – davor habt ihr doch wohl keine Angst, oder?«

Das Klima zwischen den beiden hatte sich um ein paar Grad abgekühlt. Vielleicht würde es nie mehr so wie früher werden, aber es stand zuviel auf dem Spiel, als daß eine oberflächliche Freundschaft dabei ins Gewicht fiel.

Wright hatte keine wirklichen Skrupel. Seine zwei Töchter bereiteten sich auf den Besuch der Universität vor, und das würde ihren Daddy viel Geld kosten. Der Bonus aus dem geplanten Geschäft würde ihm und seiner Frau die Zukunft enorm erleichtern.

Auf der anderen Seite hatte er bisher noch nie etwas Illegales getan, von gelegentlichen Verkehrsübertretungen abgesehen. Er verspürte leise Angst, den Anforderungen, die auf ihn zukommen würden, nicht zu genügen.

»Was sollte uns davon abhalten, den jungen Mann direkt zu kontaktieren und das Geschäft mit ihm zu machen?«

Sein Blick wanderte scheinbar ziellos durch den Raum und blieb an der umfangreichen Flaschensammlung auf dem Regal hinter dem Tresen hängen. Ein großer Drink wäre jetzt nicht schlecht gewesen.

»Ich sagte schon, er macht keinen Deal, Promotion und wissenschaftliche Laufbahn sind ihm lieber. Außerdem kennst du doch die deutsche Rechtslage. Die Ergebnisse, die er erzielt, gehören nicht ihm persönlich. Gewinne, die daraus gezogen werden, müssen normalerweise dem Institut zugute kommen. Schon deshalb würde er nicht darauf eingehen.«

»Und wenn wir ganz regulär dem Biozentrum ein Angebot machen?«

Ein spöttisches Lächeln überzog Jahnkes Gesicht.

»Unser Chef würde alles den ganz offiziellen Weg gehen lassen, das hieße, eure Chance, an das Ding ranzukommen, wäre genauso groß wie die jeder anderen Firma. Daraus resultieren aber noch zwei Nachteile: Der Preis würde durch den Konkurrenzdruck steigen, und Waldmann würde sicherlich mehrere Teillizenzen vergeben, um den maximalen Profit abzuschöpfen und ein Wirtschaftsmonopol zu vermeiden, er hat da sehr altmodische Ansichten. Du siehst, ein besseres Angebot als ich kann euch keiner machen. Ihr bekommt die Technologie von mir und meldet sie schnell zum Patent an, dann habt ihr euer Monopol.«

Erster Tag, Dienstag, 19 Uhr

Thorsten Gröning verließ nachdenklich das Institut. Es war kurz nach sieben, und in den meisten Laboratorien wurde noch mit Hochdruck gearbeitet.

Er öffnete das Schloß seines Fahrrads, das an der Wand vor dem Seiteneingang gestanden hatte, und stieg auf. Der Sommerabend war warm, und er fuhr langsam in Richtung seiner Wohnung.

Kurz bevor er von der Konstantin-Uhde-Straße in die Pockelstraße einbog, hörte er, wie ihm jemand hinterherrief. Er drehte sich um und sah Cornelia Niemitz, eine seiner Kolleginnen. Sie kam gerade aus dem »Audimin«, der kleinen Kneipe neben dem Biozentrum, die aufgrund ihrer äußerst günstigen Lage eine Art Stammlokal der Institutsbelegschaft war.

Cornelia war erst seit vier Monaten am Institut. Sie schrieb ihre Diplomarbeit und kam ganz gut voran. Sie war von kleiner Statur, hatte kurze, rote Haare und ein hübsches, freches Gesicht.

Sie begrüßten sich und gingen ein Stück gemeinsam weiter.

»Wo bist du denn den ganzen Tag? Man sieht dich überhaupt nicht mehr.«

Sie sah ihn freundlich an.

Gröning lächelte.

»Du weißt ja, meine Arbeit. Geht zwar gut voran, aber braucht halt auch viel Zeit. Und jetzt vielleicht noch der Ärger mit Jahnke ...«

»Hab’ ich schon gehört«, platzte sie heraus. Am Institut sprachen sich auch die vagesten Gerüchte blitzschnell herum.

»Willst du darüber reden? Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Nein, danke, laß mal, ich hab’ heute schon genug darüber geredet. Aber wir holen das Gespräch ganz bestimmt nach.«

Er stieg wieder auf sein Rad.

»Dann will ich mal. Wir sehen uns morgen. Wo mußt du denn hin?«

»Ich wohne im Affenfelsen.«

Das war der Spitzname des Studentenwohnheims Rebenring, einem großen, grauen Zementklotz, der kaum fünfhundert Meter entfernt lag. An der Kreuzung trennten sie sich, und jeder schlug seine Richtung ein.

Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen wohnte Thorsten Gröning nicht direkt im Einzugsgebiet der Uni, sondern hatte eine kleine Wohnung im dritten Stock eines Hauses in der Fasanenstraße, etwa zwei Kilometer entfernt. Langsam fuhr er die Pockelstraße hinauf in Richtung Wendentorwall. Das Universitätsforum war jetzt leer, die kahle, zementplattenbelegte Fläche verlassen. Lediglich im Auditorium Maximum lief noch eine späte Vorlesung, wahrscheinlich für die Maschinenbauer.

Jahnke war hinter seinen Ergebnissen her, dessen war Gröning sich sicher. Alle, mit denen er gesprochen hatte, sahen das genauso. Die Frage war nur, wie konnte er sich dagegen wehren? Er dachte an Monika Naumanns Angebot, Professor Waldmann miteinzubeziehen. Aber konnte er einfach mit einem unbewiesenen Verdacht zu ihm gehen?

Vielleicht sollte er doch die Naumann vorschicken. Sie hatte einen sehr guten Draht zum Institutsleiter und konnte ihn zumindest schon mal vorbeugend sensibilisieren.

Gröning haßte Umwege dieser Art. Wenn es galt, Probleme aus der Welt zu schaffen, war nichts besser als ein direktes Gespräch. Aber mit Jahnke klappte das nicht. Schon bei früheren Gelegenheiten hatte sich gezeigt, daß der Mann niemals bereit war, von seinen Vorstellungen abzuweichen. Eine Diskussion über sein Verhalten anzuregen, wäre reine Zeitverschwendung gewesen.

Also doch der Weg über die Naumann.

Nachdem Gröning diesen Entschluß gefaßt hatte, war ihm wohler. Die Mappe mit seinen Ergebnissen hatte er, obwohl Jahnke heute nicht im Institut gewesen war, für die Nacht in einem Schrank außerhalb seines Labors eingeschlossen. Böhl hatte ihm geholfen, den Schlüssel für den Schrank zu finden, der in einer Schublade irgendwo im – um diese Zeit schon verlassenen – Sekretariat des Instituts lag, dabei war er sehr hilfsbereit und freundlich gewesen. Gröning fragte sich jetzt, ob er ihn nicht die ganze Zeit über falsch eingeschätzt hatte.

Er bog auf das Grundstück in der Fasanenstraße ein. Die einzige Garage des Hauses, am Ende der Einfahrt, hatte die Familie im Parterre gemietet. Garagen waren hier ein wertvolles Gut, denn in der gesamten Gegend war es sehr schwer, Parkplätze zu finden – zwei Krankenhäuser und eine Vielzahl von Büros mit den dazugehörigen Angestellten und deren Autos machten das so gut wie unmöglich.

Für Thorsten Gröning stellte sich das Problem kaum. Sein eigener Wagen war ein alter Polo, der die meiste Zeit auf der Straße vor dem Haus stand. Er brauchte ihn nur selten, eigentlich nur für gelegentliche Einkäufe in den Supermärkten am Stadtrand und für die Fahrten zu seiner Freundin, alles andere erledigte er mit dem Fahrrad.

Er stellte das Rad neben die Haustür und schloß es ab, dann stieg er die drei Treppen hinauf zu seiner Wohnung. Es waren genau siebzig Stufen, das hatte er mehr als einmal stöhnend und genervt gezählt, wenn er eine Kiste Bier oder etwas ähnlich Schweres nach oben getragen hatte. Ohne Zusatzlast, wie heute, machte ihm der Weg nichts aus. Er freute sich auf die eigenen vier Wände.

Die kleine Wohnung war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Durch die vielen Dachschrägen – über ihm war nur noch der Trockenboden – besaß sie ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter. Regale mit Büchern bedeckten die Wände, und aus den kleinen Fenstern hatte man einen schönen Blick über die Dächer des Stadtteils und den alten Wasserturm am Herzogin-Elisabeth-Krankenhaus.

Gröning stellte seine abgewetzte Aktentasche in die Ecke neben den Schreibtisch, in der sie immer stand. In der Küche nahm er sich einen Apfel und biß gedankenverloren hinein.

Wenn nur alles gutging mit seiner Arbeit.

Erster Tag, Dienstag, 22.30 Uhr

Die Flure des Hauses waren dunkel und verlassen.

Die Fenster in den oberen Teilen der Labortüren gaben den Blick frei in die Dunkelheit der dahinterliegenden Räume, auf die vagen Umrisse von Glasapparaturen und Meßgeräten. An einigen Stellen leuchteten die Diodenanzeigen der Instrumente, die niemals ausgeschaltet werden durften. Nur die Sterilräume wurden durch die Beleuchtung der Impfbänke stärker erhellt, aus ihren kleinen Türfenstern fiel Licht und zeichnete helle Vierecke, von exakten Schatten eingerahmt, auf die gegenüberliegenden Wände.

Beinahe lautlos glitt er durch die kahlen Flure des Instituts. Seine Bewegungen waren zielgerichtet und sparsam, und trotz der schlechten Sichtverhältnisse fand er sich ohne Schwierigkeiten zurecht und kam schnell voran. Kurz vor seinem Ziel hielt er an und drehte sich sichernd nach links und rechts. Die Tür zu Grönings Labor stand halb offen, und er blickte durch den Spalt hinein.

Der Raum war leer, wie alle anderen. Die Digitalanzeige eines Photometers glomm rötlich in der Dunkelheit, und das Licht einer Straßenlaterne vor dem Haus ließ die Konturen von Möbeln und Geräten hervortreten. Er trat ein, ohne Licht zu machen.

In einer klimatisierten Kammer, unter Licht definierter Wellenlänge, stand der Glaszylinder mit dem Knochen, von dem Thorsten Gröning gesprochen hatte. Er kicherte. Kollege Gröning. Der Star des Instituts. Der Mann, bei dem alles glattlief. Er verabscheute diesen Menschen mit einer fast pathologischen Intensität. Und, wenn er ehrlich war, neidete er ihm den Erfolg, der nur aus Glück bestand. Jeder hätte auf dieselben Ideen kommen können wie er, mit etwas Zeit und der richtigen Unterstützung.

Aber Glück war nicht alles und konnte korrigiert werden. Keiner entkommt seinen Verhältnissen, und Gröning war einfach nicht zum Gewinner geboren. Einen Moment lang dachte er daran, den laufenden Versuch des Kollegen zu zerstören. Eine kleine Menge Salzsäure würde den pH kippen und die Bedingungen für den neuen Wachstumsfaktor derartig verschlechtern, daß kein neues Wunderergebnis zu erwarten wäre. Fast im gleichen Atemzug gab er den Gedanken wieder auf – es wäre kindisch gewesen. Was er vorhatte, würde wesentlich härter und nachhaltiger treffen.

Er trat an den Schreibtisch heran. Die Arbeitsfläche war ordentlich aufgeräumt, der Computer abgeschaltet. Seine tastende Hand fuhr unter die Tischplatte, strich suchend hin und her. Der Schlüssel war mit einem Streifen Tesafilm darunter angeklebt. Er riß ihn ab.

Mit schnellen Schritten verließ er das Labor und ging in den Geräteraum nebenan, der als Chemikalienlager diente. Regale bedeckten die Wände, darin standen Plastik- und Glasgefäße mit allem, was man für die experimentelle Arbeit brauchte. Ein Teil der Substanzen lagerte in einem verschlossenen Metallschrank an der Wand links neben der Tür. Er öffnete ihn mit dem Schlüssel.

Das Laborjournal, eine dicke Mappe aus grünem Plastik, stand neben einer Reihe kleiner, brauner Glaskolben. Er nahm es heraus und schlug es auf.

In Grönings klarer Handschrift war fein säuberlich aufgeschrieben, was die Forschungsarbeit an hGFαG bisher ergeben hatte, vom ersten Tag an. Es war alles da, die Beschreibung der Versuchsaufbauten, eine Liste der verwendeten Materialien und Geräte und die Darstellung der Resultate mit eingeklebten Fotos von Gel- und Dünnschichtchromatographien.

Teilweise hatte Gröning sich auch schon in der Interpretation seiner Meßwerte versucht, in stichwortartigen Stellungnahmen am Ende der jeweiligen Versuchsbeschreibungen. Und er hatte auch schon eine ganze Anzahl von Literaturzitaten gesammelt, auf die er in seiner Dissertation Bezug nehmen wollte. Sie würden entweder seine Arbeiten bestätigen oder Grundlage wissenschaftlicher Diskussion werden.

Er lächelte über die viele vergebliche Arbeit, die der andere sich schon gemacht hatte, wie jemand die Versuche einer Ameise belächelt, ein zu großes Brotstück wegzutragen. Und es steckte wirklich eine Menge Arbeit in diesen Seiten, Arbeit, die ihm reichlichen Gewinn bringen würde.

Er dachte an das Leben, das zu führen er für sich geplant hatte und das er nun, dank der unfreiwilligen Mithilfe Grönings, bald führen würde. Er würde es schaffen, und zwar ohne die Hilfe seiner Familie und gegen ihren Willen.

Immer noch lächelnd, steckte er den Ordner in einen mitgebrachten Leinenbeutel und hängte ihn sich über die Schulter. Er schloß den Schrank, dann lief er schnell und ohne einen Laut zu verursachen den dunklen Weg zurück, den er gekommen war. Durch ein Fenster gelangte er ins Freie.

Es hatte alles so geklappt, wie er es sich gedacht hatte. Als er im Auto saß, verwandelte sich sein Lächeln in glucksendes, zufriedenes Gelächter. Er lachte in sich hinein, und die Spannung der letzten dreißig Minuten löste sich und gab ihm das Gefühl zurück, alles richtig gemacht zu haben.

Er fühlte sich so sicher, daß er das Augenpaar nicht bemerkte, das ihn aus einem Fenster im ersten Stock beobachtete und das ihn schon beobachtet hatte, seitdem er in den Flur des Gebäudes getreten war.

Er startete und fuhr los. Der Blick der fremden Augen folgte den roten Lichtern seines Wagens, bis er um die Ecke bog und außer Sichtweite war.

Erster Tag, Dienstag, 22.30 Uhr

Das Wasser der Dusche hatte den Schweiß des Tages fortgespült. Im Institut war es warm gewesen, die Räume dort hatten keine Klimaanlage. Zwar ließen sich die Fenster öffnen, aber zur Zeit brachte dies keine spürbare Kühlung. Mit dem Schweiß war auch ein Teil seiner sorgenvollen Gedanken im Abfluß verschwunden.

Thorsten Gröning hatte sich den Abend freigehalten. Seine Arbeit war in den letzten Tagen sehr anstrengend gewesen und forderte jetzt ihren Tribut. Er würde früh zu Bett gehen, nur ein wichtiger Punkt stand für ihn noch auf dem Programm: Es war der Anruf bei seiner Freundin.

Er hatte Melanie Rakow im letzten Urlaub in Griechenland kennengelernt, wobei der Zufall etwas zu Hilfe gekommen war. Gröning war kein Aufreißertyp; er hatte die hochgewachsene Blondine zwar schon einige Male in dem kleinen Ort auf Mykonos gesehen, wäre aber nie auf die Idee gekommen, sie anzusprechen.

Nachdem er aber versehentlich mit einem Volleyball ihren Drink vom Tisch gefegt hatte, mußte er ihr Ersatz bestellen und leistete beim Austrinken Gesellschaft. Sie unterhielten sich gut, entdeckten eine Menge Gemeinsamkeiten, und weil sie sich gegenseitig auch äußerlich sehr anziehend fanden, sahen sie sich im Verlauf des Urlaubs immer öfter.

Die Beziehung entwickelte sich schnell und hielt auch nach dem Urlaub, als beide wieder zurück im Alltagstrott waren, entgegen den Erwartungen seiner und ihrer Freunde und trotz der räumlichen Entfernung. Melanie wohnte in Mannheim, ungefähr vierhundert Kilometer von Braunschweig entfernt. Sie sahen sich nur am Wochenende – einer der größeren Posten in Grönings Budget war seitdem das Benzingeld – und hielten in der Zwischenzeit regelmäßigen telefonischen Kontakt.

Er hatte sich nach der Dusche nicht abgetrocknet. Nur mit einem Badetuch um die Hüften verließ er das Bad und genoß die Kühle des Wassers auf seiner Haut. Er holte sich das Telefon, das auf dem Boden des schmalen Flures stand, und setzte sich damit an den Küchentisch. Während er Melanies Nummer wählte, wanderte sein Blick durch den kleinen Raum.

Die Küche hatte ihm bei seinem Einzug sehr gut gefallen, und als einzigen Raum der Wohnung hatte er sie in dem Zustand belassen, in dem er sie übernommen hatte. Die Wände waren zweifarbig gestrichen; die untere Hälfte war mit grüner Ölfarbe bedeckt, die obere mit gelber Wandfarbe. Auf der einen Seite standen Herd, Spüle, Kühlschrank und Waschmaschine, die andere wurde von einem alten Küchenschrank und dem ebenso alten, mit einem bunten Wachstuch bedeckten Tisch eingenommen. An den Wänden hingen kleine, gerahmte Bilder, überwiegend Reproduktionen seiner bevorzugten Maler und ein paar Fotos von Freunden.

Melanie meldete sich sofort, und Thorsten berichtete ihr, was sich in der Zeit seit dem letzten Anruf ereignet hatte. Schnell kam das Gespräch auf den Ärger, der den jungen Mann zur Zeit am meisten beschäftigte.

»Du meinst, Jahnke will deine Ergebnisse verkaufen? Das kann ich gar nicht glauben. Wäre das nicht viel zu gefährlich?«

Melanie wußte natürlich von den Erfolgen ihres Freundes und war sehr stolz auf ihn.

»Nicht, wenn er es richtig macht. Auf jeden Fall muß ich dem schon vorbeugend einen Riegel vorschieben. Du weißt, was die Sache für mich bedeutet. Eine Doktorarbeit wie diese öffnet mir jede Tür, egal ob an der Uni oder in der Industrie.«

»Kommt er denn an deine Unterlagen heran?«

Gröning schabte sich unbehaglich am Kinn.

»Normalerweise liegt meine Ergebnismappe im Labor herum. Ich brauche sie ständig, wenn ich etwas nachsehen oder eintragen will, deshalb schließe ich sie nie irgendwo ein. Aber unter den jetzigen Bedingungen ... Es ist wohl besser, ich nehme sie nach der Arbeit mit nach Hause.«

Noch besser wäre gewesen, ich hätte sie heute gleich mitgenommen, dachte er schuldbewußt. Er hatte ein ungutes Gefühl, wenn er an seine Nachlässigkeit im Umgang mit der Mappe dachte, obwohl er sie heute eingeschlossen hatte.

»Du kriegst übrigens Post von mir. Ich schicke dir eine Sicherungskopie meiner Resultate auf Diskette, versteck sie bitte irgendwo, wo sie niemand findet. Und halt mich nicht für paranoid ... Ich glaube ja eigentlich nicht, daß es unbedingt nötig ist, aber mir ist einfach wohler, wenn ich das Material ein bißchen streue. Risikominimierung nennt man das bei euch, glaube ich.«

Seine Freundin, die bei einer Bank arbeitete, hielt das für eine sehr gute Idee. Die Sache bekam für sie einen leicht abenteuerlichen Charakter, und das schätzte sie.

»Na klar. Ich vergrabe das Ding bei Neumond auf dem Friedhof. Oder ich schicke es mir selber per Brief immer wieder zu, bis ...«

»Mach dich nicht darüber lustig.«

Leise lächelnd bremste Thorsten ihre Kreativität.

»Mir liegt sehr viel an der Sache. Die Diskette ist sehr wichtig für mich und auch für unsere gemeinsame Zukunft.«

Wie immer, wenn er über ein zukünftiges gemeinsames Leben sprach, freute sie sich insgeheim. Die beiden redeten nicht viel darüber, aber irgendwie war für beide klar, daß sie zusammenbleiben wollten.

Sie versprach ihm, sorgfältig mit der Sendung umzugehen. Ganz konnte sie die Bedeutung, die diese Diskette für ihn hatte, nicht nachvollziehen. Obwohl sie ihn ansonsten gut verstand, blieb seine Arbeit für sie wie für alle anderen Außenstehenden zum größten Teil unbekanntes Gebiet. Nur jemand, der selbst forscht, kennt das Gefühl, etwas zu suchen, das noch niemand vorher gesehen hat. Ein neues Stück Wissen im Gedächtnis der Menschheit bedeutete immer auch ein kleines Stück Unsterblichkeit. Nur wer das verstand, erkannte den Wert, den Grönings Ergebnisse für ihn hatten.

Zweiter Tag, Mittwoch, 8 Uhr

Albert Jahnke saß in seinem Büro im Biozentrum und blickte aus dem Fenster. Er sah hinaus auf den Innenhof des roten Klinkergebäudes, der sehr reizvoll und aufwendig mit viel Grün und einigen Wasserbassins zu einer kleinen Parklandschaft gestaltet worden war. Die Bassins dienten der Dekoration, wurden aber auch als Quelle für Rohmaterial bei bestimmten mikrobiologischen und biochemischen Praktika genutzt, sie enthielten eine große Anzahl bestimmter Algen und Bakterien. Jeder Normalbürger hätte sie aus diesem Wissen heraus eher mit gemischten Gefühlen betrachtet, für die Biologen waren sie ein Glücksfall.

Eigentlich sollte der Garten den Angestellten die Möglichkeit geben, sich in den Pausen etwas Bewegung zu verschaffen. Tatsächlich hatte die Mehrzahl der Wissenschaftler dafür keine Zeit, und nur Studenten und Praktikanten, die zeitlich befristet als Hilfskräfte im Institut arbeiteten, sah man gelegentlich die Bänke und Grasflächen bevölkern. Ansonsten blieb der kleine Park verlassen.

Jahnke dachte an seinen Besuch in Frankfurt und das Zusammentreffen mit John Wright. Sie hatten sich früher sehr gut verstanden, aber er fühlte, daß bei den Verhandlungen über das geplante Geschäft etwas zwischen ihnen zerstört worden war, das nicht mehr repariert werden konnte. Beide waren sie am Ende des Gesprächs nicht mehr so herzlich und unbefangen gewesen wie in den alten Tagen.

Mit der wirtschaftlichen Seite des Gesprächs war er zufrieden. Es lief gut, in einem Jahr würde er seinem Ziel ein großes Stück näher sein, es fast schon erreicht haben. Er hatte keinerlei Skrupel, was Gröning betraf. Was war schon die Arbeit eines Einzelnen, auch wenn sie sehr gut war, im Vergleich zu dem, was er mit seinem Institut für die Allgemeinheit würde leisten können? Die Gesamtbilanz sprach immer für ihn.

Er holte sich einen Kaffee aus der Maschine, die auf seiner Fensterbank stand, und nahm gähnend wieder an seinem Schreibtisch Platz. Er war am Vorabend erst spät aus Frankfurt zurückgekommen und hatte wegen der Aufregungen des Tages auch nicht gleich einschlafen können, dementsprechend müde fühlte er sich jetzt.

Sein Büro war mit den gleichen Möbeln eingerichtet wie die Räume aller anderen Mitarbeiter im Hause. Weiße Kunststoffflächen beherrschten das Bild, alles war sauber, funktionell und abwaschbar. An den Wänden hingen, mit Reißnägeln befestigt, ein paar bunte Bilder, die seine vierjährige Tochter für ihn gemalt hatte.

Er liebte die Kleine abgöttisch, sein Privatleben drehte sich nur um sie. Seine Frau hatte vor ein paar Wochen die Scheidung eingereicht. Seit mehr als zwei Jahren hatte sie einen Liebhaber, mit dem sie künftig leben wollte. Die Trennung hatte für Jahnke eine Menge neuer Aufgaben im Haushalt mit sich gebracht, von der verstärkten Verantwortung für die kleine Nicole ganz zu schweigen.

Er versuchte, die trüben Gedanken abzuwehren und sich wieder auf das Geschäftliche zu konzentrieren. Die Abmachungen mit Richardson Pharmaceuticals, so vage sie bisher waren, würden von seiten der Amerikaner eingehalten werden, da war er sicher. Er selber dachte nicht daran, sich genauso zu verhalten.

Es war immer gut, mehrere Angebote für eine Ware einzuholen, wenn diese interessant und der Bedarf dafür groß genug war. Und seine Ware war interessant.

Er holte ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloß den Schreibtisch auf. Das Schlüsselbund war ein Geschenk seiner Frau aus besseren Tagen, aus der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft. Es hatte einen Anhänger in Form eines kleinen Wurmes aus Holz- und Lederscheiben und war sein ständiger Begleiter und Talisman.

Jahnke öffnete eine Schublade. In einer kleinen Blechschachtel verwahrte er – alphabetisch geordnet – alle Visitenkarten, die er bei offiziellen Anlässen von seinen wissenschaftlichen Gesprächspartnern bekommen hatte. Er wußte den Namen der Person nicht mehr, die er anrufen wollte, und mußte deshalb fast den ganzen Stapel durchgehen, bevor er die richtige Karte fand: Doktor Ursula Fahrbach, Abteilungsleiterin in der Produktentwicklung von Swiss-Röger, einem der größten Pharmaunternehmen der Schweiz und in vielen Geschäftsfeldern direkter Konkurrent von Richardson Pharmaceuticals.

Nachdenklich hielt er die Karte einen Moment in der Hand. Ob Frau Fahrbach schon im Büro war? Er hob den Hörer ab und wählte. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen.

Die Stimme sprach ohne Schweizer Akzent. In dem Augenblick, als er sie hörte, stellte sich bei Jahnke das Bild der dazugehörigen Person ein. Er hatte Doktor Fahrbach, eine dicke, kleine Frau mit einer schönen Altstimme, vor zwei Jahren bei einem internationalen Symposium kennengelernt, auf dem sie über ihre Forschungen referiert hatte. Sie arbeitete, wie Monika Naumanns Gruppe, auf dem Gebiet der Wachstumsfaktoren.

Natürlich hatte sie damals nicht wirklich über ihre neuesten Ergebnisse berichtet, das wäre kaum im Sinne ihrer Firma gewesen. Aber was sie zu sagen hatte, war dennoch allgemein auf großes Interesse gestoßen. Er hatte sie nach ihrem Vortrag angesprochen, sie hatten sich lange unterhalten, und später hatte er sie als »eventuell noch mal kontaktierbar« abgespeichert, ohne allerdings zu wissen, unter welchen Umständen dies geschehen würde.

Er nannte seinen Namen.

»Freut mich, mal wieder von Ihnen zu hören.«

Offenbar erinnerte Doktor Fahrbach sich an ihn. Das machte ihm die Sache leichter.

»Frau Fahrbach, ich habe ein Angebot für Ihre Firma. Ich hoffe, Sie können mir weiterhelfen.«

»Worum geht es denn?«

»Ich verfüge über ein neues Know-how, das für Swiss-Röger, vielleicht sogar direkt für Sie und Ihre Gruppe, von größtem Interesse sein könnte, und suche eine Art ... nun, eine Art von Kooperation.«

»Dann schicken Sie mir doch einfach die Unterlagen. Wenn es in mein Ressort fällt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß ich die Informationen sowieso prüfen muß. Ich verspreche Ihnen auch, daß ich die Sache umgehend bearbeite.«

Sie lachte. Jahnke, der im Moment keinen Sinn für Humor hatte, verdrehte ungeduldig die Augen. Sie hatte noch nicht verstanden. Etwas nervös spielte er mit dem Kugelschreiber, der auf seinem Schreibtisch lag.

»Äh, das möchte ich nicht so gern. Es wäre auf keinen Fall gut, zu viel schriftliches Material bei dieser Art der Kooperation einzusetzen.«

Doktor Fahrbach wurde hellhörig. Allmählich ahnte sie, welche Art Geschäft ihr ihre Zufallsbekanntschaft vorschlug. Nun, anhören verpflichtete ja noch zu nichts. Sie forderte ihn auf weiterzusprechen.

»Sie werden sehen, es ist eine Sache, die die Forschung auf dem Gebiet der Wachstumsfaktoren revolutionieren wird.«

Innerhalb der nächsten Viertelstunde umriß er ihr, was Thorsten Gröning herausgefunden hatte, und betonte insbesondere die Applikationsversuche in den letzten Monaten. Sie unterbrach ihn nicht ein einziges Mal und machte sich eifrig Notizen. Als er fertig war, blieb es am Baseler Ende der Leitung erst einmal still.

Er dachte zunächst, die Verbindung wäre unterbrochen, aber nach ein paar Sekunden meldete sich seine Gesprächspartnerin wieder.

»Herr Jahnke, wenn das, was Sie mir erzählt haben, stimmt, wären wir natürlich sehr interessiert. Ich kann meinen Vorgesetzten nicht vorgreifen, aber wir können Ihnen sicherlich für Ihr hGFαG ein sehr großzügiges Kooperationsangebot machen. Natürlich muß die grundsätzliche Entscheidung auf höherer Ebene gefällt werden.«

Ursula Fahrbach, Tochter eines Lebensmittelgroßhändlers aus der Züricher Vorstadt, war nicht unbedingt ein Freund von krummen Geschäften. Andererseits konnte sie das Potential des Wissens, das ihr angeboten wurde, durchaus abschätzen und erkannte, wenn sich ihr ein gutes Geschäft bot.

Jahnke grinste in sich hinein. Keine der großen Firmen konnte es sich erlauben, sein Angebot auszuschlagen, wenn sie der Konkurrenz nicht einen großen Vorsprung verschaffen wollte. Sie würden alle versuchen, auf den Zug aufzuspringen.

»Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich Ihnen mal ein paar genauere Informationen geben würde.«

Sie stimmte zu.