Rise of Legends (Band 1) - Das Erbe des Drachenkaisers - Xiran Jay Zhao - E-Book

Rise of Legends (Band 1) - Das Erbe des Drachenkaisers E-Book

Xiran Jay Zhao

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Beschreibung

Uralte Legenden und mächtige Vorfahren Zack hat sich nie für seine Herkunft interessiert, schließlich musste seine Mom mit ihm aus China fliehen. Was soll er auch mit alten Sagen und Geschichten anfangen? Doch dann wird er auserwählt, den Geist des Drachenkaisers in sich aufzunehmen. Und plötzlich erwachen überall um ihn herum chinesische Legenden zum Leben. Mit den Befehlen des tyrannischen Herrschers im Ohr, muss Zack aufbrechen und das Portal zum Geisterreich verschließen. Nur so kann er die irdische Welt retten. Aber mystische Kreaturen und dunkle Feinde erwarten ihn … Die Reise der jungen Helden beginnt In dieser Fantasy-Reihe erwachen uralte chinesische Sagen und historische Persönlichkeiten zum Leben. Kinder ab 10 Jahren erwartet ein Abenteuer voller Mythologie, Action und Humor, das man nicht mehr aus der Hand legen kann. Themen wie Selbstfindung und Identität verleihen der Geschichte Tiefe. Der New York Times Bestseller von Erfolgsautor*in Xiran Jay Zhao für Fans von Percy Jackson und Yu-Gi-Oh!. Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Wie man mithilfe von Wikipedia Superkräfte erwirbt

Wie Suppe nicht zum Sieg verhilft

Wie man Videogame-Nerds mit uralten chinesischen Militärtaktiken schlägt

Wieso es bei der Gründung des Kaiserreichs China wie bei einer Talentshow zuging

Wie man reich und berühmt wird, indem man seinen Körper einem toten Kaiser ausleiht

Wie man Freunde verliert und andere Leute in die Flucht schlägt

Wie der Staat Qin China einte, indem er ein MMO wurde

Wie der chinesische Sherlock Holmes und der chinesische Leeroy Jenkins bei einem Museumseinbruch behilflich sein können

Wie man damit klarkommt, der Helfershelfer von Superschurken zu sein

Wie ein abgefallenes Blatt an den Baum zurückkehren kann

Wie man von einem Vogel abstammen kann

Wie legendäre Dichter ihre Kräfte messen

Wie man »lieber Junge – böser Kaiser« spielt

Wie man eine altehrwürdige chinesische Justice League austrickst

Wie man ein ungewöhnliches U-Boot chartert

Wie es ist, wenn einem der Sieg ausnahmsweise mal in den Schoß fällt

Wie man Unsterbliche bezwingt, indem man zu Unterwasser-Darth-Vader wird

Wie man die Chinesische Mauer in eine Rennstrecke umfunktioniert

Wie man sich um jeden Preis durchsetzt

Wie man seine Superkräfte richtig einsetzt

Wie man ein gütiger Anführer ist

Wie man den Romeo der Qin-Dynastie wiedererweckt

Wie man mit dem Vaterkomplex anderer Leute fertigwird

Wie ein neuer Kaiser erwacht

Wie jeder total nerven kann und noch gar nichts zu Ende ist

Danksagung

Für meine Familie,

die das mit dem Schreiben anfangs nicht ernst genommen hat,

nicht mal, als mein erstes Buch unter Vertrag war,

1

WIEMANMITHILFEVONWIKIPEDIASUPERKRÄFTEERWIRBT

Zack hatte es sich abgewöhnt, seine Lunchbox zu öffnen, wenn andere dabei waren. Was ihm seine Mutter mitgab, aß er sowieso nicht. Sie konnte zwar super kochen, aber seine Freunde verzogen jedes Mal das Gesicht, als würde ihnen der Geruch der Soßen und Gewürze einen Schlag verpassen. Sie machten auch so schon eine große Sache daraus, dass der einzige asiatische Junge an der Schule immer das »krasseste« Essen dabeihatte. Zack hasste dieses Klischee.

»Warum kümmerst du dich darum, was andere sagen?«, hatte seine Mutter verständnislos gefragt, als er sie gebeten hatte, ihm einfach ein paar Sandwiches einzupacken. »Was ich koche, ist doch viel leckerer als zwei Brotscheiben, zwischen die eine Scheibe Schinken geklatscht ist!«

Was zwar richtig war, aber sie verstand das Problem nicht. Nach der fünften Klasse war Zack auf eine andere Schule gewechselt als seine Freunde aus der Grundschule. Hier gehörte er noch nicht lange zu seiner neuen Freundesgruppe und wollte nicht riskieren, wieder zum Außenseiter zu werden. Aber egal, wie oft er seiner Mutter erklärte, dass sie ihm keine aufwendigen chinesischen Mahlzeiten mitzugeben brauchte – sie hörte einfach nicht zu. »Wo willst du sonst deine Nährstoffe herbekommen?«, fragte sie jedes Mal. Und wenn er die nicht angerührte Lunchbox wieder mit nach Hause brachte (manchmal mit der Ausrede, dass Ramadan war und er fastete), kam in ihr die Wissenschaftlerin durch und sie hielt ihm Vorträge über den Tagesbedarf eines Zwölfjährigen an Proteinen und gesundem Gemüse.

Da war es einfacher, so zu tun, als hätte er alles aufgegessen.

Trotz seiner Schuldgefühle klemmte Zack sich die Lunchbox unter den Arm und huschte den leeren Flur entlang, als würde er etwas Verbotenes schmuggeln. Vor einer Reihe Abfalltonnen machte er halt und öffnete seine Box. Der Duft von gebratenen grünen Bohnen und Fleisch auf einem Berg von Reis wogte ihm entgegen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen und er konnte nicht anders, als sich mit den beigelegten Stäbchen ein paar soßengetränkte Happen in den Mund zu stecken. Doch er hörte sofort wieder damit auf, weil ihm einfiel, dass der Geruch womöglich in seinen Haaren und seiner Kleidung hängen bleiben würde. Außerdem wollte er nicht dabei ertappt werden, dass er sein Mittagessen vor den Abfalltonnen aß. Er durfte seinen Mitschülern nicht noch einen weiteren Grund liefern, ihn seltsam zu finden.

Er klappte die Tonne für den Biomüll auf.

»Du willst dein Essen wegwerfen?!«

Zack fuhr zusammen. Es war, als hätte ihm jemand direkt ins Ohr gesprochen. Die tiefe, barsche Stimme klang nach einem Lehrer, doch als Zack sich umschaute, war niemand da.

Er stellte die Lunchbox auf den Deckel der Papiertonne und checkte sein Handy. Keine Benachrichtigungen und auch keine App, die sich plötzlich geöffnet hatte. Daraufhin holte er seine Augmented-Reality-Brille von XY Technologies heraus – sie war neben seinem Handy das Einzige, das Geräusche von sich geben konnte. Als er die Brille aufsetzte, ploppten am Rand des Sichtfelds neonfarbene Anzeigen für Uhrzeit, Temperatur, Wetter und so weiter auf. Aber keine neuen Benachrichtigungen.

»Hey, spielst du damit Mythrealm?«

Zack fuhr wieder zusammen, aber diesmal war es kein barscher unsichtbarer Sprecher, sondern ein fremder Junge, der den Flur entlang auf ihn zukam. Auch er war eindeutig asiatischer Herkunft und lächelte schüchtern. Der blank geputzte Boden unter seinen Schuhen schimmerte wie ein Pfad aus Licht.

Zack traute seinen Augen nicht. Hier in der Gegend lebten fast ausschließlich weiße Familien. Zack war der einzige asiatische Schüler in allen sechsten Klassen. Nahm der fremde Junge bloß an einem Ferienkurs teil oder würde er auch im Herbst noch da sein?

Zack riss sich zusammen. »Kennst du irgendwen, der nicht Mythrealm spielt?« Wie immer, wenn er jemand Neuen kennenlernte, sprach er absichtlich mit tiefer Stimme. Sonst wurde er zu oft für ein Mädchen gehalten. Da halfen auch die kurzen Haare und weiten Hosen nicht – er war einfach zu klein und dünn. Trotzdem freute er sich jetzt. Dass man über Mythrealm Kontakte knüpfen konnte, war echt toll. Er hatte lange genug darauf warten müssen, selbst dabei sein zu können. Das Spiel – und die ersten AR-Brillen von XY Technologies – waren vor ungefähr drei Jahren auf den Markt gekommen. Aber damals hatten Zack und seine Mutter aus New York wegziehen müssen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten. Eine Brille für Zack war da nicht drin gewesen. Von Mythrealm gab es zwar auch eine App, aber die war ziemlich umständlich. Keiner wollte mit jemandem spielen, der dafür nur sein Handy hatte. Erst seit Zacks Mom ihn an seinem letzten Geburtstag mit einer AR-Brille überrascht hatte, konnte er richtig spielen. Er verdiente sogar auf einem Online-Portal für Mythrealm ein bisschen Geld. Nur so konnte er sich jeden Tag das Schulessen leisten und war nicht auf seine Lunchbox angewiesen. »Ich bin sogar im Schulteam«, ergänzte er. »Deswegen nehme ich an den Ferienkursen teil. Dann habe ich im Herbst, wenn die Schule wieder richtig losgeht, mehr Zeit, mich auf die Turniere vorzubereiten.«

»Cool! Wollen wir uns adden?« Der fremde Junge öffnete die Mythrealm-App auf seinem Handy. Sein leichter Akzent ähnelte dem von Zacks Mom. Wahrscheinlich kam seine Familie aus Festlandchina, wo hauptsächlich Mandarin gesprochen wurde.

Zacks Freude über die neue Bekanntschaft bekam einen Dämpfer. Wenn er andere chinesische Kinder kennenlernte, war er immer vorsichtig. Als Zack noch ein Baby gewesen war, hatte seine Mutter mit ihm aus China fliehen müssen. Die meisten Leute aus dem Westen glaubten, dass alle Chinesen den gleichen kulturellen Hintergrund und die gleichen politischen Ansichten hatten. Großer Irrtum. Zack ärgerte sich oft, dass in westlichen Ländern alle als »Chinesen« galten, wogegen man auf Mandarin zwischen Huárén (jemand mit chinesischen Wurzeln) und Dàlùrén (jemand, der in der Volksrepublik China lebte) unterschied. Huárén wanderten schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden, überallhin aus. In New York kamen die meisten chinesischen Freunde von Zacks Mom aus Taiwan, Malaysia, Singapur und anderen südostasiatischen Ländern. Sie waren Huárén, keine Dàlùrén, und darum waren viele, so wie Zacks Mutter, Gegner der chinesischen Regierung.

Zack ging aber nicht allen Kindern aus Dàlùrén-Familien aus dem Weg. Seine Mutter hatte auch Dàlùrén-Freunde. Trotzdem hätte er jetzt gern gewusst, ob der fremde Junge gung ho war, was die chinesische Regierung anging. So wie manche seiner Mitschüler alles, was die amerikanische Regierung machte, total super fanden und nie kritisierten. Aber es war auch komisch, jemanden als Erstes nach so etwas zu fragen. Darum schenkte Zack dem fremden Jungen ein hoffentlich überzeugendes Lächeln und öffnete auf seiner AR-Brille sein Mythrealm-Profil, das mit der Handy-App synchronisiert war.

»Du bist Zachary Ying?« Der Junge hielt sein eigenes Handy mit dem QR-Code für Freundschaftsanfragen hoch. »Ich bin Simon Li.«

»Woher weißt du, wie ich heiße?«, fragte Zack misstrauisch, zeigte aber mit dem Finger auf den Code, worauf seine Brille ihn scannte. Um den Code herum leuchtete ein neonfarbenes Quadrat auf, dann erschien Simons Profil. Zack nahm die Freundschaftsanfrage an.

»Von einem Lehrer.«

Zack wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Wahrscheinlich hatte irgendein Lehrer Simon bei der Anmeldung zu den Ferienkursen von Zack erzählt. Als müssten sie sich automatisch anfreunden, bloß weil sie beide chinesische Eltern hatten. Es war wieder mal eine Bestätigung, dass andere Leute Zack nur nach seiner Herkunft beurteilten. War ja klar, dass sich die beiden Asiaten zusammentun, haha!, hörte er in Gedanken seine Mitschüler schon spotten.

Zack hatte das alles gründlich satt. Er hatte es satt, wegen seines Aussehens ausgeschlossen zu werden, was seit ihrem Umzug nach Maine noch schlimmer geworden war. In New York lebten so viele Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten, dass Zacks Herkunft kein großes Thema gewesen war. Hier hingegen schien er mit einem Schild um den Hals herumzulaufen, das in Großbuchstaben AUSLÄNDER verkündete. Zack verstand das nicht. Er war genauso Amerikaner wie seine Mitschüler. Er sprach ja nicht mal Mandarin (von ein paar einfachen Sätzen abgesehen). Warum spielte sein Äußeres so eine große Rolle?

»Geht dein Name auf den Ersten Kaiser ›Ying‹ zurück?« Simons dichter Pony musste dringend geschnitten werden. Seine Augen waren darunter kaum noch zu erkennen.

»Hä?« Zack nahm die AR-Brille ab und fuhr sich durchs Haar. Seine Mutter schimpfte immer, dass er so ungekämmt war.

»Ich meine den Ersten Kaiser von China. Die meisten kennen ihn unter seinem Titel Qin Shi Huang, aber ursprünglich hieß er Ying Zheng. Als seine Dynastie gestürzt wurde, wurden fast alle seine Nachkommen umgebracht. Wenn dein Name aber auf ihn zurückgeht, stammst du wahrscheinlich von jemandem ab, der damals überlebt hat.«

»Hä?« Zack hatte noch nie über seinen Nachnamen nachgedacht. War »Ying« denn ein chinesisches Wort? Und was bedeutete es? Außerdem konnte er seinen Nachnamen sowieso nicht leiden, weil er immer damit aufgezogen wurde. »Da kommt ja unser kleiner Lieb-Ying« und dergleichen.

»Hast du etwa noch nie vom Ersten Kaiser gehört?«, fragte Simon erstaunt. »Was geht hier an den Schulen ab? Er hat das chinesische Reich gegründet und ist damit in die Geschichte eingegangen! Um 221 vor Christus hatte er schon die sieben Streitenden Reiche vereint und sich selbst zum –«

Zack reichte es. Da haben sich zwei China-Nerds gefunden, haha!, würde es heißen, wenn seine Mitschüler das mitbekamen.

»Apropos Geschichte«, fiel er Simon ins Wort. »Mein Geschichtskurs hat schon angefangen und ich hab dem Lehrer gesagt, dass ich nur noch kurz aufs Klo muss. Bis später dann.«

»Ach so.« Als Simon sich den Pony aus dem Gesicht strich, spiegelte sich das Handydisplay in seinen Augen. »Du solltest dich trotzdem mal mit dem Ersten Kaiser beschäftigen. Er ist echt cool. Ich schick dir ’nen Link.«

»Ist gut. Danke.« Zack schnappte sich seine Lunchbox, die noch auf der Papiertonne stand.

»Wolltest du dein Essen wegwerfen?«, fragte Simon.

»Wie kommst du denn darauf?« Zack lachte, aber es klang gezwungen. Rasch klappte er die Biotonne zu. »Natürlich nicht. Ich wollte … etwas anderes wegwerfen.«

»Dir ist viel zu wichtig, was andere über dich denken.«

Zack fuhr herum. Kalter Schweiß brach ihm aus. Nein, die Stimme kam weder aus seinem Handy noch aus seiner AR-Brille. Sie schien direkt in seinem Kopf zu ertönen.

»Ist was?« Simon sah ihn eindringlich an.

»Äh … nö. Tschüss dann.«

Als Zack an den Toiletten vorbeikam, erwog er kurz, sein Mittagessen im Klo runterzuspülen, aber das wollte er seiner Mutter dann doch nicht antun. Biomüll wurde wenigstens noch verwertet. Das redete er sich jedenfalls immer ein.

War die unheimliche Stimme vielleicht sein Gewissen?

Aber meldete sich ein Gewissen derart laut?

Als Zack wieder in den Klassenraum kam, setzte er sich zu seinen Freunden. Sie sollten in Gruppenarbeit ein Referat über Alexander den Großen vorbereiten.

»Na, auch wieder da??« Aiden saß ihm an dem kleinen runden Tisch gegenüber und spielte grinsend mit dem Stift für sein Tablet. Er war ihr Mythrealm-Teamleader und peinlicherweise bekam Zack bei seinem Anblick regelmäßig Herzklopfen. Aiden war nicht nur ungewöhnlich groß, er hatte auch strahlend blaue Augen und seine kurzen blonden Haare waren immer perfekt gestylt.

»Irgend so ein neuer chinesischer Junge hat mich aufgehalten.« Zack zwang sich, den Blick von Aiden zu lösen. »Wisst ihr irgendwas über ihn?«

»Wir? Du bist doch hier der Chinese«, entgegnete Trevor, der ebenfalls dem Mythrealm-Team angehörte. Er hatte struppige braune Haare und trug das ganze Jahr über denselben verwaschenen Hoodie. Oder er besaß zwei genau gleiche Hoodies, zwischen denen er abwechselte, da gingen die Meinungen auseinander.

»Deswegen muss ich den Neuen doch nicht kennen!«, erwiderte Zack ärgerlich.

Trevor hob abwehrend die Hände. »Schon gut. War nicht böse gemeint.«

Zack verkniff sich ein genervtes Seufzen. Er wollte nicht überempfindlich rüberkommen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich MrsFairweather gerade einer anderen Arbeitsgruppe widmete, schaute er unter dem Tisch auf sein Handy. Simon hatte ihm bereits über Mythrealm einen Link geschickt. »Der Neue ist irgendwie komisch. Er hat die ganze Zeit von so einem alten Kaiser geredet und ich sollte ihn bei Mythrealm adden und … Wow!«

»Was denn?« Trevor spähte auf das Display. Zack hatte Simons Mythrealm-Profil geöffnet. Seine sechs virtuellen Lieblingsmonster waren nur für Freunde sichtbar. Alle waren superstark und extrem selten.

Auch Trevor fiel die Kinnlade herunter. »Ist das eine Exalted-Level-10-Hydra?!«, rutschte es ihm so laut heraus, dass sich die Schüler an den Nachbartischen umdrehten. »Und ein Exalted-Level-10-Chinesischer-Drache?«

Exalted-Kreaturen zeichneten sich dadurch aus, dass sie aufwendiger gestaltet waren als die Standard-Kreaturen und es von ihnen nur wenige Exemplare gab. Besondere Fähigkeiten hatten sie nicht.

Zack schielte zu MrsFairweather hinüber. Sollte er das Handy lieber wegstecken? Aber zum Glück schien sie nichts mitgekriegt zu haben.

»Echt jetzt?« Aiden nahm ihm das Smartphone aus der Hand. »Den Exalted-Drachen brauche ich unbedingt! Wie viel ist der momentan wert?«

Trevor holte sein eigenes Handy heraus und recherchierte rasch. Verblüfft sagte er: »Zweitausend Dollar.«

»Dann hat der Neue reiche Eltern. Sonst hätte er diese Kreaturen nicht fangen können«, erwiderte Aiden.

»Na ja, er ist bestimmt ein internationaler Gastschüler.« Trevor zuckte die Achseln. »Die haben alle reiche Eltern.«

»Zack nicht«, gab Aiden zurück. »Seine Mom arbeitet im Supermarkt.«

Zack spürte, dass er rot wurde, entgegnete aber gespielt gelassen: »Ich bin kein Gastschüler. Und meine Mom arbeitet außerdem noch hier an der Uni.«

Trevor verzog verächtlich das Gesicht. »Meine Schwester studiert in Kalifornien. An der UCLA wimmelt es von superreichen Asiaten, die teure Klamotten von Supreme tragen und BMW und Porsche fahren. Meine Schwester kommt sich schon wie die totale Minderheit vor.«

»Das war jetzt aber nicht politisch korrekt«, sagte Aiden belustigt.

Trevor stieß Zack grinsend an. »Wir dürfen so was sagen, weil wir deine Freunde sind, oder?«

»Äh …«, stammelte Zack ausweichend und streckte die Hand nach seinem Smartphone aus.

Aiden zog es blitzschnell weg. »Du musst dich unbedingt mit dem Neuen anfreunden und den Drachen für mich ausleihen.«

Zack ließ die Hand möglichst unauffällig sinken. Wenn Aiden merkte, dass er das Handy wiederhaben wollte, würde er es erst recht nicht hergeben.

»Puh, du Schwächling! Diese Jungen sind keine echten Freunde.«

Zack sog erschrocken Luft durch die Zähne. Wer war das?! Und wieso hörte nur er die Stimme?

»Hast du mir überhaupt zugehört, Zack?« Aiden beugte sich vor.

»Ja … klar.« Wenn Aiden »ausleihen« sagte, bedeutete das, dass man seine Sachen nicht mehr zurückbekam. Als Zack vor ein paar Monaten mit seiner AR-Brille an einem See vorbeigekommen war, hatte er einen superseltenen Level-5-Boto gefangen. Einen Delfin und Gestaltwandler aus einer südamerikanischen Legende. Am nächsten Tag hatte Aiden ihn sich »ausgeliehen« und bis heute nicht zurückgegeben. »Lass gut sein«, sagte Zack. »Der Neue leiht mir bestimmt keine Zweitausend-Dollar-Kreatur aus.«

»Wenn ein Zwölfjähriger so was besitzt – ist er überhaupt so alt wie wir? –, dann spielt Geld für seine Eltern keine Rolle. Außerdem kann man Mythrealm-Kreaturen ja im Kampf nicht verlieren.«

»Du hast doch schon einen Level-10-Drachen, Aiden. Der ist genauso gut.«

»Aber er ist nicht exalted«, wandte Aiden ein. »Bei der nächsten Regionalmeisterschaft trete ich mit meinen Wasser-Kreaturen an. Der Drache ist meine einzige Standard-Kreatur.«

»Na und?«, entgegnete Zack. Die chinesischen Drachen gehörten dem Element Wasser an, nicht Feuer wie die westlichen Drachen. In Mythrealm waren chinesische Drachen mit Abstand die stärksten Kreaturen vom Typ Wasser und deswegen heiß begehrt.

»Aber stell dir doch vor, was die anderen für Augen machen würden, wenn ich mit einem Exalted-Drachen ankomme. Unser Team wäre berühmt!« Als Aiden ihn mit seinen blauen Augen ansah, kam Zack ins Schwitzen. »Komm schon, Alter. Sei kein Spielverderber.«

Aiden würde nicht nachgeben. Und Zack wollte nicht, dass Aiden wütend auf ihn wurde. Er durfte nicht riskieren, dass ihm die anderen die Freundschaft kündigten. Dann wäre er wieder der Außenseiter der Schule.

Plötzlich strahlte Aiden ihn an und nickte in Trevors Richtung. »Wir beide kommen mit und stehen dir bei.« Er legte Zacks Handy auf den Tisch. »Schreib dem Neuen, dass wir uns nach dem Unterricht mit ihm treffen wollen.«

»Na gut.«

Zack war nicht klar gewesen, dass Aiden mit »uns« nicht nur sich selbst, Zack und Trevor, sondern noch drei andere Jungen aus dem Mythrealm-Team gemeint hatte, die ebenfalls am Ferienprogramm teilnahmen.

»Hallo, Zack!« Als sie zu sechst anrückten, lachte Simon verunsichert. Sie hatten sich am Hintereingang der Schule verabredet, wo der Sportplatz war. »Hast du dir den Link schon angeschaut?«

»Noch nicht.« Zack kratzte sich verlegen den Hinterkopf. Es gefiel ihm nicht, dass er und die anderen als Gruppe hier auftauchten. Aber es hätte alles nur schlimmer gemacht, wenn er etwas gesagt hätte wie: Keine Angst, wir wollen dich nicht zusammenschlagen.

»Also, Simon.« Aiden setzte seine AR-Brille auf. »Zack hat uns erzählt, dass du einen Exalted-Level-10-Chinesischen-Drachen besitzt.« Beim Sprechen ging er in Richtung Sportplatz. Die anderen liefen hinterher und setzten dabei ihre eigenen Brillen auf. Wer Mythrealm spielte, verschwendete seine Zeit nicht damit, draußen einfach nur so herumzustehen. Die Spieler waren immer in Bewegung und sammelten die virtuellen Kreaturen und Items ein, die überall verteilt waren.

»Ich hab’s ihm nicht erzählt. Jedenfalls nicht mit Absicht.« Damit Simon sein schuldbewusster Blick nicht auffiel, tat Zack so, als müsste er seine Brille zurechtrücken. »Ich habe ihnen nur dein Profil gezeigt. Weil es so beeindruckend ist.«

»Stimmt, dein Profil ist krass.« Aiden schaute zu Simon hinüber. »Ich weiß ja nicht, wie das bei euch in China mit den Turnieren läuft, aber bei uns findet übernächste Woche die Regionalmeisterschaft statt. Ich trete mit meiner Typ-Wasser-Truppe an. Wär super, wenn du mir deinen Drachen ausleihen würdest.«

»Ich … äh …« Simon hielt sich an den Trägern seines Rucksacks fest.

»Du würdest mir echt einen großen Gefallen tun.«

»Also …« Simon blieb stehen und scharrte mit der Schuhspitze über den roten Belag der Laufbahn. »Der Drache bedeutet mir viel. Ich möchte ihn ungern verleihen.«

Auch Aiden blieb stehen und drehte sich mit den Händen in den Jeanstaschen zu Simon um. »Nach dem Turnier kriegst du ihn sofort zurück.«

Simon war größer als Zack, aber kleiner als die fünf anderen. Sie schienen bedrohlich vor ihm aufzuragen. Er machte den Mund auf, als wollte er etwas erwidern, kniff aber plötzlich mit verzerrtem Gesicht die Augen zu, als hätte er Schmerzen. Ein Windstoß fegte über den Sportplatz und zerzauste allen die Haare. Als ein Regentropfen auf Zacks Brille landete, zuckte er zusammen, aber das Display der Brille war wasserabweisend und es blieb nicht mal ein Fleck zurück.

Als Simon die Augen wieder öffnete, war er wie ausgewechselt.

»Ich gebe euch meinen Drachen nicht!«, sagte er laut, fast aggressiv, und schob trotzig das Kinn vor.

Aiden richtete sich hoch auf und Zack wechselte verblüffte Blicke mit seinen Teamkameraden. Offenbar war er nicht der Einzige, dem Simons Veränderung auffiel. Als der Wind Simon den dichten Pony aus den Augen pustete, kam er Zack auf einmal irgendwie bekannt vor. Aber woher?

Aiden fasste sich wieder. »Warum denn nicht? Willst du mit dem Drachen selbst an der Meisterschaft teilnehmen, oder was?«

»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Simon knapp. »Du kriegst ihn nicht und Schluss.«

Zack schauderte unwillkürlich. Woher nahm Simon plötzlich dieses Selbstbewusstsein? Inzwischen regnete es stärker. Tropfen um Tropfen landete auf Simons Brille, aber er zuckte nicht mit der Wimper.

Aiden machte ein grimmiges Gesicht, riss sich aber gleich wieder zusammen und beugte sich zu Simon hinunter. »Bist du nach den Ferien auch noch hier? Willst du vielleicht in unserem Team mitmachen?«

Der Laut, den Simon ausstieß, erinnerte Zack an das höhnische Auflachen eines Kinobösewichts. »Welches Team? Mythrealm spielt man nicht im Team. Ihr nennt euch nur so, weil ihr eure Ressourcen und eure Erfahrung teilt. Ich bin euch sowieso haushoch überlegen – euch allen zusammen!«

»Hey!« Aiden trat einen Schritt zurück. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein arrogantes Arschloch bist.«

Simon lachte wieder. »Ist doch bloß ein blödes Spiel. Wieso nimmst du es so ernst?«

Ein Blitz zuckte über den Sportplatz und spiegelte sich in Simons Augen. Als Aiden die Fäuste ballte, geriet Zack in Panik.

Sofort stellte er sich zwischen die beiden. Im selben Augenblick versuchte Aiden, Simon einen Stoß zu versetzen. Stattdessen traf seine flache Hand Zack vor die Brust, sodass er rückwärts gegen Simon prallte. Simon stolperte, hielt Zack aber an den Schultern fest.

»Lass den Scheiß!«, schnauzte Zack Aiden zu seiner eigenen Überraschung an und bekam es sofort mit der Angst zu tun. Doch das zustimmende Raunen der anderen Jungen machte ihm Mut. »Wenn er uns den Drachen nicht geben will, ist das seine Sache. Du gehst echt zu weit. Dein Verhalten fällt auch auf das Team zurück.«

»Dein Verhalten schadet dem Team!«, konterte Aiden aufgebracht. »Schon die ganze Zeit. Ich war immer dagegen, dass wir dich aufnehmen!«

Bevor Zack das richtig verdaut hatte, grollte in der Ferne Donner. Aiden packte Zack am Arm.

»Rück den Drachen raus!«, rief er Simon zu und schüttelte Zack. Sein Griff war so fest, dass Zack nach Luft schnappte und fürchtete, dass Aiden ihm den Arm brechen würde. »Mach schon, sonst tu ich ihm richtig weh!«

Von den anderen kamen Ausrufe wie: »Ganz ruhig, Mann!« Trevor wollte Aiden am Ellbogen fassen.

»Halt dich da raus!« Aiden verpasste auch ihm mit der freien Hand einen groben Stoß.

Trevor segelte über die Laufbahn und landete mit einem Aufschrei auf dem Boden.

Zack war so schockiert, dass ihm die Luft wegblieb. Er hörte die Rufe der drei anderen Teammitglieder so dumpf wie durch einen Tunnel. Sie rannten zu Trevor, drehten sich aber im Laufen ängstlich um. Der nächste Blitz färbte ihre Gesichter fahlweiß. Es regnete jetzt so heftig, dass Zack die Haare am Kopf klebten. Er verstand die Welt nicht mehr. Aiden war manchmal ein Arsch, aber so war er noch nie ausgerastet.

Er war nicht er selbst.

»Du hast zehn Sekunden!«, brüllte er Simon an und bohrte Zack die Finger in den Arm. Zack entfuhr ein Schmerzensschrei.

Simon reagierte nicht. Er hielt den Blick auf Zack gerichtet, als würde er auf etwas warten.

»Her mit dem Drachen!«

Simon, der immer noch Zack ansah, sagte ruhig: »Im Jahr 221 vor Christus vereinte der Erste Kaiser von China die sieben Streitenden Reiche und gründete die Qin-Dynastie, das erste Kaiserhaus von –«

Aiden verdrehte Zack den Arm und Zack schrie erneut auf. Wieso fing Simon jetzt mit chinesischer Geschichte an? »Was willst du damit …«

Doch als er den Kopf drehte und Aidens Gesicht erblickte, versagte ihm die Stimme. Aidens Augen funkelten neongrün. Sein Gesicht war nass vom Regen und von einem leuchtenden Kreis umgeben. Daneben ploppte eine Mythrealm-Beschreibung auf.

TAOTIE

Typ: Dunkelheit

Herkunft: China

Bösartige, gierige Kreatur mit dem Körper einer Ziege, den Reißzähnen eines Tigers, den Händen eines Menschen und Augen in den Achselhöhlen. Ein Taotie verschlingt alles, was ihm über den Weg läuft, auch wenn es sich dabei so überfrisst, dass es stirbt.

Erschrocken drehte Zack den Kopf hin und her, doch der Kreis um Aidens Gesicht ging nicht weg. Darüber wurde jetzt auch noch seine Energieleiste eingeblendet. Zacks eigene Leiste leuchtete rechts unten in seinem Sichtfeld auf. Genau wie bei einem Mythrealm-Kampf.

Simon sprach so schnell weiter, dass sich seine Worte überschlugen. »Die von der Qin-Dynastie erlassenen Gesetze galten die nächsten zweitausend Jahre lang. Der Erste Kaiser erbaute die Große Mauer. Ihm gehörte auch die Terrakotta-Armee und –«

Mit einem Aufheulen, das fast nach einem Tier klang, ließ Aiden Zacks Arm los, packte ihn stattdessen im Nacken und riss ihn hoch. Zack trat wild um sich. Warum griffen die anderen nicht ein? Standen sie bloß da und glotzten? Er versuchte, Aidens Finger umzubiegen, konnte aber nichts ausrichten. Aiden war ihm schon immer körperlich überlegen gewesen.

Wenn er selbst doch stärker wäre!

»Hey, Zack!«, übertönte Simon sein gequältes Wimmern. »Klick den Link an, den ich dir geschickt habe!« Er holte sein Handy heraus.

Auf Zacks AR-Brille erschien eine Nachricht.

Simon Li: LIES!

Keuchend tippte Zack zweimal in die Luft und öffnete den Chatverlauf mit Simon. Dann klickte er den Link an. Eine Website öffnete sich.

Qin Shi Huang, eigentlich Ying Zheng, geboren 259v.u.Z., war der Begründer des chinesischen Kaiserreichs. Er –

Als Zack den Artikel überflog, verschwammen und verblassten Aiden und alles andere um ihn herum plötzlich, als wäre er unter Wasser. Dann erblickte er vor seinem inneren Auge eine schemenhafte Gestalt in einem langen schwarzen Gewand.

»Endlich! Wenn du einwilligst, mein irdischer Wirt zu sein, Junge, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dir deinen größten Wunsch zu erfüllen.« Es war die tiefe, barsche Stimme, die Zack schon kannte. »Sprich: Wie lautet dein innigster Wunsch?«

Zack sah Aiden zwar nicht mehr, aber sein Herz klopfte immer noch wie rasend. »Mach mich stärker!«, platzte er heraus.

Die Gestalt brach in schallendes Gelächter aus. Dann fegte sie plötzlich auf Zack zu wie eine Windböe. »Das wollte ich hören!«

Ehe Zack aufschreien konnte, kehrte er jäh in die Realität zurück. Doch alles war seltsam gedämpft. Aiden hob ihn immer noch hoch, aber Zack konnte sich nicht mehr wehren, weil ihm seine Arme nicht gehorchten. Sie hingen nur schlaff herab.

Unvermittelt drang ein Knurren aus seiner Kehle. Stammte der Laut wirklich von ihm? Als Nächstes entströmten ihm Wörter, die irgendwie chinesisch klangen, aber Zack kannte den Dialekt nicht. Er war völlig verwirrt, bekam aber trotzdem mit, dass seine Energieleiste immer weiter abnahm.

Dann verlangsamte sich alles.

Zack sah, wie sich Aidens Gesicht nach und nach verzerrte. Wie sich seine Zunge bewegte und ihm Spucketröpfchen aus dem Mund flogen.

Wie ferngesteuert griff Zack sich an den Hals und befreite sich. Als er auf der Laufbahn landete, spritzten die Pfützen wie in Zeitlupe auf. Er rappelte sich hoch und wollte wegrennen, doch wieder gehorchte ihm sein Körper nicht. Immerhin gelang es ihm, ein paar Schritte von Aiden zurückzuweichen. Dann sprang die Zeit plötzlich wieder an. Aiden wirkte kurz desorientiert und griff in die Luft, genau dort, wo Zack eben noch gewesen war. Dann stürzte er sich auf ihn.

Ohne Zacks Zutun breiteten sich seine Arme aus und sausten herab.

Worauf ein Platzregen losbrach.

Dicke Tropfen trommelten wie Gewehrfeuer auf den Sportplatz herab und übertönten Aidens Wutgebrüll. Hinter dem dichten Regenschleier konnte Zack die anderen kaum noch erkennen. Alle waren im Nu nass bis auf die Haut, nur Zack selbst blieb wundersamerweise trocken. Der Regen wehte um ihn herum wie eine geisterhafte Aura. Seine Fäuste ballten sich von allein und wanderten nach oben, als würde er zwei schwere Hanteln anheben. Auch der vom Boden aufspritzende Regen wirbelte um ihn herum wie eine Wasserhose.

Er hatte nur noch einen klaren Gedanken: Das Element von chinesischen Drachen ist Wasser.

Plötzlich erschien zu seinem Entsetzen ein Netz aus sich überschneidenden schwarzen Linien auf seinen Armen. Die Linien erinnerten an Adern, waren aber gerader. Obwohl Zack nicht nass geworden war, fror er auf einmal. Seine Energieleiste verkürzte sich weiter. Dann wölbten sich seine Hände (was wahnsinnig anstrengend war) und holten aus, als würde er einen Baseball werfen.

Die schäumende Wasserhose um ihn herum schoss als gewaltiger Strahl auf Aiden zu, traf ihn vor die Brust und ließ ihn zurücktaumeln.

Zacks Körper setzte sich von allein in Bewegung. Als er auf Aiden zustapfte, zuckten Blitze um ihn herum. Sie wurden von ohrenbetäubenden Donnerschlägen begleitet und hinterließen rauchende Krater in der Laufbahn. Die Luft knisterte elektrisch, es stank nach verbranntem Gummi. Zack standen sämtliche Haare zu Berge.

Was geht hier vor?!

Am liebsten wäre er schreiend weggerannt und hätte sich irgendwo verkrochen, doch sein Körper machte nicht mit. Seine mit schwarzen Linien überzogenen Finger spreizten sich und in seinen Handflächen sammelte sich der Regen zu zwei schäumenden Wasserkugeln.

Seine Hände klatschten die Kugeln gegeneinander. Das Wasser spritzte hoch auf, schlug über Aiden zusammen und umschloss seinen Kopf wie eine Kugel aus strudelndem flüssigem Glas. Aiden schnappte nach Luft, stolperte über die eigenen Füße und fiel hin. Er wälzte sich von der Laufbahn auf den Rasen, wurde die Wasserkugel aber nicht los. Jetzt war es seine Energieleiste, die immer kürzer wurde.

Zack geriet erneut in Panik.

Halt!, wollte er rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Arme streckten sich aus und die gekrümmten Finger zogen Kreise in der gleichen Richtung, in der das Wasser um Aidens Kopf strudelte. Als Aiden sich verzweifelt an den Hals griff, spritzte das Wasser auf. Sonst geschah nichts. Seine Energieleiste war nur noch zu einem Viertel voll. Was würde passieren, wenn sie auf null stand? Garantiert nichts Gutes.

Halt! Zack versuchte verzweifelt, seinen Körper wieder in den Griff zu bekommen.

»Stopp!«, hörte er sich selbst, aber auch die barsche Stimme in seinem Kopf rufen.

Jetzt war er endgültig sicher, dass er von jemandem besessen war. Irgendwer wollte Aiden umbringen und hatte sich dafür Zacks Körper ausgeliehen.

Sei mein irdischer Wirt, hatte ihn die Stimme aufgefordert.

Worauf hatte er sich da eingelassen?!

Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Etwas wie das hier hatte er nicht gewollt!

Aufhören! Aufhören! Aufhören!, schrie er in Gedanken wieder und wieder.

Seine Hände sanken ein Stück herab und das Wasser um Aidens Kopf strudelte langsamer.

»Halt die Klappe, Kleiner!«, blaffte die barsche Stimme.

Zack dachte gar nicht daran. Aufhören! Aufhören! Aufhören!

»Nein. Sonst –«

Aufhören! Aufhören –

»Aufhören!«, brachte er es endlich laut heraus.

Er hätte schwören können, dass ihm sein Atem als schwarze Wolken entwich. Dann wurde es heller um ihn und er sah wieder scharf. Die Wasserkugel platzte, Aiden rang nach Luft. Seine Energie war fast verbraucht.

Zacks Knie gaben nach und er fiel hin. Diesmal wurden seine Hosenbeine nass. Von oben traf ihn der Regen wie eine voll aufgedrehte Dusche und er wurde klitschnass. Gleichzeitig verschwanden die schwarzen Linien auf seinen Armen und Händen und ihm war nicht mehr so unnatürlich kalt.

Auf seiner AR-Brille ploppten Nachrichten auf, aber ohne Absender.

: O NEIN.

: WAS HAST DU GETAN?

Es nieselte jetzt nur noch. Aus Aidens aufgerissenem Mund quoll dunkelgrüner Nebel, verdichtete sich kurz zu einem unförmigen Umriss und verflog. Seine Energieleiste wurde ausgeblendet.

Zacks Atem ging so schnell, dass er fast hyperventilierte. Er beugte sich vor. Ihm war übel und er sah wieder alles verschwommen. Die nächste Nachricht, die aufploppte, hatte einen Absender.

Qin Shi Huang: DU AHNST NICHT, WAS DU ANGERICHTET HAST, JUNGE.

2

WIESUPPENICHTZUMSIEGVERHILFT

Zack rannte nach Hause.

Er glaubte zu hören, dass ihm Simon etwas nachrief, drehte sich aber nicht um. Er wollte nur noch weg.

Seine Sneaker schlappten über den nassen Gehweg und er krallte die Finger in den Schulterriemen seiner Schultasche, damit ihm die Tasche nicht gegen die Hüfte schlug. So ließ er ein Haus nach dem anderen hinter sich und machte ausnahmsweise keinen Umweg, um möglichst viele Mythrealm-Items einzusammeln, bevor es dunkel wurde. Das Spiel war ihm gerade völlig egal.

Weil immer mehr sonderbare Nachrichten kamen, löschte er kurzerhand die Mythrealm-App von seinem Handy und der AR-Brille. Ganz kurz erwog er sogar, die Brille wegzuwerfen, aber seine Mom hatte so lange darauf gespart. Er stopfte das Ding in die Schultasche.

Erst am Eingang zu der Kellerwohnung, in der er und seine Mutter lebten, hielt er an. Weil seine Hände so zitterten, brauchte er mehrere Anläufe, bis er den richtigen Code in das elektronische Schloss eingetippt hatte. Kaum war er zur Wohnungstür herein, ließ er die Schultasche auf einen Küchenstuhl fallen, als wäre sie eine tickende Zeitbombe. Dann stürmte er in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Als er sich auf den Teppich fallen ließ, stieß er sich am Bettgestell. Durch das Fenster, das knapp über der Straße lag, fiel trübes Licht in den Raum. Eine halbe Ewigkeit saß er einfach nur auf dem Fußboden, vergrub das Gesicht in den immer noch zitternden Händen und rang keuchend nach Luft. Seine Zähne klapperten und die nasse Kleidung klebte ihm am Leib wie eine dünne Eisschicht. Auch als er die Sachen auszog, war ihm noch so kalt, dass er beschloss, heiß zu duschen.

Doch kaum hatte er die Dusche aufgedreht, ließ ihn der Anblick des Wassers zurückweichen. Er sah wieder vor sich, wie er von Blitzen umzuckt mit zwei Wasserkugeln in den Händen auf Aiden zugestapft war. Seine Kopfhaut kribbelte und er starrte den Wasserstrahl an, der inzwischen dampfte. Schließlich überwand er sich doch, stieg in die Duschkabine und breitete langsam die Hände aus.

Keine Kugeln. Und auch sonst tat sich nichts Ungewöhnliches, als das Wasser auf ihn herabprasselte. Nur als es zu heiß wurde, tat es weh und er regelte die Temperatur herunter. Nichts deutete darauf hin, dass er das Wasser irgendwie beeinflussen konnte.

War alles nur ein Traum gewesen? Eine Halluzination?

Das konnten ihm nur Simon und seine Freunde sagen. Vielleicht hatte ja einer von ihnen das Ganze mit dem Handy gefilmt.

Zack war nicht er selbst gewesen. Er hatte Aiden nicht ertränken wollen.

Und wenn ihm die anderen das nicht glaubten? Wenn sie zur Polizei gingen und ihn wegen versuchten Mordes mithilfe von Superkräften anzeigten?

Zack stellte die Dusche aus, wickelte sich in ein Handtuch, lief wieder in sein Zimmer, hob seine nasse Jeans auf und zog das Handy aus der Hosentasche. Der Teppich wurde von seinen nassen Füßen noch feuchter.

Keine neuen Nachrichten von seinen Freunden. Kein Shitstorm. Zack atmete auf, ließ sich aufs Bett fallen und trocknete sich ab.

Doch seine Erleichterung verflog gleich wieder. Warum hatte ihm keiner seiner Freunde geschrieben?

Wie war es weitergegangen, nachdem er die Flucht ergriffen hatte? Was war mit Trevor? Und mit Aiden? Warum war er nicht dageblieben und hatte sich vergewissert, dass es ihnen gut ging?

Obwohl er sich über sich selbst ärgerte, konnte er sich nicht überwinden, sich nach den beiden zu erkundigen.

Feigling! Er schlüpfte unter die Bettdecke und rollte sich zusammen.

Besessenheit Dämon

Besessenheit böser Geist

Erster Kaiser von China

Zack überflog die Treffer zum letzten der drei Suchbegriffe. Es gab mehrere aktuelle Meldungen darüber, dass sich in der Gegend, in der das gewaltige, mit Quecksilber ausgeschmückte Mausoleum des Herrschers lag, ein Erdbeben ereignet hatte. Doch Zack klickte keins der Suchergebnisse an. Dass er sich Simons Kurzvortrag über den Ersten Kaiser angehört und den Link dazu geöffnet hatte, war der Grund dafür, dass er die Kontrolle über sich verloren hatte. Davon war er fest überzeugt.

Die Treffer zu Besessenheit halfen ihm auch nicht weiter. Entweder stammten sie von irgendwelchen Psychiatern, die dieses Phänomen leugneten, oder es ging um christliche Teufelsaustreibungen. Beides hatte nichts mit Zack zu tun, wenigstens in dem Punkt war er sich sicher. Aber hatte tatsächlich der Erste Kaiser von China von ihm Besitz ergriffen?

Er hätte gern darüber gelacht, denn die Vorstellung war lächerlich. So etwas gab es höchstens im Film.

Trotzdem hatte er vorhin auf dem Sportplatz das Gewitter kontrollieren können.

Sprich: Wie lautet dein innigster Wunsch?

Mach mich stärker!

Hatte er etwa aus Versehen eine Abmachung mit dem Kaiser getroffen? Hatte er die Art Wunsch ausgesprochen, dessen Erfüllung einen schrecklichen Preis forderte? Letztes Jahr hatten sie in Englisch eine Kurzgeschichte mit dem Titel »Die Affenpfote« durchgenommen. Darin war so etwas Ähnliches passiert. Aber gab es das auch im richtigen Leben?

Zack scrollte wahllos auf seinem Handy, schaute sich Videos von irgendwelchen Leuten an, die alberne Sachen machten und dummes Zeug redeten. Zwischendurch lachte er sogar, doch er fühlte sich dabei wie ein Roboter und das Lachen hob seine Stimmung nicht. Erst als das neueste Werbevideo von XY Technologies aufploppte, gelang es ihm, sich zu konzentrieren. Es war ein Teaser für X6, die neueste Generation von AR-Brillen. Sie sollten in ein paar Monaten in die Läden kommen. Doch es waren nicht die bahnbrechenden neuen Funktionen, die Zack fesselten, sondern der Sprecher, der sie untermalt von einem futuristischen Beat vorstellte: Xuan Jihong, alias Jason Xuan, der Firmengründer von XY Technologies.

Jason war Zacks großes Vorbild. Als er ihm jetzt zuhörte, wie er über revolutionäre Pixeldichte und sensationelle Akkuleistung sprach und dabei in seinem Maßanzug und mit der funkelnden teuren Armbanduhr wie ein Filmstar aussah, fühlte sich Zack noch mieser, weil er selbst sich ängstlich im Bett verkroch. Jason hatte ebenfalls schon als Baby seinen Vater verloren. Allerdings hatte er es noch schwerer gehabt als Zack, schließlich war er in China auf dem Land aufgewachsen und nicht in den USA. Weil er aber so ein guter Schüler gewesen war und schon als Teenager haufenweise Programmierwettbewerbe gewonnen hatte, hatte ihm das Massachusetts Institute of Technology ein Stipendium angeboten. Dort hatte er dann an seinen ersten AR-Brillen getüftelt und später XY Technologies gegründet, um Features und Spiele für die Brillen zu vermarkten. Im Alter von vierundzwanzig hatte er bereits Millionen verdient. Jetzt, zehn Jahre später, war er Milliardär und seine Firma Marktführer in der Tech- und Gaming-Welt. Er war so erfolgreich, dass er sogar die chinesische Regierung überredet hatte, ihre strikten Vorschriften in Bezug auf Internetspiele zu lockern.

Zack hatte schon viele Interviews mit Jason gesehen. In einem bedankte sich Jason bei seiner Mutter, weil sie ihre eigenen Ziele zurückgestellt hatte, um sich ganz und gar seiner Erziehung zu widmen. Sie hatte ihn nicht nur Disziplin gelehrt, sondern ihn auch ermutigt, in neuen Bahnen zu denken. Zacks eigene Mutter war in China Biochemikerin gewesen, aber als Alleinerziehende musste sie hier in den USA oft Jobs im Verkauf annehmen. Trotzdem hatte sie Zack nie das Gefühl vermittelt, dass sie arm waren. Als er noch jünger gewesen war, hatte er nicht gemerkt, wenn seine Mutter beim Abendessen schwindelte und behauptete, sie hätte schon gegessen. Auch den anderen Kindern war es damals noch egal gewesen, dass Zack nie neue Sachen anhatte und sich statt der neuesten Netflix-Serien Dokus auf Youtube anschaute, weil das nichts kostete. Genauso wenig hatte es eine Rolle gespielt, dass sie nie in den Urlaub fuhren oder in richtige Restaurants gingen. Wenn seine Mom mal freihatte und schönes Wetter war, packten sie etwas zu essen ein und picknickten im Central Park, und damit war Zack völlig zufrieden gewesen.

Als er jetzt daran dachte, wie er seine Mutter damals um die AR-Brille angebettelt hatte, wurde ihm ganz heiß vor Scham. Am Abend vor seinem Geburtstag war sie in Tränen ausgebrochen und hatte sich dafür entschuldigt, dass sie wegen der hohen Miete kein Geld für die Brille übrig hatte und dass sie sich das Leben in New York vielleicht sowieso nicht mehr lange leisten konnten. Da hatte Zack begriffen, dass er etwas ändern musste. Er durfte nicht mehr nur so sein wie die anderen Kinder. Ab jetzt musste er immer Bestnoten schreiben und durfte auch sonst keine Probleme machen, weil seine Mom schon genug Kummer hatte.

Deswegen hatte er ihr auch nie erzählt, wie schwer es ihm fiel, nach jedem Umzug neue Freunde zu finden. Als er in der dritten Klasse gewesen war, waren sie nach Maine umgezogen und dann noch einmal innerhalb des Bundesstaates, als er die Grundschule beendet hatte. Durch die Umzüge war das Leben seiner Mutter leichter geworden und Zack wollte nicht, dass sie ihre Entscheidungen seinetwegen bereute. Sie arbeitete jetzt halbtags als Laborantin an der Universität von Maine. Das war ein erster Wiedereinstieg in ihren eigentlichen Beruf. Auch das Geld war nicht mehr so knapp. Gut, sie wohnten immer noch in einer Kellerwohnung, aber dafür hatten sie mehr Platz als in New York und es war nicht so laut wie ihr erstes Zuhause in Maine.

Nachdem Zack in der vierten Klasse auf Youtube eine Doku über Jason Xuan gesehen hatte, hatte er sich mit Programmieren beschäftigt. Obwohl die Spiele, die er entwickelte, immer anspruchsvoller wurden, traute er sich noch nicht, sie ins Netz zu stellen. Er wagte nicht, von einem Aufstieg wie dem von Jason zu träumen, wollte aber wenigstens irgendwann auch am MIT studieren. Er wollte nur so viel Geld verdienen, dass seine Mutter gut leben konnte. Schluss mit den Kellerwohnungen in heruntergekommenen Stadtvierteln, Schluss mit den Extraschichten in irgendwelchen Läden, wo die Kunden sie wegen irgendetwas anmeckerten, woran sie nicht schuld war.

Zack war so in seine Zukunftsträume versunken, dass ihm vor Schreck fast das Herz stehen blieb, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Rasch setzte er sich auf und schaute aus dem Fenster. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass es schon dunkel war.

»Zack?«, hörte er seine Mutter rufen.

»Ja?« Er machte schnell das Licht an.

Zu spät. Sie musste beim Hereinkommen gesehen haben, dass alles dunkel war. Darum klang sie auch so besorgt. Jetzt klopfte sie an seine Zimmertür. »Ist alles in Ordnung?«

»Klar. Ich hab mich bloß kurz hingelegt.«

»Bist du wieder zu lange aufgeblieben und hast Videospiele gespielt?«

»Gar nicht! Ich war einfach müde, weil … weil der Geschichtskurs heute so anstrengend war.«

Bis heute hatte Zack nie verstanden, wieso Comicfiguren immer fürchteten, jemand könnte von ihren Superkräften erfahren. Jetzt wusste er, warum! Wie hätte er seiner Mom auch nur ansatzweise erklären können, was passiert war, ohne dass sie ihn für verrückt hielt?

»Dann ist es ja gut.« Sie entfernte sich.

Vorerst konnte er aufatmen. Doch nachdem in der Küche Töpfe gescheppert hatten und heißes Öl gezischt hatte – Zack war solange in seinem Zimmer nervös auf und ab gelaufen –, rief ihn seine Mom zum Essen.

Jason Xuan hätte sich nicht verkrochen.

Zack gab sich einen Ruck und zog frische Sachen an. Hätte er behauptet, er sei zu müde zum Essen, hätte sich seine Mutter noch mehr Sorgen gemacht. Inzwischen tat ihm alles weh und die Blutergüsse auf seinen Armen und hinten am Hals zeichneten sich deutlich ab. Darum zog er einen Rollkragenpulli über. Zum Glück hatte es nach dem Gewitter abgekühlt und seine Mutter würde sich nicht über seine Kleiderwahl wundern. In Maine war ein Rollkragenpullover immer passend.

Er schlüpfte in den Flur hinaus und machte sofort die Zimmertür hinter sich zu. Weil die Wohnung so klein war, drangen die Essensgerüche überallhin. Wenn seine Mutter von der Arbeit kam und kochen wollte, zog sie deshalb auch sofort den Verkäuferinnenkittel aus.

Der Küchentisch war gleich hinter der Wohnungstür. Nachdem Zack seiner Schultasche einen argwöhnischen Blick zugeworfen hatte, als wäre sie womöglich verflucht – und seine AR-Brille erst recht –, setzte er sich. Auf seinem Platz stand schon eine Schale Reis. Er hatte sich immer gewundert, warum seine Mutter auf drei Stühlen bestand, keinem mehr und keinem weniger. Wahrscheinlich war der dritte Stuhl eine Art Platzhalter für Zacks Dad, der in China wegen »terroristischer Aktivitäten« hingerichtet worden war. Er hatte sich für die von der Regierung verfolgten muslimischen Uiguren und andere Minderheiten eingesetzt. Allerdings hatte Zack seine Mom nie gefragt, ob seine Vermutung wegen des Stuhls stimmte. Seine Mutter war eine starke Frau, aber wenn es um seinen Vater ging, brach sie jedes Mal in Tränen aus.

Sie hatte Rührei mit Tomaten gemacht, gebratenen Fisch mit reichlich Sojasoße und Algensuppe mit Eierstich. Neben den Schüsseln stand Zacks offene Lunchbox wie ein stummer Vorwurf.

»Ying Ziyang« – seine Mutter zeigte anklagend auf die Box –, »du hast schon wieder nichts gegessen.«

Zack zuckte zusammen. Wenn ihn seine Mutter mit seinem chinesischen Namen ansprach, drohte Ärger. Dummerweise hatte ihn die Begegnung mit Simon so abgelenkt, dass er nach dem Unterricht ganz vergessen hatte, den Inhalt der Lunchbox bei einem weiteren angeblichen Gang zum Klo in die Biotonne zu kippen. »Entschuldige, Mom. Es war mir zu viel. Ich hab mir was Kleines in der Kantine geholt.«

»Was denn?«

»Äh … einen grünen Salat.« Zacks Spielraum für derartige Lügen war begrenzt. Weil er als Muslim nur Fleisch essen sollte, das halal war, musste er sich in der Schulkantine mit dem veganen Angebot begnügen.

Seine Mutter runzelte missbilligend die Stirn. »Grüner Salat enthält kaum Nährstoffe. Du musst mehr essen, schließlich wächst du noch!«

»Weiß ich. Ich hatte heute einfach keinen großen Appetit.«

»Bist du vielleicht krank? Hast du dich erkältet?« Ihr Ton wurde etwas sanfter. Nach einem Blick auf seinen Rollkragenpulli fühlte sie seine Stirn. Die andere Hand legte sie auf die eigene Wange, um festzustellen, ob er Fieber hatte.

Zack duckte sich weg. »Nein, mir geht’s gut.« Was schon wieder gelogen war. Er bekam ein schlechtes Gewissen.

In Wahrheit ging es ihm überhaupt nicht gut. Nur zu gern hätte er seiner Mutter alles erzählt, aber er hatte keinerlei Beweise für das, was er erlebt hatte. Sie würde annehmen, dass er mal wieder zu viele Anime-Filme gesehen hatte. Vorsichtig näherte er seine Hand der Suppenschale. Vielleicht wallte die Suppe ja auf und lief über. Fehlanzeige.

Nach einer kurzen Pause durchbohrte ihn seine Mom mit ihrem typischen Verhörblick und fragte: »Hast du eine schlechte Note bekommen?«

»Nein!«

»Was ist dann los?«

»Gar nichts. Ehrlich. Ich hab nur –« Zacks Blick fiel auf seine offene Schultasche. Die AR-Brille darin blinkte wie eine Warnleuchte.

Zack griff hinüber und klappte die Tasche zu.

»Ich hätte fast vergessen, dass wir heute total viele Hausaufgaben aufhaben.« Er lachte gezwungen. Seine Mutter musterte erst ihn und dann die Tasche misstrauisch. Rasch zog Zack die Tasche zu sich heran und holte seinen Laptop heraus. Seine Mutter hatte nichts dagegen, dass er die Hausaufgaben beim Abendessen machte. Weil in seinem Zimmer kein Platz für einen Schreibtisch war, musste er mit dem Laptop sowieso am Küchentisch sitzen. Hoffentlich hielt sie das davon ab, ihm noch mehr Fragen zu stellen.

Er stellte den Laptop neben die Reisschale und klappte ihn auf. Doch als er überlegte, welche Datei er öffnen sollte, klopfte es laut an der Wohnungstür.

Zack und seine Mom wechselten einen verwunderten Blick. Dann lief sie in ihr Zimmer, um ihren Hijab anzulegen, und überließ es ihm aufzumachen.

Als er die Tür öffnete, wehte kalte Luft herein, die nach feuchtem Straßenschmutz und Beton roch. Draußen standen der Vermieter, MrLansbury, und sein Sohn Nathan. Nathan war zwar nur ein Jahr älter als Zack, aber er war einen Kopf größer und hatte etwas Hinterhältiges an sich. Darum ging ihm Zack möglichst aus dem Weg.

»Ist … ist etwas nicht in Ordnung, MrLansbury?« Wenn der Vermieter auftauchte, bedeutete das nie etwas Gutes. Und warum hatte er Nathan mitgebracht?

»Allerdings«, antwortete MrLansbury. »Ich muss euch leider kündigen.«

Zack hatte plötzlich einen Eisklumpen im Magen. »Was? Wieso das denn?«

»Weil sich in dir etwas eingenistet hat, das vernichtet werden muss.«

Ein Hitzeschwall traf Zack. Er stolperte und fiel hin, fing sich aber mit einer Hand ab. Ein scheußlicher Schmerz durchzuckte seinen Arm und seine Hüfte.

»Zack!« Seine Mutter kam aus ihrem Zimmer. Sie hatte ihren leuchtend roten Hijab um den Kopf gebunden.

Als sie zu ihm lief, fegte die nächste Hitzewelle heran und warf sie um. Sie schrie auf. Ihre Arme und Beine zuckten unnatürlich, als würde etwas Unsichtbares daran zerren. Nathan stand immer noch in der Wohnungstür und machte ziehende Bewegungen. Ohne Zacks Mutter anzufassen, schleifte er sie über den Fußboden zu sich heran.

»Mom!« Zack packte seine Mutter an den Füßen, doch die unsichtbare Kraft war zu stark. Auf einmal blies ihm heißer Wind ins Gesicht. Was war hier los?

In seiner offenen Schultasche, die noch auf dem Stuhl stand, summte es jetzt in kurzen Abständen. Das Holz des Stuhls verstärkte die Vibrationen noch. Zack hätte schwören können, dass außerdem eine dumpfe Stimme aus der Tasche drang. Im gellenden Geschrei seiner Mutter ging sie beinahe unter, doch sie rief: »Setz mich auf, Junge!«