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Immer wieder wird Nils geärgert. Dabei hat er doch nichts getan. Die beiden Raufbolde Sven und Toni wollen ihn so richtig erschrecken. Sie stehlen die Mumie des Ritters Kahlbutz aus der Gruft ihrer Dorfkirche und binden sie an eine Laterne auf der Brücke. Sie wissen, dass Nils die Brücke an diesem Abend überqueren muss. In der Dämmerung zieht ein Gewitter auf, und der Donner rollt drohend über das Dorf. Tatsächlich kommt Nils, aber alles wird ganz anders, als es Sven und Toni erwarten. Ritterliche Abenteuer beginnen und Nils hat einen ungewöhnlichen Freund, der ihn beschützt und lehrt, wie man des "Stolzes Krone auf dem Haupte trägt".
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Seitenzahl: 116
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Kapitel - Donnergrollen und Geistesblitz
2. Kapitel - Wie sich ein Edelmann Respekt erwirbt
3. Kapitel - Totgesagte leben länger!
4. Kapitel - Kein Ritter ohne Rüstung
5. Kapitel - Ein edler Ritter ist kein Mime
6. Kapitel - Der Ritterschwur
7. Kapitel - Das Geständnis
8. Kapitel - Kein Ritter ohne Ross
9. Kapitel - Ritterliche Tugenden
10. Kapitel - Rettet den Ritter
11. Kapitel - Wenn das Gewissen plagt
12. Kapitel - Befreiung
13. Kapitel - Erlösung
Nachwort
Es gibt seltsame Geschichten, und hätten Kinder sie nicht erlebt und alles mit eigenen Augen gesehen, würde keiner mit gesundem Menschenverstand glauben, was im kleinen Dorf Kampehl wirklich geschah. Originale Schriften des Ritters, die ich hier abdrucken durfte, können alles beweisen. Diese haben die Kinder mir gezeigt und gut aufbewahrt, wo sie keiner findet, in einem sicheren geheimen Versteck. Auch wenn die Erwachsenen ihnen nicht glauben: Es ist trotzdem wahr und alles genauso geschehen, wie es hier geschrieben steht.
Donnergrollen und Geistesblitz
Das Wetter hatte tückische Launen. Schwere Regenwolken und die Sonne schienen sich am Himmel uneinig zu sein. Mal brannte das Zentralgestirn heiß und grell, mal zogen in Windeseile dunkle Wolken den schwarzen Vorhang vor den gelben Lichtball, und es wurde so düster, dass man meinen konnte, die Welt ginge unter.
Wie jeden Donnerstagabend musste Nils auch an diesem seltsamen Tag im Hallenbad beim „Aquasport für Übergewichtige“ mitmachen.
Nils’ Fettschicht war so dick, dass ihn das Wasser trug. Er musste sich nicht einmal bewegen. Wenn mit ihm ein Schiff in den Weiten des Ozeans untergegangen wäre, hätte er sich nur auf die Wasseroberfläche legen und abwarten müssen, bis ihn jemand rettete.
Es kann also ein großer Überlebensvorteil sein, dick zu sein, dachte Nils. Eine dicke Fettschicht schwimmt oben und wärmt den Körper. Dicke unterkühlen langsamer als Dünne. Auch beim Wippen sind dicke Kinder gegenüber anderen eindeutig überlegen. Die Fliegengewichte sitzen oben, strampeln mit den Beinen und kommen nicht mehr hinunter. Dicke sind außerdem gemütlicher und ruhiger. Das ist in der hektischen Zeit, über die viele Erwachsene klagen, bestimmt ein Pluspunkt. Beim Bobfahren im Winter gewann Nils immer. Kein Wunder. Auch für Profi-Bobsportler spielt das Körpergewicht eine große Rolle, wusste Nils, denn je schwerer die Mannschaft ist, desto schneller kann der Bob fahren. Ziel ist es, möglichst das maximal zulässige Gesamtgewicht zu erreichen, häufig mit Hilfe von Bleiwesten. Nils würde keine Weste benötigen. Er bekam jeden Bob auch ohne Zusatzgewicht auf Turbogeschwindigkeit.
Aber für alle anderen Kinder schien dies nicht von Bedeutung zu sein. Oder sie wussten es nicht, und so wurde er immer wieder wegen seines Aussehens gehänselt.
„Nur noch wenige Minuten, dann ist das Schwimmen endlich vorbei!“, dachte Nils. Er schloss seine Augen und wartete. Er drehte sich auf den Rücken, breitete seine Arme aus, sank etwas unter, aber nur so weit, dass er durch seine Nase noch über dem Wasser Luft einsaugen konnte. Es gab nur ihn und die Wellenbewegungen des nach Chlor stinkenden Schwimmbades.
Er fühlte sich leicht wie eine Feder. Er schwebte schwerelos, und alle Stimmen rundum verloren jegliche Bedeutung. Das Wasser gluckste sanft und umspielte beruhigend seine Ohren und seinen Körper. Nils glitt in seine eigene träumerische Welt. Er stellte sich seine Seele vor, wie er aussehen würde ohne Körper. Das war gar nicht so einfach, und leider dauerte seine Träumerei nicht lange genug, bis er ein richtiges Bild vor sich hatte, denn ein lauter Pfiff durchbohrte schrill das Wasser und die ihn umgebende Ruhe.
Nils riss seine Augen auf und sah seinen Trainer nah am Beckenrand stehen.
„Nils! Nils! Was machst du? Hey! Du bist hier beim Wassersport! Hopp, hopp! Beweg dich!“
Nils pustete, sodass große Wasserblasen vor seinem Mund blubberten. Er drehte sich auf den Bauch und schwamm angestrengt los.
Zur selben Zeit begann der Wind wieder heftig über Kampehl zu fegen und schob eine große schwarze Wolke direkt vor die Sonne. Das seltsame Kuriosum begann.
Die beiden Jungen Sven und Toni liefen zielstrebig und schweigend den Gehweg an der wenig befahrenen Dorfstraße entlang. Toni trug eine alte Decke unterm Arm. Rasch bogen sie bei der kleinen Kirche rechts in einen schmalen Fußweg ab. Sven blickte prüfend um sich, ob die Luft rein war. Er streifte sein dunkles, langes Haar aus dem Gesicht und fuhr Toni an: „Tempo, beeil dich, bevor uns noch jemand sieht! Wo ist der Schlüssel?“
Toni wühlte erst in seiner rechten Hosentasche, wechselte dann die Wolldecke unter den anderen Arm und wühlte in der linken. Er zog einen alten eisernen Schlüssel hervor. „Da ist er ja!“
Sven riss Toni den Schlüssel aus der Hand und öffnete die dicke Holztür. „Wir machen lieber kein Licht, falls jemand draußen vorbeigeht!“, befahl er. Beide Jungen verschwanden in der Gruft der steinernen Kirche. „Au! Eh, du Armleuchter, pass doch auf!“
Toni entschuldigte sich leise: „Oh Mann, es ist dunkel und unheimlich hier drin!“
Ein einziger schmaler Lichtstrahl fiel durch den Spalt eines mit Brettern zugenagelten Fensters mitten in die Grabkammer. Das geheimnisvolle Licht fiel auf die gefalteten Hände auf der Brust des Toten. Winzige Staubteilchen tänzelten im kargen Schein.
„Quatsch nicht, hilf mir lieber, den Glasdeckel wegzuschieben!“
Sven zündete ein Feuerzeug an und hielt es über den Toten. Er beugte sich über sein Gesicht und sprach mit feierlicher Stimme: „Ritter von Kahlbutz, Ihre Spukzeit ist gekommen!“
Im Flackern des Feuerzeuglichtes wirkte das vertrocknete Gesicht der Mumie gespenstisch. Toni sah verängstigt zu seinem Freund hinüber.
„Ey, ich fass die Mumie nicht an! Ich finde die eklig!“, flüsterte er.
Sven drückte Toni das Feuerzeug in die Hand.
„Leuchte du!“, herrschte er Toni an, und dieser versuchte mit der kleinen Flamme, so gut es eben ging, die Grabstelle zu erhellen. Die schwere Glasplatte quietschte laut beim Verschieben über den Rand des Sarges.
Es war ein gruseliger Ton, als ob jemand von Ferne schrie: „Neiiin, niiiicht! Tut es niiiiicht!“ Toni zuckte zusammen.
„Mensch, stell dich nicht an und lass die Decke rüberfliegen!“
Toni warf die Decke schwungvoll zu Sven. Der Tote besaß nur noch vereinzelte dünne Haarbüschel auf der eingedellten Schädeldecke. Vom einstigen edelmutigen Ritterantlitz war über die Jahrhunderte nicht viel übrig geblieben. Durch den Wurf wehte ihm eine vergilbte Haarsträhne aus der Stirn, und die Staubteilchen schwirrten nun wirr und wild über ihm durcheinander.
Toni schluckte und verzerrte angewidert den Mund. Ihm kam es vor, als starre ihn die Mumie aus ihren hohlen, dunklen Augenhöhlen vorwurfsvoll an.
„Pack unten an!“, befahl Sven. Er breitete die Decke über dem leblosen Körper aus, hob den Oberkörper hoch und wickelte ihn ein.
Aber Toni ging einen Schritt zurück. „Nee, ich fass den nicht an!“
Sven wurde ungeduldig. „Der beißt schon nicht! Mensch, ist doch die Decke drüber.
Halt ihn an den Füßen fest und heb ihn aus dem Sarg!“
Toni löschte das Feuerzeug. Seine Daumenkuppe war schon rot und heiß.
„Ach, Mann! Igitt! Komm, lass uns lieber verschwinden!“
„Quatsch, das wird ein Riesenspaß. Sei kein Spielverderber, und pack jetzt an!“
Widerwillig griff Toni mit der freien Hand an die Decke und umfasste so die knochigen Füße. „Der ist ja leicht wie eine Feder!“
Draußen vor der Tür waren Stimmen zu hören. Schritte kamen näher. Ein Mann sagte laut: „Schade, jetzt ist die Gruft verschlossen. Erst morgen gibt es wieder Führungen!“
Sven und Toni bewegten sich nicht und lauschten. Sie wussten, dass neben der Eingangstür die Öffnungszeiten der Gruft angeschlagen waren. Die letzte Führung um 16.00 Uhr war längst vorbei. Aber sie hatten nicht hinter sich abgeschlossen. Die Tür war nur angelehnt. Sie verharrten bewegungslos mit dem Leichnam in ihren Armen. Die Schritte entfernten sich, und es wurde still. Nur der Wind ließ die Tür gleichmäßig wackeln. Toni öffnete sie etwas, lugte durch den Spalt und war erleichtert: „Zum Glück, die Luft ist wieder rein!“
Sven rief: „Los, lauf!“
Mit der Mumie fest im Griff rannten die beiden Jungen, so schnell sie konnten. Sie hatten sich einen einsamen Weg ausgesucht, von dem sie sicher waren, dass die Wahrscheinlichkeit, dort jemandem zu begegnen und erwischt zu werden, sehr gering war. Ihr Plan ging auf. Tatsächlich trafen sie auf ihrem eiligen Fußmarsch zur Brücke keinen Menschen. Nur der Wachhund der Bäuerin Pöhl bellte und knurrte sie am Zaun wütend an.
Die Dämmerung breitete sich über die Felder aus, und leise wabernde Nebelschleier schwebten aus den feuchten Wiesen. In der Ferne bog sich eine Brücke schwarz über den kleinen Fluss Schwenze. Die alte steinerne Brücke war die einzige Verbindung zwischen den beiden Ufern für viele Kilometer. Nicht nur Bauern nutzten sie, um zu ihren Feldern auf der anderen Seite zu gelangen. Auch viele Dorfbewohner beider Seiten nahmen diese Abkürzung über die Schwenze gerne an. Die dunkle Brücke wirkte dennoch wie ein Wall, nichts und niemandem entgegenkommend und keinem zugetan. Der Wind schäumte am Flussufer kleine Wellen auf, und es begann tröpfelnd zu regnen.
Toni konnte trotz seiner langen, schlaksigen Beine mit Sven kaum Schritt halten. Sven war im Sportunterricht immer der Beste, egal in welcher Disziplin. Er konnte am schnellsten laufen, am weitesten springen, am geschicktesten Fußball spielen. Im Sport war er nicht zu schlagen. Und er war auch der stärkste Junge aus der Klasse. Keiner wagte es, sich mit Sven anzulegen, denn wenn er wütend wurde, entwickelte er Kräfte wie ein Bär und konnte dann auch sehr aufbrausend und brutal werden. Deswegen war man entweder Svens Freund, oder man versuchte ihm möglichst unauffällig aus dem Weg zu gehen.
Endlich erreichten die Jungen mit ihrer über 300 Jahre alten Last ihr Ziel.
„Puh, geschafft!“, seufzte Toni erleichtert und überprüfte mit suchendem Blick, ob auch wirklich niemand in ihrer Nähe war.
„Wir stellen ihn mitten auf der Brücke unter der Laterne ab! Dort sieht Nils die Mumie gleich!“, bestimmte Sven, und Toni nickte zustimmend.
„Bääh, der Alte stinkt immer noch.“ Toni zog die Nase angewidert hoch. Im gleichen Moment prasselte ein warmer Platzregen los.
Sven zog ein Stück Seil aus der Jackentasche und reichte es Toni, der die Mumie, die immer wieder an der Laterne herunterrutschen wollte, am Eisenpfahl festband. Dazu wickelte er das Seil zwei Mal um den Bauch des Klappergerüstes und um den Pfahl. Nun sah es so aus, als ob die Mumie sich unterm Laternenpfahl ausruhen würde.
„Mist, Sven, jetzt wird die verdorrte Leiche vom Regen ganz nass!“
Sven störte das wenig. „Der Olle hat Jahrhunderte überstanden, dann wird ihm so ein bisschen Regen nicht schaden.“
Toni trat einen Schritt zurück, stülpte sich seine Kapuze über den Kopf und flüsterte: „Der ist echt gespenstisch.“
Ein Donnergrollen durchzog lautstark den Himmel.
Mit verhöhnender Stimme sprach Sven zur Mumie: „So, Ritter Kahlbutz, jetzt sind Sie an der Reihe!“ Er wandte sich an Toni und fuhr belustigt fort: „Nils wird sich vor Angst in die Hose machen, wenn er den hier so stehen sieht. Der traut sich nie über die Brücke! Dann muss der Dicke einen riesigen Umweg machen, um heim zu Mami und Papi zu kommen!“
Toni lachte: „Ein bisschen Bewegung kann dem ja nicht schaden!“
Beide stießen freundschaftlich ihre Fäuste aneinander. Plötzlich wurde es hell, und alles im Dunkeln Gelegene rundum wurde von gleißendem Licht enthüllt. Ein Blitz knallte mit einem ohrenbetäubenden Schlag mitten in die Laterne. Ein metallisches Zischen ertönte, das Glas der Laterne zerbarst in viele kleine Stücke und fiel klirrend zu Boden. Das Laternenlicht flackerte. Kurz darauf dröhnte mit Getöse ein lauter Donner vorwurfsvoll über den beiden Jungen, die sich schützend die Arme über den Kopf hielten und sich duckten. Ein Geruch von Ruß breitete sich mit dem Wind aus. Sven, der sonst immer eine große Klappe hatte, stand regungslos da. Dann kam ihm ein leises „Wow!“ über die Lippen.
Toni stotterte: „Ey, puh, ey krass. Das war knapp! Der Blitz hätte uns beinahe erwischt!“
Sven staunte: „Ja, Hammer! Voll mitten rein in die Laterne!“
Toni war es bei der ganzen Sache ja von Anfang an etwas mulmig gewesen. Nun hatte er genug. „Ich will jetzt lieber nach Hause. Vielleicht kommt Nils überhaupt nicht! Und bei diesem Gewitter im Gebüsch zu hocken und zu warten, ist doch doof!“
Er drehte sich um und wollte gehen, aber Sven hielt ihn mit einer Hand am Oberarm fest. „Klar, das fette Bürgermeistersöhnchen kommt jeden Donnerstagabend vom Schwimmen für Dicke, und unsere dürre Mumie begrüßt ihn dann herzallerliebst. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen?“
Ein gruseliges Geräusch ließ die beiden aufhorchen. Es klang wie das Knacken von Knochen. Das Licht der Laterne flackerte nervös, und eine sich räuspernde Männerstimme fragte: „Wen soll ick herzallerliebst begrüßen?“ Aus den dunklen Augenhöhlen der Mumie glotzten zwei schwarze Pupillen in großen weißen Augäpfeln die Jungen an.
Sven schrie: „Der lebt! Der lebt!“
„Wer seyt ihr jungen Burschen? Mir deucht, ick sei euch nie zuvor begegnet!“
„Und er spricht! Nix wie weg hier!“, stimmte Toni ein. Es war kaum zu glauben, wie schnell er jetzt rennen konnte. Beide Mumiendiebe verschwanden in Blitzesschnelle zusammen in der Dunkelheit.
Ritter Kahlbutz blieb allein und verwundert zurück. Mit zittrigen knochigen Händen löste er das Seil um seinen Bauch und trat mit wackeligen Schritten auf die Straße. „Huh!“, rief er den beiden hinterher. „Wartet, seyt doch so gut!“
Aber Toni und Sven hörten ihn nicht. Sie rannten so schnell, dass sie völlig außer Puste in kürzester Zeit im Dorf ankamen.
„Hilfe, der Mumiengeist lebt!“, schrie Toni. Er zeigte hinter sich und schnappte zwischen jedem Wort nach Luft.
Die Bäuerin Pöhl, die erst jetzt am späten Abend ihre klitschnasse Tageszeitung vom Zaun holte, schüttelte nur den Kopf, während sie wieder zurück in ihr Haus ging. „Diese halbstarken Spinner!“