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Ally Condie, internationale Bestsellerautorin der »Cassia & Ky«-Trilogie, kehrt mit »Rivergold« zurück ins Jugendbuch. Ein emotional packender dystopischer Roman über den Weg einer jungen Frau, Trauer und Wut hinter sich zu lassen und die innere Stärke zu finden, ihrem eigenen Kurs zu folgen. Es gibt etwas, das Romy Blythe, die siebzehnjährige Kapitänin des Baggerschiffs »Lily«, noch mehr will als das Gold, das sie aus dem Serpentine River graben: Rache. Romy hat geschworen, die Feinde zu vernichten, die ihren Freund getötet haben. Doch während sie ihr Schiff durch die gefährliche Strömung steuert, muss sie feststellen, dass sie nicht allen in ihrer Crew vertrauen kann. Mindestens ein Verräter ist an Bord. Andere sind aufrichtiger, als sie glaubt. Während der letzten Fahrt der »Lily« findet Romy heraus, wer sie geworden ist, wer sie sein möchte und wie die Liebe sie verändert hat.
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Seitenzahl: 376
Ally Condie
Rivergold
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer
FISCHER E-Books
Für Lainey, einen Stern
Call behauptet, einen Stern zu sehen, was mich zum Lachen bringt.
»Doch wirklich!« Seine Stimme klingt ernst, als er es mir ins Ohr flüstert.
Ich lege den Kopf in den Nacken. Er hat recht. Ein Stern. Er steht tief über dem Horizont. »Das macht sechs«, sage ich.
»Sieben«, erwidert er. »Das war wirklich ein Stern, den wir in der ersten Nacht auf dem Fluss gesehen haben.«
»War es nicht.« Wir streiten seit Wochen darüber, seit wir den Außenposten verlassen und den Schwimmbagger bestiegen haben, um flussaufwärts zu fahren.
Er lacht leise, dann küsst er mich wieder.
Oben auf dem Deck ist es einfacher, den lauten Krach unseres hungrigen Metallschiffs zu überhören. Aber es ist immer noch unmöglich, das unentwegte Stampfen und Schaben des Baggers zu ignorieren, während er sich auf der Suche nach Gold auf dem Fluss bewegt, Steine und Schotter aufnimmt und ausmahlt. Er reißt das Flussbett auf und lässt dafür Müll und Schlamm zurück, zerstört Täler, vernebelt den Himmel mit Rauchschwaden.
»All das nur, weil der Admiral eine Schwäche für Gold hat«, bemerke ich.
»Und ich habe eine Schwäche für dich«, sagt Call. Ich lache, weil es albern ist, so etwas zu sagen, doch es stimmt, und ich spüre, wie er lächelt.
»Es ergibt keinen Sinn«, sage ich. »Was nützt dieses ganze Gold?« Wir alle wissen, dass der Admiral den Außenposten weiterentwickeln will. Er denkt, dass eine größere Menge Gold dazu beitragen kann, aber ich bin mir nicht sicher, warum das so sein sollte. Wir haben genug abgebaut, um eine Weile damit auszukommen, und es gibt nicht viele Möglichkeiten, damit Handel zu treiben. Wir brauchen viele andere Dinge nötiger. Saubere Luft, mehr Wasser, bessere Medizin, Möglichkeiten, die Böden zu regenerieren. Gold kann aber nichts anderes, als uns die Zeit bis zu unserem Tod zu verzieren.
»Wen interessiert das?«, fragt Call. »Wenn der Admiral nicht so unbedingt Gold wollte, wären wir nie hierhergekommen.«
Call sagt öfter so etwas, aber ich habe seinen Gesichtsausdruck gesehen, wenn er die Zerstörung betrachtet, die wir hinterlassen. Ein aufgewühltes Flussbett, alles Leben erstickt, damit wir das Gold rausholen können.
Wenn auch der Gedanke an das Verderben, das wir verursachen, mich erschauern lässt, so kann ich doch die Sterne zählen, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe. Schon jetzt, nach zwei Wochen auf dem Fluss, habe ich mehr entdeckt, als die meisten Menschen im Außenposten in ihrem ganzen Leben zu sehen bekommen.
»Es war eine gute Idee, mitzufahren«, flüstert Call. »Gib es zu.«
»Eine gute Idee!«, erwidere ich spöttisch. »Eine echt gute Idee, unsere Tage im Bauch eines lärmenden alten Baggerschiffs zu verbringen, das laut genug ist, um uns taub zu machen. Eine gute Idee, nächtelang hier oben zu stehen, Wache zu halten und uns die Augen zu verderben, indem wir die Dunkelheit nach Gefahren absuchen.«
»Eine sehr gute Idee«, sagt er.
Call hatte bei seiner Arbeit auf dem Schrottplatz einige Maschinisten dabei belauscht, wie sie sich über die Baggerfahrten unterhielten. »Es ist kein idealer Job«, sagten die Maschinisten zu Call. »Es ist gefährlich, und du musst den Außenposten verlassen.« Für Call klang das jedoch mehr nach einer Verheißung als nach einem Nachteil.
»Es ist die einzige Möglichkeit, die Welt zu sehen, Romy«, sagte er zu mir. »Der einzige Weg, wie du den Staub des Außenpostens von deinen Füßen schütteln kannst.«
Und wir wussten beide, dass uns das Anheuern auf dem Baggerschiff eine Möglichkeit bot, zusammen zu sein, ohne uns niederzulassen und Babys zu bekommen und den ganzen Tag, jeden Tag, an denselben Orten zu arbeiten und dieselben Dinge zu tun.
Und dann ist da noch das größte Geheimnis, der schönste Traum von allen.
Wir wollen abhauen.
Am Wendepunkt werden wir uns davonmachen. Weglaufen. Frei sein.
Ich stelle es mir die ganze Zeit vor. Blaue Seen. Duftender Wald. Geräusche anderer, nichtmenschlicher Lebewesen, die den Wald bewohnen und denen es egal ist, was wir sind. Wir überleben womöglich nicht lange in der Wildnis, aber wer weiß. Vielleicht haben wir doch eine Chance.
Ich würde lieber von einem wilden Tier zerrissen werden, als auf nichts zu warten. Und es nützt nichts, sich Gedanken darüber zu machen, was später passieren könnte.
Stattdessen denke ich an jetzt. Ich mag das Jetzt. Ein Kuss auf dem obersten Deck des Baggers unter einem verrußten Sternenhimmel und Calls Hände, die mich berühren.
»Sollen wir jemanden von der Besatzung einladen, mit uns zu kommen, wenn wir gehen?«, fragt Call.
Auch darüber haben wir schon öfter diskutiert.
»Nein«, entgegne ich. »Nur wir beide.«
Call seufzt in mein Ohr, Metall schrammt und kratzt über Stein, die Aufbereitungsanlage im Inneren des Schiffes dreht das Gestein und die Sedimente und siebt das Gold heraus, Wasser klatscht gegen Fels und Metall.
Dann ertönt die Glocke aus dem Minendeck.
Ich fluche, weil ich weiß, was das bedeutet. Sie brauchen Hilfe beim Hauptmotor des Baggers, der alle Systeme auf dem Schiff antreibt.
»Mach schon«, drängt Call. »Umso schneller kannst du wieder raufkommen.«
Die Abenddämmerung gleitet allmählich in die Nacht über.
»Sei vorsichtig, während ich weg bin«, sage ich. »Pass auf die Piraten auf.«
»Ich passe besser auf, wenn du nicht da bist«, erwidert er, und selbst im schwachen Licht erkenne ich, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln kräuseln.
»Das stimmt«, sage ich. »Ich bleibe wohl besser unten.« Das ist kein Scherz. Vielleicht waren wir zu aufgeregt vor lauter Freiheit, der frischen Luft.
»Romy«, sagt Call. »Mach dir keine Sorgen. Wir haben hier am Fluss noch keinen einzigen Piraten gesehen.«
Vielleicht sterben sie aus. Jeder weiß, dass das irgendwann passieren wird.
Der Außenposten ist der einzige Ort, an dem man überleben kann. Der einzige Ort mit zuverlässiger medizinischer Versorgung, genügend Nahrung und dem Schutz des Admirals und seiner Miliz. Man gibt einen Teil seiner Freiheit dafür auf, aber die meisten sind der Meinung, es sei ein fairer Handel.
Call berührt meine Hand im Dunkeln, als ich gehe.
»Da«, sagt Naomi, als die Fördermaschinerie wieder anspringt, ein konstantes, tiefes Brummen und Schleifen, das ein Teil von einem wird, wie ein Herzschlag. Der Hauptmotor wird von Solarzellen und Batteriespeichern angetrieben und aktiviert alles auf dem Bagger über Nebenantriebe. Das Fördersystem ist das lauteste. Wir haben es aus dem ursprünglichen System des Baggers zusammengeschustert, weil wir nicht über die nötigen Mittel verfügten, um es komplett zu ersetzen. Die Eimer bewegen sich auf ihrer Kette, die Siebtrommel, die das Gold vom Gestein trennt, rotiert, alles klirrt und dreht sich und mahlt. Schweiß rinnt über Naomis gebräuntes Gesicht. Sie wischt sich die Hände an einem Lappen ab und nickt Nik und mir zu. »Danke.«
»Gern geschehen«, sagt Nik. Wir müssen schreien, um das Getöse des Goldbaggers zu übertönen. Oft lesen wir den anderen von den Lippen ab. »Tut mir leid, dass wir dich runtergerufen haben, Kleines«, sagt er zu mir. In der Beleuchtung unter Deck sieht sein Gesicht gruselig und doch freundlich aus.
»Und, Sterne auf dem Oberdeck?«, fragt Naomi.
»Ja, einen haben wir heute Abend schon gesehen«, antworte ich. »Du solltest auch hochkommen.«
Nik lacht. »Das ist doch nicht dein Ernst. Du und Call, ihr wollt das Deck doch lieber für euch allein haben.«
Ich verdrehe die Augen, obwohl er recht hat. Aber Naomi und Nik folgen mir beide die Treppe hinauf. Wir lechzen nach frischer Luft, nachdem wir unten auf dem Minendeck waren. Während wir klettern, weht der Geruch von nächtlichen Brisen und vielleicht sogar von Pinienwäldern irgendwo in der Nähe zu uns hinunter. Ich atme ein. Das alles ist es wert.
»Call«, rufe ich, als ich auf das Deck komme, aber er ist nicht dort, wo ich ihn zurückgelassen habe. Ich sehe mehrere Gestalten im Licht der schwachen Scheinwerfer umhergehen, die die Basis des Decks umrahmen. Wer ist noch hier oben? Ein Teil der Crew? »Hey«, sage ich, gehe hinaus auf das Deck, und dann packt Naomi mich fest am Arm und hält mich zurück.
Die Gestalten kommen näher, nehmen Form an. Sie verwandeln sich von Schatten zu Menschen, deren Gesichter ich nicht kenne.
Piraten!
»Wir wollen das Gold!«, sagt einer von ihnen. »Sagt uns, wo es ist. Sofort!«
Meine Gedanken überschlagen sich. Meine Augen huschen umher.
Wo ist Call?
Er hatte keine Zeit, den Alarm auszulösen. Hatte er Zeit, sich zu verstecken?
»Sagt uns, wo es ist!«, fordert ein anderer Pirat. »Oder wir töten euch alle und nehmen es trotzdem.«
Ich sehe Naomi und Nik an. Sie haben die Hände gehoben.
»Ihr könnt uns nicht alle töten«, erwidere ich. »Ihr braucht uns lebend. Ihr wisst nicht, wie man den Bagger führt.«
»Ihr zwei, bringt uns nach unten!«, sagt der Pirat zu Naomi und Nik. »Zeigt uns, wo das Gold ist, oder wir erschießen euch.« Er gestikuliert in meine Richtung. »Haltet sie hier oben fest!«
Die Piraten richten ihre Waffen auf mich. Mein Verstand will, dass ich am Leben bleibe. Mein Herz ist krank vor Sorge um Call. Aber er ist schnell. Er ist gut. Er versteckt sich wahrscheinlich irgendwo und wartet auf seine Gelegenheit. Auf den Moment, in dem er sie alle überwältigen kann.
Ein kurzer Moment vergeht.
Und dann höre ich ein schreckliches Geräusch: Der Motor des Baggers schaltet sich ab. Sie legen uns still.
Ich bewege mich vorsichtig zum Rand des Decks. Warten da unten im Wasser noch mehr Piraten? Konnte Call entkommen? Steht er reglos im Fluss und hofft, dass ich über die Reling schaue? Wartest du darauf, mich aufzufangen, wenn ich springe?
Wenn es so wäre, könnten wir immer noch entkommen. Wir könnten weglaufen und nicht zurückblicken.
»Nur zu«, sagt der Pirat, der mich bewacht. »Schau es dir an.«
Ich werfe einen Blick über den Rand. Lichtpunkte tanzen auf den Wellen – Piraten in Booten, die Fackeln halten. Mindestens drei Dutzend von ihnen warten da unten, zusätzlich zu denjenigen, die bereits auf dem Schiff sind.
Wie kommt es, dass es so viele sind? Sie sollten doch im Aussterben begriffen sein?
Nur dreiundzwanzig Besatzungsmitglieder arbeiten auf dem Goldbagger. Wir können es unmöglich mit bewaffneten Angreifern in dieser Menge aufnehmen. Und wir sind zu weit den Fluss hinaufgefahren, um Verstärkung vom Außenposten anzufordern. Sie haben den Angriff perfekt geplant.
Wo ist Call?
Ich bin verzweifelt, ich muss ihn finden!
Die Piraten treiben die anderen Mitglieder der Crew die Treppe hinauf und hinaus auf das Deck. Ich sehe Naomi, Nik. Den Koch, den Ersten Offizier. Den Kapitän. Den Kartographen. Die anderen Maschinisten und die Bergleute. Keines unserer Besatzungsmitglieder ist bewaffnet. Die Piraten müssen ihnen die Waffen abgenommen haben.
Call ist nicht der Einzige, der fehlt. Den Zweiten Offizier entdecke ich auch nirgends.
Als Letzte kommen zwei weitere Piraten die Treppe hoch, die beide jemanden tragen. Gut, denke ich, wir haben ein paar verletzt, aber dann werfen sie die Leute auf das Deck des Baggers, und ich sehe, dass einer davon der Zweite Offizier ist. Den anderen drehen sie mit dem Gesicht nach unten. Keiner von beiden bewegt sich.
Aber ich. Ich stolpere über das Deck und falle neben dem auf dem Bauch liegenden Mann auf die Knie. Ich lege meine Hand auf die dunkle Stelle auf seinem Rücken, und als ich sie wegnehme, ist sie voller Blut. Naomi stößt einen Laut aus, fast einen Schrei. Egal, ob sie mir auch in den Rücken schießen, ich muss es wissen. Ich muss bestätigt sehen, was ich bereits weiß.
Ich drehe ihn um. Und da ist er, sein Gesicht erleuchtet vom kühlen Schein der Decklichter und dem Feuer der Fackeln der Piraten. Seine Augen sind offen, leer.
Call.
Ich lege meine Finger auf seine Lippen. Seine Haut fühlt sich schon kalt an.
»Steh auf«, sagt ein Pirat.
Ich rühre mich nicht.
Call wurde in den Rücken geschossen. Er hatte keine Chance, Alarm zu schlagen. Er wurde in den Rücken geschossen und war allein. Was sagen seine Augen? Nichts. Sie sagen nichts. Er ist nicht da. Er ist nicht mehr hier.
Bin ich noch hier?
Kann man so leer sein und nicht vom Wind weggetragen werden?
Ich blicke über meine Schulter zu den anderen Besatzungsmitgliedern. Meinen Freunden. Naomi und der Kapitän und alle anderen, und ich denke, ich wünschte, einer von euch wäre tot und nicht er. Du und du und du und du und du. Alle anderen auf diesem Schiff. Jeder von euch. Ich würde euch alle gegen ihn eintauschen, und es würde mir kein bisschen weh tun.
Eine andere Person tritt in mein Blickfeld. Ein Pirat. Ich habe das Knarren seiner Stiefel gehört, als er sich hinkauert, aber ich hebe meinen Blick nicht von Calls Gesicht. Seinen Augen.
»Weißt du, wer wir sind?« Die Stimme des Mannes ist rau wie Stein oder Gold. Nicht das polierte, glänzende Gold, das verfeinert und gereinigt wurde. Die schwerere, schmutzbrünierte Art, die wir vom Flussgrund heraufziehen.
»Piraten«, sage ich.
»Vagabunden«, erwidert er.
Es ist mir völlig egal, wie sie sich nennen. Ich nehme Calls harte Hand in meine.
Mein Gesicht ist nass.
»Wir lassen euch gehen«, sagt der Mann, ohne die Stimme zu erheben. Trotzdem hört man ihn deutlich, so still liegt der Bagger da. »Wir haben Nahrungsmittel für euch an Land gelassen. Genug, damit ihr es zurück zum Außenposten schafft, wenn ihr schnell geht und nicht viel esst.« Er beugt sich zu nahe zu mir hin, so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren und den Glanz seiner Augen im Fackellicht sehen kann. »Sag deinem Admiral, dass wir die Nase voll davon haben, dass ihr uns bestehlt. Sag ihm, dass dies das letzte Mal ist, dass wir jemanden am Leben lassen.«
Ich greife in Calls Hemdtasche. Ich schaue auf die Knöpfe, den Stoff, anstatt in seine toten Augen. Eine der Piratenwachen packt mich an der Schulter und reißt mich zurück, aber nicht, bevor ich den Zollstock herausgenommen habe, den Call immer bei sich hatte.
»Was ist das?«, fragt der Pirat.
Ich antworte nicht. »Hilf mir«, sage ich zu Nik. »Hilf mir, ihn mitzunehmen.« Auch wenn Call fort ist, werde ich seine körperliche Hülle nicht bei den Piraten zurücklassen.
»Lass das!«, befiehlt der Pirat mit der rauen Stimme. »Verschwindet von hier!«
Wut, weißglühend und heulend wie ein Motor, dröhnt durch mich hindurch. »Naomi«, sage ich. »Hilfst du mir?«
Sie bewegt sich nicht. Sie sieht traurig und mitleidig aus. Sie hat Angst. Sie haben alle Angst. Ich nicht. Das Schlimmste ist bereits passiert.
Als sie mich wegzerren, drehe ich mich um und sehe, dass die Piraten auch Call wegschleppen. Sein Kopf kippt nach hinten. Er trägt nichts von seinem eigenen Gewicht.
Er ist schwer, und doch ist er gar nicht hier.
Als wir draußen am Ufer stehen, hebt sich der Goldbagger als riesige, wuchtige Masse vor dem Nachthimmel ab. Dann leuchtet er plötzlich auf wie die Sonne, ein explodierender Feuerball.
»Sie haben ihn in die Luft gejagt.« Die Stimme des Kapitäns zittert.
Die Hitzewelle faucht über uns hinweg. Ein paar glühende Metallsplitter fallen ins Wasser und schimmern auf den Steinen, die wir vorhin aus dem Grund gerissen haben.
Der Wind dreht sich, und ich sehe ganz viele Sterne jenseits der verschmutzten Dunstschicht. Dann verschwinden sie wieder hinter dem Rauch des brennenden Schiffes.
Call ist tot.
Die Piraten haben Call zu nichts gemacht. Call, der alles für mich war.
Innerlich gebe ich ihnen ein Versprechen, während ihr Rauch und ihr Feuer die Sterne auslöschen.
Ich werde euch auch zu nichts machen.
»WIR REDEN ÜBER DICH.«
»Ich weiß«, erwidere ich dem Admiral. Wir sitzen in einem Raum im hölzernen Bürogebäude des Schrottplatzes und warten auf die Ankunft der restlichen Berater. Das Quorum des Admirals – eine Gruppe von vier Leuten, drei Männern und einer Frau – berät und unterstützt ihn bei der Leitung des Außenpostens. Ich habe einiges von dem erfahren, was das Quorum hinter meinem Rücken über mich redet, die Geschichten, die sie erzählen. Manche gut, andere schlecht. Manche wahr, andere unwahr.
Man sagt, ich sei die Marionette des Admirals.
Ich hätte eigentlich Angst vor den Flüssen.
Sie tuscheln darüber, dass ich Maschinistin war, als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal auf den Goldbagger ging und anschließend mit der Seele eines Waffenschmieds und dem Durst nach Blut nach Hause kam.
Zwei Tage nach dem Tod von Call, während unsere Crew den langen Weg zurück zum Außenposten zurücklegte, hatte ich meine erste »Offenbarung«. So nennt es der Admiral. Gegenüber dem Quorum erklärt er: »Gott flüstert ihr im Schlaf etwas zu, und am nächsten Morgen zeichnet sie die Entwürfe dazu.«
Mein erster Entwurf war eine Panzerung für den Bagger, die alle Piraten tötet, die versuchen, an Bord zu gehen. In den anderen Offenbarungen ging es darum, wie man sie perfektionieren konnte.
Es gibt zwei Probleme mit der Offenbarungstheorie des Admirals. Erstens glaube ich nicht an Gott, also kann er nicht mit mir reden. Zweitens glaube ich nicht, dass ich wirklich tief genug schlafe, um noch zu träumen.
Der Admiral und ich beobachten die Arbeiter, die auf dem Bagger im Hof unter uns herumklettern. Er kam gestern vom Fluss und wurde landeinwärts zur Überholung auf den Schrottplatz gebracht.
Es ist die heiß-orange, siedende Sonnenuntergangszeit, die nur deshalb erträglich ist, weil man weiß, dass es nur noch wenige Stunden bis zur Abkühlung der Nacht sind. Die Besatzung muss schwitzen, während sie die Panzerung am Bagger repariert. Ich weiß von der Arbeit auf dem Schrottplatz mit Call, wie es sich anfühlt, wenn die Kleidung den ganzen Tag über abwechselnd nass und trocken wird, wenn die Hände von Schmutz und Öl schwarz verschmiert sind, wenn die Haut über der Nase von der Sonne spannt, die Augen versengt und trocken vom Blicken auf glänzendes Metall und passende Zahnräder sind.
Das ist das Einzige, woran ich mir zu denken erlaube.
Auf dem Hof herrscht hektische Betriebsamkeit, als die Arbeiter von einer Position zur nächsten wechseln. Der Bagger sieht bedrohlich aus mit seinen verschiedenen, nach vorn und zur Seite ausgerichteten Zahnrädern. Die Panzerung. Wenn sich der Bagger bewegt, kriechen die Mechanismen über seine Außenseite wie bei einem mit Parasiten bedeckten Tier. Die Zahnräder sind stark genug, um einen Knochen wie einen Zweig zu zermalmen, ein Stück Eisen wie einen Ast zu knacken.
Jahrzehntelang waren die beiden Bagger, die der Außenposten besaß, nichts anderes als große Metallhaufen aus einer längst vergangenen Zeit. Sie standen am Rande der Stadt, zusammen mit all den anderen Überbleibseln und den Maschinen, die zu groß waren, um sie zu bewegen. Als der jetzige Admiral die Macht übernahm, machte er sich daran, vieles zu reparieren, um einen Weg zu finden, den Außenposten zum Florieren zu bringen, anstatt nur zu überleben. Er brachte einige der alten Relikte zur Reinigung und Reparatur auf den Schrottplatz der Mechaniker, einschließlich des Baggers. Die Piraten haben in der Nacht, in der Call starb, einen davon verbrannt. Jetzt ist nur noch ein einziger übrig, um die Flüsse nach Gold zu durchpflügen.
»Ah«, sagt der Admiral. »Willkommen.« Die anderen sind angekommen. General Dale, Bishop Weaver, General Foster, Schwester Haring. Sie geben dem Admiral die Hand und nicken mir zu.
Meine Stellung bei diesen Treffen ist immer etwas heikel. Ich gehöre nicht zum Quorum. Ich nehme nur an Besprechungen über den Bagger teil. Und die Bürger des Außenpostens betrachten mich als eine Besonderheit, nicht als eine Person. Wenn sie mir auf der Straße begegnen, lächeln sie und halten Abstand. Was sinnvoll ist. Ich bin mit den Machthabern verbunden, und es ist am besten, sie nicht zu stören. Das ist allgemein bekannt im Außenposten. Alle haben ihre Arbeit, die sie beschäftigt, alle müssen sich abrackern, um am Leben zu bleiben. Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten. Das ist es, was den Außenposten all die Jahre überlebensfähig gehalten hat, allein, ohne eine andere Stadt oder Siedlung in einem Umkreis von Hunderten Kilometern.
Und ich verstehe auch, warum die Mitglieder des Quorums mich nicht unter ihre gemeinsamen Fittiche genommen haben. Ich bin kein offizielles Mitglied ihrer Gruppe. Ich bin viel jünger als sie. Und das Quorum mag zwar keine Bedenken bezüglich der Menschen haben, die ich töte, aber niemand will eine Mörderin in seiner Nähe haben.
Es ist etwas Merkwürdiges an ihr. Das habe ich flüstern gehört. Nicht nur in letzter Zeit. Schon mein ganzes Leben lang.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßt der Admiral die Versammlung.
»Es ist uns ein Vergnügen«, sagt Schwester Haring. Ihr gepflegtes blondes Haar hat sie zu einem Dutt geschlungen. Sie ist sehr schön. Ich kann sie nicht leiden. Ich mag keinen von ihnen, aber sie mag ich am wenigsten, weil sie diejenige ist, die mich am meisten anlächelt.
»Bitte«, sagt der Admiral. »Setzen Sie sich.« Der Holztisch und die Stühle im Raum sind abgenutzt. Überall liegen Bleistiftstummel und Stücke Papier herum, die nach anderen Meetings zurückgeblieben sind. So gefällt es dem Admiral. Ich weiß nicht, wo das Quorum sich normalerweise trifft, aber wann immer wir hier zusammenkommen, um über den Bagger zu sprechen, verlangt der Admiral, dass der Raum so bleibt, wie er ist, so wie ihn die Leute benutzen, die tatsächlich auf dem Hof arbeiten. Er mag die Alltäglichkeit, das Gefühl dazuzugehören, das er ihm vermittelt.
Bischof Weaver nimmt seinen Platz auf der rechten Seite des Admirals ein. Wenn ich an den Meetings mit dem Admiral teilnehme, möchte er, dass ich zu seiner Linken sitze.
Die Teufelsseite, wie sie früher genannt wurde.
Ich frage mich, wer zu seiner Linken sitzt, wenn ich nicht da bin.
General Dales Augen verweilen auf mir in seiner üblichen berechnenden Art. Schwester Haring lächelt höflich. Es ist mir egal, was sie von mir oder über mich denken. Meine Aufgabe ist es, die Panzerung für den Bagger zu entwerfen und beides am Laufen zu halten, und nicht, mit dem Quorum zu sprechen oder mich darum zu kümmern, was es tut.
»Ich habe gute Neuigkeiten von der letzten Fahrt zu berichten.«
Der Admiral lehnt sich nach vorn und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Er ist groß und breitschultrig, hat einen quadratisch gestutzten, sandfarbenen Bart und durchdringende blaue Augen. Seine Haut ist immer ein wenig rosig, als hielte er sich viel draußen in der Sonne auf und arbeite hart. Seine Lippen sind aufgesprungen, die Haare auf seinen starken Armen von der Sonne gebleicht. Vor Jahren, als die Zeit kam, einen neuen Admiral zu wählen, kam der Außenposten nicht an ihm vorbei. Er hat großartige Ideen, und er sieht aus wie ein Mann des Volkes. Wie immer trägt er ein blaues Arbeitshemd, eine braune Hose, zerkratzte schwarze Arbeitsstiefel und eine Seidenkrawatte, die locker und nachlässig um seinen Kragen geschlungen ist. Ein beiläufiger Hinweis auf seine Position.
Ich bin genauso angezogen wie er, bis auf die Krawatte. Und ich trage mein Haar lang, in geflochtenen Zöpfen.
Ich frage mich, was Call sagen würde, wenn er mich jetzt sehen könnte. Nichts davon hätte er sich gewünscht. Außer dass er gewollt hätte, dass ich lebe, und auf diese Art und Weise schaffe ich es.
»Die Golden Lily hat perfekt funktioniert«, verkündet der Admiral.
Ich hasse den Namen, den sie dem Bagger gegeben haben. Ich betrachte ihn nicht als sie, und im Übrigen auch nicht als er. Es ist ein Bagger. Es ist ein Ding aus Metall.
Es ist nicht lebendig.
»Wir haben doppelt so viel Gold aufgenommen wie erwartet«, sagt der Admiral. Seine Augen leuchten auf, wie immer, wenn er über Gold spricht, und seine Stimme verrät seinen Gefühlsüberschwang.
So klingt er auch, wenn er zu den Leuten spricht, aber in diesem Fall ist es nicht einstudiert, sondern unbeabsichtigt. Es äußert sich in flüchtigen Blicken und ist nicht aufgesetzt wie für eine Ansprache.
»Ah«, sagt Schwester Haring zufrieden. Bishop Weaver zieht die Augenbrauen hoch, und General Dale lächelt.
General Foster presst tatsächlich vor Vergnügen die Handflächen zusammen. »Wunderbar!«, sagt er.
»Es war bei weitem unsere bisher erfolgreichste Reise.« Der Admiral wartet einen Augenblick, bevor er fortfährt. »Auch wenn keine Piraten getötet wurden.«
Die Mitglieder des Quorums reagieren mit kleinen, spontanen Bewegungen auf dieses Thema. Holen Luft, verschränken die Arme, schlagen die Beine übereinander. Ich fühle, wie sich alle Augen auf mich richten.
»Es sind keine Piraten gestorben«, sagt der Admiral, »weil unserer Maschine ein Ruf vorauseilt, so dass nicht ein einziger von ihnen versucht hat, an Bord zu gehen.«
General Dale verschränkt die Arme. »Das ist interessant.« Unsere Augen treffen sich. Er sieht mich herausfordernd an. Als fände er, dass meine Panzerung nicht Bedrohung genug ist, um die Piraten fernzuhalten.
Als hätte er die vielen rostroten Flecken auf der Panzerung vergessen, wenn der Bagger von anderen Reisen zurückkehrte. Überall wo meine stachelbewehrten, beweglichen Zahnräder die Piraten zu Mus zerquetschten, wenn sie den Bagger zu entern versuchten.
»Wir haben Piraten am Ufer gesehen, die uns beobachteten und verfolgten«, fährt der Admiral fort, »aber keiner hat es gewagt, einen Angriff zu starten.«
Wir haben Piraten gesehen. So drückt er sich aus. Aber die Wahrheit ist, dass keiner von uns in diesem Raum je mitfährt. Der Admiral bleibt in seinem Haus auf der Klippe, und ich ziehe mich in meine Wohnung unten in der Stadt zurück. Er denkt an Gold und ans Regieren, und ich denke an Töten und an Call.
»Es ist Zeit«, sagt der Admiral. »Wir sind bereit, den Serpentin in Angriff zu nehmen.«
»Gut«, sagt Schwester Haring, zur selben Zeit, wie Bischof Weaver sagt, »Endlich«, feierlich wie ein Gebet.
Der Serpentin. Der größte Fluss in der Gegend, derjenige mit dem größten Potential für Goldvorkommen. Wir haben bisher gewartet, weil er der am schwierigsten auszubaggernde Fluss ist. Er ist lang und tief und führt weit in das Gebiet der Piraten hinein.
Ein kleines Lächeln kräuselt meine Lippen, und ich neige den Kopf, um meine Freude über die Entscheidung des Admirals zu verbergen. Ich hoffe, die Piraten finden den Mut, den Bagger zu entern. Damit wir sie niedermetzeln können.
»Um sicherzustellen, dass alles reibungslos verläuft, wird Leutnant Blythe diese Fahrt begleiten.«
Mein Kopf schnellt hoch vor Überraschung. Er will, dass ich mitfahre?
Das ist gegen unsere Vereinbarung!, würde ich ihm gern entgegenschleudern. Ich habe die Panzerung für den Bagger entworfen, im Tausch gegen mein Leben und gegen das der anderen auf meiner ersten Reise. Meiner einzigen Reise.
Wir haben das Schiff und das Gold verloren. Wir wussten, dass der Admiral unseren Tod befehlen konnte, aber meine Offenbarung über die Panzerung hat uns gerettet. Sie gab mir ein Druckmittel. Etwas, womit man verhandeln kann.
Ich sehe den Admiral an, seine klaren Augen und die gerade Linie seines Mundes. Ich arbeite für ihn. Ich lebe unter seinem Schutz. Und ich unterschätze nie, niemals die Gefährlichkeit meiner Situation.
»Das ist die bisher wichtigste Fahrt«, sagt der Admiral. »Ich will nicht, dass etwas schiefgeht. Ich will, dass die Tötungsmechanismen funktionieren.«
»Sie werden funktionieren«, verspreche ich.
»Und du wirst da sein, falls sie es nicht tun«, erwidert er mit kühler Endgültigkeit in seinem Tonfall.
Wenn der Admiral sagt, dass du etwas tun sollst, dann tust du es.
Oder du stirbst.
Man könnte meinen, dass es mir nach dem Tod von Call egal ist, ob ich lebe oder sterbe. Aber das ist es nicht. Ich habe ihn gesehen. Ich habe gesehen, wie seine Augen nach oben blickten und nichts sahen. Ich sah, wie weit fort er war. Ich wusste, dass er nirgendwo auf der Welt oder jenseits davon war. Er war weg.
Das Quorum beobachtet mich.
Warum will der Admiral, dass ich auf diese Reise gehe und niemand von den anderen? Hat er entschieden, dass er mich satt hat? Ist das eine Art Falle?
Möglich wäre es. Vielleicht auch nicht. So oder so, ich kann ebenso gut das Beste aus der Situation machen. »Ganz recht«, sage ich zu den Beratern. Ich halte jedem ihrer Blicke nacheinander stand. Schwester Haring lächelt jetzt nicht mehr. Und dann treffe ich die Augen des Admirals. »Aber ich gehe als Kapitänin auf den Bagger.«
Das muss ich dem Admiral lassen: Er lässt sich nichts anmerken. Alles was ich erkenne, ist ein leichtes Straffen seiner Lippen, das zeigt, wie sehr ich ihn überrascht habe.
Und dass er wütend ist.
Der Admiral entlässt das Quorum, befiehlt mir aber, noch dazubleiben. Wir sitzen noch immer am Ende des verkratzten Holztischs. Ohne die anderen fühlt sich die Situation sehr intim an. Ich blicke ihm ins Gesicht, in diese eisblauen Augen, die Sommersprossen und Altersflecken, die seine Haut sprenkeln. Er ist ein Naturereignis, eine magische Erscheinung, die jedermann in seinen Bann zieht.
Seit der Abspaltung vor mehreren Generationen, als sich die übrige Welt von uns zurückzog und wir lernen mussten, aus eigener Kraft zu überleben, wurden wir von Admirälen angeführt. Die Älteren sagen, dass der letzte Admiral den Außenposten beinahe in den Ruin getrieben habe und dass dieser hier unsere Rettung war. »Bis heute scheut er sich nicht, selbst mit anzupacken«, sagen sie, wenn sie sehen, wie er auf dem Holzplatz Holz spaltet oder Waren auf seinem Wagen über die Hauptstraße transportiert. »Hat keine Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen.«
»Du glaubst also, ich mache dich zur Kapitänin.« Der Admiral lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter seinem Kopf, eine seiner zwanglosen Gesten, die besagen: Du hast nichts von mir zu befürchten und zugleich: Du musst mit dem Schlimmsten rechnen.
»Wenn Sie wollen, dass ich mitfahre«, sage ich.
»Du arbeitest für mich.« Er nimmt die Arme runter, legt sie auf den Tisch und zieht sich näher heran. »Du tust, was ich dir sage! Deshalb bist du noch am Leben.«
Ich weiß das alles. Es gibt nichts dazu zu sagen. Ich starre auf die Hände des Admirals. Sie sind in der Tat schmutzig. Unter seinen Fingernägeln und in den Falten seiner Knöchel hat sich schwarzer Dreck festgesetzt.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich für eine Anführerin hältst«, fährt er fort. »Du hast es bisher immer vorgezogen, allein zu arbeiten.«
»Das tue ich immer noch«, erwidere ich. »Aber wenn ich auf diesem Bagger mitfahren muss, wird niemand anderes das Kommando übernehmen.«
Ich will so viel Kontrolle wie möglich, wenn ich schon wieder raus auf dem Fluss muss. Und der Kapitän ist die einzige Person an Bord des Baggers, der eine eigene Kajüte bekommt. Ich will nicht mit jemand anderem in einem Raum schlafen müssen. Meine Privatsphäre zu haben ist ein Luxus, an den ich mich in den letzten zwei Jahren gewöhnt habe. Vorher habe ich, wie die meisten unverheirateten Arbeiterinnen und Arbeiter, in Gemeinschaftsunterkünften in der Nähe unseres Arbeitsplatzes gelebt. Auch meine Wohnung liegt in der Nähe des Schrottplatzes, aber ich habe mein eigenes Schlafzimmer, meine eigene Küche. Sobald ich mit der Arbeit fertig bin, brauche ich niemanden mehr zu sehen, muss mit keiner Menschenseele mehr reden.
»Es könnte sein, dass ein Teil der Besatzung nicht mit deiner Ernennung einverstanden ist«, warnt der Admiral. »Du bist noch jung. Und du hast erst eine einzige Fahrt mitgemacht. Und das nicht mal bis zum Ende eures Flussabschnitts, könnten manche einwenden. Eure Mission wurde schließlich nicht beendet. Und ihr seid ohne Gold zurückgekommen.«
Ich mache mir nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, wie viel Einfluss ich auf jeder Fahrt seitdem hatte. Das weiß er ohnehin.
»Du hast mehr in den Bagger investiert als jeder andere«, fährt er fort, als ich die Stille nicht ausfülle.
»Außer Ihnen.«
»In der Tat.« Am rechten Mittelfinger trägt er einen Türkisring. Er trägt ihn schon so lange, dass es aussieht, als wäre er eingewachsen, obwohl der Admiral kein dicker Mann ist und schlanke Finger hat. »Unterschätze nicht, wie sehr die Piraten deinen Bagger hassen.«
»Tue ich nicht«, entgegne ich. Ich freue mich darüber. Ich will, dass sie ihn hassen. Und fürchten.
»Gut.«
Eine der Wachen des Admirals erscheint in der Tür, und der Admiral erhebt sich.
»Der Bagger legt in sieben Tagen ab«, sagt er. »Bereite dich entsprechend vor. Ich lasse dir die Besatzungsliste zukommen, dann kannst du dich schon einmal mit deiner Crew vertraut machen.« Der Admiral lächelt. Ein Blitzen sehr regelmäßiger Zähne. »Captain Blythe.«
Er lässt mich allein zurück.
Ich spüre etwas, was ich in den letzten zwei Jahren nach Calls Tod nicht oft gespürt habe. Interesse. Warum versuchen die Piraten nicht, den Bagger zu entern?
Zwar weiß ich nicht genau, warum der Admiral so besessen davon ist, immer mehr Gold aus den Flüssen zu holen, aber ich verstehe, wie mächtig eine solche Besessenheit von einem Besitz ergreifen kann. Meine hält mich aufrecht. Hält mich am Leben.
Wir fahren heute.
Aus der Ferne, von einem der archaischen, trägen Wagen des Admirals aus, kann ich mein Baggerschiff auf dem Fluss fast nicht erkennen. Vor dem Hintergrund der Berge und inmitten einer sich davor erstreckenden, grasbewachsenen Flussniederung, gibt sich der Bagger als etwas aus, was er nicht ist, nämlich als ein natürlicher Teil der Landschaft. Sonnenaufgang und Wasser können sogar ein totes Ding halb lebendig aussehen lassen.
Aber dann nähern wir uns, und ich sehe den Bagger als das, was er ist.
Ich würde am liebsten über die gesamte Außenhaut des Gefährts kriechen und sicherstellen, dass jedes Zahnrad funktioniert – die Panzerung berühren, polieren. Ich habe das schon vor den anderen Reisen getan, denjenigen, bei denen ich nicht dabei war. Aber der Admiral hat es diesmal nicht erlaubt. Er sagt, er wolle nicht riskieren, dass ich mich verletze.
Das gefällt mir nicht. Ich hätte mir mehr Zeit gewünscht, um den Bagger zu überprüfen.
Als der Wagen langsamer wird, springe ich als Erste herunter. Die Wachen des Admirals beim Bagger kennen mich; ich hebe die Hand, und sie treten beiseite.
»Lasst niemanden mehr an Bord, bis ich es sage.« Sie nicken, und ich besteige den Bagger. Ich bin die Erste. Und ich werde die Letzte sein.
Wie es sich für einen Captain gehört.
Auf dem Weg nach unten, wo ich den Motor und die Schürfausrüstung überprüfen werde, gehe ich an der Tür vorbei, die zum Oberdeck des Schiffes führt. Sie ist abgeschlossen. Jetzt, da der Bagger über ein Verteidigungssystem verfügt, gibt es keinen Grund mehr, sie zu öffnen. Sobald die Reise beginnt, wird bis zu ihrem Ende keiner von uns mehr nach oben gehen. Seit Call war niemand mehr dort und hat nach Sternen Ausschau gehalten.
Er hatte oft Schlafstörungen, und zwar normalerweise dann, wenn er von etwas angefangen hatte zu träumen, dessen Ende er nicht fand. Er träumte in der dritten Person, was ich immer seltsam fand. Als wäre er ein Zuschauer der Ereignisse, anstatt sie selbst zu erleben, so wie es bei mir immer war.
Als wir Kinder waren und noch im Waisenhaus lebten, kam er alle paar Wochen beim Frühstück zu mir, um mir von einem Traum zu erzählen. Das Gleiche tat er auf dem Schrottplatz, als wir älter waren. Und später, auf dem Bagger. Er erzählte, er habe einen Jungen rennen und rennen sehen, oder ein Mann habe spätnachts mit einer Laterne an einem Baum gestanden, oder seine Mutter sei auf ein Feld gegangen und stehen geblieben, um drei Blumen zu pflücken.
»Und was dann?«, fragte ich jedes Mal.
»Dann bin ich aufgewacht«, antwortete Call. »Beende den Traum für mich. Bitte!«
Call wünschte sich immer, dass ich mir ein Ende für seine Träume ausdachte. Wenn wir uns als Kinder gestritten hatten, weigerte ich mich manchmal. Als wir älter waren und ich ihn liebte, fragte er seltener, nur wenn er es unbedingt wissen musste, und ich lehnte niemals ab.
Wir freundeten uns im Waisenhaus an. Weder Call noch ich hatten eine besonders tragische Geschichte. Wir waren genau wie die anderen fünfundzwanzig Kinder dort, weil wir beide Eltern verloren hatten, und ebenso wie sie wussten wir nicht genau, wie. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie die Menschen im Außenposten zu Tode kommen – bei Unfällen, Geburten, Lungenerkrankungen durch die Umweltverschmutzung, ein Überbleibsel längst untergegangener Städte, eine der unzähligen Krankheiten, die wir mit unseren begrenzten medizinischen Mitteln nicht behandeln können. Trotzdem, so sagt man uns, ist es hier weniger gefährlich als in der Wildnis.
Ich konnte mich kaum an meine Eltern erinnern – mein Vater war nie da, und meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Call hatte konkretere Erinnerungen als ich. »Meine Mutter hatte sonnenschwarze Haare, so wie du«, sagte er mir einmal, als wir klein waren.
»Aber die Sonne ist doch gar nicht schwarz«, erwiderte ich.
»Doch, nachdem man hineingesehen hat«, entgegnete er, »und man dann die Augen zumacht. Dann sieht man Schwarz und Gold.«
»Und Rot«, ergänzte ich.
»Ja.« Er deutete auf mein Haar. Ich zog die Enden meiner Zöpfe vors Gesicht, um sie mir anzusehen. Er hatte recht. In der Sonne glitzerten goldene Fäden in meinen Flechten.
»Du darfst nicht in die Sonne schauen«, mahnte ich.
»Aber manchmal macht man es aus Versehen«, sagte er. »Dann passiert es einfach.«
Ich war eifersüchtig auf Call, weil er sich so gut an seine Mutter erinnern konnte. Später erzählte er mir noch andere Dinge über sie: dass sie aufbrausend war, aber oft lachte. Es war schwer, das mit Call in Einklang zu bringen, der unendlich geduldig war und nur selten und mit tiefer Stimme lachte.
Call und ich waren beide geschickt mit unseren Händen. Als dann also, mit fünfzehn Jahren, die Zeit gekommen war, das Waisenhaus zu verlassen, wurden wir auf den Schrottplatz geschickt, um uns emporzuarbeiten. Wir begannen damit, für die Mechaniker Teile zu schleppen und zu transportieren, Handlangerarbeiten für sie zu erledigen und von ihnen zu lernen.
Als ich das erste Mal nach Calls Tod schlief, träumte ich von einer Panzerung für den Bagger. Ich habe gesehen, wie jemand sie konstruierte. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass es Call war. Ich versuchte immer wieder, mit ihm zu reden, aber er antwortete einfach nicht. Er konnte mich nicht hören. Er sah jedes Mal durch mich hindurch. Schließlich hörte ich auf zu versuchen, mit ihm zu reden, und achtete darauf, was er machte.
Ich wusste zu jeder Zeit, dass es nicht die Wirklichkeit war. Ich wusste, dass Call nicht in einem Traum zu mir kam, um mir zu sagen, dass ich die Panzerung bauen soll. Ich wusste es, weil Call niemals gewollt hätte, dass ich so etwas im wahren Leben baue.
Aber ich habe es trotzdem für ihn getan.
»Stellt euch vor mir auf«, befehle ich der Crew, die sich am Ufer versammelt hat. »Ganz beliebig, unabhängig von der Rangordnung.«
Der Admiral steht abseits und beobachtet mich.
Die Mannschaft hat dunkelgrüne Uniformen wie die, die wir damals getragen haben; die Mützen sind ebenfalls die gleichen. Meine trägt das Kapitänsabzeichen. Ich habe mein Haar bisher zu Zöpfen geflochten, damit es mir nicht ins Gesicht fiel, aber jetzt befürchte ich, dass die Mütze nicht gut dazu passt und ich lächerlich aussehe.
Die Crew steht in Habacht-Stellung, aber nicht sehr geordnet, da die meisten keine echten Milizionäre sind. Es ist eine zusammengewürfelte Gruppe von Maschinisten, Goldschürfern und anderen, die für diese Fahrt vom Admiral rekrutiert wurden. Die meisten Leute im Außenposten schenken den Baggerfahrten nicht viel Aufmerksamkeit. Ihr Alltag ist so arbeitsreich, dass sie keinen Gedanken an die Aufgaben anderer verschwenden. Sie vertrauen dem Admiral, und den Außenposten lebensfähig zu erhalten ist ein Vollzeitjob für alle, die hier leben.
Vor Generationen, als die Menschen hierherzogen und den Außenposten in diesem wilden Landstrich, dem Territorium, errichteten, erhielten sie noch Unterstützung von der Union, die sie geschickt hatte, sie versorgte und den Kontakt zu ihnen aufrechterhielt. Die Siedler sollten den Außenposten als Ausgangsbasis für weitere Erkundungen nutzen, unter anderem, weil die Union gehört hatte, dass es in der Gegend Goldminen geben könne. Aber nach ein paar Jahren verkündete die Union, dass sie den Außenposten nicht mehr unterstützen würde. Wir machten zu viel Arbeit, war das Argument. Wären weit weg von ihren anderen Provinzen und Städten. Zu schwer zu schützen. Zu wild. Wir hatten nicht genug Gold gefunden, um wichtig zu sein, und die Erkundungen waren anscheinend nicht mehr so bedeutend. Die Union setzte die Goldbagger an Land und hörte auf, Leute und Lieferungen zu schicken. Wir waren auf uns allein gestellt. Der erste Admiral sammelte jene ein, die sich außerhalb des Außenpostens niedergelassen hatten, zu ihrem eigenen Schutz. Die Piraten sind die Nachkommen derer, die sich weigerten, sich dem Außenposten anzuschließen.
»Name?«, frage ich den Mann vor mir.
»Owen Fales«, antwortet er.
»Du bist einer der Goldgräber.« Ich habe die Namen auf der Liste so oft wiederholt, dass ich sie alle kenne.
Er nickt. »Captain Blythe.«
Er ist älter als ich – in seinen Dreißigern oder Vierzigern – aber er scheint eine sanfte Wesensart zu haben. Vielleicht macht es ihm nichts aus, von einer so jungen Kapitänin wie mir geführt zu werden.
Ich gehe die Reihen entlang. Als ich zu einem jungen Mann mit dunklen Haaren und blauen Augen komme, klopft mir das Herz im Hals, so wie es mir immer bei einer unerwarteten Erinnerung an Call geht. Dieser Mann ist vom selben Typ wie Call und attraktiv, aber ansonsten sehen sie sich nicht ähnlich.
»Brig Tanner«, sagt er.
»Erster Offizier«, antworte ich, und er nickt.
»Eira Clyde«, sagt die junge Frau neben ihm. Sie ist sehr schön, hat hohe Wangenknochen und dunkles Haar. »Kartographin.«
Ich sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie ist damit herausgeplatzt, bevor ich sie angesprochen habe. Sie errötet, erkennt ihren Fehler, weicht meinem Blick aber nicht aus.
Ist sie unverschämt? Oder nur unerfahren? Ich unterdrücke den Drang, zum Admiral hinüberzuschauen. Ich bin sicher, dass er jemanden an Bord hat, der mich beobachtet. Um uns alle zu beobachten. Ich frage mich, wer es ist. Ich gehe die Namen und Ränge durch. Offizierin Ophelia Hill, Navigatorin. Offizierin Laura Seng, Sanitäterin. Offizier Cecil Clair, Kaplan. Offizier Corwin Revis, Chefmechaniker.
Dann lässt mich ein sehr junges Gesicht aufmerken. Der Junge muss in meinem Alter sein, vielleicht sogar noch jünger.
»Tam Wallace«, sagt er.
»Schiffskoch«, antworte ich.
Die Aufregung auf seinem Gesicht erinnert mich an mich selbst vor zwei Jahren. Er wird von den zahlreichen Unannehmlichkeiten gehört haben, die an Bord des Baggers auf uns warten – das ohrenbetäubende Knirschen, die harte Arbeit, die Langeweile, die erstickende Enge. Er hat das alles noch nicht am eigenen Leib erfahren. Aber wenn er wie Call und ich ist, wird ihm die Fahrt trotzdem gefallen – denn es ist ein Abenteuer. Ein Stich fährt mir durchs Herz, als ich daran denke, wie ich einmal war und was ich verloren habe.
»Wie alt bist du?«, frage ich.
»Sechzehn.«
Ein Jahr jünger als ich.
»Wie konntest du so jung zum Schiffskoch ernannt werden?«
Tam fährt sich mit einer Hand durchs Haar und bricht damit die Vorschrift, bei der Überprüfung der Mannschaft dem Kapitän gegenüber Haltung anzunehmen. Er bemerkt es plötzlich und lässt die Hand sinken. »Ich arbeite in der Messe, wo der Admiral speist. Er hat mir diesen Auftrag persönlich erteilt.«
»Wenn er dein Essen mag, warum sollte er dich dann an den Bagger verschwenden?«, frage ich.
»Er möchte, dass diese Reise erfolgreich verläuft«, erwidert Tam. »Die Leute arbeiten besser, wenn sie gutes Essen bekommen.«
Jung, formbar, talentiert, aber nicht in einer Weise, die eine Bedrohung für den Admiral darstellt, jemand, der praktischerweise in der Küche steht, wo er allen Klatsch erfährt …
Möglicherweise habe ich den Wachhund des Admirals gefunden.
Gegen Ende sehe ich den einen Namen auf der Liste, den ich wiedererkannt habe, den der einzigen Person, die ich wirklich dabeihaben wollte. Meine ehemalige Chefin, jetzt meine Zweite Offizierin.
»Naomi Moran«, sagt sie. Ihr Haar, dunkel, graumeliert, ist länger als in meiner Erinnerung.
»Zweite Offizierin«, sage ich.
»Captain Blythe«, sagt eine Wache neben mir. »Der Admiral ist jetzt bereit, eine Rede an die Mannschaft zu halten.« Eine subtile Untergrabung meiner Autorität. Ich wollte mich zuerst an meine Crew wenden; alles, was ich nach seiner Rede sagen werde, kann nur eine Enttäuschung sein. Ich nicke, und die Wache ruft: »Der Admiral wird jetzt zu Ihnen sprechen.« Alle drehen sich in seine Richtung wie Blumen zur Sonne.
Der Admiral trägt heute ein Sakko mit Weste. Bei der Hitze! Ich weiß, dass das der Mannschaft gefallen wird. Sie werden es als ein Zeichen der Wertschätzung betrachten. Vielleicht ist es das sogar. Der Admiral sieht hocherfreut aus.
»Kommen Sie zu mir, Captain Blythe«, sagt er. Ich nehme meinen Platz zu seiner Linken ein. »Captain Blythe hat die Panzerung entworfen, die unser Schiff, unsere Ladung und unsere Crew so hervorragend schützt«, beginnt er. »Ich möchte, dass Sie ihr Respekt zollen für die vielen Menschenleben, die sie gerettet hat. Captain Blythe.«
Ich stehe steif und unbeholfen da, während die anderen salutieren. Wird mir der Segen des Admirals auf dem Fluss helfen oder schaden? Früher waren die Besatzungen Leute wie Call und ich, die für eine Weile vom Außenposten weg wollten. Und der Admiral brauchte Leute, die die Arbeit machten, und die nichts dagegen hatten, auf dem Goldbagger mitzufahren. Es funktionierte im Großen und Ganzen. Aber inzwischen hat sich einiges geändert. Das erkenne ich. Ich rieche es in der ausgekühlten Morgenluft, in der Drehung des Windes. In der Art, wie ein Teil der Mannschaft hierher passt und ein anderer nicht. Der Admiral hat uns alle persönlich ausgewählt.
»Das ist der letzte Fluss«, fährt der Admiral fort. »Die letzte Reise. Eure Mission ist wichtig für den Außenposten, für uns alle. Ich wünsche euch alles Gute und weiß, dass ihr Erfolg haben werdet.«
Er hebt seinen breitkrempigen Hut in die Luft, und alle jubeln, wir alle dreiundzwanzig zusammen. Ich erhebe meine Stimme mit den anderen, um nicht den Zorn des Admirals auf mich zu ziehen.
Ich habe es nie gemocht, mit Menschen zusammen zu sein, aber seit Call ist es schlimmer geworden.
Meine Augen begegnen denen des Admirals, und er lächelt.