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Per aspera ad astra, ein bisschen Latein darf sein. Robär fühlt sich verfolgt und strebt unter der Aschewolke des Yellowstone in einer atemberaubenden Flucht zunächst ans Ende der Welt, zur Ile de Ouessant. Er wird von einem Bekannten begleitet, dem immer wieder geistige Wesen in Form von sich befehdenden Erinnyen und Binären erscheinen. Nach einer Auseinandersetzung mit seinem Verfolger wird ihm bewusst, dass hinter diesem eine mächtigere Person verborgen sein muss. Um diese zu finden setzt er seine abenteuerliche Reise quer durch den europäischen Kontinent bis zur Kurischen Nehrung fort. Dort wird ihm klar, dass er zur Zeit sein Ziel nicht erreichen kann. Die Freunde trennen sich. Robär findet ein Zuhause in einer Smart City, die er jedoch nach einiger Zeit verlässt. Er trifft seinen alten Freund in einer Gemeinschaft, die in alt hergebrachter Weise ihren Lebensunterhalt erwirtschaftet. Es entspannen sich tiefe Diskussionen um die Zukunft menschlichen Lebens mit einem überraschenden Ausgang. Eine Erzählung zum Nachdenken über eine zukünftige Entwicklung der Menschheit, die sich schon heute im Verborgenen anbahnt.
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Seitenzahl: 173
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Hermann Roland Bolz, 1952 in Kaiserslautern geboren, erlebte dort eine glückliche Kindheit und Jugend. Angeregt durch seinen flugbegeisterten Vater widmete er sich schon früh dem Modell- und hierauf aufbauend bereits mit 14 Jahren dem Segelflug, welchen er auch heute noch als Vereinsfluglehrer betreibt.
Nach dem Abitur verpflichtete er sich für zwei Jahre bei der Bundesluftwaffe. Sein Wehrdienst war überschattet von den dramatisch-tragischen Ereignissen um die israelische Olympiamannschaft, welche er als stellvertretender Wachhabender im Jahre 1972 auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck unmittelbar erlebte und die ihn in seiner Lebenseinstellung nachhaltig prägten.
Anschließend studierte er Forstwissenschaften in Freiburg im Breisgau. Sein hieran anknüpfender beruflicher Lebensweg umfasste zahlreiche Stationen inner- und außerhalb der Forstverwaltung von Rheinland-Pfalz. So war er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als Amtshelfer in Thüringen, als Verwaltungsmodernisierer in der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei und nicht zuletzt als Entwicklungshelfer in Jordanien tätig. Bis zu seiner Ruhestandsversetzung im Jahre 2019 war er Direktor der Zentralstelle der Forstverwaltung in Neustadt an der Weinstraße.
Hermann Roland Bolz ist verheiratet und Vater von sieben Kindern.
Er ist geprägt durch seinen an weiten Zeithorizonten und komplexen natürlichen und sozioökonomischen Systemen orientierten forstlichen Beruf und inspiriert sich immer wieder durch die einzigartige Weltperspektive des Segelfliegers. Im Mittelpunkt seines Handelns steht der Wunsch, seiner Verantwortung gegenüber künftigen Generationen gerecht zu werden. Daher beschäftigt er sich heute intensiv mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. Im Fokus steht dabei die Frage der Nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaft und Herrschaftssystemen.
Für Sylvia und Noah
Vorwort
1.
Kapitel
2.
Kapitel
3.
Kapitel
4.
Kapitel
5.
Kapitel
6.
Kapitel
7.
Kapitel
8.
Kapitel
9.
Kapitel
10.
Kapitel
11.
Kapitel
12.
Kapitel
13.
Kapitel
14.
Kapitel
15.
Kapitel
16.
Kapitel
17.
Kapitel
18.
Kapitel
19.
Kapitel
20.
Kapitel
21.
Kapitel
22.
Kapitel
23.
Kapitel
24.
Kapitel
25.
Kapitel
26.
Kapitel
27.
Kapitel
28.
Kapitel
29.
Kapitel
30.
Kapitel
31.
Kapitel
32.
Kapitel
33.
Kapitel
34.
Kapitel
35.
Kapitel
36.
Kapitel
37.
Kapitel
38.
Kapitel
39.
Kapitel
40.
Kapitel
41.
Kapitel
42.
Kapitel
43.
Kapitel
44.
Kapitel
45.
Kapitel
46.
Kapitel
47.
Kapitel
48.
Kapitel
49.
Kapitel
50.
Kapitel
51.
Kapitel
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Kapitel
53.
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
57.
Kapitel
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Kapitel
59.
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
62.
Kapitel
63.
Kapitel
64.
Kapitel
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Kapitel
66.
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
70.
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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81.
Kapitel
82.
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Kapitel
84.
Kapitel
85.
Kapitel
86.
Kapitel
87.
Kapitel
88.
Kapitel
Ein Freund mit Namen Robert inspirierte mich zu dieser Erzählung. Robert ist Franzose, deshalb verwende ich im Titel des Buches die Lautschrift „Robär“. Robert lebt in einer anderen Welt, einer Welt, in der recht wenige Personen unterwegs sind, in der Gut und Böse leicht voneinander zu trennen sind, und in der er eine wichtige Rolle einnimmt.
Die Hauptperson meiner Erzählung, Robär, hat sich rasch von dem real existierenden Robert entfernt. Sie hat eigene Gestalt gewonnen und sich im Laufe der fiktiven Ereignisse ständig weiter entwickelt. Sie wird schließlich mit einer Welt konfrontiert, der ich mich in meinen Fachbüchern nähere: mit der digital geprägten Welt der Zukunft. Dabei werden die Spannungen, die uns in dieser neuen Welt entgegentreten, deutlich.
Mir liegt am Herzen, auf diese denkbaren Entwicklungen auch in erzählerischer Form hinzuweisen. Mir ist bewusst, dass die Entwicklung auch einen anderen Verlauf nehmen kann, vielleicht auch wird. Wenn dieses Buch jedoch Anstoß zur Nachdenklichkeit hierüber gibt, dann könnte ich mich etwas erleichtert zurücklehnen, denn zur Stunde begegnen wir dem Gang der Dinge vergleichsweise sorglos.
‚Namedy‘, eigentlich hatte er sie Namedy nennen wollen, einfach so als Kosename. Namedy, das klang anders, geheimnisvoll, von weit her – vielleicht von Belgien oder Schweden. Namedy, damit war für ihn auch viel Sonne in einem tiefblauen Himmel verbunden, genauso wie der Mond in einer silberhellen Nacht über einer stillen Waldlichtung mit einem See, aus dem leise weißer Nebel emporsteigt. Namedy, das waren für ihn die Sterne, die freundlichen Begleiter seiner Sehnsüchte. Namedy, das war für ihn grün, ein helles, sanftes Grün, das sich am Horizont mit einem milchig blauen Himmel vereint, die Grenzlinie kaum wahrnehmbar. Namedy, das war auch Sehnsucht, Sehnsucht nach der Welt hinter dem Horizont, dem Leben und dem Sein dahinter. Namedy, das war für ihn auch Kraft, unterirdische, glühende Kraft, die sich in gewaltigen Eruptionen Bahn bricht. Namedy, das war auch das Symbol für einen Aufbruch, für seinen Ausbruch aus seiner Alltäglichkeit, aus diesem lähmenden, grauen Einerlei von morgens bis abends und von abends bis morgens.
Aber sie wollte nicht Namedy genannt werden. Sie war auch keine Namedy – sie hatte nichts von all’ dem, was er mit diesem Namen verband.
Zu lange schon war er hier gewesen, hatte diese lähmende Alltäglichkeit ertragen. Nicht nur die Seine, sondern auch die der gesamten Gesellschaft. Dieses In-sichverliebt-Sein, dieses Auf-sich-Bezogene, dieses sich beijeder Gelegenheit Empörende, die Bereitschaft, zu jedem Anlass mit entfalteten Transparenten zu demonstrieren und dabei zu glauben, damit den Ablass für sein eigenes fehlendes, wirksames und dauerhaftes Engagement geleistet zu haben, ja, das war es eigentlich, was ihn so zermürbte. Jeder sah nur sich selbst im Mittelpunkt und das ausschließlich im Hier und Heute. Aus der Jetzt-Perspektive mussten die persönlichen Lebensumstände jeden Moment ein bisschen besser werden, besser jedoch nicht für andere, sondern erst einmal für sich selbst. Und worauf bezog sich dieses Bessere? Auf die persönlichen Umstände, auf das persönliche Wohlbefinden, auf die persönliche Fitness, auf die persönliche Schönheit – ja, am Ende sogar auf den Traum, unendlich lange jung und attraktiv, kaum sterblich zu sein oder vielleicht sogar unsterblich zu werden. Die Verantwortung für alles, was diesem Wunsch entgegenwirkte, wurde auf andere übertragen. Nehmen, aber nicht geben, wir wollen nicht nur, wir nehmen auch!
Lebensentwürfe, individuelle Lebensentwürfe, gab es zuhauf. Sie folgten den einzelnen Lebensabschnitten, wurden ohne große Gefühlsbindung durchlebt und schließlich gewechselt wie schmutzige Unterwäsche. Manchmal spalteten sie dabei ihre Persönlichkeiten mit Hilfe chemischer Substanzen, die andere, reizvollere Welten erschlossen, als es mit körpereigenen möglich war. Und wieder alles im individuellen Bezug.
Die Werte waren skaliert, und die Skala lautete auf Euro. Letztendlich konnte alles in Geldwert umgewandelt und erworben werden – bis auf das immerwährende jung sein. Aber auch hier konnte man mit Geld Einiges tun. Und vielleicht, wenn man damit nur lange genug Erfolg hatte, konnte man das Zeitalter, in dem das Wort Tod nicht mehr vorkam, erreichen und sich in die Schar der Unsterblichen einreihen.
Zu lange schon war er hier gewesen. Es war Zeit, aufzubrechen! Aber halt: Wie war es denn mit ihm bestellt? War er nicht auch Teil dieser Gesellschaft, teilte er nicht diese Lebensart? Wenn nicht wissentlich, dann vielleicht unbewusst? Wirkte er daran in seinem Flechtwerk zwischenmenschlicher Beziehungen mit? Was hatte er getan, sich diesem Zeitgeist zu entziehen, und was davon war jenseits dieser Ich-Bezogenheit? Wie viele Lebensentwürfe hatte er schon durchlebt? Waren diese jeweils in sich abgeschlossen oder gab es einen roten Faden, entlang dessen sie sich entwickelt hatten und weiter entwickeln konnten? Oder wurde dieser Faden immer wieder neu und beliebig in die Zukunft gesponnen, ohne Verbindung zur Vergangenheit?
Draußen war es schon finster. Feiner Regen aus einer dichten, schwarzgrauen Wolkendecke schlug sich auf seiner Jacke nieder. Für Dezember war es erstaunlich warm: 14° C. Leise und sorgfältig verschloss er die Haustür, unsicher, ob er jemals zurückkehren würde, aber sicher, dass wenn, er dann ein anderer sein würde, als heute. Lebensentwürfe?
‚Bin dann mal weg‘, hatte er wie ein zeitgenössischer Erfolgsautor auf einen Zettel geschrieben und diesen auf den Couchtisch gelegt. Dürfte kein Problem sein – zumindest nicht für seine Frau. Sie hatte einen in sich geschlossenen, modernen Lebensentwurf, war nicht von ihm abhängig, weder materiell noch emotional.
Tastend fand er das Schloss der Beifahrertür seines Wagens. Hilflos kämpfte die Innenbeleuchtung gegen die Finsternis an. Er zwängte sich über die Mittelkonsole. Mit einem vertrauten Klang schlug die Tür zu. Der Motor sprang ohne Zögern an, und im Anfahren huschten die Scheinwerferstrahlen, vielleicht ein letztes Mal, über das vertraute Gebäude, das ihm so lange ein Zuhause gewesen war.
Er liebte das Fahrgeräusch seines Wagens. Der Wind strich leise und sanft über die Karosserie, die so aerodynamisch gestaltet war, dass kaum lärmende Luftwirbel entstanden. Und auch bei hohen Fahrgeschwindigkeiten hatte man den Eindruck, dass die Luft das Fahrzeug nicht als Störenfried empfand, sondern es eher streichelnd liebkoste. Und dann dieser Dieselmotor! Inzwischen verpönt, aber kraftvoll mit einem leisen aber durchdringenden, kernigen Ton, der, wenn man erst einmal beschleunigte, bemessen aber unüberhörbar anschwoll, während das Fahrzeug rasch an Fahrt gewann. Er fühlte sich so geborgen in diesem Wagen. Hier war er sicher untergebracht und gut aufgehoben! Er war der festen Überzeugung, auch wenn er dies nicht bewusst wissen konnte, dass er genau dieses großartige Gefühl im Leib seiner Mutter gehabt hatte. Diese Umgebung, die so viel Sicherheit gewährt, diese gleichmäßigen und bei aller Dynamik zuverlässig pochenden Geräusche – damals das Herz der Mutter, hier der Motor seines Wagens. Dieser Schutz vor der feindlichen Welt draußen, damals der Leib seiner Mutter, heute das Stahlkleid seines Wagens. War dies der Grund dafür, dass zumindest Männer Fahrzeuge so sehr liebten?
Auf offener Strecke eine Ampel. Geräuschlos, beinahe gespenstisch springt die Anzeige auf Rot. Er könnte nun den Motor abstellen. Es ist ja nicht mehr so, wie in seiner Jugend. Damals konnte man nicht sicher sein, dass er erneut ansprang. Möglicherweise hatte die 6-Volt-Batterie gerade den Geist aufgegeben, war Kondenswasser in den Verteiler eingedrungen, stimmte das Gemisch nicht oder was auch sonst. Nein, heute sprangen Motoren immer an, gleich ob 20 Grad minus oder 40 Grad plus herrschten. Wie heute generell alles 100-prozentig funktionierte. Die heutige Generation war überhaupt nicht mehr in der Lage, mit etwas, das nicht perfekt war, umzugehen. Ein solches Gerät wäre schon lange umgetauscht. Dieser Anspruch an Perfektion war auch etwas, was ihn störte. Beispielsweise diese Baumaßnahme, derentwegen er nun in finsterer Nacht vor der Ampel wartete. Eine Fahrbahnerneuerung mit begleitendem Radwegeausbau in einem engen Tal. Da musste erst einmal seitlich der Berg zurückgenommen werden, denn alle Standards waren einzuhalten: Breite, Gefälle, passive Sicherheitseinrichtungen wie Markierungen, Katzenaugen, Leitplanken und unterhalb dieser steilen Böschungsanschnitte: Fangzäune für sich lösende Steine. Und so drängte sich alles auf engstem Raum: die Bahnlinie, der Bach, der Radweg, die Straße, der Fangzaun und jenseits der Gleise noch der Waldweg. Wie eine Maginotlinie durchschnitten diese Bauwerke den Wald, ermöglichten den Menschen auf Kosten der Natur und vor allem der Tiere eine hohe und sichere Mobilität. Wie lange würde es noch einen solchen Wahnsinn geben? Das Beste an diesem Projekt war ja, dass die Radfahrer, derentwegen dieser Aufwand hauptsächlich betrieben wurde, Radwege mieden wie die Pest. Sie zogen es doch vor, in ihren farbigen Nonkonformistenuniformen paarweise oder zu dritt nebeneinander zu fahren und den nachfolgenden Verkehr auf ihre in ihren Augen unerhört bewundernswert hohe Reisegeschwindigkeit einzubremsen oder zu riskanten Überholmanövern zu nötigen, um letztere dann ungerührt mit grober Gestik zu kommentieren. Und sie taten dies, weil in dieser Zeit jeder Einzelne für sich in Anspruch nahm, das Maß aller Dinge zu sein.
Nein, den Motor ließ er laufen, weil er Angst hatte. Angst, dass jemand die Tür aufreißen und ihm Leid zufügen könnte. So konnte er nämlich schnell anfahren und sich damit dem Angriff entziehen. Eigentlich konnte er aber auch die Verriegelung betätigen. Mit einem hörbaren „Klack“ verriegelten sich die Türen. Sogleich war ihm wohler. Es lag doch auf der Hand, dass sich Gewalttäter nachts genau an dieser Stelle versteckten und bei sich bietender Gelegenheit zuschlugen: Die Tür aufreißen, dem vor Schreck gelähmten Opfer ein Messer an den Hals halten, die Übergabe der Wertgegenstände erzwingen und dann in die dunkle Nacht verschwinden. Ja, es war richtig gewesen, die Tür zu verriegeln. Wenn er aus irgendeinem Grund den Wagen schnell verlassen musste, konnte er sie ja leicht mit dem Türgriff öffnen.
Aber waren die verriegelten Türen wirklich ein wirksamer Schutz? Wenn nun der Angreifer mit einem Hammer die Scheibe einschlug und ihn dabei, diesen als Waffe gebrauchend, auch noch erheblich verletzte, was dann? War es vielleicht nicht doch besser, die Tür nicht zu verriegeln und im Zweifel quasi freiwillig irgendetwas herzugeben, um den Räuber zu befrieden?
Die Ampel sprang auf grün, und verwirrt über seine Gedanken fuhr er mit verriegelten Türen weiter.
Keine 50 Meter war er gefahren und schon gleich war ihm dieses Licht aufgefallen, welches einfach nicht hier her gehörte. Und jetzt wusste er, woher es kam: Von einem LKW, der ihm entgegenfuhr, obwohl die Straße für LKW gesperrt war. Entgegen kam, obwohl bei ihm die Ampel auf Grün gesprungen war und er erst dann und nicht etwa bei Rot losgefahren war. Auch war die Umschaltphase sehr lang! Wieso konnte ihm dieses Fahrzeug jetzt entgegenkommen? Es war einfach weiter gefahren – in diesem Wort steckte der Begriff Gefahr. Fahren, Fährnis, Gefahr – ja, es war gefährlich, zu fahren, deshalb hieß diese Tätigkeit ja wohl auch fahren.
Abrupt blieben die beiden Fahrzeuge voreinander stehen. Obwohl von den starken Fahrscheinwerfern geblendet hatte er das Kennzeichen erkennen können. Der Lastzug kam von weit her. Ein Mautumfahrer vermutlich. Wie er die hasste! Um wenige Euro zu sparen fuhren diese modernen Kutscher trotz Sperrung mitten in der Nacht durch dieses enge Tal mit seinen langen, schmalen Straßendörfern, in denen Tausende von Menschen ihre Nachtruhe suchten. Kein Mitgefühlt, kein Verständnis, keine Rücksichtnahme – das war ihm dann doch zu viel. Er stieg, seine Ängstlichkeit überwindend, aus, stürmte zur Fahrertür des LKW, und herrschte den Fahrer an, sofort zur Seite auszuweichen und sich kein weiteres Mal zu trauen, aus der missbräuchlichen Nutzung dieser Straße einen geldwerten Vorteil zu ziehen.
„Wer bist du, hast du hier überhaupt etwas zu sagen?“, entgegnete der so Angesprochene in aller Ruhe. „Willst du mich bei den Bullen verpfeifen, du Spießer? Die paar Euro zahle ich gerne – ist dann immer noch ein Geschäft! Und jetzt fahr’ deine Karre zur Seite, sonst schiebe ich sie in den Graben!“ Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er einen Totschläger aus der Seitentasche der Fahrertür und holte zum Schlag aus. Rasch wich er der Gewalt.
Weihnachtlich glänzet der Wald! Diese Liedzeile ging ihm durch den Kopf, als er die Weihnachtsbeleuchtung in der Großstadt sah. Um die Kirche und auf dem Marktplatz gruppierten sich unzählige Verkaufsstände. Die meisten hatten schon geschlossen und trotzdem standen noch einige Menschen beisammen und wärmten sich an einer Tasse Glühwein. Weihnachten – ein gigantisches Geschäft. Schon im Oktober füllten sich die Ladenregale mit weihnachtstypischen Waren – Lebkuchen, Nikoläuse, Zimtsterne, ... – fehlte nur noch die angloamerikanische Musikberieselung, die jedoch regelmäßig wie das Amen in der Kirche bald dazu geschaltet wurde, nicht zu laut und nicht zu leise, nicht zu fröhlich und nicht zu melancholisch, halt so, wie die Marktforscher sie eben empfehlen. Ja, und ab dann eine gigantische Inszenierung, in deren Mittelpunkt das Hervorrufen von Weihnachtswünschen und gleich das passende Geschenk dazu stand. Und damit das Geld noch leichter sitzt, kann man auch den Wunsch wecken, sich selbst zu beschenken. Ist geradezu ein Zukunftsmarkt bei den vielen Singles, die es heute umtreibt. Immer bunter und greller wird die Szene, hat sich längst von ihrer eigentlichen Bedeutung gelöst. Warum findet das statt? Weil bald der 24. Dezember ist. Ja und was ist am 24. Dezember? Da muss man nicht arbeiten und hat noch weitere zwei Tage frei! Der Kern der Inszenierung ging auf dem Weg nach heute verloren. Und was wurde bis heute nicht alles inszeniert? Das Ozonloch, die Vogelgrippe, die Schweinegrippe, Corona, der Klimawandel – und bald wieder vergessen, vergessen hinter den Kulissen einer neuen Inszenierung. Und die Kulissenschieber? Sie kommen und gehen und es sind dem Grunde nach immer dieselben: Kaufleute, Medienvertreter und Mandatsträger auf der Jagd nach den unerschöpflichen Pfründen in den Sehnsuchtslandschaften der Menschen.
‚Eigentlich‘, dachte er, ‚sollte man die kirchlichen Feiertage säkularisieren oder nur denen gönnen, die dem dahinter liegenden Glauben noch verbunden sind.‘
Der Motor summte leise und zuverlässig. Er näherte sich der französischen Grenze. Die Grenze! Was war das früher für eine Aufregung, wenn die Grenze passiert wurde. Gerade sitzen, nicht sprechen, nicht auffällig dreinschauen, Ausweise vorzeigen, eventuell Kofferraum und Koffer öffnen, und dann endlich doch weiterfahren. Und heute? Verlassene Barracken, kurze Geschwindigkeitsbegrenzung – warum? – und dann weiter! Aber abfahren vor St. Avold. Warum? Weil bei den ersten Besuchen in Frankreich hier noch keine Autobahn war und deshalb ab da Landstraße gefahren wurde. Abgefahren in diese lothringischen Dörfer mit ihren Stromleitungen über den Dächern, ihren schmuddeligen Fassaden, ihren verwahrlosten Bürgersteigen und ihrer Ausgestorbenheit – keine Menschenseele auf der Straße. Die Reklametafeln, die so anders waren, als zu Hause, mit ihren kräftigen Blau- und Rottönen, vielleicht der Trikolore nachempfunden. Sie brachten einfach eine andere Einstellung, eine andere Haltung zum Ausdruck. Kälter irgendwie, greller, übergangsloser – immer hatte er sich gefragt, was eigentlich diesen fremden Ausdruck ausmachte. Erklären konnte er es sich bisher nicht. Aber heute stellte er auch fest, dass hier etwas verschmolz, so gegensätzlich Empfundenes sich annäherte, und er in dem einstmals Fremden auch aus seiner Heimat Vertrautes entdecken konnte.
Und dunkel waren diese Ortschaften bei Nacht. Nur wenige Lichtpunkte im Zentrum, ansonsten alle Laternen gelöscht. Vielleicht ein Überbleibsel der vielen Kriege, denen dieses Land ausgesetzt war, eine Reminiszenz an die Zeit, als es besser war, sich zu verstecken, nicht aufzufallen? Vielleicht ein Zugeständnis an die leere Gemeindekasse? Oder gelebte Verantwortung im Umgang mit knappen Ressourcen?
Und da sah er auch die Sandsteinwand auf der linken Seite gleich hinter der Autobahnbrücke vor Hombourg. Diese wunderbare, zart rötliche Wand mit ihren gelben Bändern. Nur schemenhaft und doch deutlich konnte er sie im Scheinwerferlicht wahrnehmen. Sandstein – ein Gestein, mit dem die Menschen seiner Heimat sehr verbunden waren. Als Baumaterial nicht immer unproblematisch, charakterisierte es doch viele herrliche und auch berühmte Bauwerke. Aber nicht nur das: Ungezählte natürliche und künstliche Höhlen gaben Zeugnis davon, dass sich Menschen in Notzeiten diesem Gestein anvertraut hatten, sich in es eingruben und darin Schutz vor Natur- und Menschengewalten fanden. Die großartigen Schlossberghöhlen in Homburg traten vor seine Augen. Tausende von Menschen hatten sich immer wieder und nicht vergebens dorthin gerettet.
Der Fels, so hart und doch so zärtlich zu den Menschen. Wie gerne würde er selbst einmal in einen solchen Stein eindringen. In der körperlichen Auseinandersetzung mit ihm wachsen, sich verbinden, sich befreunden. Weiche Stellen entdecken und für sein Vorhaben ausnutzen, genauso, wie harte meiden und aus ihnen ein Stützgefüge entwickeln, Klüfte erkunden, Wellenformationen bestaunen, die Meer und Wind vor Jahrmillionen gebildet hatten oder einfach auch einmal in der Geborgenheit des Berges träumen. Träumen von einer anderen Welt, einfach einer anderen. Aber woher einen solchen Felsen nehmen, woher die Genehmigung, graben zu dürfen, woher das Wissen, alle Vorschriften zu beachten? Nein, das konnte er vergessen. Die Zeiten, als man sich aus eigenem Antrieb in einen Berg eingraben konnte, waren schon lange und vermutlich unwiederbringlich vorbei.
Bald lag Verdun hinter ihm. In den Tälern wogte zäh ein Nebelmeer, das vom inzwischen sichtbaren Vollmond gespenstig erhellt wurde. Immer noch summte der Motor Ruhe ausstrahlend, während der Mondschein durch das linke Seitenfenster fiel. Seine Empfindung zu diesem Licht schwankte zwischen zugewandt und kühl distanziert. Als Kind hatte er vor allem den Vollmond als freundlichen Begleiter empfunden. Immer wieder hatte ihn erstaunt, wie der Erdentrabant ihr Fahrzeug begleitete, wenn er mit seinen Eltern nachts unterwegs war. Einmal hatte er seinen Vater gefragt, ob der Mond auch andere Fahrzeuge wie sie begleiten würde. Eine schlichte Bestätigung hatte im genügt, um einfach über diesen Umstand staunen zu können. Warum das so war, hatte ihn nicht wirklich interessiert – es hätte nur die freundliche Verbindung gestört.
Sein Vater war schon lange tot. Sie hatten sich nie tiefer ausgesprochen, kein Vater-Sohn-Gespräch geführt, wie man es tun sollte, bevor man seinen Sohn ins Leben entlässt. Und noch weniger hatten sie über die dunkle Zeit des zweiten Weltkrieges und der französischen Gefangenschaft gesprochen. Erst kürzlich hatte er bei seinen Nachforschungen herausgefunden, dass eine entscheidende Station im Leben seines Vaters in Lachalade gewesen war. Und diesen Ort wollte er wenigstens einmal selbst gesehen haben.
Auf dem Weg nach Les Islettes hatte er den Eindruck, dass sich das freundliche Mondlicht wandelte. Es wurde kühler, distanzierter, schwerer, bleierner. Der Mond verlor zunehmend an Helligkeit. Auch die Temperatur war drastisch gesunken.
‚Wie ärgerlich, da zieht wohl ein Regengebiet auf’, dachte er, während er die Nationalstraße Richtung