Rock my Soul - Jamie Shaw - E-Book

Rock my Soul E-Book

Jamie Shaw

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Beschreibung

Er ist ein Rockstar und verdreht jeder den Kopf – doch um sie für sich zu gewinnen, muss er sich richtig ins Zeug legen …

Als Kit Larson Shawn Scarlett das erste Mal Gitarre spielen sieht, ist es um sie geschehen! Doch nach einer verhängnisvollen Party wird Kit klar, dass sie für den hinreißenden Typen mit den grünen Augen nie mehr sein wird als ein One-Night-Stand. Die Liebe zur Musik aber lässt sie nie wieder los, und als Kit Jahre später erfährt, dass Shawns inzwischen sehr erfolgreiche Band The Last Ones to Know einen neuen Gitarristen sucht, kann sie nicht widerstehen und spielt vor. Kurz darauf erhält sie die Zusage und ist überglücklich. Doch das heißt auch, dass sie Shawn, den sie nie vergessen konnte, von jetzt an jeden Tag sehen wird …

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Seitenzahl: 547

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Buch

Als Kit Larson Shawn Scarlett das erste Mal Gitarre spielen sieht, ist es um sie geschehen! Doch nach einer verhängnisvollen Party wird Kit klar, dass sie für den hinreißenden Typen mit den grünen Augen nie mehr sein wird als ein One-Night-Stand. Die Liebe zur Musik aber lässt sie nie wieder los, und als sie Jahre später erfährt, dass Shawns inzwischen sehr erfolgreiche Band The Last Ones to Know einen neuen Gitarristen sucht, kann sie nicht widerstehen und spielt vor. Kurz darauf erhält sie die Zusage und ist überglücklich. Doch das heißt auch, dass sie Shawn, den sie nie vergessen konnte, von jetzt an jeden Tag sehen wird …

Autorin

Jamie Shaw, geboren und aufgewachsen in South Central Pennsylvania, erwarb einen Master-Abschluss in Professionellem Schreiben an der Townson University, bevor ihr klar wurde, dass die kreative Seite des Schreibens ihre wahre Berufung ist. Als unverbesserliche Nachteule entwickelt sie zu später Stunde Romane mit Heldinnen, mit denen man sich identifizieren kann, und männlichen Hauptfiguren, die das Herz zum Flattern bringen. Sie ist eine treue Anhängerin von White Chocolate Mocha, eine entschiedene Verfechterin von Emo-Musik und ein leidenschaftlicher Fan von allem, was romantisch ist. Am meisten aber liebt sie den Austausch mit ihren Leserinnen.

Von Jamie Shaw bereits erschienen:

Rock my Heart · Rock my Body

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Jamie Shaw

Rock my Soul

Roman

Deutsch von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »Chaos« bei Avon Impulse, an imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Jamie Shaw

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hannah Jarosch

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

LH · Herstellung: sam

ISBN: 978-3-641-18920-4 V002

www.blanvalet.de

Für jede Leserin, die sich in Shawn verliebt.

Prolog

Fast sechs Jahre zuvor

»Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragt mich mein Zwillingsbruder, Kaleb. Er hat die Arme vor der schmalen Brust verschränkt und kaut auf seiner Unterlippe. Ich verdrehe die Augen.

»Wie oft willst du mich das denn noch fragen?« Eines meiner Beine baumelt bereits aus meinem Schlafzimmerfenster im ersten Stock, und mein schwerer Kampfstiefel zieht mich Richtung Boden. Ich habe mich schon eine Million Mal aus dem Haus geschlichen – um mit Taschenlampen Verstecken zu spielen, meinen Brüdern nachzuspionieren, etwas dringend benötigte Zeit für mich allein zu haben –, aber ich war noch nie so nervös wie heute Abend.

Oder so verzweifelt.

»Wie oft muss ich es denn noch tun, bis du begreifst, dass das hier verrückt ist?«, zischelt Kaleb zu laut, während er einen nervösen Blick über die Schulter wirft. Unsere Eltern schlafen, und damit der heutige Abend so verläuft wie geplant, muss ich sicherstellen, dass es dabei auch bleibt. Als er mich wieder ansieht, hat er immerhin so viel Anstand, schuldbewusst zu blicken, weil er mich um ein Haar hätte auffliegen lassen.

»Das ist meine letzte Chance, Kale«, flehe ich mit leiser Stimme, aber mein Zwillingsbruder lässt sich nicht beirren.

»Deine letzte Chance worauf, Kit? Was hast du denn vor? Ihm deine ewige Liebe gestehen, nur damit er dir das Herz brechen kann so wie jedem anderen Mädchen, das diesem Typen über den Weg läuft?«

Ich seufze und schwinge ein zweites langes Bein über den Fenstersims. Ich starre zu den Wolken hoch, die sich in diesem Moment vor die Mondsichel schieben. »Es ist nur …« Noch ein tiefer Seufzer entfährt mir. »Wenn Mom und Dad aufwachen, deck mich einfach, okay?«

Als ich einen Blick über die Schulter werfe, schüttelt Kale den Kopf.

»Bitte!«

Er stellt sich zu mir ans Fenster. »Nein. Wenn du gehst, komme ich mit.«

»Du wirst nicht …«

»Entweder komme ich mit, oder du bleibst hier.« Der Blick meines Bruders spiegelt meinen eigenen wider – düster und entschlossen –, seine Augen sind von einem solch dunklen Braun, dass sie fast schwarz wirken. Ich kenne diesen Blick, und ich weiß, dass jede weitere Diskussion zwecklos ist. »Deine Entscheidung, Kit.«

»Du Partytier«, ziehe ich ihn auf und springe, bevor er mich aus dem Fenster schubsen kann.

»Also, wie sieht dein Plan aus?«, will er wissen, nachdem er neben mir auf dem Boden gelandet ist und sich meinem Laufschritt angepasst hat.

»Bryce bringt uns hin.«

Als Kale anfängt zu lachen, zwinkere ich ihm selbstgefällig zu. Dann springen wir beide in den SUV unserer Eltern und warten.

Adam Everest schmeißt heute Abend die größte Party aller Zeiten. Er und die anderen Mitglieder seiner Band haben heute Morgen ihren Abschluss gemacht, und es geht das Gerücht um, dass sie alle bald nach Mayfield ziehen. Mein Bruder Bryce hätte auch seinen Abschluss gemacht, wenn er nicht mit Schulverweis dafür bestraft worden wäre, dass er im Rahmen eines Highschoolabschlussstreichs den Wagen des Schulleiters demoliert hat. Unsere Eltern haben ihn zu lebenslangem Hausarrest verdonnert – oder zumindest so lange, bis er von zu Hause auszieht –, aber wie ich Bryce kenne, wird ihn das nicht davon abhalten, sich auf der Party des Jahres blicken zu lassen.

»Bist du sicher, dass er kommt?«, fragt Kale. Er klopft nervös mit den Fingern auf die Armlehne des Beifahrersitzes.

Ich zeige mit dem Kinn zur Haustür. Unser drittältester Bruder schlüpft gerade auf die Veranda. Er hat mitternachtsschwarze Haare – die Haare, für die wir Larson-Kinder alle bekannt sind. Er zieht die Haustür leise hinter sich zu, sieht nervös in beide Richtungen und sprintet dann auf den Durango unserer Eltern zu. Er verlangsamt sein Tempo, als ich ihm vom Fahrersitz aus kurz zuwinke.

»Was zum Teufel, Kit?«, poltert er, nachdem er die Autotür weit aufgerissen und eine spätfrühlingshafte Windböe hereingelassen hat. Er wirft einen wütenden Blick auf Kale, aber Kale zuckt nur eine knochige Schulter.

»Wir kommen auch mit«, teile ich ihm mit.

Bryce schüttelt entschieden den Kopf. Als Star-Quarterback unseres Footballteams hat er gelernt, Befehle zu erteilen, aber offenbar hat er zu oft eins auf den Schädel gekriegt, um sich zu erinnern, dass ich mir von ihm nichts befehlen lasse.

»Nein, verdammt«, sagt er, doch als ich eine Hand auf die Hupe lege, spannt er sich an.

Ich bin das Nesthäkchen der Familie, aber da ich mit Kale, Bryce und noch zwei weiteren älteren Brüdern aufgewachsen bin, kenne ich mich aus mit dreckigen Tricks.

»Doch, verdammt.«

»Macht sie Witze?«, fragt Bryce Kale, doch der zieht nur eine Augenbraue hoch.

»Sieht sie so aus, als ob sie Witze macht?«

Bryce schaut unseren Bruder missbilligend an, bevor er den Blick wieder auf meine Hand am Lenkrad heftet. »Warum willst du überhaupt mitkommen?«

»Weil ich es will.«

Ungeduldig wie immer, lässt er seine Aggression an Kale aus. »Warum will sie mitkommen?«

»Weil sie es will«, wiederholt Kale, und Bryce’ Miene verfinstert sich, als ihm klar wird, dass wir die Zwillingsnummer abziehen. Im Moment könnte ich behaupten, dass der Himmel neonpink ist, und ich hätte Kales volle Rückendeckung.

»Ihr wollt mich allen Ernstes zwingen, euch mitzunehmen?«, beschwert sich Bryce. »Ihr seid neu auf der Highschool. Das ist so peinlich!«

Kale murmelt irgendetwas davon, dass wir jetzt streng genommen im zweiten Highschooljahr sind, aber es geht im Knurren meiner Stimme unter. »Als ob wir überhaupt mit dir abhängen wollen.«

Genervt drücke ich aus Versehen zu fest auf die Hupe, und ein unglaublich kurzes, unglaublich lautes Tuten lässt die Grillen um uns herum verstummen. Wir drei erstarren alle, unsere obsidianfarbenen Augen weit aufgerissen, und unsere Herzen rasen so schnell, dass ich mich wundere, dass Bryce sich nicht in die Hose macht. Stille dehnt sich in dem Raum zwischen unserem Fluchtwagen und unserem Sechszimmerhaus aus, und als keine Lichter angehen, erfüllt ein kollektiver Seufzer der Erleichterung die Luft.

»Tut mir leid«, murmele ich, und Bryce stöhnt, während er sich nervös mit einer Hand durch seine kurz geschnittenen Haare fährt.

»Du bist eine gottverdammte Nervensäge, Kit!« Er streckt die Hand nach mir aus und zerrt mich am Arm aus dem Wagen. »Steig hinten ein. Und gib mir nicht die Schuld, wenn Mom und Dad dir Hausarrest aufbrummen, bis du vierzig bist.«

Die Fahrt zu Adams Haus dauert ewig und drei Tage. Als mein Bruder schließlich in einer langen Autoschlange auf der Straße parkt, den Motor ausschaltet und sich auf dem Sitz zu mir umdreht, bin ich mir ziemlich verdammt sicher, dass das hier die idiotischste Idee ist, die ich je hatte. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Telefonmasten und Straßenlaternen mich von meinem Zuhause trennen.

»Okay, hört zu«, ermahnt uns Bryce und lässt seinen Blick zwischen Kale und mir hin- und herhuschen. »Wenn die Cops die Party hier sprengen, treffen wir uns bei der großen Eiche unten am See, okay?«

»Augenblick, was?«, ruft Kale, als wäre ihm eben erst eingefallen, dass wir auf einer Party sein werden, auf der Minderjährige Alkohol konsumieren und rekordverdächtig oft gegen den Lärmschutz verstoßen wird.

»Okay«, erkläre ich für uns beide, und Bryce mustert meinen Zwillingsbruder noch einen Moment länger, bevor er einen resignierten Seufzer ausstößt und aus dem Wagen steigt. Ich steige ebenfalls aus, warte, bis Kale an meiner Seite auftaucht und folge Bryce dann hin zu der Musik, die den Asphalt unter unseren Füßen aufzureißen droht. Die Party ist bereits in vollem Gange, Teenager schwärmen überall durch den riesigen Garten wie Ameisen, die sich über rote Plastikbecher hermachen. Nachdem Bryce sich hinter der Haustür sofort ins Gewühl gestürzt hat und verschwunden ist, tauschen Kale und ich einen kurzen Blick, bevor wir ihm ins Haus folgen.

In der Diele von Adams Haus wandert mein Blick höher und höher bis hin zu einem Kronleuchter, der ein grelles weißes Licht über, wie es aussieht, eine Million ausgeflippter Körper wirft, die sich alle in dem Raum drängen. Ich schlängele mich durch ein Meer von Schultern und Ellenbogen, durch Flure und überfüllte Zimmer, um zur Hintertür zu gelangen, die in den Garten führt. Die Musik in meinen Ohren dröhnt mit jedem Schritt, den ich tue, lauter und lauter. Bis Kale und ich wieder ins Freie treten, hämmert sie auf meine Trommelfelle ein und pulsiert in meinen Adern. Ein riesiger Swimmingpool, überfüllt mit halb nackten Highschoolschülern, befindet sich zwischen mir und der Stelle, wo Adam Everest steht und Songtexte in sein Mikrofon schmettert. Links von Adam spielt Joel Gibbon auf seiner Bassgitarre. Daneben steht das neue Mitglied, Cody Soundso, mit seiner Rhythmusgitarre, und Mike Madden trommelt hinter ihnen auf sein Schlagzeug ein.

Aber sie alle sind nur verschwommene Gestalten am Rande meines Blickfelds.

Shawn Scarlett steht rechts von Adam und schreddert mit seinen talentierten Fingern die Leadgitarre. Seine zerzausten schwarzen Haare hängen ihm wild über die tiefgrünen Augen. Sein Blick ist auf die vibrierenden Saiten geheftet. Hitze tänzelt meinen Nacken hoch, und Kale murmelt: »Er ist nicht einmal der Heißeste.«

Ich ignoriere ihn und befehle meinen Füßen, sich in Bewegung zu setzen, mich um den Pool dorthin zu tragen, wo sich eine riesige Menge versammelt hat, um der Band zuzusehen. Ich stelle kurz darauf fest, dass ich mit meinen schweren Lederboots, den zerschlissenen Jeans und dem weit geschnittenen Tanktop eindeutig zu viele Klamotten anhabe. Ich finde mich hinter Cheerleadern im Bikini wieder, die den Unterschied zwischen einer Fender und einer Gibson nicht einmal erkennen würden, wenn ich beide über ihren wasserstoffblonden Köpfen zusammenschlagen würde.

Auf den Zehenspitzen stehend versuche ich, über wippende Haare hinweg irgendetwas zu erkennen. Doch da endet der Song, die Band bedankt sich bei der Menge und beginnt, ihr Zeug einzupacken. Mit einem entnervten Seufzer drehe ich mich zu Kale um.

»Können wir jetzt nach Hause?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf.

»Warum denn nicht? Die Show ist vorbei.«

»Das ist nicht der Grund, weshalb ich hergekommen bin.«

Kales Blick bohrt sich unter meine Haut, gräbt sich tiefer und tiefer, bis er in meinen Hirnwellen schwimmt. »Du willst allen Ernstes versuchen, mit ihm zu reden?«

Ich nicke, während wir uns langsam von der Menge entfernen.

»Und wirst was sagen?«

»Das habe ich mir noch nicht überlegt.«

»Kit«, warnt mich Kale. Seine marineblauen Chuck Taylors bleiben abrupt stehen. »Was erwartest du denn, was passieren wird?« Er sieht mich mit traurigen dunklen Augen an, und ich wünschte, wir würden näher am Pool stehen, damit ich ihn hineinschubsen und ihm so diesen Ausdruck aus dem Gesicht wischen könnte.

»Ich erwarte gar nichts.«

»Warum dann das alles?«

»Weil ich muss, Kale. Ich muss einfach mit ihm reden, wenn auch nur, um ihm zu sagen, wie sehr er mein Leben verändert hat. Okay?«

Kale seufzt, dann lässt er das Thema fallen. Er weiß, dass Shawn für mich mehr als nur eine Teenie-Schwärmerei ist. Das erste Mal überhaupt, dass ich ihn Gitarre spielen sah, war bei einer Talentshow unserer Schule, als wir beide noch auf die Junior High gingen. Ich war in der fünften Klasse, Shawn in der achten, und er und Adam legten eine Akustik-Performance hin, bei der mir eine Gänsehaut von den Fingern bis zu den Zehen lief. Sie saßen beide auf Hockern, ihre Gitarren im Schoß, und Adam sang den Lead- und Shawn den Backgroundgesang. Und die Art, wie Shawns Finger über die Saiten tänzelten, und die Art, wie er sich in der Musik verlor – er packte mich einfach und nahm mich mit, sodass ich mich ebenfalls verlor. In der Woche darauf überredete ich meine Eltern, mir eine gebrauchte Gitarre zu kaufen, und ich begann, Unterricht zu nehmen. Meine Lieblingsbeschäftigung wird für immer mit dem Menschen verbunden sein, der mir beigebracht hat, sie zu lieben, dem Menschen, in den ich mich an jenem Tag in der Turnhalle der Junior High verliebt habe.

Verliebt, so ungern ich es auch zugebe. Auf eine Art, die wehtut. Auf eine Art, die ich vermutlich besser für mich behalten sollte, da ich weiß, dass sie mir nur das Herz brechen wird.

Ich weiß, dass ich keine Chancen habe, und doch muss ein nicht zu unterdrückender Teil von mir ihn unbedingt wissen lassen, was er für mich getan hat, selbst wenn ich ihm nicht sage, was er für mich ist.

Mein Körper bewegt sich roboterartig, und mein Verstand ist auf einem völlig anderen Stern, während Kale und ich uns in der Küche zwei Plastikbecher schnappen und damit auf das Bierfass hinter dem Haus zusteuern. Meine Gedanken kehren langsam zurück in die Gegenwart. Ich habe schon früher mit meinen Brüdern Bier getrunken, aber ich habe noch nie ein Fass bedient, daher sehe ich ein paar Leuten zu, wie sie ihre Becher füllen, damit ich nicht wie ein Idiot dastehe, wenn ich am Zapfhahn an der Reihe bin. Ich hebe ihn mit zitternden Fingern, fülle meinen und Kales Becher und schlendere dann mit meinem Bruder über das Grundstück – zwei Minderjährige mit Alkohol. Adams Garten ist so riesig, dass er ein öffentlicher Park sein könnte. Ein schmiedeeiserner Zaun, der ringsum verläuft, schützt den Pool, ein paar große Eichen und genügend Teenager, um damit die Turnhalle der Schule zu füllen. Ich sehe hinüber zu meinem Zwillingsbruder und folge seinem Blick zu einer Gruppe Jungen, die lachend am Rand des Pools stehen.

»Er ist niedlich.« Ich zeige mit einem Nicken auf den Typen, und Kale tut so, als hätte er ihn nicht gerade noch angestarrt. Einen gut aussehenden, sonnengebräunten Jungen in Hawaii-Boardshorts und Flipflops.

»Das ist er allerdings«, fordert mich Kale mit gespielter Gleichgültigkeit heraus. »Du solltest ihn ansprechen.«

Ich sehe meinen Zwillingsbruder eindringlich an und sage: »Willst du denn nie einen festen Freund haben?«

»Dir ist schon klar, dass Bryce noch immer irgendwo hier herumhängt, oder?«

Ich schnaube verächtlich. »Na und?«

Kale wirft mir einen Blick zu, der alles besagt, und ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Haltung ärgert. Es ist nicht so, als ob ich etwas dagegen hätte, seine Geheimnisse zu wahren – ich hasse die Tatsache, dass er bei diesem Geheimnis die Notwendigkeit verspürt, es wahren zu müssen.

»Wenn Shawn nicht der Heißeste ist«, sage ich, um das Thema zu wechseln, »wer ist es denn dann?«

»Bist du blind?« Kale schiebt sein Gesicht nah vor meines, als wolle er das Schwarz um meine Pupillen herum mustern. Ich schiebe seine Stirn mit meiner freien Hand von mir weg.

»Sie sind alle ziemlich niedlich.«

Ein Mädchen in der Nähe schreit Zeter und Mordio, als der Junge in den Boardshorts sie hochhebt und mit ihr in den Pool springt. Kale sieht den beiden zu und seufzt.

»Also, welcher?«, frage ich noch einmal, um ihn abzulenken.

»Mount Everest.«

Ich kichere. »Das sagst du nur, weil Adam eine männliche Hure ist. Er ist der Einzige, den du vermutlich überreden könntest, die Seiten zu wechseln.«

»Vielleicht«, entgegnet Kale mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme, und ich runzele die Stirn. Dann schlendere ich mit seinem Becher zu dem Bierfass hinüber, um ihn aufzufüllen. Ich betätige eben den Zapfhahn, als Kale mich mit dem Ellenbogen in den Arm knufft.

Ich hebe den Blick und sehe Shawn Scarlett und Adam Everest, die auf das Bierfass, auf mich, zukommen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, wie das hier ablaufen kann. Ich kann mich selbstbewusst geben, ihnen anbieten, ihr Bier zu zapfen, lächeln und ein ganz normales Gespräch beginnen, damit ich sagen kann, was ich sagen muss, oder – nein! Ich lasse den Zapfhahn los, verrenke mir fast die Fußknöchel, als ich mit Überschallgeschwindigkeit herumschnelle und davonlaufe, bis ich einen einsamen Ort erreiche, der sich nicht annähernd einsam genug anfühlt. Ich beiße mir auf die Lippen.

»Was zum Teufel war das denn?«, fragt Kale atemlos hinter mir.

»Ich glaube, ich habe eine allergische Reaktion.« Meine Handflächen schwitzen, meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt, und mein Herz hämmert in der Brust.

Kale lacht und gibt mir einen Schubs, dass ich nach vorne stolpere. »Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um zuzusehen, wie du dich in ein typisches Mädchen verwandelst.«

Auf der Unterlippe kauend sehe ich zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Shawn und Adam, beide mit einem Bier in der Hand, schlüpfen gerade durch die Hintertür ins Haus.

»Was soll ich denn sagen?«, frage ich.

»Was immer du sagen musst.«

Kale legt die Hände auf meine Schultern und schiebt mich vor sich her auf die Tür zu. Benommen bewege ich mich vorwärts. Schritt für Schritt für Schritt tragen mich meine Füße den langen Weg zurück. Mir ist gar nicht bewusst, dass mein Zwillingsbruder mir gar nicht mehr folgt, bis ich mich umdrehe und sehe, dass er verschwunden ist. Mein Plastikbecher ist leer, aber ich klammere mich an ihm fest, als wäre er eine Rettungsdecke, meide den Blickkontakt zu jedem in meiner Nähe und tue so, als wüsste ich, wohin ich gehe. Ich schlängele mich zwischen ein paar bekannten Gesichtern von der Schule hindurch, aber offenbar erkennen mich nicht viele, und die, die es tun, ziehen irgendwie nur eine Augenbraue hoch, bevor sie mich weiter ignorieren.

Alle von der Schule kennen meine älteren Brüder. Alle. Bryce war im Footballteam, bevor er entschied, dass es ihm wichtiger war, sich Ärger einzuhandeln, als ein Stipendium zu ergattern. Mason, zwei Jahre älter als Bryce, ist dafür berüchtigt, den Rekord für die meisten Schulverweise gebrochen zu haben. Und Ryan, eineinhalb Jahre älter als Mason, war zu seiner Zeit ein rekordebrechendes Läufer-Ass und ist noch immer eine Legende. Sie alle bewegen sich auf diesem seltsamen schmalen Grat, auf dem sie mich entweder wie einen Jungen behandeln oder so tun, als wäre ich aus Porzellan.

Ich halte unwillkürlich nach Bryce Ausschau, auf der verzweifelten Suche nach einem vertrauten Gesicht, aber stattdessen entdecke ich Shawn. Er sitzt mitten auf der Couch im Wohnzimmer, mit Joel Gibbon auf einer Seite und irgendeiner Tussi, die ich prompt hasse, auf der anderen. Ich stehe wie angewurzelt da, als irgendein Idiot mich auf einmal von hinten anrempelt.

»Hey!«, brülle ich über die Musik hinweg und wirbele herum, als sich der Idiot auf mich stützt, als würde er sonst das Gleichgewicht verlieren.

»Scheiße! Ich bin …« Bryce stiert mich an, dann beginnt er zu lachen und legt mir die Hände um die Schultern, um jetzt wirklich nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Kit! Ich habe total vergessen, dass du auch noch hier bist!« Er strahlt wie ein fröhlicher Säufer, doch ich sehe ihn nur mürrisch an. »Wo ist Kale?«

»Draußen beim Bierfass.« Ich verschränke die Arme vor der Brust, anstatt meinem stockbesoffenen Bruder zu helfen, sich auf den Beinen zu halten.

Er legt verwirrt die Stirn in Falten, als er endlich die Balance wiederfindet. »Was tust du denn ganz allein hier drinnen?«

»Musste pinkeln«, lüge ich mit geübter Leichtigkeit.

»Oh, soll ich dich zur Toilette begleiten?«

Ich bin im Begriff, ihn dafür zusammenzustauchen, dass er mich wie ein Baby behandelt, als eine seiner Gelegenheitsfreundinnen sich an ihn schmiegt und ihn bittet, ihr ein Bier zu holen.

»Ich glaube, ich bin in der Lage, allein die Toilette zu finden, Bryce«, fauche ich, woraufhin er mich mit glasigen Augen mustert und mir schließlich recht gibt.

»Okay.« Er beäugt mich noch ein bisschen länger, dann bindet er das viel zu große Flanellhemd von meiner Taille los und zwängt meine Arme hinein. Er zieht es mir vor der Brust zu und nickt vor sich hin, als hätte er soeben die nationale Sicherheit gewährleistet. »Okay, stell nichts an, Kit.«

Ich verdrehe die Augen und ziehe das Flanellhemd wieder aus, sobald er sich abwendet. Doch als ich auf einmal ganz allein mitten in dem überfüllten Raum stehe, bereue ich es, ihn so rasch abgewimmelt zu haben. Ich suche mir einen Platz neben einem riesigen Gaskamin und gebe vor, an meinem Bier zu nippen, obwohl der Becher leer ist. Gleichzeitig versuche ich, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen – was vermutlich sinnlos ist angesichts der Tatsache, dass ich Shawn aus der Ferne angaffe wie ein verdammter Stalker.

Was zum Teufel habe ich mir eigentlich dabei gedacht, heute Abend hierherzukommen? Er ist umringt. Er ist immer umringt. Er ist umwerfend und beliebt und weit außerhalb meiner Liga. Die Blondine neben ihm sieht aus, als wäre sie dazu geboren, eine Papp-Werbefigur zu sein, die vor Abercrombie & Fitch aufgestellt wird. Sie ist heiß und weiblich und riecht vermutlich nach verdammten Narzissen und … steht auf, um zu gehen.

Der Platz neben Shawn wird frei, und bevor ich kneifen kann, stürze ich durch den Raum und lasse mich mit einer Arschbombe darauffallen.

Das Kissen kollabiert unter meinem plötzlichen Gewicht, und Shawn wendet den Kopf, um zu sehen, was für ein Idiot da um ein Haar gegen ihn geknallt wäre. Vermutlich sollte ich mich vorstellen, sollte meine Schwäche für Stalken und Arschbomben offenbaren, aber stattdessen halte ich die Klappe und zwinge mich zu einem nervösen Lächeln. Ein Moment verstreicht, in dem ich mir sicher bin, dass er mich gleich fragen wird, wer zum Teufel ich bin und was zum Teufel ich mir eigentlich dabei denke, mich einfach neben ihn zu setzen, aber dann verzieht er den Mund nur zu einem netten Lächeln und nimmt wieder das Gespräch mit dem Typen auf der anderen Seite auf.

Oh Gott! Was jetzt? Jetzt sitze ich einfach nur verlegen neben ihm, ohne ersichtlichen Grund, und Blondie wird jeden Augenblick zurück sein und mir befehlen, mich zu verkrümeln, und dann was? Dann wird meine Chance verpufft sein. Dann werde ich völlig umsonst aus meinem Schlafzimmerfenster gesprungen sein.

»Hey«, sage ich und klopfe Shawn auf die Schulter. Ich versuche nichts Demütigendes zu tun, wie zum Beispiel zu stottern oder mich auf ihn zu übergeben oder so.

Gott, sein T-Shirt ist so weich. Irgendwie richtig flauschig weich. Und warm. Und …

»Hey«, erwidert er, und eine Mischung aus Verwirrung und Interesse huscht über sein Gesicht, als er mich ansieht. Seine Augen, glasig von den Drinks, die er intus hat, sind tiefgrün. In ihnen zu versinken, ist, als würde man um Mitternacht die Grenze zu einem Zauberwald überschreiten. Als würde man sich an einem Ort verlieren, der einen vollständig verschlucken könnte.

»Ihr habt euch heute Abend richtig gut angehört«, sprudele ich los, und Shawns Lächeln wird breiter und gibt den Schmetterlingen in meinem Bauch einen kleinen Selbstvertrauensschub.

»Danke.« Er macht Anstalten, sich wieder abzuwenden, aber ich spreche etwas lauter, um ihn daran zu hindern.

»Dieser Riff, den du bei eurem letzten Song gespielt hast«, platze ich heraus und erröte, als er mir den Kopf wieder zudreht, »der war einfach fantastisch. Den kriege ich nie so hin.«

»Du spielst?« Shawn wendet mir jetzt seinen ganzen Oberkörper zu, und seine Knie kommen an meinen zu ruhen. Wir haben beide durchgewetzte Stellen an den Knien, und ich schwöre, meine Haut kribbelt, wo seine sie streift. Er schenkt mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit, und es ist, als ob jedes Licht im Raum seine Hitze genau auf mich richtet, als ob jedes Wort, das ich sage, fürs Protokoll festgehalten wird.

Ein Schatten fällt auf mich. Das Abercrombie-Model von vorhin sieht finster zu mir herunter, mit Teufelsaugen zwischen lauter blonden Haaren. »Du sitzt auf meinem Platz.«

Shawns Hand landet auf meinem Knie, um zu verhindern, dass ich mich bewege. »Du spielst?«, fragt er noch einmal.

Mein Blick ist auf seine Hand geheftet – seine Hand auf meinem Knie –, als die Tussi mit den Teufelsaugen winselt: »Shawn, sie sitzt auf meinem Platz.«

»Dann such dir einen anderen«, entgegnet er mit einem kurzen Blick auf sie, bevor er ihn wieder auf mich heftet. Als sie sich schließlich entfernt, gleichen meine Wangen zwei Liebesäpfeln, die zu lange in der Sonne liegen gelassen wurden.

Shawn starrt mich erwartungsvoll an, und ich starre peinlich lange zu ihm zurück, bevor mir wieder einfällt, dass ich eine Frage beantworten soll. »Ja«, erwidere ich schließlich. Seine Hand ruht noch immer schwer auf meinem Knie, und mein Herz schlägt Purzelbäume in meiner Brust. »Ich habe dich gesehen … bei einer Talentshow auf der Mittelschule …« – bitte übergib dich nicht, bitte übergib dich nicht, bitte übergib dich nicht –»… vor ein paar Jahren, und …« – oh Gott, tue ich das hier wirklich? – »… und danach wollte ich unbedingt auch spielen lernen. Weil du so gut warst. Ich meine, du bist so gut. Noch immer, meine ich …« – Katastrophe, Katastrophe, Katastrophe! – »… du bist noch immer richtig, richtig gut …«

Mein Versuch, meine tief empfundenen Gründe zu retten, wird mit einem warmen Schmunzeln belohnt, das die ganze Peinlichkeit wettmacht. »Du hast meinetwegen angefangen zu spielen?«

»Ja.« Ich schlucke schwer und widerstehe dem Drang, die Augen fest zusammenzukneifen, während ich auf seine Reaktion warte.

»Wirklich?«, fragt Shawn, und bevor ich weiß, was er tut, hebt er die Finger von meinem Knie und nimmt meine Hände in seine. Er mustert die Schwielen an meinen Fingerkuppen und reibt mit den Daumen darüber, sodass ich von innen dahinschmelze. »Bist du gut?«

Ein großspuriges Lächeln umspielt seine Lippen, als er den Blick hebt, und ich gestehe: »Nicht so gut wie du.«

Sein Lächeln wird sanfter, und er lässt meine Hände los. »Du warst bei ein paar Konzerten von uns, stimmt’s? Du trägst normalerweise eine Brille?«

Bin das ich? Das Mädchen mit der bescheuerten Brille? Ich habe mich bei mehr als nur ein paar Konzerten der Band im hiesigen Freizeitzentrum in der ersten Reihe heiser geschrien, aber ich hätte nie gedacht, dass Shawn mich bemerkt hat. Und jetzt, während ich darüber nachdenke, wie idiotisch ich mit meinem klobigen, quadratischen Gestell vermutlich ausgesehen habe … bin ich mir nicht so sicher, ob ich froh bin, dass er es getan hat. »Ja. Ich habe erst letzten Monat Kontaktlinsen bekommen …«

»Sieht gut aus«, sagt er, und die Röte, die mir schon seit einer ganzen Weile in den Wangen sitzt, nimmt auf einmal epische Ausmaße an. Ich kann die Hitze in meinem Gesicht, meinem Nacken, meinen Knochen spüren. »Du hast schöne Augen.«

»Danke.«

Shawn lächelt, und ich erwidere sein Lächeln, doch bevor einer von uns noch ein Wort sagen kann, zupft Joel ihn am Ärmel. Er lacht lauthals über irgendeinen Witz von Adam, und Shawn wendet sich von mir ab, um sich wieder in die Unterhaltung einzuklinken.

Und einfach so ist der Moment vorbei, und ich habe nicht einmal ansatzweise das gesagt, wofür ich überhaupt hierhergekommen bin. Ich habe mich nicht bei ihm bedankt oder ihm gesagt, dass er mein Leben verändert hat, oder irgendetwas auch nur annähernd Bedeutungsvolles zum Ausdruck gebracht.

»Hey, Shawn«, versuche ich es noch einmal. Ich klopfe ihm wieder auf die Schulter, als Joels Lachen verebbt ist.

Shawn schaut mich neugierig an. »Ja?«

»Ehrlich gesagt wollte ich dich etwas fragen.«

Er dreht mir wieder seinen Oberkörper zu, und mir wird bewusst, dass ich keine verdammte Ahnung habe, was ich als Nächstes sagen soll. Ehrlich gesagt wollte ich dich etwas fragen? Von all den Dingen, die mir über die Lippen hätten kommen können, hat sich mein Gehirn ausgerechnet dafür entschieden? Der verzweifelte, mädchenhafte Teil von mir, den ich nicht gern zur Kenntnis nehme, will ihm sagen, dass ich ihn liebe, und ihn anflehen, nicht wegzuziehen. Aber dann müsste ich mich anschließend im Swimmingpool ertränken.

»Ach ja?«, fragt mich Shawn über die Musik hinweg, die irgendjemand noch lauter gedreht hat. Um Zeit zu gewinnen, beuge ich mich zu seinem Ohr vor. Er beugt sich ebenfalls vor, lehnt sich zu mir hinüber, und als ich den Geruch seines duschfrischen Eau de Cologne einatme, habe ich auf einmal eine totale Mattscheibe. Ich habe die Fähigkeit verloren, Worte zu bilden, selbst einfache Worte wie Danke. Er zieht bald weg, und ich vermassele meine letzte Chance, ihm zu sagen, was ich fühle. Die Wange genau neben seiner drehe ich mein Gesicht, und plötzlich sind Shawns Augen genau vor meinen, und unsere Nasen berühren sich praktisch, und seine Lippen sind nur wenige Zentimeter vor meinen, und mein Gehirn sagt: Scheiß drauf. Und ich beuge mich vor.

Und küsse ihn.

Nicht schnell, nicht langsam. Mit geschlossenen Augen drücke ich einen warmen Kuss auf seine weiche Unterlippe, die nach einer Million verschiedener Dinge schmeckt. Nach Bier, nach einem Traum, danach, wie die Wolken heute Abend vor dem Mond vorbeigezogen sind. Mein Gehirn schwankt zwischen dem Verlangen, an ihm dahinzuschmelzen, und dem Bedürfnis zurückzuzucken, doch Shawn nimmt mir schließlich die Entscheidung ab.

Als sich seine Lippen öffnen und er den Kuss vertieft, hämmert mein Herz gegen meine Rippen, und meine zitternden Hände suchen an Shawns Seiten Halt. Er vergräbt die Finger in meinen dichten Haaren, zieht mich näher an sich. Ich bin viel zu verloren, um je gefunden werden zu wollen. Ich balle die Hände in dem lockeren Stoff seines T-Shirts zu Fäusten. Shawn löst die Lippen von meinen und schnurrt mir leise ins Ohr: »Komm mit.«

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, liegt meine Hand in seiner, und ich folge ihm durch das Gewühl. Die Treppe hoch. Einen Flur hinunter. In ein dunkles Schlafzimmer. Die Tür fällt hinter uns zu, und in dem fahlen Mondlicht, das einen sanften Schimmer ins Zimmer wirft, nehmen diese köstlichen Lippen meine wieder in Besitz.

»Wie heißt du?«, fragt Shawn zwischen zwei Küssen, bevor sein talentierter Mund zu meinem Hals hinuntergleitet.

Vermutlich würde ich ihm antworten – wenn ich mich an meinen Namen erinnern könnte. Aber stattdessen bin ich wie berauscht von seinen Lippen und seinen Händen und dem Gefühl, wie sie über meine Haut auf verbotenes Terrain vordringen. Seine Berührung lässt erst einen weiteren Schauder über meine Gänsehaut tänzeln, und dann Hitze – ein Feuer, das über meinen Hals, meine Arme, mein Herz züngelt.

»Ist doch egal«, keuche ich.

Shawn lacht leise an meinem Hals, dann richtet er sich auf und schenkt mir ein Lächeln, das meine Beine in Wackelpudding verwandelt. Er löst den Knoten meines Flanellhemds und lässt es zwischen uns auf den Boden fallen. Dann verhakt er die Finger in meinem Tanktop und zieht es mir über den Kopf.

Ich habe schon früher mit Jungs rumgeknutscht. Geknutscht und ein bisschen rumgefummelt. Aber als Shawn mich jetzt zu diesem Bett zieht und mich darauflegt, weiß ich, dass ich im Begriff bin, in eine völlig andere Liga geholt zu werden – eine, für die ich vermutlich nicht bereit bin, auch wenn ich trotzdem versuchen werde, gut darin zu sein.

Weil es er ist. Weil es Shawn ist. Weil ich, auch wenn ich heute Abend nicht deswegen hergekommen bin, jetzt glaube, dass ich sterben werde, wenn ich wieder gehe, ohne es getan zu haben.

Mein Körper versinkt in Bettwäsche, die nicht meine ist, und ich ziehe Shawn auf mich hinunter, damit ich seine Lippen wieder spüren kann, und ich stöhne auf, als jeder Zentimeter seines Körpers sich an die Rundungen und Vertiefungen meines eigenen schmiegt. Meine Finger gleiten unter sein weiches T-Shirt, und gemeinsam ziehen wir es ihm über den Kopf.

»Shawn«, seufze ich. Ich küsse ihn. Die Härte in seiner Jeans treibt mich in den Wahnsinn. Ich hauche seinen Namen, nur um sicherzugehen, dass das hier echt ist, um mich zu überzeugen, dass ich nicht träume.

»Scheiße!«, keucht er. Er löst unsere Körper nur so weit voneinander, dass er seinen Hosenschlitz öffnen kann, ohne seine Küsse zu unterbrechen. Im nächsten Augenblick knöpft er mir die Hose auf, und ich winde mich aus meiner Jeans und meinem Slip, während er seine Jeans und Boxershorts von sich kickt. Eine Sekunde später steckt eine kleine, quadratische Verpackung zwischen seinen Zähnen, dann streift er schon das Kondom über. Ich werfe einen verstohlenen Blick nach unten und beiße mir auf die Lippe.

Alles passiert im Zeitraffer, so schnell, dass mein Gehirn immer wieder schreit: Das hier passiert nicht wirklich. Shawn ist ein süßer Traum, der zwischen meinen Beinen kniet, und als mein Blick wieder hoch zu seinem Gesicht wandert, grinst er mich frech an. »Weg damit«, sagt er und zerrt an meinem BH-Träger. Ich krümme den Rücken, um den Verschluss zu öffnen.

Er zieht mir das letzte Kleidungsstück, das ich noch trage, über die Schultern herunter, und während sich seine Augen an mir weiden, bebe ich unter seinen Blicken. Seine raue Hand umfasst die üppige Wölbung meiner Brust, und er massiert sie sanft, bevor er mit dem Daumen so über meinen Nippel gleitet, wie er über die gestimmte Saite einer Gitarre gleiten würde. Ich stöhne auf bei diesem Gefühl, das in jede Faser meines Körpers schießt. Shawn sucht wieder meinen Blick und hält ihn fest, als er es sich gleichzeitig zwischen meinen Beinen bequem macht. Während er langsam seine Hüften nach vorne schiebt, verspüre ich einen Druck, dann ein schmerzhaftes Dehnen, das mich die Augen fest zusammenkneifen lässt. Meine Fingernägel krallen sich in seinen Rücken. Ich ziehe ihn so nah wie möglich an mich und schmiege das Kinn an seine warme Halsbeuge.

»Geht es dir gut?«, fragt er, und ich lüge, indem ich eine Hand in seinen Haaren vergrabe und an seinem Ohrläppchen knabbere. Er weiß nicht, dass er mir gerade meine Jungfräulichkeit nimmt – weil er es nicht wissen muss, weil ich nicht will, dass er es weiß.

Was würde er denken? Würde er aufhören?

Er beginnt sich langsam in mir zu bewegen, und ich befehle meinem Körper, sich zu entspannen, sich für ihn locker zu machen, damit es nicht ganz so wehtut. So hatte ich mir mein erstes Mal eigentlich nicht vorgestellt. Ich hatte mir Duftkerzen und Musik vorgestellt und … dass der Typ zumindest meinen Namen kennt.

Oh mein Gott, ich verliere meine Jungfräulichkeit an einen Kerl, der nicht einmal weiß, wie ich heiße!

»Kit«, platze ich heraus.

Ohne in seinen Bewegungen innezuhalten, fragt Shawn keuchend: »Hä?«

»Mein Name«, sage ich mit immer noch geschlossenen Augen. Ich drücke mein Gesicht an seine warme Haut, inhaliere seinen Geruch. Kerzen und Musik sind nicht wichtig, denn das hier ist schließlich Shawn. Und von dem, was wir hier gerade miteinander tun, hatte ich nicht mal zu träumen gewagt.

»Kit«, wiederholt er. Als er diesmal in mich eindringt, ziehe ich meine Zehen an, und ein gehauchtes Stöhnen kommt mir über die Lippen. Er löst sich aus meinem Schraubstockgriff, um mich zu küssen, und mein Körper reagiert auf ihn, passt sich dem immer schneller werdenden Tempo seiner Stöße an.

Seine Zunge ist zwischen meinen Lippen, seine Hüften sind zwischen meinen Schenkeln, und sein Körper ist unter meinen Händen – aber ich bin es, die an ihn verloren ist. Ich gehöre ihm, und ich flehe wortlos um mehr, während er sich mir in dem dunklen Zimmer eines Fremden hingibt. Als sein Körper sich anspannt und er schließlich auf mir zusammenbricht, halte ich ihn fest an mich gedrückt, gestatte meinen Händen, sich die Konturen seines Rückens und die Art, wie seine schweißnassen Haare sich in seinem Nacken ringeln, genau einzuprägen.

Ich will ihn noch einmal küssen, aber jetzt, wo das, was wir getan haben, vorbei ist, weiß ich nicht, ob ich es mich traue. Die Finger in seinen Haaren vergraben, ringe ich zu lange mit mir, und ich verliere den Kampf, als Shawn sich hochstemmt und seine Klamotten einzusammeln beginnt. Mit einem erschöpften Lächeln im Gesicht wirft er mir meine eigenen Klamotten zu, und ich rede mir ein, glücklich zu sein. Auch wenn ich ihn niemals wiedersehen werde, hatte ich wenigstens diesen Abend.

»Hast du irgendwo mein Handy gesehen?«, fragt er. Ich taste das Bettzeug um mich herum danach ab. Als er das Licht anknipst, bin ich heilfroh, nirgends Blut zu entdecken. Wir sind in Adams Zimmer – nach den Bandpostern und Songtexten zu urteilen, die an die Wände gekritzelt sind. Schließlich finde ich Shawns Handy zwischen dem schwarzen Satinbettzeug und reiche es ihm. Ich ignoriere den Schmerz, der bei jeder kleinen Bewegung zwischen meinen Beinen pocht. Wenn er gewusst hätte, dass es mein erstes Mal war, wäre er vermutlich sanfter gewesen. Doch wenn er gewusst hätte, dass es mein erstes Mal war, hätte er es vermutlich überhaupt nicht getan.

Die Erkenntnis trifft mich wie eine Abrissbirne in die Magengrube – denn ich weiß, dass er nach dieser Sache nie wieder ein Wort mit mir wechseln wird. Er wird fortgehen, einhundert Meilen weit wegziehen, und mein Herz wird noch schlimmer brechen, als wenn ich ihn einfach so hätte gehen lassen.

»Gibst du mir deine Nummer?«, fragt er. Ich starre zu ihm hoch. Er hält sein Handy in der Hand, wartet auf meine Antwort, und die Abrissbirne explodiert zu eintausend Schmetterlingen, die über meine Haut flattern und meine Wangen kitzeln.

Ohne dass ich es ändern kann, keimt Hoffnung in mir, und ich rassele Zahlen herunter, die Shawn in sein Handy tippt. Danach streife ich mir das letzte Kleidungsstück über den Kopf und ergreife begierig die Hand, die er mir hinhält. Er hilft mir hoch, steckt sein Handy ein und sagt grinsend: »Warte.« Er hebt eine Hand, um mir mit den Fingern die Haare zu kämmen, aber er gibt den Versuch rasch auf, streicht sie stattdessen einfach glatt und schiebt mir schließlich eine lange Strähne hinters Ohr.

»Besser so?«, frage ich, und er lächelt. Dann beugt er sich vor und gibt mir einen unerwarteten Kuss, der in mir das Verlangen weckt, mehr von dem zu machen, was wir eben auf dem Bett getan haben, pochender Schmerz hin oder her.

Der Moment wird jäh unterbrochen, als Shawn nach dem Türknauf greift, die Tür öffnet und wir in den Flur hinaustreten. Sein Arm liegt auf meiner Schulter. Vor allen Leuten. Ich unterdrücke ein Quietschen, mache einen auf cool und lächele, als würde ich hierher, auf Adams Party, gehören. Als wäre ich nicht nur irgendeine streberhafte Highschoolanfängerin, die früher eine klobige Brille getragen hat. Als wäre gar nichts dabei, dass Shawn Scarletts Arm besitzergreifend auf meiner Schulter liegt. Als hätte er mir nicht eben meine Jungfräulichkeit genommen und mein ganzes Leben verändert. Als würde mein Herz nicht am liebsten in meiner Brust explodieren, weil er mich nach meiner Nummer gefragt, mir einen Kuss gegeben und den Arm um mich gelegt hat. Als wäre ich nicht hoffnungslos verliebt in ihn.

»Was zum Teufel tust du da, Mann?«, fragt eine vertraute Stimme, als wir das Wohnzimmer erreichen. Alle Härchen an meinem Körper stellen sich auf, als Shawn und ich uns umdrehen und meine beiden Brüder aus dem Gedränge auf uns zusteuern sehen. Bryce’ Tonfall ist unbekümmert und amüsiert, was mir verrät, dass er keine Ahnung hat, dass wir aus dem oberen Stockwerk gekommen sind. Er lacht, als ich unter seinem Blick erröte. »Alter, das ist meine Schwester«, sagt er zu Shawn, bevor er von mir wissen will: »Ist das der Grund, weshalb du heute Abend hierherkommen wolltest?«

Oh Gott, oh Gott, oh Gott.

»Du bist seine Schwester?«, fragt mich Shawn, und ich sehe ihn – den Moment, in dem er mich als eine Larson erkennt, den Moment, in dem er begreift, dass ich die kleine Schwester von Bryce, Ryan und, was am schlimmsten ist, von Mason bin.

»Ja«, antwortet Bryce für mich, »und sie ist fünfzehn, Mann.«

Mir bleibt gerade noch Zeit, den beschämten Blick aufzufangen, den Shawn mir zuwirft und der sich mir für immer ins Gedächtnis brennt. Sein Arm rutscht von meiner Schulter, kurz bevor irgendjemand draußen brüllt: »Die Bullen!«

Rot-blaue Lichter blinken durch die Fenster, gefolgt von Sirenen, die eine panische Massenflucht auslösen. Bryce packt mich am Arm und zerrt mich von Shawn weg, und Shawn verschwindet tiefer und tiefer im Chaos und starrt mir mit einem Gesichtsausdruck hinterher, der mir das Herz bricht. Als ob das, was wir getan haben, ein Fehler war und ich nur etwas bin, was er bereut.

Er entfernt sich. Er ruft mich nicht an.

Er vergisst es, aber ich vergesse es nie.

1

»Das ist hundert Jahre her, Kale!«, brülle ich meine geschlossene Schlafzimmertür an, während ich mich in eine hautenge Jeans zwänge. Ich hüpfe rückwärts, rückwärts, rückwärts, bis ich beinahe über die Kampfstiefel stolpere, die mitten in meinem alten Kinderzimmer liegen.

»Und warum fährst du dann zu diesem Casting?«

Gerade noch rechtzeitig gelingt es mir herumzuwirbeln, um auf dem Bett anstatt dem Hintern zu landen. Mit gefurchten Brauen starre ich an die Decke und zerre meine Hose weiter hoch. »Darum!«

Kale scheint unzufrieden zu sein über diese Antwort, denn von der anderen Seite meiner geschlossenen Tür her knurrt es: »Ist es, weil du ihn immer noch magst?«

»Ich kenne ihn doch gar nicht!«, brülle ich einen weißen Schnörkel an der Decke an. Ich strecke die Beine, rappele mich hoch und kämpfe mit dem straffen Jeansstoff, während ich auf die Tür zumarschiere. Ich umklammere den Knauf und reiße die Tür auf. »Und er erinnert sich vermutlich nicht einmal an mich!«

Der mürrische Ausdruck weicht aus Kales Gesicht. Er reißt die Augen auf, als er mein Outfit betrachtet: enge, schwarze, völlig zerschlissene Jeans, dazu ein lockeres schwarzes Tanktop, das nur fadenscheinig den Spitzen-BH bedeckt, den ich darunter trage. Der schwarze Stoff passt perfekt zu meinen Armbändern und dem Teil meiner Haare, der nicht von blauen Strähnchen durchzogen ist. Ich wende mich von Kale ab, um mir meine Stiefel zu schnappen.

»Das willst du anziehen?«

Ich schlüpfe in die Stiefel und wirbele einmal theatralisch um die eigene Achse, bevor ich mich auf die Bettkante fallen lasse. »Ich sehe heiß aus, oder?«

Kale verzieht das Gesicht genauso wie damals, als ich ihm als Kind versicherte, eine Zitrone sei eine gelbe Mandarine und schmecke genauso süß. »Du bist meine Schwester.«

»Aber ich bin heiß«, beharre ich mit einem selbstbewussten Grinsen. Kale stöhnt entnervt auf und schaut mir dabei zu, wie ich meine Stiefel fertig zuschnüre.

»Du kannst von Glück sagen, dass Mason nicht zu Hause ist. Er würde dich so niemals aus dem Haus gehen lassen.«

Scheiß auf Mason. Ich verdrehe die Augen.

Ich bin erst seit ein paar Monaten wieder zu Hause – seit Dezember, nachdem ich entschieden hatte, dass ein möglicher Bachelorabschluss in Musiktheorie ein weiteres Jahr mit nichts als allgemeinbildenden Fächern nichts wert war –, aber ich stehe schon wieder kurz vor einem Kamikazesprung aus dem Nest. Eine hyperaktive Mitbewohnerin zu haben, war nichts verglichen mit meinen überfürsorglichen Eltern und noch überfürsorglicheren älteren Brüdern. Ganz zu schweigen von Kale, der immer weiß, was ich denke, selbst wenn ich es lieber für mich behalten würde. Entweder muss ich mir schnellstmöglich überlegen, was zum Teufel ich mit meinem Leben eigentlich anfangen will, oder mich damit abfinden, dass mich irgendwann die Pfleger mit der Zwangsjacke hier rausholen.

»Tja, aber Mason ist nicht zu Hause. Und Mom und Dad auch nicht. Also, sagst du mir jetzt, wie ich aussehe, oder nicht?« Ich stehe wieder auf und stemme die Hände in die Hüften. Ich wünschte, mein Bruder und ich könnten uns noch immer auf Augenhöhe begegnen. Ein Wachstumsschub auf der Highschool hat ihm ein paar Zentimeter Vorsprung verschafft, und jetzt ist er fast genauso groß wie der Rest unserer Brüder, auch wenn er weitaus schlaksiger ist. Mit meinen eins zweiundsiebzig muss ich das Kinn recken, damit ich ihn wütend anfunkeln kann.

Kales Stimme klingt tiefunglücklich, als er sagt: »Du siehst umwerfend aus.«

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, dann schnappe ich mir meinen Gitarrenkoffer, der an der Wand lehnt. Auf dem Weg durch das Haus trottet Kale hinter mir her. Das Echo unserer Schritte folgt uns den Flur hinunter.

»Warum hast du dich denn so für ihn aufgebrezelt?«, nörgelt er.

»Wer sagt denn, dass ich das für ihn getan habe?«

»Kit«, beklagt sich Kale, und ich bleibe stehen. Am oberen Ende der Treppe drehe ich mich um und sehe ihn an.

»Kale, du weißt, dass das genau das ist, was ich mir sehnlichst wünsche. Seit der Mittelschule träume ich davon, in einer bekannten Band zu spielen. Und Shawn ist ein umwerfender Gitarrist. Genau wie Joel. Und Adam ist ein umwerfender Sänger, und Mike ist ein umwerfender Drummer … Das hier ist meine Chance, umwerfend zu sein. Kannst du mich nicht einfach ein bisschen unterstützen?«

Mein Zwillingsbruder legt mir die Hände auf die Schultern, und ich frage mich unwillkürlich, ob er es tut, um mich zu trösten, oder weil er es ernsthaft in Betracht zieht, mich die Treppe hinunterzuschubsen. »Du weißt, dass ich dich unterstütze«, sagt er. »Es ist nur …« Er zieht seine Unterlippe zwischen die Zähne, kaut auf ihr herum, bis sie kirschrot ist und er sie wieder loslässt. »Musst du denn unbedingt mit ihm umwerfend sein? Er ist ein Arschloch.«

Es ist nicht so, als ob ich nicht verstehen würde, weshalb Kale besorgt ist. Er wusste schon vor jener Party, wie sehr ich Shawn mochte, und an jenem Abend hat er alles bis ins letzte Detail aus mir herausgequetscht. Er wusste, dass ich Shawn meine Jungfräulichkeit geschenkt hatte, daher wusste er auch, warum ich mich in den Wochen danach jede Nacht in den Schlaf weinte, als Shawn nie anrief.

»Vielleicht ist er jetzt ja ein anderer Mensch«, überlege ich laut, aber in Kales dunklen Augen lese ich Skepsis.

»Vielleicht auch nicht.«

»Selbst wenn er es nicht ist, bin ich jetzt ein anderer Mensch. Ich bin nicht mehr dieselbe Streberin, die ich auf der Highschool war.«

Ich gehe die Treppe hinunter, aber Kale folgt mir dicht auf den Fersen wie ein kleiner, kläffender Terrier. »Du trägst dieselben Stiefel.«

»Diese Stiefel sind der Hammer«, sage ich – was offensichtlich sein sollte, aber anscheinend laut ausgesprochen werden muss.

»Kannst du mir wenigstens einen Gefallen tun?«

An der Haustür schnelle ich herum und trete rückwärts auf die Veranda. »Was denn für einen Gefallen?«

»Wenn er dich wieder verletzt, benutz diese Stiefel, um dich dort zu rächen, wo es wehtut.«

Ich lache und mache einen großen Schritt nach vorn, um meinen Bruder fest zu umarmen. »Versprochen. Ich liebe dich, Kale. Ich rufe dich an, wenn das Casting vorbei ist.«

Er erwidert meine Umarmung mit einem schweren Seufzer. Und dann lässt er mich gehen.

Die Fahrt nach Mayfield dauert eine Stunde. Eine Stunde, in der meine Finger auf das Lenkrad meines Jeeps trommeln und die Musik dabei so laut dröhnt, dass ich mich nicht denken hören kann. Mein Navi unterbricht das Trommelfell-Massaker, um mir den Weg zu einem Klub namens Mayhem zu beschreiben, und ich fahre auf den Parkplatz eines riesigen, kastenförmigen Gebäudes.

Nachdem ich meinen Jeep in eine Parklücke manövriert und den Motor ausgeschaltet habe, klopfe ich noch ein paarmal mit den Fingern aufs Lenkrad, bevor ich schließlich mit dem Handballen gegen das Handschuhfach schlage. Es springt auf, und eine Haarbürste fällt heraus. Ich fange sie auf und versuche, meine vom Wind zerzausten Locken zu bändigen.

Anfang der Woche tauchte der Name von Shawns Band – The Last Ones to Know – auf der Website einer meiner Lieblingsbands auf. Ich blinzelte einmal, zweimal, und dann drückte ich die Nase fast an den Bildschirm, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.

Sie suchten einen neuen Rhythmusgitarristen. Nach ein paar Recherchen fand ich heraus, dass sie ihren alten, Cody, aus der Band geschmissen hatten. Auf der Website war kein Grund angegeben, und es war mir auch egal. Das hier war die Gelegenheit, und alles in mir schrie förmlich danach, eine Nachricht an die E-Mail-Adresse zu schicken, die unten auf dem Online-Flyer angegeben war.

Ich tippte die E-Mail wie im Rausch, als würden meine gitarrebegeisterten Finger noch lieber in der Band sein als mein benebeltes Gehirn. Ich schrieb, ich hätte auf dem College in einer Band gespielt, dass wir uns aber aufgelöst hatten, um getrennte Wege zu gehen. Ich hängte einen YouTube-Link zu einem unserer Songs an, bat um die Chance, vorspielen zu dürfen, und unterzeichnete mit meinem Namen.

Keine halbe Stunde später trudelte eine Antwort ein, die von Ausrufezeichen nur so wimmelte, mit einem Termin für ein Vorspielen, und plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich lachen oder weinen sollte. Es war die Chance, all meine Träume wahr werden zu lassen. Aber um das zu erreichen, würde ich mich dem einen Traum stellen müssen, der bereits zerschlagen worden war.

In den letzten sechs Jahren habe ich versucht, nicht darüber nachzudenken. Ich habe versucht, sein Gesicht aus meinem Kopf zu löschen. Aber an jenem Tag, als diese E-Mail vor mir auf dem Bildschirm flimmerte, stürzten auf einmal die Erinnerungen wieder über mir zusammen.

Grüne Augen. Verstrubbelte schwarze Haare. Ein berauschender Geruch, der noch Tage, Wochen später an meiner Haut zu haften schien.

Ich schüttele sanft den Kopf, um Shawn aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Dann bürste ich noch ein paar Mal durch meine Haare und werfe einen letzten Blick in den Rückspiegel. Erleichtert, dass ich nicht annähernd so zerzaust aussehe, wie ich mich fühle, springe ich auf den Asphalt und hieve meinen Gitarrenkoffer von der Rückbank.

Jetzt oder nie.

Ich atme die Großstadtluft einmal tief ein und beginne, die Betonfestung zu umrunden, die einen Schatten über den Parkplatz wirft. Die Nachmittagssonne brennt erbarmungslos auf meinen Nacken, und Schweißperlen rinnen mir zwischen den Schulterblättern hinunter. Meine Boots poltern schwer über den Asphalt, und ich zwinge meine Füße, sich zu heben und zu senken, zu heben und zu senken, bis ich schließlich vor einer schweren Doppeltür stehen bleibe. Ich halte einen Augenblick inne, um mich zu sammeln.

Ich hebe die Hand. Ich lasse sie sinken. Ich hebe sie wieder. Ich dehne die Finger.

Ich hole einmal tief Luft.

Ich klopfe.

In den Sekunden, die zwischen meinem Klopfen und dem Öffnen der Tür verstreichen, spiele ich mit dem Gedanken, mir meinen Gitarrenkoffer zu schnappen, den ich an die Wand gelehnt habe, und zurück zu meinem Jeep zu flüchten. Ich bin gespannt, wer die Tür öffnen wird. Ich denke an Kale, und ich frage mich, was zum Teufel ich hier eigentlich tue.

Doch da schwingt die Tür auf, und ich stehe an der Schwelle zu einer Entscheidung, die mein Leben verändern oder es ruinieren könnte.

Lange schokoladenbraune Haare. Entschlossene braune Augen. Ein durchdringender Blick, der mich wie eine Ohrfeige ins Gesicht trifft. Die junge Frau – ich nehme an, sie ist diejenige, die meine E-Mail beantwortet und mit Dee unterzeichnet hat – lässt den Blick hinunter zu meinen Stiefeln und dann wieder nach oben schweifen. »Die Band ist nicht hier, um Zeug zu signieren oder Fotos zu machen«, sagt sie.

Offenbar habe ich sie allein schon dadurch, dass ich atme, beleidigt. »Okay?« Ich nehme die greifbare Feindseligkeit, die sie mir entgegenschleudert, mit einer hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis und widerstehe dem Drang, einen Blick über die Schulter zu werfen, um mich zu vergewissern, dass ich am richtigen Ort bin. »Ich bin nicht wegen Autogrammen oder Fotos hier …«

»Schön.« Sie macht Anstalten, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber ich drücke noch rechtzeitig eine Hand dagegen, ehe sie ins Schloss fallen kann.

»Bist du Dee?«, frage ich, woraufhin sich ihr zorniger Blick noch mehr verfinstert, entweder weil sie langsam begreift oder aus Verärgerung. Vielleicht beides. Sie ist so versessen darauf, mich mit Blicken zu töten, dass sie es nicht einmal bemerkt, als eine blonde junge Frau hinter ihr auftaucht. Da ich nichts zu verlieren habe, schiebe ich einen Kampfstiefel in die Tür und strecke die Hand aus. »Ich bin Kit. Wir hatten E-Mail-Kontakt, nicht wahr?«

»Du bist Kit?«, fragt die Blonde, und die Braunhaarige, bei der es sich, wie ich annehme, um Dee handelt, reicht mir zögerlich die Hand.

»Oh, Entschuldigung«, sage ich lachend, als mir auf einmal klar wird, warum sich die beiden so benehmen, als wäre ich irgendeine Art Groupie. Vermutlich weil ich wie eines aussehe, mit meinem kaum vorhandenen Top und auffälligen Mascara. »Tja, ich habe vier ältere Brüder, die Katrina für einen viel zu mädchenhaften Namen halten.«

Dass ich bis zur Grundschule nicht einmal wusste, dass ich Katrina heiße, ist der Running Gag in unserer Familie. Doch eigentlich ist es auch kein richtiger Witz, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es wirklich nicht wusste. Die Jungs haben den Namen, auf den meine Mom bestanden hatte, einfach boykottiert, und irgendwann gab sie sich geschlagen. Von dem Tag an, an dem ich geboren wurde, war ich Kit, und die einzigen Leute, die mich Katrina nennen, sind Leute, die mich nicht wirklich kennen.

»Und du bist wegen des Castings hier?«, fragt die Blonde.

Ich nehme meinen Gitarrenkoffer und schenke den Mädchen ein breites Lächeln. »Ich hoffe es. Es ist doch okay, dass ich eine Frau bin, oder?«

»Ja«, beeilt sie sich zu sagen, aber Dee hat die Augen noch immer skeptisch zusammengekniffen.

Da ich in unserer Band auf dem College das einzige Mädchen unter lauter Jungs war, bin ich diese Reaktion gewohnt. Aus diesem Grund wundere ich mich nicht, als sie entgegnet: »Kommt drauf an … Bist du eine, die Gitarre spielen kann?«

»Ich denke schon«, erwidere ich mit völlig ernster Miene. »Ich meine, es ist schwer zu sagen, da meine Vagina mir dabei ständig in die Quere kommt, aber ich habe gelernt, damit genauso umzugehen wie mit jedem anderen Handicap auch.« Ich lege eine theatralische Pause ein, bevor ich betont düster hinzufüge: »Bedauerlicherweise bekomme ich trotzdem keinen Ausweis für Behinderten-Parkplätze.«

Ein langer Moment des Schweigens verstreicht, und ich beginne schon zu fürchten, dass meine etwas eigene Art von Humor an den beiden Tussis vor mir völlig abprallt. Doch da lacht Dee schallend auf und tritt zur Seite, um mich reinzulassen.

Als wir einen kurzen Flur hinuntergehen, entschuldigt sich die Blonde für die ruppige Begrüßung und stellt sich als Rowan vor. Dann betreten wir den höhlenartigen Raum. Das ist also das Mayhem. Eine massive Bar säumt eine Wand, eine Bühne die andere, und in der Mitte des Raums stehen eine Reihe Klapptische und sechs Klappstühle – wie eine Art improvisierter Aufbau für die Juroren von American Idol.

Ich durchquere den Klub und lehne die Gitarre gegen die Bühne. In einem Versuch, mir einzureden, dass Shawn nicht jeden Moment wie durch ein verdammtes Wunder auftauchen wird, frage ich: »Sind wir drei die Einzigen hier?«

»Nein …«, beginnt Dee, aber sie hat das Wort kaum herausgebracht, als eine Hintertür aufgeht, helles Nachmittagslicht über den Boden fällt und die vier restlichen Mitglieder von The Last Ones to Know ankündigt.

Joel Gibbon kommt als Erster herein, leicht zu erkennen an seinen blonden Haaren. Auf der Highschool glichen sie einem gegelten Chaos, das in alle Himmelsrichtungen abstand; jetzt trägt er einen akkurat frisierten Iro, der mitten auf seinem Kopf nach hinten verläuft. Ihm folgt Mike Madden, der immer noch genauso aussieht, aber irgendwie doch männlicher wirkt, als wäre er in sich hineingewachsen. Der Nächste ist Adam Everest, der noch heißer aussieht als vor sechs Jahren. Seine Haare sind noch immer lang und ungebändigt, seine Jeans sieht noch immer so aus, als hätte sie einen Kampf mit einem Aktenvernichter ausgetragen – und verloren –, und seine Handgelenke sind noch immer mit einer Unmenge an nicht zusammenpassenden Armbändern verziert.

Und dann erhasche ich einen ersten Blick auf Shawn Scarlett, kurz bevor die Tür hinter ihm zufällt. Meine Augen versuchen angestrengt, sich wieder an die düstere Beleuchtung zu gewöhnen, und als sie es schließlich tun, ist er das Einzige, was ich sehen kann. Er hat noch immer dieselben dunklen Haare, denselben markanten Kiefer, denselben Look, bei dem mir der Atem stockt.

»Leute, das hier ist Kit«, stellt Dee mich vor, während ich noch immer versuche, Luft in meine Lunge zu zwingen. »Sie ist als Nächste dran.«

Sie mustern mich alle von Kopf bis Fuß, als sie näher kommen, und nur Adam und Joel gelingt es, nicht zu gaffen. Als ich bemerke, wie Shawn langsam den Blick über mich schweifen lässt, schleicht sich ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen. Sechs lange Jahre, in denen ich ihn nicht vergessen konnte, werden durch diesen einen Moment wettgemacht. Egal, ob er sich an mich erinnert oder nicht: Er starrt mich an, als wäre ich die heißeste Tussi, die er je gesehen hat.

Diese Hose war es absolut wert.

»Wir haben einen Typen erwartet«, sagt Joel, während er den Arm um Dees Schultern legt und mir die Gelegenheit liefert, einen auf cool zu machen.

»Ja«, sage ich und wende den Blick von Shawn ab, auch wenn ich spüren kann, wie seine grünen Augen noch immer über die Rundungen meiner entblößten Haut gleiten. »Das dachte ich mir schon, als deine Freundin versucht hat, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen.«

»Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragt Shawn, und beinahe sprudelt ein Lachen aus mir heraus. Sind wir uns schon mal begegnet? Ja, ich nehme an, so könnte man es nennen.

Er starrt mich an, ein leichtes Funkeln glänzt in seinen hinreißenden waldgrünen Augen, aber ich lasse mich von ihnen nicht bezaubern. Stattdessen erwidere ich grinsend: »Wir sind auf dieselbe Schule gegangen.«

»In welchem Jahrgang warst du?«

»Drei unter dir.«

»Bist du früher nicht zu unseren Konzerten gekommen?«, fragt Mike, doch ich fixiere nach wie vor Shawn. Ich warte ab, warte, ob mein Lächeln, meine Augen oder meine Stimme seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Die abgewiesene Jugendliche in mir will ihm die Augen dafür auskratzen, weil er mich vergessen hat, aber mein Kopf suggeriert mir triumphierend, dass ich soeben die Oberhand in einem Spiel gewonnen habe, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es spielte. Eines, bei dem ich die Regeln festlege, während es seinen Lauf nimmt.

Als Shawn mich einfach nur anstarrt und einzuordnen versucht, wende ich mich Mike zu. »Manchmal«, antworte ich.

Die Jungs stellen mir weiter Fragen – ob ich schon mal in einer Band gespielt habe, ob wir gut waren, warum wir uns aufgelöst haben –, und ich gebe ihnen weiter Antworten – auf dem College, wir hätten besser sein können, weil sie Jobs mit geregelten Arbeitszeiten wollten. Insgeheim frage ich mich die ganze Zeit, was passiert, wenn Shawn sich an mich erinnern würde. Würde ich glücklich sein? Würde er es mit einem Lachen abtun? Würde er sich dafür entschuldigen, dass er mir damals mein jugendliches Herz gebrochen hat?

Jede Entschuldigung wäre zu wenig, käme zu spät. Sie wäre bedeutungslos. Und würde mich so zornig machen, dass ich meine Boots benutzen müsste, um genau das zu tun, was Kale mir geraten hat.

»Und du bist sicher, dass es das ist, was du wirklich willst?«, hakt Mike nach, und ich nicke.

»Mehr als alles andere.«

Zufrieden mit meiner Antwort wendet sich Mike an Shawn. »Sonst noch irgendwas? Oder sollen wir sie spielen lassen?«

Shawn, der seit der Frage nach meinem Jahrgang kein Wort mehr gesagt hat, reibt sich den Nacken und nickt dann. »Na klar. Lass sie spielen.«