Romana Exklusiv Band 345 - Penny Roberts - E-Book

Romana Exklusiv Band 345 E-Book

PENNY ROBERTS

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Beschreibung

MELODIEN DER SEHNSUCHT AM LAGO MAGGIORE von PENNY ROBERTS Am romantischen Lago Maggiore wartet eine schwere Aufgabe auf Suzanna: Sie soll den Pianisten Fabrizio Cantaro dazu bringen, wieder zu komponieren. Seit dem Tod seiner Frau kann er das nicht mehr. Suzanna weiß nur eine Lösung: Die Liebe muss in sein Leben zurückkehren … WIE WÄR’S MIT EINEM ABENTEUER? von LINDSAY ARMSTRONG Unternehmer Fraser Ross will unbedingt, dass Innenarchitektin Saffron sein Ferienhaus auf einer wunderschönen Insel vor der Küste von Queensland renoviert. Ein lukrativer Auftrag, aber Saffron muss ablehnen. Denn sie spürt, dass Fraser ihr gefährlich werden kann ... AUF SAFARI MIT DEM TRAUMMANN von JOSS WOOD High-Society-Girl Clem ist fassungslos: Nach einem Skandal schickt ihr Vater sie mitten in die Wildnis Südafrikas! Wenigstens ist sie in dem Luxusresort vor der Presse sicher. Allerdings nicht vor sexy Ranger Nick, der sie mitnimmt auf eine besonders aufregende Safari …

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Seitenzahl: 542

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Penny Roberts, Lindsay Armstrong, Joss Wood

ROMANA EXKLUSIV BAND 345

IMPRESSUM

ROMANA EXKLUSIV erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe in der Reihe ROMANA EXKLUSIV, Band 345 2/2022

© 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg für Penny Roberts: „Melodien der Sehnsucht am Lago Maggiore“ Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 24

© 1997 by Lindsay Armstrong Originaltitel: „Wildcat Wife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi Deutsche Erstausgabe 1999 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 1258

© 2013 by Joss Wood Originaltitel: „Wild About the Man“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gisela Blum Deutsche Erstausgabe 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 30

Abbildungen: wolfhound911 eli77 / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 2/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751510745

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Melodien der Sehnsucht am Lago Maggiore

1. KAPITEL

Suzanna atmete tief durch und versuchte, die Schönheit ihrer Umgebung in sich aufzusaugen, während das Motorboot über das tiefblaue Wasser schoss und eine Schneise weißer Gischt hinterließ.

Der Ausblick war in der Tat atemberaubend: Der Lago Maggiore glitzerte im hellen Sonnenschein, die grünen Hänge der Berge reichten herab bis zum Ufer. Im See selbst lagen, wie farbenfrohe Tupfer in Grün, Weiß und Terrakotta, die Isole Borromee, eine Gruppe italienischer Binneninseln. Eine davon war das Ziel von Suzannas Reise.

Die Fischerinsel Isola dei Pescatori.

Bei einer Größe von nur knapp vier Hektar zählte die Insel laut Suzannas Internetrecherche aktuell genau 208 Einwohner. Und wegen einem dieser Einwohner war sie nach Italien gereist.

Er hieß Fabrizio Cantaro.

Seufzend lehnte Suzanna sich in ihrem Sitz zurück und strich sich eine widerspenstige Strähne ihres schwarzen, schulterlangen Haares hinters Ohr. Das Wassertaxi bot Platz für ein halbes Dutzend Fahrgäste, doch außer ihr und dem Fahrer, einem freundlichen älteren Italiener, der das Boot von seiner Kabine aus steuerte, befand sich niemand an Bord. Die Fahrt von Stresa zur Isola dei Pescatori kostete nur ein paar Euro und dauerte nicht lang, doch Suzanna kam die Zeitspanne wie eine kleine Ewigkeit vor. Das lag sicherlich daran, dass sie, im Gegensatz zu den Touristen, die für gewöhnlich in so einem Wassertaxi fuhren, keineswegs aus privaten Gründen hier war. Sie machte weder Urlaub, noch wollte sie Verwandte auf der Insel besuchen. Sie war hier, weil sie den Auftrag hatte, einen Mann dazu zu bringen, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen – ohne jedoch auch nur die leiseste Ahnung zu haben, wie sie das bewerkstelligen sollte.

Fabrizio Cantaro war Musiker. Ein Komponist und Pianist, dessen Name noch vor ein paar Jahren absolut unbekannt gewesen war. Dann aber hatte er mit einem von ihm komponierten Klavierkonzert einen Überraschungserfolg gelandet. Vor allem in Italien war er seitdem ein Star, und seine Fangemeinde wuchs unaufhörlich. Und diese Fans warteten genauso gespannt auf das Nachfolgestück wie seine Plattenfirma – ein kleines Label, das mit Cantaros Stück seinen ersten großen Erfolg gelandet hatte.

Das Problem an der Sache war, dass Cantaro seit seinem großen Erfolg nichts mehr abgeliefert hatte. Und das, obwohl es einen Vertrag mit festen Terminen gab, die auch schon mehrfach von der Firma angemahnt worden waren. Laut seinem Manager arbeitete der Musiker verbissen an seinem neuen Werk, und es war nur noch eine Frage von relativ kurzer Zeit bis zur Vollendung, doch die Plattenfirma wollte sich nicht länger vertrösten lassen. Deshalb hatte man beschlossen, jemanden zu ihm nach Hause zu schicken. Jemanden, der ihm auf die Finger schaute und dafür sorgte, dass das komplette Werk innerhalb kürzester Zeit in die Produktion gehen konnte.

Und dabei handelte es sich um niemand anderen als Suzanna, die seit fünf Monaten als Produktionsassistentin für das junge Unternehmen arbeitete.

Ausgerechnet!

Sie ärgerte sich immer noch über sich selbst, weil sie sich überhaupt auf dieses Unterfangen eingelassen hatte. Der Umgang mit Künstlern, vor allem Musikern, war schwierig und erforderte viel Fingerspitzengefühl. Sie eignete sich nicht für so etwas, das hatte die Vergangenheit sie gelehrt. Dummerweise hatte sie jedoch keine Wahl gehabt. Sie konnte von Glück reden, überhaupt noch einmal eine Chance bei einem Label bekommen zu haben. Nach allem, was früher geschehen war, keine Selbstverständlichkeit.

Nach allem, was Geoff ihr angetan hatte …

Doch nun musste sie sich beweisen. Die Wahl war auf sie gefallen, da sie nicht nur großes musikalisches Talent und aus ihren vorherigen Jobs auch die entsprechende Erfahrung besaß, sondern als einzige infrage kommende Mitarbeiterin fließend Italienisch sprach. Als Au-pair hatte sie zwei Jahre in der Nähe von Florenz gelebt. Jetzt stand sie vor der Herausforderung, Cantaro so schnell wie möglich dazu zu bringen, seinen Vertrag zu erfüllen.

„Vier Wochen“, hatte ihr Chef Matt Cooper gesagt. „Dann will ich die Sache unter Dach und Fach haben. Ansonsten können Sie sich gleich nach einem neuen Job umsehen.“

Vier Wochen … Suzanna stöhnte innerlich auf. Das war utopisch! Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie weit Fabrizio überhaupt schon war. Wenn sein Werk tatsächlich kurz vor der Vollendung stand, gut, dann war das möglich. Aber wenn nicht …

Zudem wusste Suzanna dummerweise nicht nur, dass Künstler allgemein schwierig waren, sondern auch, dass die Probleme bei Fabrizio Cantaro noch ein bisschen anders lagen. Tiefer. Es war kein Geheimnis, warum er bis heute seinen Vertrag nicht erfüllt hatte. Nach der schrecklichen Tragödie, die ihm widerfahren war …

Das spielt jetzt alles keine Rolle. Du musst zusehen, dass er fertig wird, und zwar so schnell wie möglich. Mehr braucht dich nicht zu interessieren. Nach allem, was du hinter dir hast, ist dieser Job deine allerletzte Chance. Es muss klappen. Unbedingt! Also reiß dich zusammen und sei einfach mal so, wie dein Vater dich immer haben wollte. Professionell. Geschäftstüchtig. Kalt und hartherzig.

„Signorina? Aussteigen, bitte. Wir sind da.“

Die Stimme des Bootsführers riss sie aus ihren Gedanken. Überrascht blickte Suzanna auf und stellte fest, dass sie die Anlegestelle tatsächlich schon erreicht hatten. Ihr war nicht einmal aufgefallen, dass das Boot seine Fahrt verlangsamt hatte.

Sie schaute sich um. Viel zu sehen gab es zwar nicht, aber das, was sich ihr eröffnete, war ausgesprochen malerisch: Boote dümpelten neben ihr im Wasser, einige wurden gerade von Fischern be- oder entladen. Vor sich erblickte sie eine schmale Promenade und eine Reihe weißer Häuser mit roten Dächern. Ein ebenfalls weißer Kirchturm ragte dahinter empor und schien den Mittelpunkt der kleinen Insel zu markieren.

„Signorina?“

„Sì.“ Suzanna nickte dem Fahrer zu. „Sì, un attimo, prego!“ Sie griff nach ihrer Handtasche, holte ihr Portemonnaie heraus und stand auf. Nachdem sie dem Fahrer neben der Gebühr für die Fahrt noch ein großzügiges Trinkgeld überreicht hatte, ließ dieser es sich nicht nehmen, ihren Trolley vom Boot zu tragen. Dann reichte er Suzanna eine Hand, um ihr auf den Steg zu helfen. Schließlich bedankte er sich noch einmal überschwänglich und kletterte zurück in sein Wassertaxi.

Suzanna war ganz froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, auch wenn sie angesichts der Tatsache, dass ihre Begegnung mit Fabrizio Cantaro nun unmittelbar bevorstand, am liebsten wieder ins Boot gestiegen und zurückgefahren wäre.

Doch es half alles nichts, da musste sie jetzt durch. Blieb nur zu hoffen, dass ihr Aufenthalt in Italien nicht allzu lange dauerte.

Sie trug ihr gewohntes Business-Outfit – über der weißen Bluse einen schwarzen Blazer, die dazu passende Hose und die flachen Schuhe ebenfalls schwarz. Es war für sie keine große Überlegung gewesen, sich so zu kleiden, immerhin war dies ein ganz normaler Geschäftstermin. Leider hatte sie dabei jedoch nicht bedacht, dass es in Italien erheblich wärmer und sonniger war als zurzeit in London, und so stand ihr schon die ganze Zeit ein feiner Schweißfilm auf der Stirn.

Erneut öffnete sie ihre Handtasche und nahm ein Blatt Papier daraus hervor. Sie hatte sich vor ihrer Abfahrt eine Wegbeschreibung ausgedruckt, der sie die ganze Zeit gefolgt war. Vom Flughafen Malpensa nach Stresa, und von dort aus nun mit dem Wassertaxi hierher zur Anlegestelle der Isola dei Pescatori. Bisher hatte alles problemlos geklappt, und das war für Suzanna angesichts der Tatsache, dass sie normalerweise nie ohne Umwege ihr Ziel erreichte, durchaus eine Überraschung.

Suchend sah sie sich um und erblickte auf der anderen Seite der Promenade ein großes weißes Stadttor, durch das sie wohl gehen musste, um ins Zentrum der Insel zu gelangen.

„Signorina Carter?“, erklang da eine weibliche Stimme neben ihr. Suzanna drehte sich um und sah sich einer kleinen älteren Italienerin gegenüber, die sie freundlich anlächelte. Ihr graues Haar hatte sie zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst, und ihr Gesicht war tief gebräunt und faltig.

Suzanna nickte. „Sì, die bin ich“, antwortete sie auf Italienisch.

„Ah bella! Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, signorina. Mein Name ist Matilde. Ich bin Signor Cantaros Haushälterin. Ihr Vorgesetzter, Signor Cooper aus London, hat uns mitgeteilt, wann Sie in etwa ankommen würden, und da hielt Signor Cantaro es für eine gute Idee, wenn ich herkomme und Sie zum Haus bringe.“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, erwiderte Suzanna dankbar lächelnd, zog den Griff ihres Trolleys heraus und arretierte ihn. „Von mir aus können wir gleich los.“

Die ältere Frau nickte und deutete in Richtung des großen weißen Tores. „Kommen Sie. Wie Sie sich angesichts der Größe der Insel sicher denken können, haben wir keinen allzu weiten Weg vor uns.“

Darüber musste Suzanna lachen. „Ja, das überrascht mich in der Tat nicht.“

Sie folgten einem schmalen Weg, der mit ungleichmäßigen Kopfsteinen gepflastert war und auf dem ihr Trolley ganz schön ins Holpern geriet. Doch das nahm Suzanna kaum wahr – die Schönheit ihrer Umgebung zog sie vollkommen in ihren Bann.

In leuchtenden Farben ergossen sich wahre Wasserfälle von blühenden Bougainvilleen über Natursteinmauern. Zitronenbäume, Oleander und Korkeichen spendeten Schatten, und der süße, fast schon berauschende Duft von Blumen, die in großen Kübeln an jeder Ecke wuchsen, erfüllte die Luft.

„Leben Sie schon lange hier?“, fragte Suzanna ihre Begleiterin interessiert.

„Oh ja“, erwiderte diese stolz. „Schon mein ganzes Leben lang.“ Sie lachte, als sie Suzannas überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. „Ihnen muss es hier schrecklich eng und klein vorkommen. Und ja, die Insel ist ein Dorf. Aber sie ist auch mein Zuhause. Ich könnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. So, da wären wir auch schon“, erklärte sie und führte Suzanna durch ein schmiedeeisernes Tor in eine Gartenanlage, die sich leicht abschüssig an den Hang schmiegte.

Suzanna hielt kurz inne. Jetzt würde sie Fabrizio Cantaro also gleich gegenübertreten, und zu ihrem eigenen Erstaunen war von ihrem anfänglichen Unbehagen nicht mehr allzu viel übrig. Dieses Fleckchen Erde, auf dem der Musiker lebte, war ohne jeden Zweifel das schönste, das sie je gesehen hatte. Seine Haushälterin schien eine Seele von einem Mensch zu sein, und er hatte sie sogar extra geschickt, um seinen Gast von der Anlegestelle abzuholen.

Das alles zusammen konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass er in Wirklichkeit viel umgänglicher war, als sie insgeheim befürchtet hatte – oder?

„Ich will, dass diese Engländerin so schnell wie möglich wieder von hier verschwindet, ist das klar?“ Fabrizio Cantaro presste sein Handy fest ans Ohr, während sich auf seiner Stirn eine steile Zornesfalte bildete. Er saß im Garten seines Hauses unten am See, wo die Wellen gegen das Ufer plätscherten. „Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass es mir ganz und gar nicht passt, dass sie hier ist.“

Das lang gezogene Seufzen, das sein Schwager und Manager am anderen Ende der Leitung ausstieß, war im Grunde schon Antwort genug. Dennoch sagte Lorenzo: „Hör mal, Fabrizio, du weißt genau, dass mir da die Hände gebunden sind. Im Grunde kannst du froh sein, dass die Plattenfirma dich noch nicht verklagt hat. Sie wollen dir helfen, weil sie genau wissen, welche Probleme du hast, und …“

„Sie können mir aber nicht helfen!“, fiel Fabrizio ihm aufgebracht ins Wort. „Niemand kann das, hörst du? Niemand!“

„Nun beruhig dich doch erst mal, Fabrizio. Hast du denn schon mit Miss Carter gesprochen?“

„No, ich habe sie noch gar nicht gesehen. Und ich beabsichtige auch nicht, das zu ändern.“

„Cristo, warum das denn jetzt schon wieder? Du hast doch gesagt …“

„Sì, ich weiß, was ich gesagt habe! Ich wollte diese Engländerin freundlich willkommen heißen und ihr den Aufenthalt bei mir so angenehm wie möglich machen. Sie sollte sehen, dass ich die Dinge im Griff habe, damit sie schon bald wieder verschwindet. Und ich wollte deinen Rat ja auch befolgen. Ich habe sogar Matilde geschickt, um sie von der Anlegestelle abzuholen, aber …“

„Aber was? Wo ist dein Problem, Fabrizio?“

„Das Problem ist, dass ich diese Frau nicht sehen will. Deshalb bin ich, kaum dass Matilde losgegangen ist, zum See geflüchtet, um etwas zu arbeiten. Aber es ist sinnlos, ich …“

„Hör zu, Fabrizio, mach es dir doch nicht so schwer. Mach es uns nicht so schwer. Ich weiß, es ist hart für dich. Aber du hast einen Vertrag, und irgendwann musst du ihn erfüllen.“

„Das werde ich auch. Ich schaff das schon. Auch ohne Hilfe. Ich habe es dir doch gesagt: Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich fertig bin.“

„Aber das sagst du mir schon seit Wochen, Monaten! Und ich kann die Plattenfirma nicht mehr länger vertrösten. Also – warum willst du diese Hilfe denn nicht annehmen? Suzanna Carter soll wirklich sehr viel von Musik verstehen. Gemeinsam seid ihr bestimmt noch schneller. Bitte bemüh dich wenigstens, mit ihr zusammenzuarbeiten. Ich würde dir ja gern zur Seite stehen, aber du weißt, dass ich augenblicklich beruflich im Ausland sein muss, und so rasch kann ich hier nicht weg. Versprichst du mir, es zumindest zu versuchen? Das bist du nicht nur mir und der Plattenfirma schuldig, sondern dir selbst und auch Lucia und Emma.“

Fabrizio schloss die Augen, als der Schmerz mit aller Gewalt durch seinen Körper jagte. Lucia und Emma – die beiden Menschen, die ihm die ganze Welt bedeutet hatten. Die sein Ein und Alles gewesen waren.

Bis sie brutal aus dem Leben gerissen wurden.

„Ich muss jetzt aufhören“, sagte Fabrizio und beendete hastig das Gespräch. Er schob das Handy zurück in seine Hosentasche, nahm die Partitur zur Hand, die neben ihm auf dem Notenständer lag, und sah sich das erste Blatt an, auf dem gerade einmal die ersten Takte eingezeichnet waren. Kopfschüttelnd riss er das Blatt vom Block, zerknüllte es und warf es weg. Warum tat er sich das überhaupt noch an? All die Versuche … Wenn er schon nicht aufhören konnte, anderen etwas vorzumachen, so sollte er zumindest aufhören, sich selbst zu belügen. Seit Monaten bemühte er sich immer wieder, etwas zu Papier zu bringen. Tag für Tag. Ein Thema. Eine Melodie. Irgendetwas. Doch ohne Erfolg. Warum sprach er nicht endlich Klartext? Ließ die ganze Welt wissen, dass er nicht mehr wollte und konnte. Mit den Konsequenzen würde er schon leben können.

Und was ist mit Lorenzo? Wird er damit leben können? Du weißt, welche Probleme er im Augenblick hat. Du bist seine einzige Hoffnung, und er ist es schließlich, dem du deinen Erfolg zu verdanken hast …

Wahrscheinlich lag es wirklich vor allem an seinem Schwager, dass er nicht das Handtuch warf, sondern sich jeden Tag aufs Neue herumquälte. Aber nicht nur an ihm. Und trotzdem, so konnte es nicht weitergehen.

Und was hätte Lucia dazu gesagt? Glaubst du, sie hätte das gewollt?

Das war der nächste Grund, weshalb er nicht aufgeben konnte. Aufstöhnend fuhr er sich durch sein kurzes dunkles Haar. Wie sollte es weitergehen? Er wusste es nicht, im Grunde wusste er ohnehin so gut wie gar nichts mehr. Nur eines: dass er diese Engländerin nicht bei sich haben wollte. Er konnte und wollte sich nicht von irgendeiner Karrierefrau, die seine Plattenfirma ihm auf den Hals hetzte, in sein Leben hineinreden lassen.

Und das würde er ihr auch klarmachen.

Auf der Stelle.

Das Haus, in dem Fabrizio Cantaro wohnte, schien einem Bilderbuch zu entstammen. Es war aus hellen Natursteinquadern errichtet und hatte bodentiefe weiße Sprossenfenster. Eine breite Terrasse nahm einen großen Teil des oberen Stockwerks ein, und an der Fassade rankte sich Efeu empor. In wuchtigen Kübeln wuchsen Palmen und Oleandersträucher.

Das Grundstück selbst war erstaunlich weitläufig angesichts der Tatsache, dass die Isola dei Pescatori nur eine sehr kleine Insel war. Das leicht abschüssige Gelände fiel bis direkt zum Ufer des Lago Maggiore ab, dessen Oberfläche im hellen Sonnenschein glitzerte.

Ein Anblick wie von einer Ansichtskarte.

Aber du bist nicht hier, um Urlaub zu machen, erinnerte Suzanna sich. Es geht für dich um alles, vergiss das nicht.

Und es stimmte: Nach allem, was in der Vergangenheit vorgefallen war, stellte ihr aktueller Job ihre letzte Chance dar, weiterhin im Rennen zu bleiben. Nutzte sie diese Möglichkeit nicht, würde sie den Rest ihrer Tage vermutlich damit verbringen, sich für einen Hungerlohn in irgendwelchen Callcentern von wütenden Bank- oder Internetproviderkunden anschreien und beschimpfen zu lassen.

Und damit würde dann genau das eintreten, was ihr Vater ihr immer prophezeit hatte. Sie hörte schon seine hämischen Worte: „Was habe ich dir immer gesagt? Du wirst einmal genauso enden wie deine Mutter.“

Sie seufzte. Und das alles nur wegen Geoffs mieser kleiner Spielchen! Ihre beste Freundin Linda hatte sie noch vor ihm gewarnt, aber sie wollte ja nicht hören …

Matildes Stimme holte sie ins Hier und Jetzt zurück. „Kommen Sie herein“, sagte die Italienerin, öffnete die Eingangstür und ließ Suzanna hinein. „Am besten, ich zeige Ihnen zunächst einmal das Zimmer, das ich für Sie vorbereitet habe.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gern als Erstes mit Signor Cantaro sprechen. Würden Sie mich bitte zu ihm bringen?“

„Aber natürlich“, entgegnete Matilde lächelnd. „Prego, folgen Sie mir.“

Das Innere des Hauses hielt, was sein Äußeres versprach. Der Boden der Eingangshalle war mit hellem Granit ausgelegt, während die Wände mit grobem Putz versehen und weiß getüncht waren. Überall hingen Bilder, die Szenen aus der Umgebung zeigten. Der Lago Maggiore von seiner Schweizer Seite aus gesehen, Fischerboote, die im klaren Wasser dümpelten, der See im roten Schein des Sonnenuntergangs.

Eine breite, sich nach oben hin verjüngende Treppe führte hinauf zu einer Galerie, die drei Seiten des Raumes umspannte. Von dort aus gingen verschiedene Türen ab – und auf eine davon steuerte Matilde nun zu.

Sie klopfte an. „Signor Cantaro?“ Als sich nichts rührte, runzelte sie die Stirn und klopfte erneut. Auch dieses Mal erhielt sie keine Reaktion und öffnete schließlich, ohne weiter auf eine Antwort zu warten. „Scusa“, sagte sie dann, nachdem sie einen Blick in den Raum geworfen hatte, „aber er scheint nicht da zu sein. Seltsam, als ich vorhin losgegangen bin, um Sie abzuholen, hielt er sich noch hier auf. Vielleicht ist er runter zum See. Ich gehe rasch nachsehen und …“

„Ich bin hier, Matilde“, erklang plötzlich eine raue männliche Stimme hinter ihnen, die so respekteinflößend war, dass sie auf der Stelle den gesamten Raum einnahm.

Unwillkürlich zuckte Suzanna zusammen. Jetzt ist es also so weit, schoss es ihr durch den Kopf. Jetzt lernst du den Mann kennen, in dessen Händen deine Zukunft liegt.

Ihre Knie zitterten leicht, als sie sich langsam zu ihm umdrehte. Als sie ihm schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte sie sich nur mit Mühe zusammenreißen. Sein Anblick raubte ihr einfach den Atem, und sie schnappte nach Luft. Sicher, sie hatte Fabrizio schon öfter gesehen – auf Fotos in Zeitschriften oder auch mal bei einem Interview im Fernsehen. Doch ihn jetzt in natura zu sehen, war etwas ganz anderes: Er war hochgewachsen und wirkte durchtrainiert. Dunkles welliges Haar umrahmte ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem kantigen Kinn. Am eindrucksvollsten aber waren die Augen, die in einem ungewöhnlichen Grünblau schimmerten.

Suzanna kämpfte innerlich, um ihre professionelle Fassung wiederzuerlangen. Doch dann wurde ihr klar, wie dumm es aussehen musste, dass sie einfach nur dastand und Fabrizio offenen Mundes anstarrte.

Hastig räusperte sie sich. „Signor Cantaro“, sagte sie freundlich, trat einen Schritt vor und reichte dem Italiener die Hand. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Suzanna Carter, und ich …“

„Ich weiß, wer Sie sind“, antwortete Fabrizio und kniff die Augen zusammen. „Aber Sie sind vergebens gekommen.“

Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu ihr durchdrangen. Irritiert sah sie ihn an. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie unsicher.

„So, wie ich es sagte“, erklärte er und verzog keine Miene. „Sie sind vergebens gekommen. Zwischen uns beiden wird es keine Zusammenarbeit geben. Machen Sie sich also am besten gleich wieder auf den Weg nach Hause. Hier jedenfalls ist kein Platz für Sie! Also – arrivederci!“ Er drehte sich um und machte Anstalten auf demselben Weg zurückzugehen, den er offensichtlich gekommen war.

Suzanna stand einen Augenblick lang wie versteinert da. Tausend Gedanken schossen ihr in diesen Sekunden durch den Kopf. Als sie in London aufgebrochen war, hatte sie sich schon gedacht, dass es nicht leicht werden würde, mit Fabrizio auszukommen. Künstler waren immer kompliziert. Aber ihr war auch klar gewesen, sie musste es irgendwie schaffen. Immerhin hing ihre gesamte berufliche Zukunft davon ab. Sie durfte nicht scheitern!

Sie holte noch einmal tief Luft, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte: „Signor Cantaro, finden Sie nicht, dass Sie es sich ein bisschen zu einfach machen? Was Sie tun, ist feige, und ich hätte Sie ehrlich gesagt nicht für einen Feigling gehalten.“

Fabrizio erstarrte.

2. KAPITEL

Einen Augenblick lang schien die Zeit stehen geblieben zu sein, und es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Suzannas Herz hämmerte wie verrückt. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? So konnte sie doch unmöglich mit einem Mann wie Fabrizio Cantaro sprechen!

War das nicht schon immer dein Problem? Dass du erst sprichst und dann denkst? Hat nicht genau das Dad schon immer gesagt?

„Wie war das eben?“ Fabrizios Stimme fegte sämtliche anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Inzwischen hatte er sich wieder zu ihr umgedreht. Jetzt stand er da und taxierte sie, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, auf der Stirn eine Zornesader.

Suzanna hielt die Luft an.

„Ich …“ Sie schluckte, als ihr die Stimme versagte. In ihrem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. „Es tut mir leid, Signor Cantaro. Ich … habe es nicht so gemeint.“

Er nickte seiner Hausangestellten zu, die schweigend neben Suzanna stand. „Matilde, lass uns einen Augenblick allein, prego!“

„Sì, Fabrizio. Ich bin dann in der Küche, falls du mich suchst.“ Matilde nickte, warf Suzanna dann noch einen entschuldigenden Blick zu und machte sich anschließend auf den Weg.

Sobald er mit Suzanna allein war, trat Fabrizio näher an sie heran.

„So“, sagte er, und seine Stimme klang schneidend scharf. „Sie halten mich also für einen Feigling?“

Suzanna hatte das Gefühl, unter seinem einschüchternden Blick zu schrumpfen. Gleichzeitig stieg ihr der männlich markante Duft seines Aftershaves in die Nase, und sie nahm die Wärme wahr, die von ihm ausging. Ihr Körper reagierte prompt und es durchfuhr sie heiß und kalt zugleich. Hastig schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein, ich sagte doch schon, es tut mir leid. Es war nicht so gemeint, wirklich. Meine Worte waren unbedacht. Es stünde mir ja auch gar nicht zu, ein Urteil über Sie zu fällen, ich kenne Sie schließlich gar nicht, und …“

„Wie können Sie es dann wagen, in mein Haus zu kommen und mich zu beleidigen!“ Er holte hörbar Luft und sprach dann deutlich ruhiger weiter. „Sie haben vollkommen recht: Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht. Und dabei soll es auch bleiben.“

„Aber das ist doch lächerlich.“ Suzanna schüttelte den Kopf. „Ich meine, ja, wir hatten einen unglücklichen Start, keine Frage. Das tut mir sehr leid. Aber wir können es immer noch ändern. Lassen Sie uns einfach alles vergessen und noch einmal von vorn anfangen. Außerdem erwartet doch ohnehin niemand von uns, dass wir uns näher kennenlernen. Das Ganze ist eine rein geschäftliche Angelegenheit, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin hier, um zu schauen, wie weit Sie mit Ihrem neuesten Projekt inzwischen sind, und um Sie bei der Vollendung ein wenig zu unterstützen. Sie möchten Ihren Vertrag doch sicher auch endlich erfüllen, oder nicht? Was spräche also dagegen, wenn …“

„Dagegen spricht, dass ich keine Hilfe will, so einfach ist das. Außerdem könnten Sie mir ohnehin nicht helfen.“

„Aber natürlich kann ich das“, versicherte Suzanna schnell. „Ich habe Musik an der Royal Academy of Music studiert und spiele sowohl Cello als auch Klavier.“

Er starrte sie an. „Und Sie glauben wirklich, das befähigt Sie zu irgendetwas? Musik schafft man nicht, weil man irgendetwas gelernt oder studiert hat, dazu gehört mehr, viel mehr. Das wissen Sie selbst sicher sehr genau. Oder warum sonst maßen Sie es sich an, jemanden wie mich unterstützen zu wollen, statt selbst etwas Eigenständiges zu schaffen? Schauen Sie sich doch nur an.“ Er musterte sie von oben herab. „In Ihrem Business-Dress von der Stange mögen Sie vielleicht eine Karrierefrau darstellen, aber von einer Künstlerin sind Sie weit entfernt. Und deshalb kann ich mit Ihnen nichts anfangen.“

Suzanna schluckte ihren aufkommenden Ärger hinunter. Das war mal wieder typisch Künstler! So waren sie immer: Glaubten, den einzig wahren Weg eingeschlagen zu haben und fühlten sich von jedem, der etwas nach Lehrbuch tat, belästigt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

„Sie vergessen, dass ich nicht diejenige bin, die etwas erschaffen will oder muss“, erklärte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Das ist nicht mein Job. Und um ehrlich zu sein, bin ich nicht aus freien Stücken hier. Ich bin hier, weil mein Boss es so will.“

„Was genau will Ihr Boss denn?“, fragte Fabrizio herausfordernd.

„Nun, das sollten Sie eigentlich wissen.“ Sie lachte freudlos auf und sah ihn dann ernst an. „Er will, dass Sie Ihren Vertrag erfüllen. Und wenn ich nicht dafür Sorge trage, dass dies innerhalb einer bestimmten Frist geschieht, wird er Sie wegen Vertragsbruchs verklagen.“

„Damit droht er mir schon lange“, gab Fabrizio gelassen zurück.

„Aber dieses Mal ist es ihm ernst damit. Er wird Sie verklagen – und wenn das eintritt, sind Sie ruiniert, und ich bin meinen Job los.“

Fabrizio schüttelte den Kopf. „Kein Mensch kann Sie feuern, nur weil Sie es nicht schaffen, einen Künstler dazu zu zwingen, sein Werk zu vollenden.“

„Ich befinde mich noch in der Probezeit. Man kann.“

„Wie lange?“

Sie blinzelte. „Ich habe erst vor zwei Monaten in der Firma angefangen und …“

„Ich meine nicht Ihre Probezeit“, unterbrach er sie. „Ich meine, wie lange Ihr Boss mir noch Zeit gibt.“

Sie atmete tief durch. „Vier Wochen. Allerhöchstens.“ Sie stockte, als sie sah, wie er leicht zusammenzuckte. Wurde er etwa gerade blass um die Nase?

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann sagte er: „Das ist kein Problem. Das Werk ist so gut wie fertig. Es fehlt lediglich noch der Feinschliff.“

Erleichtert atmete sie auf. Gott sei Dank! „Dann dürfte es doch eigentlich kein Problem für Sie sein, wenn ich einmal einen Blick darauf werfe?“, fragte sie zaghaft. „So könnte ich meinen Boss schon mal etwas beruhigen.“

„Natürlich wäre das ein Problem für mich!“, stellte Fabrizio klar. „Niemand sieht sich meine Kompositionen an, bevor das komplette Werk fertig ist. So etwas bringt Unglück.“

„Aber ich …“

„No!“, herrschte er sie an, und der Klang seiner Stimme ließ keinen Widerspruch zu. „Ich werde Ihnen nichts zeigen, verstanden? Von mir aus können Sie hier wohnen und sich in vier Wochen alles ansehen und es dann mit zu Ihrem Boss nach London nehmen. Aber bis dahin lassen Sie mich gefälligst in Ruhe arbeiten!“

Suzanna horchte auf. „Das heißt, ich kann hierbleiben?“

Für einen Moment zögerte Fabrizio. Bereute er seine Worte etwa bereits wieder?

Doch dann zuckte er gleichmütig die Achseln. „Von mir aus. Aber sicher wäre es für Sie angenehmer, zurück nach London zu fliegen. Allzu viel Platz habe ich hier nämlich nicht, zudem würden Sie sich nur langweilen. Und wenn ich fertig bin, schicke ich Ihnen einfach alles zu.“

„Nicht nötig.“ Suzanna winkte ab. „Ich wollte mir diese Gegend schon immer mal ansehen, und wenn ich einmal hier bin, kann ich das Angenehme auch mit dem Nützlichen verbinden. Und Platz ist bekanntlich in der kleinsten Hütte.“ Sie kicherte übertrieben. „Auch wenn von ‚klein‘ hier wirklich nicht die Rede sein kann. Also – wo werde ich übernachten?“

Ich muss vollkommen den Verstand verloren haben!

Wütend schlug Fabrizio die Tür hinter sich zu, als er am Abend sein Arbeitszimmer betrat. Den Nachmittag hatte er draußen am See verbracht. Erstens um zu arbeiten, und zweitens um sich über einige Dinge klar zu werden.

Nun, beides hatte nicht geklappt. Er hatte versucht zu arbeiten, ja. Die Frist, die Suzanna Carter ihm genannt hatte, war ein Schock für ihn gewesen. Sicher, ihm war klar gewesen, dass sich die Plattenfirma nicht mehr ewig würde hinhalten lassen. Lorenzo hatte ihn schließlich oft genug gewarnt, außerdem war er selbst auch nicht völlig weltfremd. Aber irgendwie hatte er dennoch alles ständig weiter hinausgezögert. Kommt Zeit, kommt Rat, hatte er sich immer wieder gesagt.

Und jetzt das! Wie sollte er aus der Nummer jetzt noch herauskommen?

Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke aufzugeben. Einfach alles hinzuwerfen und sich und der Welt die Wahrheit einzugestehen.

Doch das ging nicht. Denn wenn er das tat, würde nicht nur er die Folgen seines Handelns zu spüren bekommen, sondern auch Lorenzo.

Sein Schwager.

Lucias Bruder.

Fabrizio atmete scharf ein, als die Erinnerung mit brachialer Gewalt auf ihn einstürzte. Er sah Lucia, seine Frau, und seine vierjährige Tochter Emma, wie sie in den Wagen stiegen, losfuhren … und nie wiederkehrten. Schmerzerfüllt schloss er die Augen, als er an jenen Abend zurückdachte. Er hatte gearbeitet, war mit einem Stück beschäftigt gewesen, das er unbedingt zu Ende bringen wollte. Bis spät in die Nacht brütete er über der Partitur und bemerkte dabei gar nicht, wie die Zeit verging. Schließlich hatte ihn das Läuten der Türglocke kurz vor Mitternacht aus seinen Gedanken gerissen. Das Klingeln war noch nicht verklungen, da überkam ihn eine schreckliche Ahnung. Er war aufgesprungen und zur Tür geeilt. Draußen standen zwei uniformierte Beamte und überbrachten ihm die schlimmste Nachricht, die man einem Menschen überbringen konnte.

„Es tut uns leid, Signor Cantaro“, hatte einer der Beamten gesagt, „aber es hat einen schlimmen Unfall gegeben. Ihre Frau und Ihre Tochter …“

Mehr hatte Fabrizio nicht mehr mitbekommen. Von diesem Moment an war seine Welt nur noch ein Nebel aus Leid und Schmerz gewesen. Er konnte, wollte nicht wahrhaben, dass seine Familie von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen worden war, weil ein angetrunkener Autofahrer auf regennasser Fahrbahn die Kontrolle über seinen Wagen verloren und so einen Frontalzusammenstoß verursacht hatte.

Nach der Beerdigung war Fabrizio in ein tiefes, seelisches Loch gestürzt, aus dem er bis heute nicht herausgefunden hatte. Er hatte sein Haus in Mailand verkauft, war vor den Erinnerungen geflohen und auf die Isola dei Pescatori gezogen. Seitdem lebte er abgeschottet auf dieser kleinen Insel und pflegte so gut wie keine gesellschaftlichen Kontakte mehr – abgesehen von dem zu Matilde, die eine gute Freundin seiner Mutter gewesen war.

Und ginge es hier nur um ihn, hätte er seine Arbeit längst hingeschmissen. Sollten sie ihn doch verklagen! Wahrscheinlich wäre er danach arm wie eine Kirchenmaus, aber was kümmerte ihn das? Er brauchte kein Geld, er brauchte gar nichts mehr.

Aber er war nicht allein. Immerhin war da noch Lorenzo. Der Bruder seiner verstorbenen Frau und Emmas Onkel war eben nicht nur familiär mit ihm verbunden, sondern auch geschäftlich. Lorenzo war sein Manager, und im Grunde hatte er nur ihm seinen Erfolg zu verdanken. Hätte Lorenzo damals nicht eine Aufnahme seines Klavierstücks an verschiedene Plattenfirmen geschickt, würde noch heute niemand seine Kompositionen kennen.

Fabrizio seufzte. Schon vor seinem großen musikalischen Durchbruch war sein Schwager auf diesem Gebiet beruflich unterwegs gewesen, aber mit wesentlich geringerem Erfolg. Bei den Musikern, die er betreut hatte, handelte es sich eher um kleine Fische, wie Fabrizio damals auch einer war. Da Lorenzo prozentual an sämtlichen Einnahmen beteiligt war, die Fabrizio mit seiner Musik erwirtschaftete, war es auch mit seiner Karriere schlagartig bergauf gegangen. Doch Lorenzo hatte sein Geld falsch angelegt und dabei viel verloren. Daher war er auf die Provision angewiesen, die ein weiterer Abschluss mit der Plattenfirma mit sich bringen würde. Und sollte Fabrizio eine Vertragsstrafe zahlen müssen, würde dies auch seinem Schwager schaden.

Nur aus diesem einen Grund befand Fabrizio sich in der Zwickmühle. Er konnte Lucias Bruder nicht im Stich lassen.

Das durfte er nicht.

Nicht, nachdem er so viel Schuld auf sich geladen hatte.

Er schloss die Augen. Wenn er doch damals nur …

Aber dann schüttelte er den Kopf. Es brachte jetzt nichts, über die Vergangenheit nachzudenken. Das tat er ohnehin ständig. Jeden Tag, jede Nacht.

Nun allerdings, da er wusste, dass die Plattenfirma Ernst machte, musste er endlich mit allen Kräften versuchen, seinen Vertrag zu erfüllen. Das war er Lorenzo schuldig.

Und Lucia.

Nur wie sollte er das anstellen? Diese Engländerin bei sich einziehen zu lassen, war ein Fehler gewesen. Sie wollte ihm in die Karten schauen, ihn beeinflussen, mit ihm zusammenarbeiten. Aber das war unmöglich. Er war ein Künstler, kein Handwerker. Alles, was er zu Papier brachte, entstand einzig und allein in seinem Kopf. Diese Frau konnte ihm einfach nicht dabei helfen. Niemand konnte das.

Außerdem gab es da noch etwas anderes, das ihn zutiefst irritierte. Das ihm Angst bereitete. Und das waren seine eigenen Gefühle. Die Art und Weise, wie sein Körper auf die Begegnung mit Suzanna Carter reagiert hatte … das Herzklopfen, der leichte Schweißausbruch, die weichen Knie … Fabrizio schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Sicher war er nur aus Ärger so erregt gewesen. Immerhin hatte das erste Mal eine fremde Frau sein kleines, abgeschiedenes Reich hier betreten.

Trotzdem … Am liebsten hätte er sie auf der Stelle wieder nach Hause geschickt. Damit würde er die Plattenfirma allerdings nur noch mehr gegen sich aufbringen. Das Beste war es also, wenn er Suzanna einfach hier wohnen ließ, sich am Riemen riss und endlich musikalisch etwas zustande brachte. Vier Wochen waren angesichts der bereits vertanen Zeit so gut wie nichts, aber irgendwie musste er es schaffen. Egal wie.

Wichtig war nur, dass er Suzanna dazu brachte, sich nicht in seine Arbeit einzumischen.

Als Suzanna am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie im ersten Moment das Gefühl, im Urlaub zu sein.

Normalerweise wurde sie morgens von Verkehrslärm, Polizeisirenen und Stimmengewirr aus den Apartments unter und neben ihr empfangen. Heute jedoch waren da nur Vogelgezwitscher und das leise Plätschern der Wellen am Seeufer.

Sonst nichts.

Die Sonnenstrahlen, die durch den nur halb zugezogenen Fenstervorhang fielen, blendeten sie leicht, und für einen Moment hatte sie den dringenden Wunsch, sich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen. Doch dann wurde ihr zum ersten Mal seit dem Aufwachen bewusst, wo sie eigentlich war, und sie richtete sich schlagartig auf.

Sie befand sich im Haus von Fabrizio Cantaro. Und sie war keineswegs hier, um Urlaub zu machen!

Aufseufzend fuhr sie sich durchs Haar; dann stand sie auf und betrat das angrenzende Badezimmer. Beide Räume waren wunderhübsch eingerichtet und trugen eindeutig eine weibliche Handschrift. Suzanna vermutete, dass Matilde für die geblümte Bettwäsche, die lavendelfarbenen Handtücher und den mit Schnitzereien versehenen Bauernschrank verantwortlich war.

An die gestrige erste Begegnung mit Fabrizio dachte sie nur sehr ungern zurück. Sie hatte geahnt, dass es nicht leicht werden würde, mit dem Musiker auszukommen. Und mehr als bei irgendjemand anderem, konnte sie bei ihm durchaus verstehen, warum er Schwierigkeiten hatte, mit seiner Arbeit voranzukommen. Allein schon bei dem Gedanken an das, was ihm widerfahren war, hätte sie in Tränen ausbrechen können. Sie kannte keine Details, wusste aber aus der Presse, dass seine Frau und seine vierjährige Tochter bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen waren. Seither war es still um den Musiker geworden; er war auf diese kleine Insel gezogen und ließ im Grunde nichts mehr von sich hören. Die Plattenfirma, die ihm natürlich anfangs eine gewisse Zeit gegeben hatte, vertröstete er seither immer wieder, und damit auch seine Fans, die trotz der schrecklichen Tragödie inzwischen auch ungeduldig wurden.

Drei Jahre lag das Unglück nun zurück, und Suzanna wusste nicht, ob das genug Zeit war, um über den größten Schmerz hinwegzukommen. Konnte ein Mensch einen solch schmerzlichen Verlust überhaupt jemals verkraften?

Doch so hart es auch klingen mochte, das war nicht ihr Problem. Sie hatte ihren Auftrag zu erledigen und durfte auf alles andere keine Rücksicht nehmen. Es ging hier immerhin auch um ihre eigene berufliche Zukunft.

Ihr gegenüber hatte Fabrizio gestern behauptet, dass er mit seinem Werk so gut wie fertig war. Dennoch ging ihr irgendetwas an der Art und Weise, wie er es gesagt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Dabei waren es weniger seine Worte als vielmehr sein Gesichtsausdruck. Er hatte schuldbewusst ausgesehen. Ja, Fabrizio hatte so ausgesehen, als würde ihm etwas insgeheim leidtun.

Sollte er etwa gelogen haben? War er doch noch nicht so weit, wie er behauptet hatte?

Unter der Dusche versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen. Wohltuend prasselten die lauwarmen Wasserstrahlen auf ihre nackte Haut. Suzanna schloss genießerisch die Augen, legte den Kopf in den Nacken und strich ihr schwarzes Haar zurück. Es war ein kostbarer Moment der Entspannung, auch wenn sie wusste, sie durfte sich dafür nicht allzu viel Zeit nehmen. Je öfter sie sich klarmachte, dass dies hier kein Erholungsurlaub für sie sein sollte, desto besser.

Nachdem sie sich abgetrocknet und ein bisschen gestylt hatte, beschloss sie, heute eine schlichte Bluejeans und ein helles T-Shirt anzuziehen. Fabrizios Worte gestern hatten sie nachdenklich gemacht. Er sollte nicht glauben, es mit einer oberflächlichen Geschäftsfrau zu tun zu haben, für die Musik nichts weiter als ein lukratives Handwerk war. Denn so war es nicht. Ganz und gar nicht. Und wenn er sie erst einmal näher kennenlernte, würde er das auch erkennen.

Er würde sehen, welch großes Talent sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Sie verließ ihr Zimmer und ging die Treppe nach unten. Schon von Weitem stieg ihr der Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase.

Sie betrat die Küche und seufzte schwärmerisch, als sie die frischen Cornettos und das herrlich duftende Ciabatta auf dem Tisch sah. Dazu gab es Parmaschinken, Mortadella, Honigmelone und Oliven.

„Das sieht ja wirklich köstlich aus“, stieß sie begeistert hervor.

Matilde, die am Herd stand und Milch für einen Cappuccino aufschäumte, drehte sich lächelnd zu ihr um. „Freut mich, dass es Ihnen zusagt. Der Padrone wird auch jeden Moment da sein … Ach, wenn man vom Teufel spricht. Buongiorno, Fabrizio. Setzt euch – alle beide.“

Als Suzanna die mürrische Miene des Musikers erblickte, verflog ihre gute Stimmung schlagartig. Matilde schien es hingegen nicht zu stören, dass er kaum mehr als ein gebrummtes Buongiorno hervorbekam. Vermutlich war sie solcherlei Unhöflichkeit längst gewohnt.

Und dich sollte es auch nicht kümmern! Du bist schließlich nicht hier, um mit ihm Freundschaft zu schließen!

„Lassen Sie uns rasch frühstücken und dann mit der Arbeit beginnen“, sagte sie und nahm sich ein Hörnchen aus dem Korb, der auf dem Tisch bereitstand. „Am besten, Sie zeigen mir einfach, was Sie bisher zu Papier gebracht haben, dann sehen wir weiter.“

Er sah sie ungläubig an, und schon spürte sie wieder, wie ihr Selbstbewusstsein unter seinem strengen Blick zu schrumpfen begann.

„Ich höre wohl nicht recht“, erwiderte er verärgert. „Ich dachte, ich hätte klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht vorhabe, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Sie dürfen für die Dauer Ihres Aufenthalts bei mir wohnen – sonst nichts. Und deshalb werde ich Ihnen auch keinen Einblick in meine Arbeit geben.“

Sie seufzte schwer. „Du meine Güte, warum sind Sie nur so verflixt stur? Ich will Ihnen doch nur helfen, wieso verstehen Sie das nicht?“

„Weil ich Ihnen kein Wort glaube!“, fuhr Fabrizio sie an. „Sie sind hier, um mich zu kontrollieren, das ist alles! Und wenn Sie behaupten, dass es sich anders verhält, dann lügen Sie!“

Suzanna spürte, wie Ärger und Hoffnungslosigkeit in ihr aufstiegen. Dieser Mann war wirklich unbelehrbar. Es musste doch einen Weg geben, ihn davon zu überzeugen, dass sie von einer Zusammenarbeit beide profitieren würden. Als sie gestern Abend allein auf ihrem Zimmer gewesen war, hatte sie die Tatsache, hier wohnen zu dürfen, als Erfolg eingestuft. Sie hatte sich gesagt, dies sei ein erster Schritt und irgendwie würde es ihr schon gelingen, Fabrizio gänzlich zu überzeugen. Jetzt aber musste sie feststellen, dass dies wohl doch schwerer werden würde als gedacht. Oder war sie einfach nur zu ungeduldig? Wahrscheinlich musste sie ihm Zeit geben. Doch leider war Zeit nun mal genau das, was sie beide nicht wirklich hatten.

Sie wollte gerade etwas erwidern, doch Matilde kam ihr zuvor, indem sie zu ihnen trat und ihre flache Hand mit einem lauten Knall auf die Tischplatte sausen ließ.

„Madre di Dio, jetzt ist es aber genug!“, sagte sie laut.

Erschrocken zuckte Suzanna zusammen. Die ältere Italienerin schien resoluter zu sein als gedacht.

„Ich dachte, ein gemeinsames Frühstück würde euch dabei helfen, eure Berührungsängste zu überwinden“, fuhr Matilde fort. „Aber wie ich sehe, muss ich wohl schärfere Geschütze auffahren.“

Sowohl Fabrizio als auch Suzanna sahen die Hausangestellte stumm und ziemlich verblüfft an.

„Ihr beide werdet jetzt gefälligst etwas Zeit miteinander verbringen, um euch ein bisschen besser kennenzulernen.“

„Was?“, fragte Fabrizio entsetzt. Er schüttelte den Kopf. „Impossibile! Ich muss nach Luino fahren. Mein Laptop macht Probleme, und darauf ist immerhin der größte Teil meiner bisherigen Arbeit gespeichert.“

Suzanna runzelte die Stirn. Irgendwie konnte sie sich nicht recht vorstellen, dass Fabrizio am Computer arbeitete. Das passte einfach nicht zu ihm. Aber bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, klatschte Matilde erfreut in die Hände.

„Prego, wer sagt’s denn? Das trifft sich doch ganz wunderbar! Dann kannst du ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Du bringst deinen Computer zur Reparatur – und bei der Gelegenheit zeigst du Suzanna die Sehenswürdigkeiten der Umgebung, d’accordo?“

Fabrizio starrte seine Hausangestellte entgeistert an. „Aber ich …“

„No, keine Widerrede!“, ließ Matilde ihn erst gar nicht ausreden. „Genau so wird es gemacht.“ Sie sah ihn mit festem Blick an. „Also – einverstanden?“

Und zu Suzannas größter Überraschung zuckte er nun mit den Schultern und schaute seinen Gast an. „Also gut“, sagte er brummig. „Wenn Sie wollen, kommen Sie einfach mit. So habe ich Sie wenigstens unter Kontrolle.“

Mit diesen Worten stand er auf und verließ die Küche. Suzanna blickte ihm nach.

Na, dachte sie seufzend, das kann ja heiter werden.

3. KAPITEL

„Wir fahren gar nicht mit dem Wassertaxi?“, fragte Suzanna überrascht, als Fabrizio sie eine Stunde später – seine Laptoptasche unter den Arm geklemmt – zu einer Anlegestelle führte, die offenbar zu seinem Grundstück gehörte. Dort dümpelte ein kleines Motorboot im Wasser. Eines von der Sorte mit Außenbordmotor, die gerade genug Platz für zwei bis drei Personen boten.

Fabrizio runzelte die Stirn. „Wenn man auf einer Insel lebt, empfiehlt es sich, ein eigenes Boot zu besitzen“, stellte er lapidar fest, so als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Hier gibt es schließlich nichts. Für nahezu alles, was man im Alltag so braucht, muss man die Insel verlassen.“

Suzanna hasste es, wie mühelos es ihm gelang, dass sie sich rundum unbehaglich fühlte. Allein ihre Frage kam ihr inzwischen unglaublich dumm vor – doch sie zwang sich, zumindest äußerlich gelassen zu bleiben und sich ihre Befangenheit nicht anmerken zu lassen.

Den Triumph gönnte sie ihm nicht.

„Klingt anstrengend“, sagte sie.

„Ist es aber nicht. Zumindest dann nicht, wenn man keine allzu hohen Ansprüche hat.“ Er deutete auf das Boot. „Wenn ich jetzt bitten dürfte … Steigen Sie ein, damit wir endlich losfahren können.“

Sie zögerte beinahe unmerklich. Der Gedanke, in dieses kleine Boot zu klettern, behagte ihr nicht sonderlich. Allein auf so engem Raum mit Fabrizio … Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab. Sie sollte froh sein, Zeit mit ihm verbringen zu können – in rein geschäftlicher Hinsicht. Denn nur wenn sie bei ihm war, hatte sie die Möglichkeit, ihn davon zu überzeugen, dass es das Beste für ihn war, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wäre er heute allein nach Luino gefahren, hätte sie stundenlang tatenlos in seinem Haus herumsitzen und die Zeit totschlagen müssen, ohne ihrem Ziel, ihren Auftrag zu erfüllen, auch nur einen Schritt näher zu kommen. Sie sollte diese Gelegenheit also unbedingt nutzen. Jede Minute in seiner Gegenwart war kostbar.

Sie kam seiner Aufforderung nach und ging voran über einen schmalen Steg auf das Motorboot zu. Als sie es erreicht hatte, wollte sie zügig einsteigen und setzte dafür den linken Fuß auf die Bordwand. Sofort fing das Boot an, unkontrolliert zu schaukeln. Suzanna geriet ins Stolpern und fiel mit einem überraschten Keuchen nach hinten.

Doch zum Glück schoben sich sogleich starke Hände unter ihre Arme und hielten sie fest.

„Na, na, wer wird denn gleich so ungestüm sein?“

Suzanna hielt den Atem an. Sie war froh, dass Fabrizio ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn sie merkte, wie sie heftig errötete. Und das nicht nur, weil sie sich wegen ihrer Tollpatschigkeit schämte, sondern vor allem, weil sie merkte, wie ihr Körper bereits wieder auf ihn reagierte. Sein warmer Atem in ihrem Nacken, die Berührung seiner Hände, der Duft seines Aftershaves, der sie umhüllte … All das brachte ihr Blut in Wallung. Ihr Puls begann zu rasen, und das Herz pochte kräftig gegen ihre Rippen. Keine Frage, Fabrizios Nähe war ihrer Selbstbeherrschung alles andere als zuträglich.

Hastig machte sie sich von ihm los – zu ihrer eigenen Irritation kostete sie das durchaus eine gewisse Überwindung, denn der Gedanke, einfach in seinen Armen zu bleiben, hatte etwas ungemein Verlockendes an sich.

„Vielen Dank“, murmelte sie verlegen. „Ich glaube, ich … nun, ich könnte beim Einsteigen ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

Ohne ein Wort zu sagen, machte er die Leinen los, war mit einem einzigen, eleganten Satz im Inneren des Bootes und streckte ihr seine Hand entgegen. „Na los. Ich stütze Sie – vertrauen Sie mir.“

Seltsamerweise fiel es Suzanna nicht schwer, seinen Worten Glauben zu schenken. Sie spürte, dass sie ihm vertrauen konnte. Aber woher kam das? Ausgerechnet sie, die normalerweise nicht so leicht Vertrauen fasste. Noch dazu zu einem Künstler, der sich zudem bislang nicht sonderlich freundlich ihr gegenüber gezeigt hatte …

Dank seiner Hilfe gelang es ihr nun mit Leichtigkeit einzusteigen. Sie setzte sich auf die schmale Holzbank im vorderen Teil des Bootes, drehte sich aber so, dass sie nach hinten sehen konnte, wo Fabrizio kräftig an der Startleine des Motors zog. Einmal, zweimal. Der Motor heulte auf, und sie legten ab. Weiße Gischt schäumte auf, als das Motorboot über das klare Wasser des Lago Maggiore sauste. Rasch ließen sie die Inselgruppe hinter sich und hielten sich in der Mitte des Sees, genau dort, wo die Grenze zwischen dem Piemont und der Lombardei verlief, wie Fabrizio ihr erklärte.

Es überraschte Suzanna selbst, doch während der Überfahrt schien die Stimmung zwischen ihnen tatsächlich ein wenig aufzutauen. Fabrizio legte etwas von einer überheblichen und abweisenden Attitüde ab. Ja, er schien es fast schon zu genießen, den Fremdenführer zu spielen.

Schließlich tauchten die ersten Häuser von Luino am Ufer auf, und Fabrizio hielt darauf zu. Sie erreichten einen Anleger, wo er das Boot gewissenhaft vertäute, ehe er Suzanna beim Aussteigen half. Trotz der Tatsache, dass sie nun wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war ihr ein bisschen schwindelig zumute. Die Fahrt in dem kleinen Motorboot war schneller und rasanter gewesen als gestern im Wassertaxi, und offenbar spielte ihr Körper da nicht so recht mit. Oder lag es noch an etwas anderem?

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Fabrizio, der zu spüren schien, dass etwas nicht stimmte. „Sie sind ganz blass um die Nase.“

„Ich fürchte, ich werde rasch ein wenig seekrank“, gab sie verlegen zu. „Die ungewohnte Bewegung und das Schaukeln …“

Er runzelte die Stirn, und für einen Moment fürchtete Suzanna, der wortkarge und herablassende Fabrizio sei wieder zurückgekehrt. Doch dann lachte er leise. „Glauben Sie mir, Sie sind nicht die Erste, der es so geht, und Sie werden auch nicht die Letzte sein. Aber zu Ihrem Glück weiß ich, wie man der Seekrankheit zu Leibe rückt. Kommen Sie“, sagte er und reichte ihr seinen Arm, sodass sie sich unterhaken konnte.

„Wo wollen Sie mit mir hin?“, erkundigte sie sich.

„Das wird nicht verraten“, entgegnete er. „Lassen Sie sich einfach überraschen.“

Sie mussten nicht weit gehen. Ein Stück die Hafenpromenade hinunter erreichten sie ein kleines Restaurant, von dessen Terrasse aus sich sicherlich ein bezaubernder Blick über den ganzen See bot.

Doch an Essen mochte Suzanna im Augenblick nicht einmal denken.

Fabrizio schien zu ahnen, was in ihr vorging. „Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen allein bei dem Gedanken an eine Mahlzeit im Augenblick ganz anders wird. Aber nach einem kleinen Imbiss werden Sie sich besser fühlen. Vertrauen Sie mir?“

Sie zögerte, ließ sich dann aber doch überreden, auf der Terrasse Platz zu nehmen.

„Ich empfehle Ihnen Frico con patate, also einen hiesigen Kartoffelauflauf, oder ein leckeres Risotto“, sagte er, nachdem ihnen die Speisekarte an den Tisch gebracht worden war. „Beides – Kartoffeln und Reis – wirken bei Seekrankheit wahre Wunder.“

„Auf Ihre Verantwortung“, sagte sie, obwohl ihr bei dem Gedanken an ein fettiges Auflaufgericht nicht ganz wohl war. Aber vielleicht hatte Fabrizio ja recht. Sie konnte es zumindest versuchen.

Sie entschieden sich beide für den Frico, und dazu bestellte Fabrizio eine Flasche Rotwein, der kurz darauf gebracht wurde. Vorsichtig nahm Suzanna einen Schluck. Sie fühlte sich ohnehin schon ein wenig wackelig auf den Beinen und wollte es nicht übertreiben. Doch sehr zu ihrem Erstaunen tat es gut, als ihr der würzige Wein die Kehle hinunterrann. Es machte sie lockerer – wobei sie sich insgeheim fragte, ob das wirklich so klug war, oder eher nicht.

„Sollten wir die Zeit nicht besser nutzen, um Ihren Laptop reparieren zu lassen?“

Kurz blinzelte er ein wenig irritiert, so als wüsste er gar nicht, wovon sie sprach. Dann winkte er ab. „Nicht nötig. Fausto ist ein wahrer Künstler, was Computer betrifft. Manchmal denke ich, er versteht sie besser als jeden Menschen. Wenn er das Problem nicht in ein paar Stunden lösen kann, dann wird es ganz sicher auch sonst niemandem gelingen.“

Das Essen wurde serviert, und wieder erlebte Suzanna eine Überraschung. Der Duft von geschmolzenem Käse und Kartoffeln rief wider Erwarten keine Übelkeit in ihr hervor, sondern ließ ihr vielmehr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Mit großem Appetit fing sie an zu essen, und es schmeckte ganz köstlich.

„Mmmmh … wunderbar“, schwärmte sie verzückt. „Sie hatten vollkommen recht – mir geht es schon um einiges besser.“

„Wusste ich’s doch“, entgegnete Fabrizio und zwinkerte ihr zu.

Sie aßen in aller Ruhe auf und tranken noch einen Schluck Wein, und Suzanna fühlte sich tatsächlich wie neugeboren – und das, wo sie sich vor nicht einmal einer Stunde am liebsten in irgendeine stille Ecke verkrochen hätte.

„Wollen wir dann weiter?“, fragte Fabrizio schließlich. „Wenn wir Glück haben, ist jetzt das größte Gedränge auch schon vorbei.“

„Gedränge?“, fragte sie überrascht nach. „Ist Ihr Computerexperte ein solcher Besuchermagnet?“

„Fausto?“ Er lachte auf. „Nein, das wohl kaum – ganz im Gegensatz zum Wochenmarkt, der jeden Mittwoch quasi direkt vor seiner Haustür stattfindet.“

Darüber musste nun auch Suzanna lächeln. „Ach so, das erklärt natürlich einiges.“

Fabrizio bezahlte, dann gingen sie los. Kurz darauf sah sie mit eigenen Augen, wovon er eben gesprochen hatte. Dafür, dass das Gedränge seiner Meinung nach bereits vorüber war, herrschte auf dem Markt immer noch großer Andrang. Die Straßen waren gesäumt von Ständen und Pavillons, an denen praktisch alles feilgeboten wurde, was das Herz nur begehren konnte. Die Palette reichte von Gewürzen über Schinken und Käse bis hin zu Textilien, Lederwaren und Kunsthandwerk. Das würzige Aroma der verschiedenen Lebensmittel erfüllte die Luft, vermischte sich mit dem Duft von Leder und Holz.

Vor einem Stand, an dem wunderschöne Taschen angeboten wurden, blieb Suzanna stehen und bestaunte das Sortiment. Besonders ein Exemplar – taubengrau mit Schulterhenkel – hatte es ihr angetan. Doch es war nicht ganz billig, und sie hatte sich vorgenommen, sparsam zu leben, solange sie nicht sicher sein konnte, ob sie den Job bei der Plattenfirma behalten würde.

„Gefällt Ihnen etwas?“, fragte Fabrizio, der ihr Zögern bemerkte.

Sie winkte ab. „Nein“, sagte sie. „Schon gut.“

Langsam schlenderte sie zum nächsten Stand, an dem geräucherter Schinken angeboten wurde. Die Verkäuferin, eine rundliche Signora mit schwarzem Dutt, hielt Suzanna eine Kostprobe hin, die diese nur zu gern akzeptierte.

„Sie entschuldigen mich einen Moment?“, fragte Fabrizio. „Ich bin gleich wieder zurück.“

„Ja, natürlich“, sagte sie und wurde im nächsten Moment erneut von der freundlichen Verkäuferin abgelenkt, die ihr weitere Häppchen ihrer Produkte anbot, die Suzanna begeistert entgegennahm. Alles, was sie kostete, schmeckte einfach fantastisch, und wie sich herausstellte, stammte alles aus eigener Herstellung, was sie umso mehr begeisterte.

Als Fabrizio zurückkehrte, hatte er sich ein in Packpapier eingeschlagenes Paket unter den Arm geklemmt.

„Was haben Sie denn da?“, fragte Suzanna interessiert.

„Ach“, er winkte ab. „Nur ein wenig Notenpapier. Es war ein wenig knapp geworden. Wollen wir dann weiter?“

„Ja, sofort“, entgegnete sie. „Ich möchte nur rasch noch etwas von dem köstlichen San-Daniele-Schinken kaufen. Matilde wird sich sicher darüber freuen, denken Sie nicht?“

„Doch“, stimmte er ihr zu, „ganz bestimmt sogar. Und ich nehme noch etwas von dem Parmesan dazu. Wenn wir Glück haben, kocht sie uns zum Dank heute Abend ihre wunderbaren Spaghetti carbonara.“

Sie erledigten rasch ihre spontanen Einkäufe, dann gingen sie weiter. Fabrizio führte sie zwischen zwei Ständen hindurch auf einen Hinterhof, in dem sich gleich mehrere Ladenlokale befanden. Bei einem handelte es sich ganz offensichtlich um ein Computergeschäft und auf das steuerte Fabrizio auch zielsicher zu.

Die Klingel über der Tür bimmelte, als sie den Laden betraten, und ein junger Mann mit dicker Hornbrille kam sofort aus einem Hinterzimmer zu ihnen nach vorne geeilt. Als er Fabrizio erblickte, runzelte er die Stirn. „Was hast du nun wieder angestellt? Jedes Mal, wenn du hier auftauchst, ist mindestens eine mittlere Katastrophe passiert.“

Grinsend zuckte Fabrizio mit den Achseln. „Der Laptop läuft nicht mehr so richtig rund. Könntest du ihn dir mal ansehen?“

„Aber sicher“, seufzte der Mann und fuhr sich durch seine wirren Locken. „Lasst mir eine Stunde, damit ich ihn mir in Ruhe ansehen kann – dann schauen wir weiter, okay?“

Fabrizio nickte. „Bis nachher dann“, sagte er, berührte Suzanna leicht am Arm und führte sie aus dem Laden. „Wie wollen wir die gewonnen Stunde nutzen?“, fragte er. „Vorschläge?“

„Gewonnene Stunde?“ Suzanna lachte. „So kann man es auch sehen. Allerdings sollten wir unsere Zeit lieber mit sinnvollen Dingen verbringen – mit Komponieren zum Beispiel.“

„Nun seien Sie doch nicht so verkrampft“, entgegnete er. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich so gut wie fertig bin. Es fehlt nur noch der letzte Feinschliff, und den holen wir ganz einfach in den nächsten Tagen nach. Also, bewahren Sie die Ruhe und überlegen Sie lieber, wie wir die nächste Stunde totschlagen.“

„Also, ich …“ Sie lächelte verlegen. „Ich könnte wirklich noch ein Häppchen von dem herrlichen Schinken vertragen.“

„Na, wenn das so ist“, entgegnete er. „Hier ganz in der Nähe gibt es einen kleinen Park. Wir könnten uns ein gemütliches Plätzchen suchen und es uns dort bequem machen. Kommen Sie mit.“

Es war tatsächlich nicht weit – und obwohl sich der Markt in der nahen Umgebung befand, hatten sich erstaunlich wenige Menschen hierher verirrt. Auf einer Wiese breitete Fabrizio sein Jackett auf, sodass Suzanna sich daraufsetzen konnte. Dann packten sie die soeben gemachten Einkäufe aus.

Fabrizio zückte ein Taschenmesser und schnitt ein paar dicke Scheiben vom Schinken ab. Anschließend widmete er sich dem Käse. Er brach ein Stück ab und hielt es Suzanna entgegen. Die zögerte kurz, biss aber ab und lachte. „Es ist lange her, dass ich auf diese Art und Weise gefüttert worden bin.“

„Schmeckt es denn?“

„Ganz wunderbar, danke schön“, schwärmte sie und nahm etwas von dem Schinken, den sie nun ihrerseits Fabrizio hinhielt. „Und jetzt Sie.“

Fabrizio stockte der Atem.

Obwohl Suzanna ihn nicht berührte, war ihm, als würde die Luft zwischen ihnen plötzlich knistern, so als wäre sie mit elektrischer Energie aufgeladen. Ohne ihren Blick loszulassen, biss er von dem Schinken ab, den sie ihm darreichte. Er schmeckte köstlich, doch das nahm Fabrizio nur am Rande wahr. All seine Aufmerksamkeit war auf Suzanna gerichtet. Ihre Ausstrahlung zog ihn, ohne dass er es wollte, magisch in den Bann, und er wusste nicht, was er dagegen tun sollte.

Was ist bloß mit dir los? Du kennst diese Frau doch eigentlich gar nicht! Und überhaupt – seit wann lässt du dich so leicht beeindrucken?

Es war zum Verzweifeln! Im Grunde hatte er von Anfang an gewusst, dass Matildes Vorschlag, Suzanna mitzunehmen, alles andere als eine gute Idee gewesen war. Die Sache mit dem Laptop war ohnehin mehr ein Vorwand gewesen. Zum einen fehlte dem Gerät gar nichts, zum anderen brauchte er ohnehin keinen Computer. In Wahrheit hatte Fabrizio allein sein wollen, um zu versuchen, irgendwie zu arbeiten. Und wahrscheinlich hatte er genau aus diesem Grund schließlich zugestimmt – weil er seiner Arbeit so wieder entfliehen, sie vor sich herschieben konnte. Wie er es schon so lange machte. Denn eigentlich wollte er nicht arbeiten. Weil er nicht konnte. Weil ihm einfach nichts einfiel. Und weil er tatsächlich überhaupt keinen Sinn mehr in seiner Arbeit sah.

Ohne Lucia.

Ohne Emma.

Ohne die Menschen, die ihm alles in seinem Leben bedeutet hatten.

Gleichzeitig hatte er gehofft, Suzanna so ein wenig von dem ablenken zu können, weshalb sie hier war.

Und vor allem wolltest du sie näher kennenlernen, gib es doch zu! Du wolltest ihr nah sein, oder etwa nicht?

Mit einem angedeuteten Kopfschütteln holte er sich selbst zurück auf den Boden der Tatsachen. Das war natürlich vollkommener Unfug. Ganz davon abgesehen, dass es in seinem Leben keinen Platz für eine Frau gab – Suzanna wäre auch so ganz gewiss nicht die Richtige für ihn. Sie arbeitete für die Plattenfirma und war geschickt worden, um ihm auf die Finger zu schauen. Eine Karrierefrau, die nur eins im Sinn hatte: in der Hierarchie der Firma aufzusteigen, und zwar so schnell wie möglich. Er kannte Leute wie sie. Das waren Blutsauger, die Kunst und Kreativität nur dazu nutzten, um das schnelle Geld zu machen. So lief es doch heute: War etwas erfolgreich, wurde es praktisch bis auf den letzten Tropfen ausgepresst. Ein erfolgreicher Titel musste so sein wie der andere, die Qualität war nebensächlich. So war es bei Filmen, bei Büchern – und eben auch in der Musik. Damals, als sein Erfolg begann, hatte er sich vorgenommen, daran etwas zu ändern. Und vielleicht wäre es ihm auch eines Tages gelungen. Wenn nicht …

„Es ist wirklich hübsch hier“, riss Suzanna ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, wie sie sich zurücklehnte und die Augen schloss, um die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut zu genießen. Obwohl er es nicht wollte, konnte er doch nicht aufhören, sie anzuschauen. Wie schön sie war. Auf eine sehr natürliche Art und Weise, ohne viel Make-up und Bling-Bling. Sie sah ganz anders aus als gestern. In diesem Business-Dress und mit der ganzen Schminke hatte sie streng und unnahbar auf ihn gewirkt. Als er sie dann heute früh in der Küche gesehen hatte, ungeschminkt und nicht großartig aufgestylt, war sie ihm im ersten Moment wie eine neue Person vorgekommen. Vom Typ her war sie vollkommen anders als Lucia, mit ihrem schweren schwarzen Haar und den warmen braunen Augen, aber nicht weniger anziehend.

„Ja, ich finde es auch sehr schön“, entgegnete er leicht geistesabwesend. „Aber … wir sollten vielleicht langsam wieder los.“

„Ist die Stunde wirklich schon rum?“ Suzanna blinzelte irritiert. „Es kam mir gar nicht so lang vor.“