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DIE KINDER VON GAIRO - Eine italienische (Familien) - Geschichte An der römischen Universität treffen zwei Studentinnen aufeinander. Aus einem sardischen Dorf und aus dem reichen Venedig. Es ist der Anfang der Begegnung zweier italienischer Familien. Immer tiefer dringen sie in ihre eigene Vergangenheit vor. Toskana, Sardinien, Rom und Venedig – der Leser nimmt nicht nur Anteil an tragischen Familienschicksalen, sondern erfährt auch manches Detail über die genannten Orte und ihre Geschichte. HEILIGES BLUT - Spurensuche zwischen Süddeutschland und Südtirol Weingarten, eine Stadt zwischen Bodensee und Allgäu. Seit fast 1000 Jahren wird in der Basilika des gleichnamigen Klosters eine Reliquie verwahrt und verehrt, bei der es sich um einige Tropfen des Blutes Christi handeln soll. Jedes Jahr am Freitag nach Christi Himmelfahrt wird die Reliquie, begleitet von dreitausend Reitern, durch die Stadt und die Felder getragen. Der Historiker Fabian Sonntag hinterfragt die Echtheit der Reliquie und begibt sich auf Spurensuche. Er sucht nach Spuren, denen schon fast achthundert Jahre früher ein Mönch folgte. In beiden Fällen ein lebensgefährliches Unterfangen. DER KINDERDIEB Traumurlaub im Süden: Richard Gärtner könnte in jeder Hinsicht zufrieden sein: Als Lehrer aus Überzeugung, als glücklicher Ehemann und als stolzer Vater. Wäre da nicht die Angst vor einer Entführung. Niemand nimmt ihn ernst. Bis der Alptraum Realität wurde. (Vor-)Urteile, das Vorgehen des ermittelnden Kriminalbeamten und immer tiefere Abgründe bewirken ein unerträgliches Wechselbad aus Resignation und Kampfgeist.
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Seitenzahl: 469
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Texte/Fotos: © Matthias Sprißler Umschlaggestaltung: © Matthias Sprißler Verlag: Dr. Matthias Sprißler, c/o Doblerstr. 14, 72074 Tübingen
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
© Die Kinder von Gairo, 2013 - ISBN 978-3-8442-8883-4
© Heiliges Bltut 2013 ff - ISBN 978-3-8442-8884-1
Vorwort
Die Familien Fasano, Soru und Moretti sind, wie auch alle anderen handelnden Personen dieser Geschichte frei erfunden. Eleonora von Arborea war dagegen tatsächlich zur beschriebenen Zeit in Sardinien Richterregentin und setzte die Carta de Logu in Kraft. Die beschriebenen Örtlichkeiten, Naturereignisse und Kunstwerke sind real, ebenso die Strafkolonie in Sardiniens Süden. Vallombrosa war tatsächlich allerdings kein Dominikanerkloster, sondern eine Gründung der Benediktiner.
Herzlichen Dank an meine Familie: Sie war es, die 2013 in Sardinien nach einem Roman aus meiner Feder verlangte und damit die Verantwortung für dieses Buch mitübernommen und dann auch versucht hat, möglichst viele sprachliche und inhaltliche Unregelmäßigkeiten zu verbannen.
Titelbild: Colonia penale, Castiadas
Impero Nos Elianora peri sa Gracia de Deus Juyghissa d`Arbarèe Contissa de Gociani, et Biscòntissa de Basso, desiderando, chi sos Fidelis, e Sudditos nostros dessu Rennu nostrum d`Arbarèe siant informados de Capidulos, et Ordiamentos ….
Sa carta Logu, sa quali cun grandissimu, providimentu fudi fatte peri bona memoria de juyighi Mariani …
Carta de Logu, Sardinien 1392
Eleonora von Arborea
1
Constituimus et ordinamus qui alcunu homini hochirit at alcunu atteru homini minando over correndo a cavallo in plaza, o in bia, o in campu, o in silva, o in attero modu qui cussu homini qui havirit mortu su dittu homini siat mortu si parit ver et simili assus bonus hominis et juígantis de sa Corona qui sientimente et cum animo deliberado de ilu appat mortu. (Kapitel 4, Carta de Logu)
Es war ein klarer Frühlingsmorgen im spätwinterlichen Rom. Die Glockenschläge der nahen Kirche San Agostino waren gerade verklungen. Giulia Fasano sah bereits von ihrem Bett aus, dass der Nebel der vergangenen Tage einem hellen Vorfrühlingslicht gewichen war. Als die ersten Strahlen der noch tief im Osten stehenden Sonne durch eine schmale Häuserlücke zwischen den goldfarbenen Gardinen in ihr kleines Appartement im dritten Stock eines Wohnhauses hinter der Piazza Navona auf die Wand ihres Schlafzimmers trafen, fiel ihr das Aufstehen leicht. Erst vor wenigen Tagen war sie angesichts des schon seit Silvester andauernden trüben Wetters in etwas gedrückter Stimmung aus Venedig, wo sie ihre Eltern und väterlichen Großeltern besucht hatte, mit der Bahn nach Rom zurückgekehrt. Seit einem Jahr wohnte sie nun schon die meiste Zeit des Jahres hier, nachdem sie an der alten Universität „La Sapienza“ ihr rechtswissenschaftliches Studium aufgenommen hatte. Engagiert hatte sie mit dem Besuch der Vorlesungen begonnen, ihr Ideal war die Gerechtigkeit, ihr Berufsziel Richterin. Sie hatte sich für diese Ausbildung entschieden, obwohl ihr Vater Matteo, selbst Richter in Venedig, ihr dieses Fach nicht nahegelegt, sondern ihr freie Hand gelassen hatte. Ihr Studienplan sah für diesen Morgen erstmals den Besuch der fakultativen Vorlesung in mittelalterlicher Rechtsgeschichte bei Professor Caparelli vor.
Sie verließ ihr Bett, öffnete das Fenster und atmete tief die Luft ein, die schon einen Hauch von Frühling enthielt. Als sie dann über den Häusern den fahlblauen Himmel erblickte, der sich über die noch ruhige Stadt erstreckte, waren die drückenden Gefühle der vergangenen Tage vollends verschwunden.
Giulia beschloss, nicht zuhause zu frühstücken, sondern sich rasch auf den weiten Fußweg zur Universität „La Sapienza“ zu machen und möglichst viel von der klaren Morgenluft und dem hellen Licht zu genießen. Gerne war sie bereit, das Haus hierfür schon früher zu verlassen und auf die Benutzung des um diese Tageszeit qualvoll engen orangen ATAC-Linienbusses zu verzichten. Für ihr Frühstück plante sie eine Pause im Centrale, einer klassischen Kaffeebar in der Via del Tritone, ein.
Nach einer belebenden Dusche schlüpfte sie, stets sorgfältig auf ihr Erscheinungsbild bedacht, in ihre dunkelblaue Jeans und ein weißes T-Shirt, über das sie einen dick wattierten schwarzen Daunenanorak zog. Sie würde nie verstehen, weshalb sie von den aus nördlicheren Ländern stammenden, bereits beim ersten Sonnenstrahl des Südens im Kurzarmhemd bummelnden Touristen, wegen ihrer Jacke regelmäßig staunend und mit fast vorwurfsvollen Blicken gemustert wurde. Sie nahm ihre hellbraune flache Lederumhängetasche mit Collegeblock und Stiften und legte ihr Smartphone zu Geldbeutel und Haarbürste ins Seitenfach. Bevor sie ihr Appartement verließ, fuhr sie vor dem großen Spiegel mit dem verschlungenen Goldrand in ihrem Schlafzimmer ein letztes Mal mit Kamm und Bürste durch ihre schulterlangen, dunkelbraunen und leicht gelockten Haare.
Vom Haus in der Via dei Pianellari 17a brauchte sie nur wenige Meter zurücklegen, um in das erwachende Rom einzutauchen, in die wachsende Menge der mit glänzenden Lederschuhen und Krawatten herausgeputzt bedächtig und aufrecht sich ihrem Arbeitsplatz nähernden Männer und der in hohen Stiefeln und mit falschem Pelz besetzten Mänteln den Büros und Geschäften entgegenhastenden Frauen. Aufgewachsen in den Touristenströmen Venedigs und gewohnt an die ab neun Uhr sich vom Petersdom aus über die Stadt ergießenden Asiatenströme waren es für Giulias Empfinden um diese Zeit die ruhigeren Stunden in Rom. Es waren die Zeiten, in denen man beim Gehen auch anderen Gedanken nachhängen konnte, ohne ständig auf menschliche Hindernisse zu achten, die aus nicht vorhersehbaren Gründen unvermittelt stehen blieben, um wieder ein Stück Rom mit immer leistungsfähigeren Fotoapparaten oder gar fotografierenden Laptops in Bits und Bytes zu verwandeln.
Zunächst blieb sie in den kleinen Straßen abseits der großen Verkehrswege, bevor sie nach Überquerung der Via del Corso, wo sie in ihren Gedanken durch dröhnende Vespas, dichten Verkehr und laute Busse erstmals gestört und in den Kreislauf der Stadt mit ihrer allgegenwärtigen zweitausendjährigen Geschichte zurückgeholt wurde, die Wachhäuschen um die Plätze beim Senatsgebäude passierte. Der Schatten des nahen Obelisken wies ihr den Weg weiter zur ansteigenden Via del Tritone. Sie nahm diesen Umweg nicht nur wegen der besten Cornetti zum Frühstück in Kauf, sondern auch wegen ihrer sorgenvollen Gedanken an Nonna Teresa, ihre mütterliche Großmutter, die, immer noch allein in ihrem Häuschen in Donnini oberhalb des Arno bei Florenz lebend, in den letzten Wochen immer öfter über Rückenschmerzen geklagt hatte.
Als Giulia auf halber Höhe der Via del Tritone „ihre“ Kaffeebar „Sole Romano“ erreicht hatte, gerieten diese Gedanken schnell in Vergessenheit, als sie der um diese Morgenstunde regelmäßig dort arbeitende Marco mit fröhlichem Lachen und den Worten „wie immer?“ begrüßte. Noch bevor sie antworten konnte stellte er an ihren Lieblingsplatz am hinteren Ende der langen, glänzend sauberen Mahagonitheke, ein frisches, noch warmes Cornetto con crema und einen dampfenden Cappuccino mit prächtigem, den Rand der Tasse übersteigenden Milchschaum. Immer wenn sie hier war, und sie kam in den letzten Wochen gerne und häufiger hier vorbei, erschien es ihr, dass Marco gerade sie mit einem besonderen Strahlen seiner Augen begrüßte. Einerseits gefiel ihr dies und ließ ihr Herz schneller schlagen, andererseits versuchte der rationale Ungeist in ihr, sie zu verunsichern und ihr einzureden, dass Marcos Strahlen schlicht die Freundlichkeit eines Barista war, die dieser auch jedem anderen Kunden entgegenbrachte und die Grundlage für das Florieren auch kleinster und unscheinbarster Kaffeebars war.
Auch heute war Marco wieder bester Laune; da er an diesem Tag durch eine Kollegin unterstützt wurde, konnte er sich sogar für wenige Minuten Giulia zuwenden. Zu ihrem Erstaunen fragte er sie in seiner jungenhaften und offenen Art unvermittelt und ohne Umschweife: „Na, was bewegt dich denn so, dass du mir von unsichtbaren Sorgenwolken am hellblauen Morgenhimmel umgeben erscheinst“. Giulia zögerte kurz, dann berichtete sie ihm in wenigen Worten von ihren Gedanken an Nonna Teresa.
Bevor er sich neuen Gästen zuwenden musste, empfahl ihr Marco mit verständnisvollen Worten „zünde doch einfach gleich eine Kerze in Santa Maria della Victoria bei `der heiligen Teresa´ an!“. Giulia war tief berührt – Marco sprach, ohne es zu wissen, ihre eigenen Gedanken aus, hatte sie doch auch aus diesem Grund den Umweg über die Via del Tritone gewählt. Sie legte einen 5-Euro-Schein auf die Theke, verließ schnell die Bar und war schon zwei Häuser weiter, als Marco noch immer über das unerwartet große Trinkgeld, das Frühstück hätte nur zwei Euro neunzig gekostet, staunte und ihr mit unübersehbaren Falten auf der Stirn nachschaute.
Sie überquerte die schon stark befahrene Piazza Barbarini und folgte der gleichnamigen Straße für einige hundert Meter. Am oberen Ende der Straße angelangt, trennten Giulia nur noch wenige Schritte von der eher unauffällig wirkenden Kirche Santa Maria della Vittoria. Giulia öffnete die Tür, hielt kurz inne, um ihre stark getönte Sonnenbrille ins Haar zu schieben und sich an das kühle Halbdunkel des Kirchenraums zu gewöhnen, und eilte dann zielstrebig das linke Seitenschiff entlang zum dortigen Altar im Querschiff. Die Kirche war werktags um diese Zeit kaum besucht, wenn nicht gar menschenleer. Auch heute verloren sich hier nur zwei alte Frauen mit Kopftuch aus einer vergangen scheinenden Zeit, bei deren Anblick Giulia aber unweigerlich an ihre Großmutter denken musste, um derentwillen sie die Kirche aufgesucht hatte. Außer diesen beiden Frauen und ihr befand sich in den Bänken vor dem Seitenaltar nur noch eine kräftige Frau mit einfachem Mantel, die neben sich eine große Tasche abgestellt hatte, offensichtlich schon um diese Zeit vom Markt kommend.
Als Giulia den Seitenaltar erreicht hatte wurde sie, wie bei jedem ihrer stillen Besuche hier, vom strahlenden Glanz der Altarfigur überwältigt. Engelsgleich, aus glänzend weißem Marmor filigran gehauen, stand die von Bernini schon Jahrhunderte zuvor genial geschaffene Teresa von Avila vor ihr. Schon oft hatte sie sich gefragt, warum das Interesse der unzähligen Besucher Roms sich fast ausschließlich auf Michelangelos Petrus und seine Pieta im Petersdom oder den gewaltigen und urtümlicher wirkenden Moses in St. Pietro in vincoli konzentrierte, während Berninis Teresa ein eher ruhiges Leben in Stein genießen konnte. Sie kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich keine künstlerische Geringschätzung durch die großen Touristenmassen war, sondern eher auf Unkenntnis und die ein wenig abseitige Örtlichkeit zurückzuführen war.
Nach diesen eher profanen Gedanken setzte sich Giulia in eine der kleinen Holzbänke, um im stillen Gebet für noch einige erträglich gesunde Jahre der von ihr so geschätzten Großmutter zu bitten. Soweit ihre Erinnerung in Kindheitstage zurückreichte, Nonna Teresa stand wie ein Fels in der Brandung, immer dunkel, aber sorgfältig gekleidet, immer aufrecht und stets voller anteilnehmender Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Giulia bewunderte die Güte ihrer Großmutter, ihre Dankbarkeit und ihren Rückhalt im Glauben umso mehr, als Teresa schon seit 42 Jahren Witwe war und in den ersten Jahren nach dem tragischen Unfalltod ihres Mannes Alberto Polo fast rund um die Uhr für sich und ihre damals gerade zwei Jahre alte Tochter Maria, Giulias Mutter kämpfen musste. Nur so konnte sie das kleine Haus im Ortskern von Donnini, in dem schon sie selbst aufgewachsen war, halten. Giulias Mutter Maria Polo war im August 1968 geboren, nachdem Teresa wenige Tage vor Weihnachten 1967 Alberto Polo geheiratet hatte. Alberto Polo war als Maurer nur wenige Wochen zuvor in den Ort gekommen, angeworben von dem oberhalb des Ortes liegenden großen, schon seit Jahrhunderten existierenden, fast fürstlich und herrschaftlich ausgeprägten Landgut, der Fattoria Pitiana, zur Ausführung dort dringend nötiger Reparaturarbeiten an der zum Arnotal weithin sichtbaren prächtigen Renaissancefassade und dem angebauten Natursteinturm. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, die Teresa Olivetti und Alberto Polo schon wenige Wochen danach vor den Altar der kleinen romanischen Kirche Pieve in Pitiana, still in den sich über die weiten Hänge erstreckenden Haine oberhalb des Arnos gelegen. Anders als die süditalienischen, apulischen Olivenbäume waren die Olivenbäume hier eher schlanker, größeren Apfelbäumen gleich. Ihr silbriges Laub konnte im nördlicheren toskanischen Sonnenlicht auch nicht dasselbe hell-silbrige Glitzern erzeugen wie die knorrigen, vielfach im eigenen Stamm verschlungenen älteren Bäume weiter im Süden. Unter solchen Bäumen hatte sie nach der Trauung an diesem auffallend milden Dezembertag in der kleinen Kirche mit ihrer Familie und den wenigen angereisten Verwandten ihres Mannes noch gesessen und gefeiert, nachdem sie sich zuvor vor der damals kahlen Kirchenwand das Jawort gegeben und den kirchlichen Segen erhalten hatte, einschließlich ihrer gerade acht Monate später geborenen Tochter Maria. Teresa hatte sich knapp zweieinhalb Jahre später, als ihr geliebter und treu sorgender Alberto den hohen Sturz vom schlecht und billig befestigten Gerüst über dem Haupteingang des Palastes der Villa Pitiana auf deren Freitreppe vor eine der großen Bogentüren, die allabendlich den Blick in die von einem voluminösen, vielflammigen Muranoglas-Kronleuchter erhellte Eingangshalle mit ihrer noch erhaltenen Renaissance-Wandbemalung freigab, gestürzt und noch dort seinen schweren Verletzungen erlegen war, oft gefragt, ob das Jawort vor der kahlen Wand nicht bereits ein schlechtes Vorzeichen war. Erst 32 Jahre nach ihrer Hochzeit, als bekannt wurde, dass den dreisten Diebstahl des von seiner tiefen, etwas dunklen Farbwirkung und klaren Linienführung geprägten Tafelbildes der Rosenkranzmadonna mit Jesuskind zwischen hl. Johannes und hl. Augustinus von Rudolfo Ghirlandaio, das bis zum Diebstahl 1946 die Wand geschmückt hatte, kein geringerer als der damalige Pfarrer verübt hatte und das Bild nach einer Razzia der Carabinieri bei einem Florentiner Kunsthändler gefunden und zurückgebracht werden konnte, verschwanden die abergläubischen Gedankenspiele aus ihrem Denken. In den ersten Jahren danach musste Teresa ihre kleine Maria fast den ganzen Tag bei ihrer Mutter Chiara lassen, um selbst als Landarbeiterin auf den umliegenden Höfen das Nötigste zum Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre eigene Mutter Chiara konnte ihr keine materielle Hilfe sein. Sie war damals selbst schon seit 17 Jahren Witwe und nur mit viel Einsatz und ununterbrochener Arbeit in dem kleinen Laden, den sie im Wohnzimmer des winzigen, zweigeschossigen Häuschens an der von Sant` Ellero durch Donnini zum Landgut Donnini und weiter hinauf zum hoch in den toskanischen Wäldern gelegenen Kloster Vallombrosa führenden Landstraße gegenüber der Kirche von Donnini eingerichtet hatte, konnte sie sich über Wasser halten. Das Haus hatte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes, Stefano Olivetti, erworben, nachdem sie den kleinen, aber auskömmlichen Olivenhof ihres Mannes Stefano zu einem Schleuderpreis an den mächtigen, für einen Teil der Bevölkerung angesehenen, aus der Sicht vieler Bauern aber charakterlosen Grundbesitzer Massimo Moretti aus dem benachbarten San Donato Fronzano verkaufen musste. Chiara war es damals nicht verborgen geblieben, dass Moretti jeden, der ein besseres Angebot unterbreiten wollte, durch seine Arbeiter massiv hatte einschüchtern lassen.
So über ihre Großmutter Teresa sinnierend merkte Giulia nicht, dass der Beginn ihrer Vorlesung schon greifbar nahe gerückt war. Erst der metallische Schlag der Kirchturmuhr ließ sie zusammenzucken. Schnell warf sie eine Euromünze in den in die Wand sicher eingelassenen Opferstock, nahm eine der schlanken weißen Kerzen aus der daneben stehenden Schale, entzündete sie an einer weiteren, bereits für die Bitten eines anderen Gläubigen brennenden Kerze und steckte sie auf eine freie Metallspitze des mit vielen Wachstropfen befleckten großen Kerzenständers. Danach eilte sie nach einer nur noch angedeuteten Kniebeuge schnellen Schrittes zum Ausgang.
Die nächsten zehn Minuten musste sie eine beachtliche Geschwindigkeit entwickeln, die leicht abwärts zum Hauptbahnhof Termini führende Strecke legte sie fast joggend zurück. Erst wenige Minuten vor zehn Uhr erreichte sie das hinter dem Bahnhof gelegene Universitätsgelände. Weitere Minuten verlor sie in der Zeit, die sie damit zubrachte, der umlaufenden universitären Umfassungsmauer bis zum Haupteingang an der Piazzale Aldo Moro, erst vor einigen Jahren nach einem ermordeten Politiker der Democratia Christiana benannt, zu folgen. Mit dem Zehnuhrschlag einer der benachbarten Kirchen erreichte sie dann das fast im Zentrum der „La Sapienza“ an der Ecke eines zu Ehren der römischen Göttin Minerva benannten Platzes die breite Eingangstreppe des Gebäudes der juristischen Fakultät.
Im kleinsten Hörsaal ließ sie sich in einer der hinteren Reihen nieder, die Plätze waren nur spärlich besetzt. Die meisten ihrer Kommilitoninnen hatten sie eher belächelt, ohne dies böse zu meinen, als sie davon sprach, die Vorlesung in mittelalterlicher Rechtsgeschichte zu besuchen. Dem einen Teil dieser Mitstudenten erschien bereits der greise Professor Caparelli ein rechtsgeschichtliches Relikt, der andere Teil zog betriebswirtschaftliche Nebenfächer der Beschäftigung mit längst vergangenen Rechtskulturen als zeitgemäßer vor. Während Giulia so auf das Erscheinen des Professors wartete und ihren Collegeblock auf der schrägen Tischplatte der Hörsaalbestuhlung zu fixieren versuchte, hatte sie zunächst nicht einmal bemerkt, dass auf dem Nachbarplatz eine andere Studentin, etwas kleiner als sie, schulterlanges tiefschwarzes Haar, knielangem dunkelblauen Wollrock und einer mit Blumen in zarten Pastelltönen dezent gemusterten Bluse Platz genommen hatte.
2
Et si cussu homini qui adi haviri mortu su dictu homini gasi minandu cavallu comenti est naradu desupra no l`averit mortu a voluntadi sua et siat istadu disastro. (Kap. 4, Carta de Logu)
Seit über zwanzig Jahren schon tat Antonio Cotto bei den Carabinieri in Baunei seinen Dienst. Damals hatte er sich entschieden, die Großstadtkaserne in Cagliari gegen eine kleine Carabinieristation in den einsamen Bergen der sardischen Ostküste zu tauschen. Inzwischen war er mehrfach befördert worden und war nun als Capitano Chef der kleinen Truppe in Baunei. Mit „Truppe“ pflegte er die freundschaftlich verbundenen vier Beamten, einschließlich sich selbst, zu bezeichnen, die die Staatsgewalt in Baunei repräsentierten. Im Ort selbst, einem eng und dicht bebaut an den steilen, nach Süden abfallenden Hang gepressten Straßendorf, genoss er großes Ansehen. Bei den Männern im Ort war er längst „Toni“ geworden. Dank seiner bodenständigen Art und seiner natürlichen Autorität gelang es ihm meistens, kleinere Vorfälle bei einem Glas Wein in der Bar gegenüber dem umzäunten Carabinieri-Dienstgebäude, in dem er und seine Kollegen ihr Büro und zugleich mit ihren Familien auch die Dienstwohnungen hatten, unbürokratisch und ohne die ihm lästigen Schreibarbeiten, zu regeln.
An diesem Morgen saß Toni wie üblich in seinem Büro und wartete darauf, dass der Briefträger - hoffentlich ohne Post – zu der morgendlichen Unterhaltung über die Neuigkeiten im Ort vorbeikam. Solange die meist geschotterten Wege noch mit den tiefen Pfützen der letzten Frühlingsregen versehen waren, wollte er es möglichst vermeiden, durch übermäßige Streifenfahrten den dunkelblauen, frisch gewaschenen Dienst-Fiat und seine blank glänzenden schwarzen Uniformstiefel unnötig einer zusätzlichen Pflegeaktion unterwerfen zu müssen.
Die Tür zur Straße stand weit offen, so dass der Rauch seiner morgendlichen Zigarette – zu Hause hatte er sich das Rauchen im letzten Jahr abgewöhnt – in den kühlen Frühlingsmorgen hinausziehen konnte. Als Toni aufstand und zur Tür ging, wollte er eigentlich nur die weite Aussicht hin den tief blauen Buchten des Meeres bei Tortoli genießen. So stellte er sich den Blick aus einem der Flugzeuge vor, die seit kurzem einmal in der Woche im Anflug auf Cagliari im Sinkflug den Horizont passierten.
Heute allerdings wurde er schnell gestört. Kaum war er vor der Tür, stürmte bereits sein Freund Michele von der kommunalen Forstbehörde fast im Laufschritt durch die Zauntür zum Eingang der Wache. Toni war sofort klar, dass seine bis dahin nicht unberechtigte Hoffnung auf einen ruhigen Tag sich in wenigen Minuten zerschlagen würde, wenn Michele seinen sonst stets bedächtigen, dem gleichmäßigen Steigen im waldigen Gelände geschuldeten gleichmäßigen Schritt durch fast hektisch wirkende Laufschritte ersetzt. Noch bevor ihm Toni die Hand zur Begrüßung entgegenstrecken konnte, rief ihm Michele hastig entgegen: „Eine Leiche, Toni, eine Leiche, hier in unserem Wald!“
Toni legte seine Hand auf Micheles Schulter und führte ihn schweigend ins Büro. Nachdem er dann noch die Flasche Mythenlikör nebst zwei Gläsern aus dem Regal genommen und eingeschenkt hatte, forderte er Michele zum Berichten auf.
„Ich bin am frühen Morgen auf der schmalen Straße, über die im letzten Sommer erstmals auch einige wenige Urlaubsreisende von Norden her in den Ort gekommen waren, darunter auch zwei Deutsche mit einem Volkswagen Käfer, dem ersten, dem ich in meinem Leben begegnet war, hinauf zum Pass gegangen.“ „Bitte Michele, komm zur Sache, du wirst mir doch nicht berichten wollen, wann du den ersten Volkswagen gesehen hast, oder?“ unterbrach in Toni. „Schon gut, Toni, wir kommen schon gleich zum Problem. Kurz vor Erreichen der Passhöhe bin ich, nach einem letzten Blick nach links weit in den Süden und zurück zum Ort, bin ich nach rechts in den niedrigen Wald abgebogen und habe mich zwischen den Kiefern und immergrünen Büschen durchgezwängt, um die letzten Kehren der Straße auf einem schmalen Fußweg abzukürzen. Wahrscheinlich war ich der erste Mensch seit langem hier oben“. „Bitte Michele, ich habe zu tun“, unterbrach ihn Toni erneut. Dass sich Michele in den letzten Jahren häufig um die brandgefährdeten Wälder unterhalb des Passes zum Ort hin kümmern musste und er daher immer wieder auch in ungünstigeren Jahreszeiten hoch in die Berge musste, war ihm hinlänglich bekannt. „Gut, nun kommt`s. Beim Austreten ist mir dann ein Ledergurt am Boden aufgefallen, halb durch einen der großen, hier verstreut liegenden hellgrauen Felsbrocken verdeckt. Der Ledergurt wiederum hing an einem löchrigen, vom Wasser angegriffenen Lederbeutel, neben dem ich als erfahrener Jäger Knochen erkennen konnte, die ich, eigentlich vor allem wegen des Lederbeutels, als menschliche Handknochen identifizieren würde. In der näheren Umgebung fand ich, wohl von Tieren verstreut, weitere Knochenreste und kleinere Stoffreste.“ „Hast du irgendetwas verändert?“, fragte Toni in dienstlichem Ton dazwischen. „Nein, natürlich vorsichtshalber nicht. Nur den Lederbeutel habe ich mitgenommen, nachdem ich seine genaue Fundstelle mit einem Stock markiert habe.“ Zum Ende dieses Berichts holte er den Lederbeutel aus dem Rucksack und legte ihn auf den Besprechungstisch im Büro. Damit sah dann Michele auch seine in diesem Fall grausige Bürgerpflicht erfüllt, erhob sich und entfernte sich mit einem knappen Ciao schnell in die gegenüberliegende Bar.
Toni lehnte sich zurück, zündete sich die erloschene Zigarette wieder an, nahm einen tiefen Zug und begann zu überlegen, was angesichts dieses in Baunei bisher einmaligen Vorfalls nun zu tun wäre. Einerseits spielte er mit dem Gedanken, möglichst sofort seinen Vorgesetzten in Tortoli zu unterrichten – oder müsste er gar Cagliari telegraphisch benachrichtigen? -, andererseits könnte es aber auch vorteilhafter sein, möglichst lange autonom tätig zu werden, bevor irgendwelche Kollegen aus der Stadt hierherkommen würden und seinen bis vor wenigen Minuten beschaulichen Alltag unter die Lupe nehmen könnten.
Seiner inneren Stimme, die ihm noch nie falsch geraten hatte, folgend, entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Zunächst war also schlicht Ruhe zu bewahren. Der Beutel war sichergestellt, die Knochen abseits des Weges verstreut, die Gefahr eines neuerlichen Aufeinandertreffens eines Passanten mit den Knochen völlig unwahrscheinlich. Eigentlich war also zunächst nichts von größerem Aufwand zu tun, selbst das Protokoll konnte noch warten. Natürlich müsste er ermitteln, wer der oder die Tote war; da aber im Ort und auch unten im Tal in Tortoli niemand vermisst wurde, schien ihm diese Aufgabe zwar irgendwann als zur Erledigung notwendig, aber jedenfalls nicht dringlich. Einzig der Inhalt des Beutels sollte ein Nachschauen wert sein, vielleicht war darin sogar gleich die Lösung des Falls enthalten.
Der Beutel war nur lose verschnürt gewesen, die Schnur weitgehend aufgelöst. Vorsichtig öffnete Toni den Beutel, der ursprünglich sicher sorgfältig genäht worden war und auf dessen Vorderseite er die Spuren eines ins Leder eingebrannten „E“ zu erkennen meinte. Fast war er etwas enttäuscht, als er nur drei Gegenstände ans Licht befördern konnte: Ein kleines Stück Korkeichenrinde mit eingeritzten vier kleinen und zwei größeren Herzen, allesamt einen Kreis bildend; ein fast stumpfes, verbogenes und angerostetes Besteckmesser, dessen Riffelung am Griff er mit einer lange zurückliegenden Erinnerung verband, die er allerdings nicht sogleich zuordnen konnte; schließlich, was ihn doch überraschte, ein kleines, handgroßes Notizbüchlein, das allerdings von der Rückseite her erheblich unter den Umwelteinflüssen gelitten hatte.
Während er Messer und Korkrinde in einen Briefumschlag beförderte, legt er das Notizbuch auf seinen Schreibtisch, nahm auf dem dahinter stehenden wackligen Holzstuhl Platz, stützte den Kopf auf und begann vorsichtig damit, Seite um Seite umzublättern.
„Castiadas, 7. Oktober 1949
Nun ist bereits ein Monat vergangen, seit mich meine liebe Chiara zuletzt besuchen konnte. Ich weiß nicht, ob sie ihr überhaupt gesagt haben, wo ich nun bin und warum sie mich nicht mehr besuchen kann. Seit einer Woche sind wir nicht nur durch Mauern getrennt, auch die Weiten des tyrrhenischen Meers liegen nun, unüberbrückbar, zwischen uns. Ich habe mich dazu entschieden, den letzten Strohhalm zu ergreifen, um der lebenslangen HaFt Für eine nie begangene Tat dadurch zu entgehen, dass ich einer Umwandlung der HaFt in FünFzehn Jahre StraFkolonie im sardischen SumpFland zugestimmt habe. Mir war durchaus bewusst, dass dabei schon lange vor dem Ende der meiner Zeit in der Kolonie der Tod dem ganzen Schrecken ein Frühes Ende bereiten kann, einen Nachteil gegenüber dem Leben als seelisch Toter im Sarg des GeFängnisses erschien es mir eher als Vorteil. Nach den vergangenen Monaten im Kerker habe ich die HoFFnung auF ein Wiedersehen in unserer geliebten Heimat auFgegeben. Den letzten Funken HoFFnung verbinde ich dennoch mit der StraFkolonie, wer arbeiten muss, kann nicht ständig hinter dicken Mauern sein.“
Für einen Augenblick unterbrach Toni die Lektüre. Irgendetwas stimmte nicht. Erneut las er die letzten Sätze. Dann fiel es ihm auf: Der Schreiber des Tagebuchs verwendete nie das kleingeschriebene „f“, sondern stets – egal ob zu Wort- oder Satzbeginn oder mitten im Wort, nur das große „F“. Eine Erklärung konnte er sich nicht vorstellen, er vermutete einen schon aus Schülerzeiten übernommenen Fehler, bevor er das Tagebuch weiterlas.
„Nach der ÜberFahrt nach Cagliari im stinkenden Frachtraum eines Marine-VersorgungsschiFFes und einer Fast ganztägigen Fahrt auF der LadeFläche eines alten Militärlasters über ungezählte Berge sind wir, damit meine ich mich und FünF andere, beängstigend starke Männer, am Rand einer vom Meer her kommenden Ebene, kurz vor dem Beginn des Gebirges angekommen. Nach dem Absteigen, Fast wäre ich wegen der schweren Ketten an Füßen und Händen heruntergefallen, stand ich vor meiner neuen Heimat, der colonia penale. Zwei Fast palastartig wirkende, rötlich gestrichene, zweistöckige lange Gebäude, verbunden durch ein hohes Gittertor, sprachen einen stillen Willkommensgruß. Der Blick über den weiten Vorplatz, hinüber über die Flirrende Luft mit dunklen Mückenschwärmen über dem SchilF in Richtung Meer, wurde mir schnell genommen. Noch am gleichen Abend musste ich meine Zelle beziehen: In der Breite kaum körperlang, die Länge kaum die Breite übersteigend, ein Metalleimer in der Ecke, eine SteinstuFe als Lagerstatt, statt eines Fensters eine nach oben abknickende Öffnung in der Decke, die zwar etwas Tageslicht hereinließ, den Blick in den irdischen Himmel aber unmöglich machte und mir nur den Glauben an den göttlichen Himmel ließ. Falls es diesen Himmel überhaupt noch gab, für mich, den Gottverlassenen, zu Unrecht verFolgten. Nur das Wissen um Deine Treue, Dein Vertrauen zu mir und in meine Unschuld, lassen mich noch hoFFen und an Versuche, das Schicksal zu ändern, denken ...“
Toni unterbrach seine Lektüre an dieser Stelle. Er war erschüttert. Die Knochen stammten offensichtlich von einem Gefangenen, woher auch immer er kam, wer auch immer er war. Er wusste nicht, was für ein Mann der Tagebuchschreiber war. War er ein Schwerverbrecher? War er unschuldig? Er wusste es nicht – und nach dem Tod spielte diese Frage jetzt für ihn auch keine Rolle mehr. Bohrend und schmerzend drängte sich unvermittelt die Vorstellung in sein Gehirn, nach Dienstende nicht mehr nach Hause zu kommen, seine Frau Pia, seine Kinder und den geliebten ersten Enkel nie mehr wieder zu sehen. Der Gedanke verursachte schon fast körperlichen Schmerz. Erst einem weiteren Glas Likör war es zu verdanken, zu nüchternen Gedanken zurückzukehren. Er beschloss, per Post bei der Justizverwaltung in Cagliari, die die letzten Gefangenen und Akten aus Castiadas übernommen hatte, nachzufragen. Castiadas – dies war der Name, nach dem er vorhin beim Blick auf das Messer in seiner Erinnerung vergeblich gesucht hatte. Castiadas, die letzte italienische Strafkolonie, im 19. Jahrhundert zur Trockenlegung der malariaträchtigen Sümpfe an der Ostküste zwischen Villasimius und Muravera gegründet, bis zu seiner allmählichen Schließung (ab 1952 bis 1955) noch zur „Versorgung“ von Schwerstverbrechern bestehend. Castiadas, in dem er kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs als junger Gefreiter der Carabinieri für einen stürmischen Winter und einen heißen Sommer zum Wachdienst für die außerhalb der Kolonie stehende Villa des Leiters abgestellt war. Castiadas – das damals schon auf den ersten Blick genau dem Bild entsprach, das er sich in seiner Phantasie als Schüler beim Lesen von in Süd- oder Mittelamerika spielenden Abenteurer-, Eroberer- und Landbesitzerromanen von dortigen Lagern, Verließen und Kerkern gemacht hatte. Ein erneutes Schaudern unterdrückte er durch den Entschluss, nun auf Streife zu gehen und dabei seinen Enkelsohn mit einem Becher frischen Eises aus der Bar zu beglücken und strahlen zu sehen.
3
Siat tentu et missidu in pregioni et siat in abitrio nostrum de illi condennari pro sa dicta morti. (Kap. 4, Carta de Logu)
Das Geraschel in den Bänken des Hörsaals der juristischen Fakultät der römischen Universität „La Sapienza“, mit ihrer 1303 durch Papst Bonifatius VIII. erfolgten Gründung noch älter als der Gegenstand der Vorlesung, war erst langsam weniger geworden. Die anwesenden Studenten, überwiegend Studentinnen, nahmen daher den grauhaarigen Mann im dunklen Lodenmantel, den er seit seinen regelmäßigen Winterurlauben in den Dolomiten auch im römischen Winter zu tragen pflegte, zunächst nicht bewusst als Professor Caparelli wahr, zumal er den Hörsaal nicht wie seine Kollegen durch eine Seitentüre vorn beim Rednerpult betrat, sondern bedächtigen Schrittes, die Anwesenden von hinten musternd, die vom oberen Ende des Hörsaal nach vorn hinunter führende Treppe wählte. Nachdem er seinen Mantel sorgfältig auf einen freien Platz der ersten Reihe gelegt hatte, trat er unvermittelt und ohne Manuskript – erst jetzt fiel Giulia auf, dass er auch ohne Mappe gekommen war – ans Rednerpult und rief nur ein Wort in den Saal: „Eleonora!“
Während Giulia ob dieses Beginns der Vorlesung nur irritiert war, zuckte ihre Sitznachbarin deutlich erkennbar zusammen. Und als Caparelli erneut, dieses Mal noch tiefer und lauter „Eleonora“ ausrief und dabei ganz zufällig in Richtung von Giulia und ihrer Nachbarin blickte, errötete diese und senkte ihren Blick schnell hinunter auf die Blüten ihrer Bluse. Über diese unerwartete Regung ihrer Nachbarin war dann allerdings Giulia erstaunt, da sie für dieses Verhalten keine Erklärung erkennen konnte.
Währenddessen begann Caparelli, vor der Tafel des Hörsaals langsam hin und herzugehen, nun mit sanfter und gutmütiger Stimme unter Benutzung eines tragbaren Mikrophons fortzufahren. „Ihr“ – das wohlwollende Duzen der Studenten hatte sich Caparelli schon immer für sich herausgenommen und er hatte auch nicht vor, dies mit nun sechsundsechzig Jahren noch zu ändern - „habt Justinians Dekrete, den Codex juris civilis, den Corpus juris canonici, den Sachsenspiegel der Vorfahren unserer Urlaubsgäste oder die Stadtrechte unserer stolzen Städte erwartet, ich weiß dies wohl, aber ich sage noch einmal das eine Wort: Eleonora. Ihr werdet viel über die aufgezählten Codices in Euren Büchern oder im Internet entdecken, über deren Herkunft aus dem römischen Recht, über die Versuche, umfassende Normenzusammenstellungen des gesamten Zivil- und Strafrechts als Gegenpol zu ausufernder Regentenrechtsprechungssammlungen zu finden. Ihr könntet Euch gar die Mühe machen, so Ihr des Lateinischen über Euren Studiennachweis hinaus mächtig seid, Justinian im Original zu lesen oder über die irrwitzigen Versuche der römischen Kirche, noch kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend unter Papst Johannes Paul II. die Verrechtlichung des Glaubens, die Kodifizierung von Gnade und Sünde, die Reglementierung von Berufung und Chance auf das ewige Leben in lateinischer Sprache und Diktion in einem einheitlichen, sozusagen Himmel und Erde umspannenden Kodex erneuert festzuhalten, eine Seminararbeit zu schreiben. Die modernen Totengräber der Gleichheitsrechte und Streiter für Quoten unter Euch könnten brillieren mit Referaten über die Dominanz männlicher Richter vom römischen Reich an über das Mittelalter bis zum Ende des zweiten Jahrtausends. Ich aber halte mit nur dem einen Wort dagegen, Eleonora, und stelle Euch nur die eine Frage: Was will Euch der alte Professor damit sagen? Ich höre.“
Nichts hörte er. Der Saal lag still und schweigend. Wer konnte und zu schneller Reaktion noch in der Lage war, senkte den Blick, drehte den Kopf zur Seite, unternahm alles, um einen Blickkontakt mit Caparelli zu vermeiden, der ihn zum direkten Gespräch mit dem oder der Unwissenden verleiten könnte.
Caparelli selbst war es schließlich, der die Stille im Saal wieder unterbrach und seine Ausführungen fortsetzte: „Ihr könnt, wir können stolz auf Eleonora sein. Wir, damit meine ich mit Blick auf meine eigene Heimatstadt Oristano zunächst die Sarden, dann natürlich auch uns Italiener insgesamt; Eleonora von Arborea, Eleonora, die große Richterin, Rechtsgelehrte und zugleich Richterregentin für den westlichen Teil Sardiniens, Arborea.
Eleonora, und damit die erste bedeutende Richterin im Heiligen römischen Reich und christlichen Abendland, die Frau, die eines der ersten umfassenden Zivil- und Strafgesetzbücher des Mittelalters in Kraft setzte, einen einzigartigen, die regionalen Besonderheiten berücksichtigenden Codex, die Carta de Logu.
Geschrieben wurde dieses Gesetzbuch zwar zu weiten Teilen schon von Juristen noch für ihren Vater Mariano IV.; Eleonora war es jedoch, die nach Übernahme des Richteramtes 1387 das Gesetzeswerk vollendet und in Kraft gesetzt hat. Es war ein umfassendes Werk des 14. Jahrhunderts, ohne seinesgleichen in diesen hochmittelalterlichen Zeiten. Ausdrücklich ging es Eleonora auch um Schutz und Status der Frau, bemerkenswert für die damalige Zeit, nachvollziehbar, wenn man die Stellung von Eleonora als Richterregentin bedenkt.“
Giulia war fasziniert, weniger vom rhetorisch brillanten Vortrag, vielmehr von der mehr und mehr Gestalt annehmenden Richterin und Rechtsschöpferin Eleonora. Caparelli hatte Recht; in ihrem Lehrbuch über die römische und mittelalterliche Rechtsgeschichte, das sie zur Vorbereitung zwar etwas flüchtig, aber doch bis zum Ende durchgelesen hatte, war der heute weniger verbreitete Name Eleonora nicht aufgetaucht. Versteckt unter der Bank warf sie noch schnell einen prüfenden Blick in das Stichwortverzeichnis – nein, sie hatte den Namen auch nicht versehentlich überlesen oder bereits wieder vergessen.
Die beiden Vorlesungsstunden waren schnell zu Ende. Caparelli hatte berichtet, wie Eleonora, nach der Ermordung ihres Bruders 1387 ihren Vater beerbte und ihm, dem obersten Richter im Rahmen der damals in Sardinien geltenden Richterherrschaft und Judikatsverfassung als oberste Richterin folgte, ihm auch schon damals als Tochter folgen konnte.
Für die kommende Woche versprach Caparelli: „In unserer nächsten Stunde habe ich für Sie noch einige spannende Ergänzungen, zu der geheimnisvollen Sprache der carta de Logu und zu ihrem Inhalt.“
Mit den letzten Worten war Caparelli schon verschwunden, dieses Mal auf kurzem Weg durch den vorderen Seiteneingang. Wer ihn kannte, wusste, dass man ihn nur Minuten später wieder hinter einem hohen Stapel alter Schriften in der Institutsbibliothek einige Häuser weiter, immer noch auf dem Universitätsgelände, sitzen sehen konnte. Ohne Schreibzeug, ohne Papier, ohne je ein Kopiergerät aufsuchend. Sein Auge war der Scanner, sein Gehirn der gigantische Speicher.
Beim Zusammenpacken ihrer Blöcke und Stifte begegneten dann erstmals Giulias Blicke denen ihrer nun wieder entspannt wirkenden Nachbarin. Giulia drehte sich zu ihr hin, streckte ihre Hand entgegen und fragte „Hallo, wie geht’s, ich bin Giulia“. Ihre Nachbarin warf den Kopf in den Nacken, und rief lachend aus: „Und ich bin Claudia! Danke, mir geht`s sehr gut!“ „Ich dachte nur“, entschuldigte sich Giulia vorsichtig nachfragend, „du bist zu Beginn der Vorlesung richtig zusammengezuckt“ und bekam von Claudia, erneut fröhlich lachend, zur Antwort: „Ich bin Sardin und in unserer Familie kam ständig der Name Eleonora vor, auch meine Patentante ist eine Eleonora. Deswegen bin ich auch zusammengezuckt, als Caparelli aus dem Nichts den Namen Eleonora ausrief!“
Die Fortsetzung ihrer Unterhaltung verlegten Giulia und Claudia dann aber in die Cafeteria; ein Salat und etwas Bruscetta sollte die Grundlage für den Nachmittag bilden.
Claudia war nicht nur zwei Jahre älter als Giulia, sondern auch schon zwei Semester weiter. Sie wohnte mehr als zwanzig Minuten zu Fuß vom Vatikan entfernt in einem kleinen Zimmer zur Straße in einem der vielgeschossigen Wohnblöcke der 60er Jahre, die die mehrspurige Via Gregorio VII im oberen Bereich, wo die Ausfallstraße ihren Anfang nimmt, säumten. Angesichts des dichten Verkehrs und der tagsüber guten Linienbusverbindung, sie konnte direkt vor dem Haus einsteigen, hatte sie sich dazu entschieden, ihr cremeweisses Piaggio-Moped mit Nostalgiekarosserie zu Hause in Jerzu zu lassen. Mit Ausnahme einiger Nächte, in denen die Busfahrer offensichtlich beschlossen hatten, den Betrieb einzustellen und sie deswegen alleine den weiten Weg – mit manch bangem Blick zurück über die Schulter – zu Fuß gehen musste, hatte sie diesen Entschluss bisher auch nicht bereut.
Claudia berichtete von ihrer sardischen Heimat; in Jerzu, am rotweinträchtigen Südhang der Gebirge an der Ostseite der Insel, war sie mit ihrem Bruder Andrea aufgewachsen. Dort, in Jerzu, leben und arbeiten noch immer ihre Eltern, der an der dortigen Elementarschule unterrichtende Lehrer Enrico Soru und seine Ehefrau Lucia Onorato, während ihr Bruder bei der Polizei in Olbia als Commissario-Capo beschäftigt war und auch dorthin umgezogen war. Ihre Großmutter Soru war schon vor einigen Jahren nach langer Demenz in Jerzu gestorben. Ihre Patentante Eleonora und ihr Onkel Tomaso, beides Geschwister ihres Vaters, lebten dagegen inzwischen in Rom.
Zur Fortsetzung ihrer angeregten und entspannten Unterhaltung wollten sich die beiden nach der Nachmittagsvorlesung zum Abendessen wieder treffen. Wegen der anstehenden Klausuren konnten sie sich hierfür jedoch erst für den Abend in einer Woche verabreden.
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Constituimus et ordinamus: si in casu haverit inn su ermentu de sos boes domados alcunu boe qui esseret de mala fama qui cussu pubillu de cussu boe de mala inama siat tenudo delo clobari ad boe qui nò siat de mali infama … (Kap. 181, Carta de Logu)
Beim Abendessen war Toni, nachdem er zuvor noch mit seinem Enkel gespielt hatte, unaufmerksam und mit den Gedanken nicht beim Gespräch der Familie. Der Schreiber des Tagebuchs, der unheimliche Gefangene und sein Schicksal wollten ihm nicht aus dem Kopf. Nach einem Espresso stand er auf und verließ mit der Erklärung, im Büro noch etwas fertigmachen zu müssen, den Tisch.
Zurück im Wachraum schaltete er nur die alte blecherne Schreibtischlampe an und begann, noch einige Seiten des Tagebuchs zu lesen.
„Castiadas, 15. Oktober 1949
Die letzten Tage waren sehr anstrengend. Wegen des bevorstehenden Winters mussten wir bereits vor SonnenauFgang in Richtung Meer marschieren, immer zu viert aneinander gekettet. Erst nach über einer Stunde erreichten wir unsere Baustelle, den bis dahin Fertiggestellten weiteren Entwässerungskanal. Mit nur einer kurzen Unterbrechung, in der wir mit Ziegenkäse, Brot und Wasser uns stärken konnten, arbeiteten wir mit Hochdruck am letzten Stück des Kanals bis zu einem zum Meer hin Führenden Bachbett. Gestern Abend hatten wir den Durchstoß geschaFFt, gerade noch rechtzeitig vor dem seit den Frühen Morgenstunden hereingebrochenen ersten großen Regensturm dieses Herbstes.
Wegen dieses Sturms sitze ich heute den ganzen Tag in meiner Zelle, sehne mich schon Fast nach der harten Arbeit im Sonnenlicht zurück, und kann die Zeit nur mit diesen Zeilen zum Verstreichen bringen.
Nur meine Frau Chiara und ich wissen, was damals Mitte Mai 1949 in Donnini wirklich geschehen war. Dass nicht ich es war, der den jungen Landarbeiter so brutal erstochen hat. Nur wir wissen, dass die am Tag des AuFFindens der Leiche hinter unserem Geräteschuppen aus dem Nichts heraus verbreiteten Gerüchte, der junge Landarbeiter wäre mehrFach gesehen worden, wie er tagsüber während meiner Arbeitszeit aus unserem Haus gekommen (und damit zwangsläufig bei Chiara) gewesen wäre), eine üble Lüge waren. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum die Richter des Corte d`Assise in Florenz den von Massimo Moretti gezwungenen Zeugen, alle Arbeiter in seinen Ländereien im benachbarten San Donato Fronzano, geglaubt haben. Unverständlich, warum niemand den Wirt aus Donnini hören wollte, der bei der Polizei zunächst angegeben hatte, dass er Massimo Moretti`s Faulen älteren Sohn Salvatore in der Mordnacht beim Glücksspiel mit dem jungen Landarbeiter gesehen habe, sich aber am Tag darauF, nachdem er – nun mit angeblich beim Putzen seines Lokals gebrochenen ZeigeFinger – an nichts mehr erinnern konnte. Warum hat niemand im Ort darauF hingewiesen, dass Salvatores Eintritt in das hoch oberhalb des Ortes im Wald liegende Dominikanerkloster Vallombrosa erst am Tag nach dem LeichenFund, - nach einem langen Gespräch mit seinem Vater und einer noch längeren und teuren Unterredung mit dem Abt der Dominikaner -, erFolgt ist und nicht, wie vom Abt bezeugt, bereits zwei Tage vor dem Mord?
Die Folgenden Wochen im Gefängnis in Florenz, im Carcere Le Murate, waren meine schlimmste Zeit. Keiner der MitgeFangenen glaubte meinen Unschuldsbeteuerungen. Sie nannten mich Feige und schwächlich, weil ich zu meiner angeblichen EiFersuchtstat – Für die sie alle großes Verständnis gehabt hätten - nun nicht auch stehen wollte. Mit dem RuF des Feiglings entstanden dann auch noch die Gerüchte, ich hätte mit dem ehrlosen Diebstahl des Kirchenbildes aus Pieve etwas zu tun, unerträglich.
Das Schlimmste war der Tag der Verhandlung. Salvatore war zwischenzeitlich in die Schule des Dominikanerklosters San Marco, dem größten Dominikanerkloster in Florenz, direkt gegenüber dem Gericht, das im ehemaligen Casino Mediceo di San Marco in der Via cavour untergebracht war, umgezogen. Er hatte wohl erkannt, dass nach dem genialen Schachzug des Vaters, den er zunächst hoFFnungsFroh als Schutz vor StraFverFolgung wegen seines Mordes verstanden, nun aber als von ihm wegen seiner Erpressbarkeit unangreiFbaren Enterbung gegenüber seinem jüngeren, aber tatkräFtigen und besonnenen Bruders entlarvt hatte, ihm nur ein schneller AuFstieg im Orden wieder einen Teil der verlorenen LebensFreuden und Freiheit wieder zurückgeben könnte. Salvatore ließ es sich denn auch nicht nehmen, eine Begegnung mit mir auf dem Weg ins Gericht am Kloster vorbei auszunutzen, um mich mit seinem Fiesen Grinsen und einer geheuchelten Bekreuzigung schier rasend zu machen.
Der Prozess verlieF dann …“
Nachdem Toni sah, dass die nächsten Blätter von braunen Wasserflecken übersät, fast unleserlich waren, löschte er das Licht, warf sein Schreiben an die Justizverwaltung in Cagliari, in dem er nach den Gefangenendaten von Flüchtlingen aus der Strafkolonie Castiadas fragte, in den roten Postbriefkasten vor dem Zaun, schloss Zaun- und Bürotür und kehrte für eine Nacht voll unruhiger Alpträume in die Wohnung zurück.
Es dauerte dann doch länger als eine Woche, bis die Antwort aus Cagliari eingegangen war. Zwischen Kriegsende und Schließung der Kolonie sei nur ein Häftling geflohen und nicht mehr festgenommen worden. Es sei Stefano Olivetti, geb. 1.3.1910, aus Donnini/Toskana gewesen, der im Sommer 1949 in Florenz wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und der Umwandlung der Strafe in fünfzehn Jahre Strafkolonie zugestimmt hatte. Er sei am ersten Oktober 1949 in Castiadas eingetroffen und habe zunächst gut gearbeitet. Er habe wohl seine Strafe innerlich nicht akzeptiert, sondern bei jeder Gelegenheit seine Unschuld beteuert und das Gericht eines Fehlurteils bezichtigt. Wegen der fehlenden Einsicht war er stets besonders gesichert. In einer schlimmen Sturmnacht im Januar 1950 musste man ihn nachts außerhalb des Lagers einsetzen, da er einer der wenigen war, die handwerklich begabt und für schwierige Arbeiten geeignet war. Die Notarbeiten zur Sicherung des Daches der Villa des Lagerleiters, die nach wetterbedingtem Ausfall des Generators ohne Scheinwerfer ausgeführt werden mussten, hätte er dann zur Flucht ausgenutzt. Eine Suche am nächsten Tag wäre erfolglos verlaufen; Spuren habe es nach dem nächtlichen Regen keine (mehr) gegeben. Später habe es Gerüchte gegeben, er wäre in Gairo untergetaucht; ob er dort den schweren Erdrutsch im Oktober 1951 überlebt hat und ob er überhaupt in Gairo war, hätte nie geklärt werden können. Olivetti sei seit 1940 verheiratet mit Chiara Marconi und hatte eine Tochter Teresa, geboren 1943. Die Summe dieser Angaben, der Vorname seiner Frau, die Herkunft des Messers und die zeitliche Stimmigkeit ließen Toni zu dem Entschluss kommen, seinen Schlussbericht zu schreiben und die erfolgreiche Identifizierung des flüchtigen Häftlings Stefano Olivetti und den Fund seiner Leiche in Form einer Kurzmeldung nach Cagliari zu melden. Das Messer fügte er seiner Meldung bei; bezüglich des ihn so aufwühlenden Tagebuchs wollte er so verfahren, dass er es zunächst vollends – nicht aus Neugier sondern der leichteren Suche nach Olivetti`s Familie wegen – durchlesen und es dann der Familie zusenden wollte. Auch wenn er damit vielleicht gegen eine Vorschrift verstieß, nach der das Tagebuch nicht seine Adressatin sondern nur ein Archivregal in Cagliari, im schlimmsten Fall einen Aktenschredder erreichen sollte, entsprach dies jedenfalls seiner Auffassung von Dienst am Bürger, Menschlichkeit und Recht.
Am Tag darauf waren dann er, Michele und die beiden weiteren diensthabenden Carabinieri mit dem Jeep der Forstverwaltung zum Pass hochgefahren. Fast wäre ihr Vorhaben, die Überreste der Leiche zu bergen, schon im Ort gescheitert, da an einer der engsten Stellen der ohnehin nicht breiten Ortsstraße wieder einmal der örtliche Bauunternehmer Baroso seinen dunklen Lancia Aurelia, den für die Straßenverhältnisse objektiv kaum brauchbaren, von Lancia nach dem Krieg entwickelten schweren Sechszylinder und Stolz seiner Männlichkeit, am Straßenrand geparkt hatte, ohne jede seinem Charakter ohnehin fremde Rücksichtnahme – so die böswillige Erklärung – oder in der Annahme, es würde früh am Morgen um diese Jahreszeit ohnehin kein Fahrzeug zum Pass fahren wollen. Nur nach mehrmaligem Rangieren gelang Michele schließlich die Passage, was die ohnehin nicht gerade gute Stimmung im Blick auf die bevorstehende Aufgabe auch nicht verbesserte. Oben am Pass sammelten sie unter Micheles Führung die verstreuten Knochen ein, immer darauf achtend, weder über eines der vielen Wurzelhölzer zu stolpern noch auf einem der verstreut liegenden, in der Sonne sich langsam erwärmenden Steine eine Schlange zu erschrecken. Der Einsatz eines alten Armeemetallsuchgeräts, das seit Kriegsende schon hinten in der Carabinierigarage unbenutzt stehen geblieben war, verlief zunächst erfolglos und ohne Auffinden weiterer Gegenstände des Toten. Erst als sich Toni zu Boden bückte um eine Schraube, die sich aus dem Gerät gelöst hatte, zu suchen, fand er zwar diese nicht, dafür aber einen schmalen goldenen Ring mit Resten einer eingravierten Schrift, bei der er die Buchstaben „Chia“ und – nach nicht mehr lesbaren weiteren Ziffern - die Zahl „940“ meinte lesen zu können. Nun war er auch persönlich, nicht nur offiziell dienstlich, davon überzeugt, dass hier am Pass oberhalb Baunei irgendwann nach dem Januar 1950 und sicher schon vor einigen Jahren Stefano Olivetti einen einsamen Tod gestorben war. Toni fragte sich, ob dem einsam Sterbenden wenigstens der weite Blick zum Meer und nach Süden ein letzter Trost gewesen sein konnte.
Am Tag darauf setzte der Pfarrer in Tonis Beisein, er repräsentierte sozusagen die Trauergemeinde, den Leichnam beziehungsweise das, was in Form einzelner Knochen noch übrig war, am hinteren Friedhofsrand bei. Noch nie war er sich der Bedeutung „Asche zu Asche“ mehr bewusst als in diesen Minuten.
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… et si cusu pubillu decussu tali boe non boleret clobari cussu tali boe seglungu de supra et cussu boe intrarit in alcunu Logu et fagherit dannu et essert mortu faghendo dannu su boynargiu nò siat tenudo de lu pagari. (Kap. 181, Carta de Logu)
Die Woche bis zur nächsten rechtsgeschichtlichen Vorlesung war Giulia kürzer als gewöhnlich vorgekommen. Zwei Tage hatte sie mit der Klausurvorbereitung verbracht, überwiegend an ihrem Schreibtisch in der Via dei Pianellari, zum Frühstück hatte sie sich einmal ins „Sole Romano“ bemüht, dort den Cappuccino an diesem Tag zu ihrem Leidwesen aber nicht von Marco serviert bekommen. Nachmittags war sie kurz über die Piazza Navona geschlendert, hatte die Weite des Platzes und die Ausstrahlung der großen Figurenbrunnen genossen. Sie hatte den fleißigen Portraitmalern zugeschaut, die wahlweise eine vorgefertigte Skizze des Platzes mit kitschigen Farben illustrierten, die mit der Realität in Form einer dezenten Harmonie von Licht, hellem Stein und lichten Fassaden der Realität nichts gemein hatten, oder aus eigentlich freundlich blickenden Touristengesichtern vampirähnliche Monster in schwarz-weiß schufen. Danach kaufte sie in einem der kleinen, äußerlich unscheinbaren, in ihrer Breite kaum die Breite der Eingangstür übersteigenden Alimentari-Läden, in denen neben frischer Salami, Schinken und Käse in raumhohen Regalen fast alles zu finden war, was der Mensch nicht nur zum Überleben, sondern auch zu köstlichen Mahlzeiten benötigte. Dass der Preis etwas über den Preisen der vor der Stadt liegenden Supermärkte lag, spielte angesichts der geringen Mengen, die sie benötigte, und der großen Zeitersparnis für Giulia keine Rolle, zumal sie die Atmosphäre dieser Art von Läden ungemein schätzte.
Am Wochenende hatte sie lange geschlafen und danach ihr Appartement wie gewohnt akkurat aufgeräumt. Am Nachmittag war sie den viel Wasser führenden Tiber entlang spaziert, zunächst bis zur imposant aufragenden Engelsburg, dann weiter bis zur Tiberinsel, wo sie kehrt machte und ein kurzes Stück der Via Giulia, bei deren Tafeln mit dem Straßennamen „Via Giulia“ sie immer noch einen Rest kindlicher Freude empfand, folgte. Über Piazza Farnese und Campo dei Fiori erreichte sie den Corso Vittorio Emmanuele, blieb dort vor dem einen oder anderen Schaufenster mit sündhaft teuren Schuhen, Handtaschen und Bekleidungsstücken der großen, weltbekannten Marken stehen, nicht aus echtem Kaufinteresse sondern aus bloßer Neugier. Sie hatte nicht vor, sich am sinnlosen Wettbewerb um die teuersten Schuhe zu beteiligen. Modisch und bequem sollten ihre Kleider sein, der Preis sollte reell sein und auf eine bestimmte Marke legte sie keinen Wert. Für sie waren diese Schaufenster zugleich Sinnbild des Niedergangs der Gerechtigkeitsideale in vielen Ländern. Schuhe zum Preis zweier Monatslöhne einer Putzfrau, eine Bluse zum Monatssatz eines Sozialhilfeempfängers ließen sich nicht mit ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit vereinbaren. Nicht dass sie etwas gegen ein gutes Einkommen gehabt hätte, sie wusste durchaus zu schätzen – und profitierte auch davon -, dass ihr Großvater in Venedig sicherlich das fünffache Einkommen des gerade hinter ihr vorbeifahrenden Linienbusfahrers erzielte. Er war studierter Kaufmann und arbeitete weit mehr als 40 Stunden in der Woche. Dass es aber zunehmend Menschen gab, bis hinauf zum Regierungschef der letzten Jahre, die an einem halben Tag so viel verdienten wie andere Menschen im ganzen Jahr, dass sich christlich nennende Parteien – von einer schweigenden Kirche toleriert - weigerten, einen Mindestlohn festzulegen, bei dem der Lebensunterhalt gesichert ist, war mit ihrem Weltbild, mit ihren Idealen und auch mit ihren religiösen Vorstellungen unvereinbar. Sie bog schon bald wieder vom Corso ab und schlenderte noch in Längsrichtung über die Piazza Navona, bevor sie an deren Nordende in die engeren Straßen ihres Wohnviertels verschwand. Bevor sie zurück in die Via dei Pianellari kam, ging sie an diesem Sonntag noch für einige Minuten in die an ihre Straße angrenzende Kirche San Agostino, allerdings nicht mehr wie in Kindheitstagen in einen Gottesdienst mit alten Frauen, sondern nur für eine Kerzenspende an einem der Seitenaltäre. Diese wenigen Minuten, in denen sie den Tag und die Woche reflektieren konnte, Gedanken der Dankbarkeit oder der hoffenden Bitte entwickeln konnte, waren ihr persönlich gelebter christlicher Glaube, einem Glauben mit Bodenhaftung und Realität. Er war genauso realitätsbezogen wie das in dieser Kirche hängende Gemälde des Jesuskindes auf dem Arm seiner Mutter, der sogenannten „Pilgermadonna“, die Caravaggio vor über vierhundert Jahren in fast photographischer, anatomisch realer Art als Abbild einer wirklichen, unverklärten Mutter mit Kind seiner Zeit gemalt hatte, wenn auch zum Entsetzen der schon damals die Realität gerne negierender Wortführer.
Als sie dann am Dienstag wieder das Institut der juristischen Fakultät betrat, tat sie dies ausgeglichen und in gespannter Erwartung auf Caparellis Auftritt. Sie hatte sich zudem vorgenommen, auf jeden Fall die Verabredung mit Claudia für den Abend noch einmal anzusprechen und Zeit und Ort zu vereinbaren.
Caparelli erschien in gewohntem Habit und setzte seinen Vortrag ohne jede Einleitung so unvermittelt fort, wie wenn seit der letzten Vorlesung nicht eine Woche, sondern nur wenige Sekunden vergangen wären. Er erklärte den aufmerksamen Zuhörern, dass der Codex, die Carta de Logu, nicht nur die für Europa und die vom römischen Recht beeinflussten Länder einmalige Besonderheit aufwies, von einer Frau in Kraft gesetzt worden zu sein. Der Codex habe dazu auch noch sowohl seine Schöpferin wie auch das von ihr repräsentierte letzte Judikatssystem Arborea in Sardinien um mehr als vierhundert Jahre bis zu seiner Ersetzung durch ein neues Gesetzbuch anfangs des 19. Jahrhundert überlebt. Schließlich wäre der Codex noch von großer sprachlicher und inhaltlicher Bedeutung. Seine sprachliche Besonderheit, so Caparelli mit erkennbarer innerer Begeisterung für dieses Gesetzbuch, wäre schließlich auch der Grund, warum dem Codex, der in der Universitätsbibliothek von Cagliari verwahrt wird, in der europäischen Rechtsgeschichte nicht die Bedeutung zukomme, die er eigentlich unter rechtshistorischen Aspekten verdient habe. Nur wenige Wissenschaftler, beispielsweise er selbst, seien nämlich überhaupt in der Lage, sich mit dem Originaltext, geschrieben in einer aus dem Lateinischen entwickelten, mit sardischen Besonderheiten und dem heutigen Italienischen verwandten Mutationen versehenen Sprache „altsardisch“, zu befassen, ohne auf eine schon ältere Übersetzung ins Italienische zurückgreifen zu müssen. Auch wenn Giulia, noch im Anfangsstadium ihres Studiums, die weiteren, ins Detail gehenden rechtsvergleichenden Ausführungen mangels umfassender Kenntnisse der nachfolgenden Gesetzeswerke und Gesetzgebungssystematik bis in die Gegenwart noch nicht vollständig nachvollziehen konnte, war sie doch ungemein beeindruckt, dass schon vor über sechshundert Jahren auf der heute meist nur noch mit unverbauten Traumstränden und urtümlichem Bergland in Verbindung gebrachten Insel Sardinien Richtern und Rechtsgelehrten mit großem, lang andauerndem Erfolg der Versuch gelungen war, die verschiedenen Rechtsgebiete mit ihren damals verstreuten Quellen des römischen Rechts, der vorangegangenen Rechtsprechung und Dekreten in ein einziges übersichtliches Gesetzbuch zu gießen und dabei sowohl die Besonderheiten der damals von Agrarwirtschaft dominierten Insel als auch neue Tendenzen hin zum Schuldprinzip abzubilden. Von Hochverrat über Mord und Vergiftung, auch Selbstmord, die beim Diebstahl behandelte Vergewaltigung, bis hin zu Kaufvertrag, Schenkung und Besitz und zu landwirtschaftsrechtlichen Regelungen über einzelne Früchte und Nutztiere war in 198 Artikeln alles an straf- und zivilrechtlichen Vorschriften enthalten, was ein Volk während über 500 Jahren an Rechtsvorschriften benötigte! Auch das dazugehörige vollständige Prozessrecht und selbst die Notarkosten und die Regelung der Feiertage waren enthalten. Lediglich der Aufbau wäre noch verbesserungsfähig in dem Sinne gewesen, dass verwandte Bereiche auch im Kontext zueinander und nicht an beliebiger Stelle behandelt werden, möglicherweise ein Tribut an die Autorenmehrzahl. Im Vergleich zur gegenwärtigen Gesetzgebung, in der meist schon eine einzige Verordnung zur Erläuterung nur weniger Paragraphen eines von unzähligen Steuergesetzen mehr Raum in Anspruch nimmt, kam sie zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu heutigen Stäben der Ministerien und Parlamente damals wahre Meister ihres Fachs am Werk gewesen sein mussten.
Wie geplant, besprachen Giulia und Claudia Soru nach der Vorlesung, wann und wo sie sich abends wieder treffen wollten. Das Ostende der für den Fahrzeugverkehr gesperrten Engelsbrücke mit ihren großen Engelsfiguren beidseits auf dem steinernen Geländer erschien ihnen ideal; Claudia konnte von ihrem Zimmer in der Via Gregorio VII direkt mit dem Bus zum Tiber etwas unterhalb der Engelsbrücke fahren und von dort aus zum Treffpunkt gehen. Giulia würde ihr von ihrem Apartment durch die Gassen der Altstadt entgegenkommen. Sie beschloss, schon etwas früher loszugehen, um noch etwas vom rötlichen Licht, das die Ende Februar schon früh tiefstehende Sonne auf die Engelsburg warf, mitzubekommen, danach noch in einer Seitenstraße bei der Brücke ihren Friseur aufzusuchen um dann rechtzeitig am vereinbarten Ort sein zu können.
Der Friseurbesuch benötigte weniger Zeit als gedacht. Statt sich umfassend über alle wichtigen und vor allem unwichtigen Dinge des Weltgeschehens aus einer der ausliegenden Illustrierten informieren zu können, konnte sie nur einen kurzen Blick ins Inhaltsverzeichnis des Magazins „Oggi“ werfen. Sie konnte dem Heft allerdings nur unspektakuläre oder ohnehin gewohnte Themen wie „Regierungskrise dauert an, Richtungsstreit unter Kurienkardinälen, Ehedrama in Hollywood, Schwangerschaft in irgendeinem Königshaus sowie einige Artikel über untragbare Mode exzentrischer Modedesigner und über entsetzlich langweilige und kunsthandwerklich lächerliche Exponate in einer Vorschau auf die nächste Biennale in Venedig entnehmen.
Früher als vereinbart erreichte sie danach die Engelsbrücke. Es war bereits dunkel geworden und trotz des sonnigen Tages spürte man schon die Kühle der Nacht. Straßenlampen, Fahrzeugscheinwerfer und die auf die Sehenswürdigkeiten und Denkmäler der Stadt gerichteten Strahler bildeten eine Kulisse, wie sie ein Bühnenbildner selbst der großen, klassischen Operninszenierungen, von den dürftigen Nichtkulissen manch aktueller Inszenierung ganz abgesehen, nicht schöner und gelungener hätte schaffen können. Vorn der Fluss, dessen dunkler Lauf durch die roten Rücklichter und weißen Scheinwerfer der auf den beidseitigen Lungotevere fahrenden Fahrzeuge markiert und flussabwärts im Blickfeld des übergroßen Erzengels auf der Engelsbrücke nur durch die ebenfalls beleuchtete Ponte Vittorio Emmanuele II unterbrochen wurde. Gegenüber der orange angestrahlte Naturstein der hinter der Ummauerung aufragenden Zylinderkörper der Engelsburg, von der nach links, einem Fingerzeig gleich, die zum Vatikan führende Fluchtmauer zur fast transparent weiß erstrahlenden Kuppel des Petersdoms hoch über den nur mäßig genutzten Fahrspuren der Via della Conciliazione wies. Schon von weitem sah Giulia ihre Studienfreundin Claudia über die Brücke auf sie zukommen, einen weißen Wollschal über der Jacke tragend.
Nach kurzer Begrüßung wollten sie ihre hungrigen Mägen keiner weiteren Geduldsprobe aussetzen. Von der Engelsbrücke aus folgten sie der weniger einladenden Via di Panico und der Via di Monte Giordano, in der sie bereits in die engen Gassen des noch nicht von Touristen besetzten, überwiegend den Römern vorbehaltenen kleinen Stadtteils zwischen Piazza Navona und dem Tiberufer oberhalb der Engelsbrücke eingetaucht waren. Kurz vor dem Ende der Straße bogen sie nach rechts in die enge Gasse Vicolo del Fico ein, in der sich linker Hand das kleine und unscheinbare Restaurant „Il Fico“, eigentlich eher eine Osteria, befand. Hier hatte Giulia mit ihren Eltern nach ihrem Umzug nach Rom am ersten Abend gegessen. Obwohl sie mit anderen Studenten inzwischen schon manch anderes Restaurant kennengelernt hatte, war ihr das „Il Fico“ ob seiner hervorragenden Nudelgerichte, insbesondere dem täglich wechselnden Tagesgericht, der liebste Ort für ein leckeres Abendessen zu einem ehrlichen Preis und einem Glas kühlen Weißwein geblieben. Claudia war noch nie hier gewesen. Auch ihr gefiel aber auf den ersten Blick, und erst recht nach dem ersten Bissen, diese Osteria sofort. Sie konnte sich auch gut vorstellen, an einem der kleinen Tische vor dem Lokal in der engen, windgeschützten Gasse zu sitzen, sobald die Abende im Frühjahr noch etwas mehr Wärme versprachen. Schon jetzt war es in der Gasse wärmer als entlang des noch kaltes Wasser führenden Tibers. Während gegenüber in der Gasse ein Händler seinen winzigen Laden mit einem der dreirädrigen Lastenmopeds belieferte, genossen Giulia und Claudia ihre Bucatini Amatricana und die Karaffe Weißwein.
Der Abend war noch viel zu früh, ihre Unterhaltung noch zu angeregt, als dass sie den Tag schon beenden könnten. Sie verließen das „Il Fico“ und verlegten ihren Standort in eine der gerade angesagten Bars an der nächsten Ecke auf dem Weg zur Piazza Navona, der Via di Tor Millina. Sie sprachen über die Verbreitung des Namens Eleonoras in Claudias Familie; zuletzt wurde ihre Tante so getauft. Claudia beschrieb ihren Heimatort Jerzu, erzählte aus ihrer Schulzeit und erwähnte am Rande, dass ihr Onkel Tomaso inzwischen in Rom arbeiten würde. Auf Giulias Nachfrage, immerhin studierten sie beide in Rom, konkretisierte sie den Arbeitsplatz mit „Vatikan“, wobei Giulia den Eindruck hatte, wie wenn dies Claudia fast etwas peinlich wäre. Erst nachdem Giulia beiläufig von der vergangene Woche für ihre Großmutter Teresa entzündeten Kerze erzählte, fasste Claudia genügend Vertrauen. Sie verlor die Furcht, in einer säkularisierten Welt zum Gespött zu werden, und vertraute Giulia an, dass ihr Onkel Tomaso, der Bruder ihres Vaters, nicht irgendwo im Vatikan arbeite, sondern der im vergangenen Jahr ernannte und nun für liturgische und seelsorgerische Fragen zuständige Kurienkardinal Tomaso Soru wäre.
Bei einem Glas kühlen Aperol Spritz beschrieb Claudia weiter ihre sardische Heimat, die engen Gassen von Jerzu vor den nördlich liegenden steilen Felswänden, die ohne weiteres als Kulisse für manchen Karl-May-Film hätten dienen können, ihre verstorbene Großmutter Eleonora und die anderen alten Frauen in ihrer fast einer Tracht ähnlichen schwarzen Kleidung sowie die angesichts der in den entlegenen Dörfern weniger werdenden Arbeit immer häufiger vor den Häusern sitzenden jungen Männer. Sie erzählte von ihrem Vater Enrico, der nach einem späten Studienfachwechsel, über den und dessen Gründe sie nichts Näheres wusste, Lehrer an ihrer eigenen Elementarschule ist und noch vier Jahre sein wird. Während Giulia aufmerksam zuhörte nahm ihre Erinnerung, die während Caparellis Vortrag über Eleonora von Arborea diffus in ihrem Hinterkopf waberte, konkretere Gestalt an. Sie meinte sich nun daran zu erinnern, bei ihrer eigenen Großmutter Teresa als Kind einmal den Namen “Tante Eleonora“ vernommen zu haben. Sie fühlte sich dadurch in ihrer Meinung bestätigt, dass jede Generation ihre eigenen Vornamen benutzt, solange es nicht zu einer Namensrenaissance kommt, in der plötzlich alte Vornamen erneut en vogue werden. Giulia selbst konnte den sprudelnden Erzählungen nur insoweit Geschichten ihrer eigenen Herkunft entgegenhalten, als sich diese auf ihre väterliche Linie, die Großeltern Paolo Fasano und Francesca Fasano geb. Castellani bezogen. Schon als Kind hatte sie gerne Paolo und Francesca besucht und die Weite der kühlen Räume in deren palazzoartigem Haus in Venedigs Stadtteil Castello zwischen Via Garibaldi bzw. dem Parco Giardini und dem schmalen Kanal an der Ostseite der alten venezianischen Galeerenwerft, des Arsenale, genossen. Später, als sie älter geworden war, durfte sie die Großeltern auch alleine besuchen, allerdings während der jedes Jahr länger werdenden Hochsaison nur morgens oder am frühen Abend, wenn die großen Passagiertransporter an der Riva degli Schiavoni den größten Teil der Touristen über Punta Sabbioni zu den dort wartenden Bussen wieder aus der Stadt geschafft hatten. Die Stunden, in denen die Kanalbrücken an der Wasserfront schier unter der Menschenlast zusammenzubrechen schienen, waren ihrer Mutter Maria zu gefährlich; zu groß erschien ihr – sicherlich nicht unbegründet – die Gefahr, dass ihre Giulia dort irgendwo in die falschen Hände geraten oder verloren gehen könnte.
Als einziges Enkelkind von Paolo und Francesca Fasano war sie von diesen über alle Jahre verwöhnt worden; was sie von den Eltern nicht bekam machten die Großeltern gerne möglich. Dennoch war Giulia bescheiden gewesen und geblieben, auch wenn sie behütet, umsorgt und in gewissem Wohlstand aufgewachsen war. Zum letzten Weihnachtsfest hatte sie von Paolo und Francesca neben einem teuren Parfüm die Kundenkarte eines großen Autovermieters, auf der die Kosten für insgesamt vier Wochen Miete eines der neuen, an alte Formen anknüpfenden und Giulias Vorstellungen von gelungenem Design entsprechenden Alpha Giulietta bereits einbezahlt worden waren, geschenkt bekommen. Eine Entscheidung, wann sie von dem Gutschein Gebrauch machen wollte, hatte sie mangels echten Bedürfnisses aber bisher noch nicht getroffen.
Erst kurz vor Mitternacht hatten sie sich verabschiedet. Claudia ging hinüber zur nächsten Haltestelle am Corso Vittorio Emmanuele, um dort auf einen der letzten Busse zu warten, die über den Tiber hinüber die Via Gregorio VII hinauf ihrem Depot entgegenhasteten. Giulias Heimweg führte in die entgegengesetzte Richtung über die Piazza Navona. Von Claudias Erzählungen angeregt, kaufte sie am noch geöffneten Kiosk ein Exemplar des „Oggi“, das sie am frühen Abend nur flüchtig beim Friseur eingesehen hatte. Nun war sie doch an dem Artikel über den Streit unter den Kardinälen interessiert, wenn möglicherweise Claudias Onkel involviert war. Mit schnellen Schritten eilte sie dann zur Eingangstüre der Via dei Pianellari 17a neben den beiden geschlossenen Rollläden der daneben liegenden Schaufenster. Um diese Zeit musste der Schlüssel mehrfach im Sicherheitsschloss gedreht werden, bis alle Schließbolzen den Eingang freigaben. Oben angekommen in ihrem Apartment im dritten Stock warf sie, nun doch schon im Stehen dem Einschlafen nahe, Jeans, T-Shirt und Jacke nur über eine Stuhllehne, suchte kurz ihr marmorartig gefliestes Bad auf und schlüpfte nur wenige Minuten nach ihrer Rückkehr unter das weiße Laken mit der darüber liegenden kamelhaarfarbenen Wolldecke, ohne zuvor noch lange im Schrank nach einem Nachthemd zu suchen. Bevor sie schon kurz darauf im fahlen Licht des aufgegangenen Vollmondes in sorglosen Schlaf fiel, hatte sie den Entschluss gefasst, schon das nächste Wochenende wieder bei ihren Eltern in Venedig zu verbringen und dabei ihre Mutter über deren Herkunft und diesen Teil der Familiengeschichte zu befragen.
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Volemus et ordinamus: considerando su grandu defectu et mancamentu quest de notare in sa isula de sardigna no solamente in sas citadis terras et loghos murados ma enter deus via plus in sas villas deforas; … (Kap. 51, Carta de Logu)