Ronco - Die Tagebücher 01 - Ich werde gejagt - Dietmar Kuegler - E-Book

Ronco - Die Tagebücher 01 - Ich werde gejagt E-Book

Dietmar Kuegler

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Beschreibung

Ronco ist vogelfrei. Überall hängen seine Steckbriefe. Tot oder lebendig! Aber er ist unschuldig und kämpft um sein Recht. In einem schmutzigen Hotelzimmer in New Mexico, wo er sich vor seinen gnadenlosen Verfolgern verkrochen hat, schreibt er seine Geschichte nieder die an einem heißen, blutigen Sommermorgen irgendwo in der Prärie beginnt.Dieser Band enthält folgende Romane:Ich werde gejagt (1)Der Spion aus Mexiko (2)Die Texte wurden vom Autor überarbeitet.Die Printausgabe umfasst 252 Buchseiten.

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Seitenzahl: 304

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RONCO

In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Ich werde gejagt

2702 Der weiße Apache

Dietmar Kuegler

Ich werde gejagt

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-150-2Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Vorwort

Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New ­Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack.

Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte.

Er nannte sich Ronco. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, dass er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pionier­geschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauer und wilder, als wir sie bisher gesehen haben.

Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe Ronco gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes Ronco offenzulegen, haben wir uns entschlossen, die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich Ronco nannte, seine eigene Geschichte.

13. August 1878.

Ich werde gejagt. Im Grunde habe ich damit mein Leben bereits beschrieben. Aber ich bin kein Verbrecher, und dadurch wird die Sache problematisch. Überhaupt ist das der Grund, warum ich heute anfange, ein Tagebuch zu schreiben.

Ich weiß nicht, wer diese Aufzeichnungen einmal lesen wird. Ich bilde mir nicht ein, dass sie so wichtig sind,dass sie unbedingt gelesen werden müssten. Aber wer sie auch immer liest: Er soll die Wahrheit über mich erfahren, über mich und die Männer, die mich jagen, die auch jetzt, während ich schreibe, bereits wieder auf meiner Spur reiten, um mich zu töten. Erst vor ein paar Tagen bin ich gerade noch einmal davongekommen. Ich habe von diesem Kampf nocheine Wunde am linken Arm. Es ist ein Streifschuss, nicht allzu schlimm. Ich habe Schlimmeres durchgestanden. Die Schmerzen sind zu ertragen. Es wird nicht meine letzte Wunde sein.

Meine Lage ist ziemlich verfahren. Ich will aufschreiben, wie es dazu gekommen ist, obwohl das eine sehr lange Geschichte ist.

Ich sitze in einem schmutzigen Hotelzimmer in ­Steeple Rock, New Mexico, Steeple Rock ist eine Stadt, die nur aus wenigen Hütten besteht und in der Männer wie ich nicht auffallen. Ich hoffe, hier einige Tage Ruhe zu haben.

Ich habe ein Schulheft vor mir liegen, das ich von einem fahrenden Händler für fünf Cents gekauft habe. Es wird nicht ausreichen, um alles aufzunehmen, was mir durch den Kopf geht. Gleichzeitig aber habe ich das Gefühl, dass ich einen Fehler begehe.

Vielleicht wird man später, wenn ich nicht mehr lebe, diese Aufzeichnungen lesen und darüber lächeln. Weil ich nie gelernt habe, zu formulieren, und weil ich nur eine Missionsschule besucht habe, in der man nicht mehr gelernt hat, als Lesen und Schreiben. Aber selbst das war schon viel für die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, und das Land, in dem ich aufgewachsen bin.

Vielleicht wird man mir auch nicht glauben, weil sich in fünfzig oder hundert Jahren vieles ändert und man sich nicht vorstellen kann, wie das Leben zu meiner Zeit verlief. Aber eigentlich glaube ich das nicht. Denn dazu müssten sich die Menschen ändern, und ich habe wenig Vertrauen zu den Menschen, wie jeder verstehen wird, der meine Geschichte kennt.

Ich will nicht, dass später einmal von mir gesagt wird, ich sei ein Verbrecher gewesen. Ich habe niemals etwas getan, dessen ich mich schämen müsste. Darum, und das allein ist der Grund, schreibe ich heute auf, wie es wirklich war in meinem Leben. Ich, Ronco ...

1.

Der Treck befand sich unweit der Wüste, die man Staked Plains nennt – oder auch Llano Estacado –, als das linke Vorderrad des ersten Wagens brach.

Der ganze Treck geriet ins Stocken und eine alte Frau meinte, dass es ein böses Omen sei. Der Treckführer hielt von solch abergläubischem Gewäsch nicht viel. Er fluchte nur und sagte sonst gar nichts weiter. Einige Männer begannen, den Wagen zu reparieren.

Die Arbeit dauerte länger und war schwieriger, als es zunächst ausgesehen hatte. Das Ersatzrad ließ sich nicht aufziehen. Der Zapfen der Achse hatte sich bei dem Unfall leicht verbogen.

Die Männer standen um den Wagen herum, mit verschränkten Armen oder mit den Fäusten in den Hüften, und redeten eine Menge dummes Zeug. Denn sie verstanden von allen möglichen Dingen etwas, nur nichts von Planwagenachsen, was kein Wunder war, da die meisten erst vor Kurzem ein solches Gefährt zum ersten Mal bestiegen hatten.

Ein Mann namens Gourdet kroch auf allen vieren wie ein Jagdhund um die Achse herum, während die anderen redeten. Er war erst vor ein paar Wochen mit seiner Familie, die aus seiner Frau und zwei zehn und zwölf Jahre alten Jungen bestand, im Zwischendeck eines Auswandererschiffes aus Frankreich gekommen. Gourdet sprach keine zwanzig Worte Englisch, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, mit einem Planwagen durch halb Amerika zu reisen. Als er schließlich aufstand, wischte er sich mit großer Geste die Hände an der einfachen ­Leinenhose ab und sagte: „Attention, Messieurs, attention!“

Er hatte einen Kopf wie eine Runkelrübe. Sein Haar stand wirr wie ein Blätterstrunk von seinem Schädel ab, nur, dass es nicht grün war. Die Männer verstummten und schauten ihn abwartend an.

„Wir müssen machen Wagen leer“, sagte Gourdet, schwerfällig nach Worten suchend, sehr energisch erst, dann leicht. „You understand me? Wir legen Achse auf Amboss und hauen gerade mit Hammer. Ich Amboss in Wagen. Alles andere Scheiße.“ Er drehte sich würdevoll um und ging zu seinem Wagen in dem Bewusstsein, den anderen Idioten gezeigt zu haben, wie man Planwagen repariert.

Die Männer schauten ihm nach und fragten sich, warum sie nicht selbst darauf gekommen waren. Dann begannen sie, den Wagen zu entladen.

Es war ein Conestogaschoner mit verstärkten Bracken und Eisenbeschlägen. Auch als er entladen war, war er noch immer so schwer, dass fünf Männer nötig waren, um ihn anzuheben, als Gourdet seinen Amboss brachte und ihn so ins Gras stellte, dass das linke Ende der Vorderachse daraufgelegt werden konnte.

Die Habseligkeiten der Familie Hancock aus dem ersten Wagen lagen im Gras herum. Es war überflüssiger Plunder, wie der Treckführer meinte, unnötiger Ballast, der den Wagen nur zusätzlich belastete und eigentlich gar nicht wieder aufgeladen werden sollte. Er meinte damit vor allem ein altes eisernes Bettgestell mit Messingbeschlägen und eine Kiste mit Büchern, die so schwer war, dass zwei Männer sie kaum tragen konnten.

„Das Bett kommt mit“, sagte Mrs. Hancock sehr energisch. „Meine Mutter ist darin gestorben.“

„Wenn Sie Pech haben, werden auch Sie drin sterben“, sagte der Treckführer und ließ es damit bewenden, während Mrs. Hancock vor Empörung nach Luft schnappte.

Mr. Hancock sagte gar nichts. Er sagte überhaupt nur selten etwas, was vermutlich daran lag, dass seine Frau ihn nie zu Wort kommen ließ. Er war ein schmächtiger, blasser Bursche, der, Lehrer von Beruf, stets mit einem Gesicht herumlief, das jeden zu fragen schien: Was soll ich hier bloß?

Als die Achse endlich gerichtet war und das Ersatzrad aufgesetzt werden konnte, war es Mittag geworden. Die Sonne brannte gnadenlos auf das Land, das noch nie von einem Pflug berührt worden war. Es war gutes Land. Das Gras wuchs kniehoch, und überall wucherte bunter ­Salbei und Mesquite.

Die Frauen hatten ein Feuer angefacht und Essen gekocht. Die Kinder spielten zwischen den Wagen und rannten lachend über die Hügel links und rechts des Trails.

Manche Frauen hatten auch Säuglinge bei sich, und eine war im achten Monat schwanger, wechselte aber noch immer jeden Tag ihren Mann auf dem Wagenbock beim Lenken des Vierergespanns ab und arbeitete wie ein Pferd. Sie stammte aus Irland, und in Irland, so wird gesagt, sind die Menschen besonders zäh.

Das Land gefiel den Männern. Sie untersuchten den Boden, ließen schwarze, fettklebrige Erdkrumen durch ihre Finger gleiten und meinten, dass hier meter­hohes Getreide wachsen müsse und Kartoffeln, dick wie Kinderköpfe. Aber keiner konnte sich entschließen, zu ­bleiben. Denn sie alle waren auf dem Weg nach ­Kalifornien, wo ein Mann namens Sutter im Frühjahr Gold gefunden haben sollte. Und Gold erschien ihnen besser und wichtiger als Kartoffeln, und wenn sie dick wie Kürbisse gewesen wären.

Nach dem Essen gingen sie wieder daran, den Wagen der Hancocks zu reparieren. Die Kinder spielten noch immer auf den Hügeln und hinter den Büschen und veranstalteten einen Heidenlärm, während die Frauen langsam ungeduldig wurden.

Damit war es plötzlich vorbei, als zwei Jungen den Hügel herunterstürmten und laut schrien, dass sich von Süden Reiter näherten.

Die Männer stellten ihre Arbeit ein. Die Frauen schwiegen. Und die Kinder spielten nicht mehr.

Der Treckführer bestieg sein Pferd und ritt auf den Hügel. Hier hielt er kurz, spähte nach Süden und kehrte sofort wieder zurück. Als er zu reden begann, verstummten alle und hörten ihm zu. Und dann schlich sich Angst in die Züge der Menschen.

„Indianer!“

Bevor Panik ausbrechen konnte, befahl der Treckführer den Frauen, sich mit den Kindern sofort in die Wagen zu begeben und sich dort flach auf den Boden zu legen. Dann sollte eine Wagenburg gebildet werden. Aber dazu kam es nicht. Denn niemand hatte daran gedacht, den Wagen der Hancocks, der noch immer nicht repariert war, aus dem Weg zu schaffen. Jetzt war es zu spät, denn als die Frauen und Kinder gerade in die Wagen gestiegen waren, war der dumpfe Hufschlag von vielen unbeschlagenen Pferden bereits zu hören.

Die Männer liefen zu ihren Wagen und kramten ihre Waffen hervor. Es handelte sich zumeist um umständlich zu handhabende Vorderladergewehre, die bisher nur dazu benutzt worden waren, den Speisezettel des Wagenzuges durch frisches Wild zu ergänzen.

Manche hatten vor dem Aufbruch des Trecks, irgendwo östlich des Mississippi, damit geprahlt, dass sie Indianer, falls welche auftauchen sollten, wie die Hasen abschießen und in die Flucht schlagen würden. Davon sprach jetzt keiner mehr.

Einige der Männer besaßen ein paar der neuen mehrschüssigen Revolver, die ein Mann namens Samuel Colt erfunden hatte und die wahre Wunderwaffen sein sollten. Sie konnten das nicht beurteilen, denn sie hatten noch nie damit geschossen. Manchem wurde klar, dass es zum Üben nun zu spät war, aber das nutzte ihnen nichts mehr. Denn die Indianer waren bereits da, gerade, als die neuen Coltrevolver geladen waren.

*

Die Kinder begannen zu schreien, als die ersten Schüsse krachten. Bald weinten sie nur noch leise, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden übertönten sie.

Die Indianer sprengten über die Hügel, ohne von der ersten Gewehrsalve aus den Planwagen ernsthaft gefährdet zu werden.

Es waren Apachen. Untersetzte, sehr muskulöse Männer mit breitflächigen Gesichtern und schmalen Augen. Lange, fettige schwarze Haare fielen ihnen bis auf die Schultern oder wurden von breiten handgewebten Tüchern, die sie um die Stirn trugen, gehalten.

Ihre bronzefarbenen Oberkörper waren nackt und glänzten, denn sie waren zum Schutz gegen die stechende Sonne mit Büffelfett eingerieben. Sie trugen groblederne Leggins und Mokassins mit kniehohen Schäften und saßen in flachen, gepolsterten Woilachs auf den Rücken ihrer kleinen, gescheckten, langmähnigen Ponys, als wären sie angewachsen.

Einige der Indianer besaßen Gewehre, die meisten waren mit Pfeilen und Bogen bewaffnet.

Erst feuerten die Gewehrschützen. Dann ging ein Regen von Pfeilen auf den Treck nieder. Wie reitende Teufel preschten die Krieger auf die Planwagen zu, schrilles, kollerndes Geheul ausstoßend, das den Rufen der wilden Truthähne ähnelte.

„Feuer!“, schrie der Treckführer. „Immer auf die Körper halten. Das sind die größten Ziele!“

Die Männer schossen. Mit grimmig verzerrten Gesichtern zielten sie auf die Angreifer. Sie drückten ab, und manche hatten ein merkwürdiges Gefühl dabei, denn die meisten schossen zum ersten Mal in ihrem Leben auf Menschen.

Es donnerte, krachte und stank fürchterlich. Als sich die erste Pulverwolke verzogen hatte, schien es, als hätte die Salve keinerlei Wirkung gehabt. Doch es lagen einige Körper reglos im hohen Gras, und reiterlose Pferde stürmten in der Phalanx der Angreifer mit.

Die Frauen luden mit fliegenden Fingern die Gewehre nach, deren Läufe bald heiß geschossen waren. Die Kinder pressten sich hart an die rauen Bodendielen der Wagen und schrien vor Angst.

Bald schossen die Männer immer schneller. Sie trafen auch häufiger. Pulverdampf staute sich stinkend unter den Wagenplanen und schwebte in grauen Dunst­schwaden über den Leichen, die auf dem grünen Gras lagen.

Auch drei Männer im Treck waren tot, ebenso eine Frau, als der erste Angriff der Apachen zurückgeschlagen war. Die Indianer zogen sich hinter die Hügel zurück. Bald stiegen dünne Rauchfahnen in den heißen Himmel.

Im Treck waren mehrere Männer verletzt, unter ihnen Bill Hancock, der Schullehrer aus Boston. Ein Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen. Es war ein Pfeil mit Widerhaken, der durchgestoßen werden musste. Ihm war nicht mehr zu helfen. Nach einer knappen Stunde begann er, Blut zu spucken. Wenig später war er tot.

Er hatte Glück.

Bei den anderen dauerte es länger, und ihnen wurde es nicht so leicht gemacht.

Nach einer fast endlos langen Pause, in der nichts geschah und nur das monotone Hämmern von Trommeln zu hören war, zischten plötzlich Brandpfeile über die Hügel. Die Wagenplanen fingen sofort Feuer. Die ersten Brände wurden gelöscht. Dann aber griffen die Apachen an, und zum Löschen blieb keine Zeit mehr.

Die hochschwangere Irin erlitt eine Fehlgeburt und verblutete, weil ihr niemand helfen konnte. Um sie herum starben auch die anderen.

Ein Wagen nach dem anderen fing Feuer. Einige Verwundete verbrannten. Immer schwächer wurde der Widerstand.

Der Treckführer starb, als er mit einem Kind im Arm einen brennenden Wagen verließ. Ein Pfeil durchbohrte seinen Hals. Gurgelnd stürzte er zu Boden und begrub das schreiende Kind unter sich.

Das Feuer fraß sich wütend von Wagen zu Wagen. Die Flammen schlugen immer höher, prasselnd, knackend, fauchend. Eiserne Felgen und Achsenteile verbogen sich in der Hitze. Irgendwo explodierte ein Munitionsvorrat und zerriss einen Apachen, der von seinem Pferd auf den Wagenbock gesprungen war.

Schreie von Frauen und Kindern übertönten das Feuer und das Krachen der Schüsse. Die Apachen fielen über den Treck her, zerschnitten die Geschirrriemen der vor Angst fast verrückten, grell wiehernden Gespannpferde und stürzten sich auf die noch lebenden Männer, Frauen und Kinder.

Auch die Frauen kämpften jetzt. Sie schlugen mit Knüppeln, leergeschossenen Gewehren und eisernen Feuerhaken auf die Angreifer ein. Sie warfen sich über ihre Kinder und wehrten sich wie wilde, waidwund geschossene Tiere.

Die Männer starben alle. Mit schweren Schädel­brechern gaben die Apachen den Verletzten den Rest. Wer von den Frauen und Kindern noch lebte, wurde gefangen genommen.

Die Apachen trugen die gefesselten, in wahnsinniger Angst schrill kreischenden Frauen über die Hügel, während andere zwischen den Toten neben den brennenden Wagen umhergingen und ihnen die Skalps abrissen.

Sie nahmen auch die Kinder mit. Die größeren, die sich wehrten, wurden auf der Stelle getötet.

Einige Krieger sprangen in die brennenden Wagen und bargen noch lebende Säuglinge.

Als die Sonne im Westen unterging, ritten die Apachen mit ihren Gefangenen davon. Die Trümmer des Trecks und mehr als zwei Dutzend skalpierte Leichen blieben zurück.

Das Feuer, das die Wagen verzehrt hatte, sank in sich zusammen. Es gab nichts mehr in diesem Treck, was noch verwendbar gewesen wäre.

Aber ein Wagen mitten im Zug war nicht verbrannt.

Nur die Plane war dem Feuer zum Opfer gefallen, das Eisengestänge hatte sich verbogen, und die Seiten­bracken waren rußgeschwärzt und leicht verkohlt.

Der Wagen war mit Kupfervitriol gestrichen, weil sein Besitzer gedacht hatte, besonders klug zu sein. Er musste sich sehr sicher in seinem feuerfesten Wagen gefühlt haben. Jetzt war er dennoch tot und lag irgendwo zwischen den Leichen im Gras, das rot gesprenkelt war von Blut.

Sein Wagen war fast noch unversehrt. Drei erloschene Brandpfeile steckten in der nach Süden gewandten Seiten­bracke. In dem Wagen lag ein Deckenbündel, blut­besudelt von oben bis unten, angesengt und rußgeschwärzt.

Aus den Decken heraus schaute das Gesicht eines Kindes, eines sehr kleinen Kindes. Es rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich, denn der beißende Rauch hatte es betäubt. Sein kleines Gesicht trug Spuren eingetrockneten Blutes, das aber nicht von ihm selbst zu stammen schien.

Als es nach einiger Zeit aufwachte, war es Nacht, und es fing an zu schreien. Es hatte Hunger. Es begriff ja nicht, was passiert war. Aber niemand kam, um es zu füttern und zu trösten.

Es brüllte, bis es heiser war, und wurde dann still. Tränen liefen aus seinen Augen und trockneten auf seinen Wangen. Es wimmerte nur noch leise, während ein kühler Nachtwind von den Hügeln heranfächelte und den scharfen Brandgeruch, den Gestank von Tod und Fäulnis forttrieb. Es weinte, bis es müde wurde und wieder einschlief.

*

Das Kind war ich. Und so begann alles. Genau so. Die verschiedensten Menschen haben mir später diese Geschichte immer wieder erzählt. Es waren Menschen, die keinen Grund hatten, mich anzulügen.

Manchmal glaube ich, mich schwach an die Vorfälle zu erinnern. Es ist jetzt etwa dreißig Jahre her. Mir scheint, dass meine ersten Eindrücke von diesem Leben bis zu jenem Überfall zurückgehen. Aber ich kann mir das natürlich auch nur einbilden, weil ich die Geschichte so oft gehört und selbst so oft und lange darüber nach­gedacht habe.

Es war im 48er Jahr. Im Spätsommer. Die Goldfunde in Kalifornien hatten damals die ganze Welt um den Verstand gebracht.

Ich habe nie begriffen, warum die Menschen dem Gold nachlaufen, und ich habe Menschen gesehen, die die Sucht nach Gold verrückt gemacht hat.

Die Indianer sind da anders. Ich habe nicht einen Indianer kennengelernt, der verrückt nach Gold gewesen wäre, obwohl die meisten von ihnen zahllose Plätze kannten, an denen man das Gold nur vom Boden aufzuheben brauchte. Ich selbst glaube nicht, dass Gold das Wichtigste ist, was es gibt, obwohl es mir oft dreckig gegangen ist und ich manches Mal habe hungern müssen. Trotzdem habe ich nie einen Sinn darin gesehen, großen Reichtum zu erwerben.

Damals aber brachen überall Menschen auf, packten ihre Sachen oder ließen auch alles, was sie besaßen, stehen und liegen, und gingen nach Kalifornien. Zahllose Trecks zogen durch die Weiten des Westens, die zu jener Zeit noch so gut wie unerforscht waren.

Westlich vom Mississippi, nannte man dieses Gebiet. Einen anderen Namen trug es noch nicht. Und das sagt im Grunde schon alles über das Land, das man sich wild, gefährlich und primitiv vorstellte. Ich will es einmal dahingestellt sein lassen, ob es wirklich so war oder ob das Land erst wild, gefährlich und primitiv wurde, als die weißen Siedler wie Ameisenschwärme den ­Mississippi überschritten und den unberührten Weiten des Westens die sogenannte Zivilisation brachten. Damals jedenfalls wagten sich die ersten Trecks aus dem Osten über den Mississippi. Die Gier nach dem Gold ließ die Menschen ihre Furcht vor dem unbekannten Land überwinden.

Meine Eltern waren dabei. Und ich auch. Auch wenn ich zu jener Zeit noch ein kleiner Kerl war, ein Hemdenmatz, der nicht wusste, was geschah, weil er noch nicht sehr lange auf der Welt war. Vielleicht erst ein Jahr oder auch zwei Jahre.

Aus dieser Zeit weiß ich nichts.

Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind, die wie hunderttausend andere Menschen vom Goldfieber gepackt wurden. Ich weiß nicht, woher sie kamen, was sie vorher getan haben und was sie für Menschen waren.

Ich weiß gar nichts. Als Kind hat mich das immer gestört. Auch heute frage ich mich oft, ob nicht vieles in meinem Leben anders verlaufen wäre, wenn ich bei meinen Eltern aufgewachsen wäre.

Ich bin mir als Kind immer ziemlich jämmerlich vorgekommen. Alle Kinder, die ich kannte, hatten Eltern. Nur ich nicht. Das war ein böses Gefühl.

Ich glaube, keiner von denen, die wohlbehütet und in geordneten Verhältnissen aufwachsen, kann sich vorstellen, was in einem Kind vorgeht, das unter fremden Leuten aufwächst. Ich habe es früh verlernt, zu weinen oder zu klagen.

Ich erinnere mich, dass ich als Vier- oder Fünfjähriger in dem Wald nahe der Mission, in der ich aufgewachsen bin, ein Eichhörnchen entdeckt hatte. Es gelang mir, es zu zähmen. Es war ein wirklich feines Eichhörnchen. Außer mir hatte es niemand geschafft, sich mit ihm anzufreunden.

Eines Tages kam ich in den Wald, als ein Bussard auf die Lichtung niederstieß, auf der ich immer auf das kleine Tier wartete. Er erwischte das Eichhörnchen bei der Futtersuche, packte es und schleppte es mit. Ich konnte ihm nicht helfen, aber ich habe heute noch das Pfeifen im Ohr, das das Eichhörnchen ausstieß, als es im Schnabel des Bussards starb.

Ich glaube, weder vorher noch nachher habe ich jemals stärker meine Mutter vermisst. An diesem Tag habe ich das Weinen verlernt. Ich begriff so stark wie nie zuvor, dass ich keine Mutter hatte und allein fertig werden musste.

Manchmal habe ich meine Eltern, die ich nicht kenne, verflucht, weil sie mich in diesem Leben allein gelassen haben. Dabei hatten sie bestimmt nicht die Absicht, zu sterben, und, wenn ich es recht bedenke, sie hatten sicher vor, mir eine glänzende Zukunft zu schaffen.

Warum hätten sie sonst in die Goldfelder Kaliforniens ziehen sollen? Was immer sie auch vorher getan haben mögen – eine lohnende Sache scheint es nicht gewesen zu sein. Sonst hätten sie sich kaum mit einem alten Prärieschoner einem der vielen Trecks nach Kalifornien angeschlossen. Kalifornien – das war damals ein Zauberwort. Dort bestanden die Berge aus Gold, es fielen Nuggets vom Himmel, und die Straßen waren mit Dollars gepflastert.

Meine Eltern wollten reich werden.

Heute steht ein Kreuz dort, wo alles zu Ende war, noch ehe es richtig begonnen hatte, wo alle Träume begraben werden mussten. Es ist aus einer Wagendeichsel gefertigt, und ringsherum liegen noch ein paar morsche Wagentrümmer und Räder, deren verbogene eiserne Felgen durchgerostet sind. Das alles ist mit Büffelgras überwuchert. Dazwischen blüht Salbei. Ich glaube, dass sich in den vergangenen dreißig Jahren kaum etwas dort geändert hat.

Ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen, dort, wo für mich ein neues Leben anfing, obwohl ich doch erst knapp zwei Jahren zuvor angefangen hatte, zu leben.

Ich lag in einem Planwagen. Müde, hungrig und voller Angst. Ich hatte gute Aussichten, zu verhungern oder von den Aasvögeln gefressen zu werden, die, wie man mir später erzählte, bereits am anderen Morgen nach dem Massaker über dem ausgebrannten Treck und den Leichen kreisten. Dass es nicht dazu kam, verdanke ich denen, die mir diese Geschichte, den Anfang meiner eigenen Geschichte, erzählt haben.

2.

Mit dem Tag erschienen die Geier. Sie kreisten lange über den Trümmern des Trecks, während die Sonne am Horizont immer höher kletterte.

Nach fast einer Stunde ließen die ersten der riesigen Aasvögel sich nieder, hüpften krächzend durch das taufeuchte Gras und fielen schließlich über die Leichen her.

Die stechende Sonne weckte auch das Kind. Es fing an zu schreien und scheuchte damit die Geier auf, die sich nach einiger Zeit jedoch wieder auf den Leichen niederließen, als sie merkten, dass das Geschrei ihnen nicht gefährlich werden konnte.

Bald wurde das Weinen leiser. Ein paar Geier hüpften auf den Wagen zu, in dem das Kind lag und von dem der strenge Brandgeruch sie bis jetzt abgehalten hatte.

Da ertönten plötzlich Geräusche von Handkarren. Eine Ziege meckerte. Die Geier flatterten böse krächzend vom Boden auf.

Von Osten näherten sich Männer. Sie trugen lange erdbraune Soutanen, die an den Hüften von einfachen Kordeln gehalten wurden. Sie trieben drei Ziegen mit sich und zogen mehrere Handkarren hinter sich her. Als sie die Trümmer des Trecks vor sich erblickten, blieben sie stehen. Einer schlug ein Kreuz. Dann ließen sie die Karren stehen und gingen zu den Leichen hinüber. Wind strich über die Hügel und ließ eine halb verbrannte Wagenplane flattern. Als die Padres zwischen den Leichen nieder­knieten, hörten sie das leise Weinen des Kindes.

*

So wurde ich gefunden. Dieser Tag war mein Geburtstag, mein neuer Geburtstag. Es war der 21. August 1848. Ein schlechter Tag. Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich manchmal, warum ich damals nicht getötet wurde. Mir wäre viel erspart geblieben.

Es waren Mönche vom Orden der Jünger Jesu, spanische Mönche, die mich fanden. Daran erinnere ich mich genau. Ein Mann in langem braunem Gewand kletterte in den Wagen, in dem ich lag. Er war dick und schnaufte und stöhnte bei jeder Bewegung. Außerdem schwitzte er. Er hob mich auf und senkte seinen Kopf tief zu mir herun­ter. Da er einen langen Bart trug, der mich im Gesicht kitzelte, fing ich an zu brüllen.

Der Padre hieß Bruder Ambrosius. Er erzählte mir später, ich hätte mit beiden Fäusten nach seinem Bart gepackt und ihn so sehr daran gezerrt, dass er mich fast fallen gelassen hätte.

*

Der große Mönch mit dem imposanten Bauch und dem struppigen Bart stieg über das linke Vorderrad vom Wagen. Er hielt das brüllende, blutbesudelte Deckenbündel fest in seinen Armen. „Ein Kind“, sagte er. Er hatte eine dunkle, freundliche Stimme. „Und was für eins. Es hat mir fast meinen Bart ausgerissen. Das muss ein Junge sein.“ Er wiegte das Kind lächelnd hin und her.

Die anderen Mönche traten heran und blickten staunend in das kleine, runde Gesicht, über das einige Tränen kullerten. „Ein richtiges Kind.“ Ein junger, schmächtiger Padre schüttelte grinsend den Kopf.

„Natürlich ein richtiges Kind“, sagte der Mönch mit dem Bart. „Hast du schon mal ein falsches gesehen? Ich wette, dass es Hunger hat.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte der schmächtige Padre. „Du hast doch noch nie ein Kind gehabt.“

„Das sieht man“, sagte Bruder Ambrosius. So, wie er es sagte, konnte es keine Widerrede geben.

Der junge Padre beugte sich vor und schaute dem Kind prüfend ins Gesicht. „Ich sehe nichts“, sagte er.

„Das war bei dir auch nicht anders zu erwarten, Bruder Hieronymus“, sagte der andere mit unverhohlener Verachtung.

„Und womit füttert man so ein Kind?“, fragte ein dritter.

„Ich glaube mit Milch“, sagte der bärtige Mönch. Er wurde nun doch etwas unsicher.

„Ziegenmilch?“ Der schmächtige Padre verzog das Gesicht.

„Warum nicht Ziegenmilch? Ziegenmilch ist nahrhaft und gesund. Wir leben ja auch ganz gut davon.“

„Wir sind auch keine Kinder“, entgegnete der junge Padre.

„Da wäre ich nicht so sicher.“ Bruder Ambrosius wiegte das Kind in seinen Armen. Es war mittlerweile still geworden und schaute aus großen, ungemein ausdrucksstarken, blauen Augen in das zerfurchte Gesicht des Bärtigen. Als der große Padre seine linke Hand hob und mit dem Zeigefinger winkte, begann das Kind plötzlich zu lächeln. Die Augen des Padre glänzten. Er begann, eine einfache Melodie zu summen. Er schien die Toten ringsum zu vergessen und setzte sich auf das linke Vorderrad des Wagens, aus dem er das Kind geborgen hatte.

Der schmächtige Padre brachte wenig später Ziegenmilch. Nach einigen vergeblichen Versuchen, sie dem Kind einzuflößen, tauchte Bruder Ambrosius ein sauberes Läppchen in die Milch und schob es dem Kind in den Mund, das sofort begann, daran zu lutschen.

„Es trinkt“, sagte der Padre. Sein Gesicht war rot vor Aufregung. „Ich habe es doch gewusst.“

„Und weißt du auch, was mit dem Kind werden soll?“

„Wir nehmen es mit.“

Er sagte es, und die anderen akzeptierten es. Was hätten sie auch sonst tun sollen? Sie nahmen es mit, obwohl sie nicht recht wussten, was daraus werden sollte. Sie verstanden so viel von Kindern wie eine Kuh vom Sonntag, nämlich gar nichts. Weder von großen noch von kleinen Kindern. Aber außer ihnen gab es niemanden in diesem Land, der sich um das Kind kümmern konnte.

Sie begruben die Toten. Sie schachteten eine lange, flache Grube aus und legten die Opfer des Massakers nebeneinander hinein. Sie versuchten, die Toten zu identifizieren. Aber das gelang ihnen nur bei einigen, und selbst bei denen konnten sie nicht sicher sein, dass die ihnen zugeordneten Dinge auch wirklich zu Lebzeiten ihr Eigentum gewesen waren.

Da war eine Kiste mit Büchern, die alle mit dem Namen Bill Hancock gezeichnet waren, Schullehrer aus Boston. Da war ein Bild des verstorbenen französischen Kaisers Napoleon, auf dessen Rückseite der Name Gourdet stand, das ein Toter in der Brusttasche stecken hatte. Und da war ein gravierter Paterson-Colt, auf dessen Griffrücken TO FRANK ELLIOT, FAMOUS WAGONMASTER, St. Louis, 1845 zu lesen war. Ein lederhäutiger, von einem Schädelbrecher entstellter Mann hatte ihn bei sich getragen.

Viel mehr gab es nicht. Deshalb wurden keine Namen in das Kreuz eingebrannt, das aus Wagendeichseln einfach und grob gefertigt worden war.

Padre Ambrosius untersuchte das Kind, nachdem es sich satt getrunken hatte und in seinen Armen eingeschlafen war. Seine erste Einschätzung, dass es ein Junge war, erwies sich als richtig. Er fand ein kleines, silbernes Medaillon, das an einer Kette um den Hals des Kindes hing. Es enthielt ein zierliches Frauenbild. Sonst nichts. Keinen Namen.

Die Mönche gingen mit dem Medaillon an den toten Frauen vorbei. Sie vermuteten, dass die Abbildung die Mutter des Jungen zeigte. Aber sie fanden die Frau nicht unter den Toten. Das erschien ihnen hoffnungsvoll. Sie schlossen das Grab und rammten das Kreuz in den Boden. Als sie weiterzogen, war es Abend geworden.

*

Es war zwei Tage später, als die Padres an einem grauen Morgen den Pease River erreichten, der in zahlreichen Windungen durch ein lang gestrecktes grünes Tal floss. Kurz nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, begann es zu regnen. Obwohl die Gegend unter den sich immer mehr verdichtenden Regenschleiern trostlos aussah, beschlossen sie, hier zu bleiben und eine Mission zu errichten.

Es war ein guter Platz. Das Unwetter dauerte zwei Nächte und drei Tage. Als es aufklarte, war der Fluss über die Ufer getreten und hatte zwei Zelte der Mönche weggeschwemmt. Eine Ziege, die sich während des Sturms losgerissen hatte, war von den reißenden Fluten verschlungen worden.

Der Regen hatte sich dennoch als nützlich erwiesen. So wurde das Areal, auf dem die Mission entstehen sollte, in gebührender Entfernung vom Fluss abgesteckt, sodass die Fluten, die zu erwarten waren, es auch bei Hochwasser nicht erreichen konnten.

Am Flussufer hatte ein Blitz eingeschlagen und einen riesigen Cottonwoodbaum entwurzelt, dessen Umfang selbst von zwei Männern mit ausgebreiteten Armen nur mit Mühe umspannt werden konnte. Der Blitz hatte die Wurzel gespalten, und das Holz war schwarz verkohlt, genauso wie der aufgewühlte Rasen rings um den Baum.

Ein Stück unterhalb des Baumes hatte das Wasser den Ufergrund ausgehöhlt und große Teile der sandigen Böschung abgetragen. An dieser Stelle fing sich nach dem Zurückgehen des Hochwassers die Strömung und bildete einen brodelnden Strudel. Faustgroße Kiesel wurden aus dem Erdreich gespült und von den Wellen hochgeworfen wie morsche Aststücke. Alles, was in den Strudel geriet, wurde in die Tiefe gerissen und tauchte nie mehr auf. An dieser Stelle hatte das Wasser eine dunkle, fast schwarze Färbung. Daran änderte sich jahrelang nichts.

Padre Hieronymus, der jüngste und schmächtigste der Mönche, wurde in den Tagen und Nächten während des Unwetters in den kalten, zugigen Zelten auf dem feuchten Boden krank. Er bekam Fieber und Schüttelfrost. Bruder Emanuel, der Leiter der geplanten Mission, las eine Messe für die Kranken, und es wurde bereits mit seinem Ableben gerechnet. Aber Padre Hieronymus rappelte sich noch einmal auf. Das Fieber sank. Doch er klagte weiter über Schmerzen in der Lunge und ­hüstelte ständig. Wider Erwarten gab sich der Husten jedoch nicht, verstärkte sich eher und artete in heftige, krampfartige Anfälle aus, nach denen Padre Hieronymus jedes Mal Blut spuckte. Er trug sein Leiden schweigend und still und nahm es als gottgegeben hin.

Als das Hochwasser zurückgegangen war und die Sonne den Boden ausgetrocknet hatte, begaben sich die Padres zu dem entwurzelten Cottonwoodbaum. Sie ent­asteten den Stamm und sägten die Krone ab. Padre ­Erastus, ein Mann, der direkt von einem der biblischen Urväter abzustammen schien, baute aus der Baumkrone das erste Bett für das Kind aus dem massakrierten Treck. Es wurde ein Bett, das fast wie ein Schweinetrog aussah, aber sehr bequem war. Zumindest passte das Kind gut hinein und schien sich darin wohlzufühlen. Padre ­Ambrosius vertrat diese Ansicht, nachdem er jeden Quadratzoll des Bettes misstrauisch untersucht und abgetastet hatte.

Da er es gewesen war, der als Erster das Kind zum Lächeln gebracht und mit seinem nahezu sensationellen Vorschlag, es mit Ziegenmilch zu versorgen, auch die Ernährungsprobleme teilweise gelöst hatte, galt er unter den Padres als eine Kapazität auf dem Gebiet der Kinder­pflege. Alles, was dem Jungen zugutekommen sollte, wurde daher zunächst seiner strengen Begutachtung unterzogen.

Er war sich seiner Rolle durchaus bewusst und nahm sie sehr ernst. Er sorgte auch dafür, dass die Reste der Baumkrone nicht zu Feuerholz zerhackt, sondern zu einer Art Schaukelpferd umgearbeitet wurden. Zwar war es wahrscheinlich das seltsamste Schaukelpferd, das es jemals auf der Welt gegeben hat, aber es hatte alles, was ein Schaukelpferd eben haben muss.

Das Kind ließ alle Ehrungen und Gunstbeweise gnädig und mit der Gelassenheit seines Alters über sich ergehen. Es erwies sich als robust und widerstandsfähig. Es gewöhnte sich rasch an die Gesichter der Mönche, die alle naselang nach ihm schauten, und schrie nicht mehr. Es schien zu begreifen, dass es eine Sonderstellung einnahm, und verhielt sich dementsprechend. Da es schon alle Zähne hatte, aß es bald mit Vorliebe Maisschrotbrot, das mit süßer Milch getränkt worden war.

Aus dem entasteten Baumstamm entstanden nach tagelanger harter Knochenarbeit die vier Eckpfosten der Kapelle, des ersten Gebäudes der Mission.

Kurz nach dem Unwetter tauchten auf einem nahen Hügel ein paar Indianer auf. Sie spähten herüber, beobachteten die Arbeit der Padres eine Weile und verschwanden so sang- und klanglos, wie sie erschienen waren. In den nächsten Wochen ließen sich keine weiteren Indianer mehr sehen.

In dem Gerüst der Missionskapelle taufte Padre ­Emanuel etwa drei Wochen nach dem Eintreffen der Mönche den Jungen. Bis dahin hatten die Padres darauf gehofft, Näheres über das Kind zu erfahren. Vergeblich. So fanden sie sich damit ab, es behalten und aufziehen zu müssen. Ein letzter Hoffnungsfunke jedoch blieb, dass die Geschichte des Kindes sich doch noch einmal klären würde. So gaben sie ihm den Namen Ronco, weil sie es in der rauen Wildnis gefunden hatten. Es sollte nicht der endgültige Name sein.

Als ihm das Weihwasser auf die Stirn getupft wurde, fing Ronco an zu brüllen, und Padre Ambrosius hatte nach der Zeremonie lange damit zu tun, ihn zu beruhigen.

3.

Das Leben ist mit einem Bild zu vergleichen, dessen Motiv zu Beginn nicht ganz feststeht, und das im Grunde nie fertig wird. Pinselstrich kommt zu Pinselstrich, Farbtupfer zu Farbtupfer, und nichts davon lässt sich wieder auslöschen. Am Anfang sind es nur wenige Farbkleckse, erst später schälen sich Konturen heraus.

Ein solcher Farbklecks auf der damals fast völlig weißen Leinwand meines Lebens war zum Beispiel die Krähe, die sich in der Mauernische des Turms der Missions­kapelle ein Nest baute. Sie wurde Norah gerufen, und die Padres hatten ihr beigebracht, Melodien zu pfeifen. Sie versuchte es mit Lobet den Herren und einigen anderen Kirchenliedern.

Sie war jedoch genauso diebisch und unverschämt wie musikalisch. Sie klaute, was sie in ihrem Schnabel wegschleppen konnte. An einem Tag im Herbst des Jahres 1850 hatte Padre Ambrosius mich in einen mit heißem Wasser gefüllten Holzzuber gesetzt, um mich zu waschen. Das silberne Medaillon, das ich sonst stets um den Hals trug, lag auf dem Sims des geöffneten Fensters.

Während der Padre mich einseifte, landete Norah auf dem Fensterbrett, flötete Lobet den Herren durch das Fenster, schnappte sich das Medaillon und flatterte davon. Padre Ambrosius bemerkte es im letzten Moment, ließ mich im Seifenschaum sitzen und rannte nach draußen, um Norah zu verfolgen, was bei seiner Leibesfülle nicht einfach war.

Norah drehte elegante Runden über dem Missionshof, das Medaillon im Schnabel. Schließlich landete sie in ihrem Nest. Während ich schrie, weil mir der Seifenschaum in die Augen lief, lehnte Padre Ambrosius eine Leiter an den Turm der Kapelle und kletterte hinauf zu Norahs Nest, wo er das Medaillon bergen konnte.

Seit dieser Zeit sind mir Krähen unsympathisch.

Im Jahre 1851, etwa zweieinhalb Jahre, nachdem man mich aus den Trümmern des Trecks geborgen hatte, fiel zum ersten Mal ein Schatten auf das bis dahin sorglose Leben in der Mission.