Rosefield Academy of Arts – The Secrets We Keep - Ana Woods - E-Book
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Rosefield Academy of Arts – The Secrets We Keep E-Book

Ana Woods

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Beschreibung

Eine Eliteuniversität an der Geheimnisse, Intrigen und Rivalitäten auf dem Lehrplan stehen … Um den mysteriösen Tod ihrer Schwester aufzuklären, bewirbt sich auch Hazel an der Eliteuniversität Rosefield Academy of Arts. Doch als sie dort ankommt, erschweren Intrigen und Rivalitäten unter den Studierenden ihre Suche nach der Wahrheit. Nur zu dem charmanten Tristan spürt sie sofort eine tiefe Verbundenheit, die über ihre Liebe zur Musik hinausgeht. Gemeinsam folgen Hazel und Tristan neuen Hinweisen. Doch als Hazel ein gefährliches Geheimnis lüftet, weiß sie plötzlich nicht mehr, ob sie Tristan trauen kann. Gelingt es ihr, die Wahrheit ans Licht bringen, bevor es zu spät ist?    Ana Woods entführt uns an eine Eliteuni im verregneten England und erzählt eine spannende Liebesgeschichte rund um zwei Menschen, die nicht nur die Liebe zur Musik vereint ... 

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Playlist

1

Hazel

2

Hazel

3

Tristan

4

Hazel

5

Hazel

6

Hazel

7

Tristan

8

Hazel

9

Hazel

10

Hazel

11

Tristan

12

Hazel

13

Hazel

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Hazel

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Hazel

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Hazel

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Tristan

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Hazel

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Hazel

Tristan

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Hazel

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Tristan

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Hazel

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Hazel

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Hazel

Tristan

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Hazel

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Tristan

27

Hazel

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Hazel

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Hazel

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Hazel

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Tristan

32

Hazel

33

Hazel

Epilog

Tristan

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für mich

Ich hätte nie geglaubt, jemals so weit zu kommen. Nun erscheint mein bereits zehntes Buch. Danke, Vergangenheits-Ich, dass du niemals aufgegeben hast.

Playlist

Samuel Barber – Adagio for strings, op. 11

The Verve – Bittersweet symphony

Counting Crows – Colorblind

Maisie Peters – Feels like this

Amber Run – I found

Cody Fry – I hear a symphony

Jason Mraz – I won’t give up

Yiruma – Kiss the rain

Emily Watts – La vie en rose

Adele – Love in the dark

David Garrett & Andrea Bocelli – Ma dove sei

Counting Crows – Raining in Baltimore

BANNERS – Somebody to you

Hozier – Take me to church

Panic! At the disco – The ballad of Mona Lisa

James Arthur – Train wreck

Sleeping at last – Turning page

Lana Del Rey – Young and beautiful

1

Hazel

Meine Kleidung hing an mir wie ein nasser Sack. Nur mit größter Mühe konnte ich meinen Koffer über den matschigen Untergrund hinter mir herziehen. Wieso musste es auch gerade heute wie aus Eimern schütten? Verflucht sei dieses wechselhafte britische Wetter!

Durch den Regen hatten Schlamm und Geröll die Straße versperrt, die zur Universität führte. Daher hatte der Bus mich nicht den kompletten Weg bringen können. Stattdessen wurde ich an der Kreuzung der verlassenen Hauptstraße rausgeworfen, die eher einem Schotterweg glich, und musste mich die restlichen Meter selbst vorankämpfen. Zu allem Übel lag das Gebäude der Universität auch noch auf einem Hügel, der vom Regen natürlich ebenfalls völlig aufgeweicht war. Wie hätte es auch sonst sein sollen.

Mit der freien Hand hielt ich mir den dunkelbraunen Trenchcoat zu. Mehr aus Reflex, denn der Regen drang nichtsdestotrotz durch jede Ritze. Dabei hatte ich mich extra schick gemacht. Die braunen Haare hatte ich in einen ordentlichen Dutt gebunden und mit goldenen Haarnadeln fixiert und meinen Pony ausnahmsweise sogar geglättet. Nun stand er mir wild zu Berge. Anstatt meiner üblichen weiten Highwaist-Shorts hatte ich mich in ein kariertes Kleid in den Universitätsfarben – beige und bordeauxrot – gezwängt und das Outfit mit einer Wollstrumpfhose und schwarzen Lackschuhen kombiniert.

Dass ich nun wie ein begossener Pudel vor den Rektor treten musste, war leider nicht zu ändern. Trotzdem hoffte ich, dass er mich nicht naserümpfend gleich wieder fortschicken würde. Schließlich war die Rosefield Academy of Arts eine Eliteuniversität, die pro Jahrgang und Studienfach nur eine Handvoll neuer Studenten aufnahm.

Lange Zeit war es mein Traum gewesen, an einem solchen Ort klassische Musik mit Schwerpunkt Klavier zu studieren. Nachdem ich im vergangenen Jahr durch die Aufnahmeprüfung gerasselt war, hatte ich mir für dieses keine Chancen mehr ausgerechnet. Als vor wenigen Wochen dann die Zusage für einen Platz mit Teilstipendium ins Haus geflattert war, hatte ich mein Glück kaum fassen können. Auch jetzt konnte ich es noch nicht so recht glauben. Das würde sich vermutlich erst ändern, sobald der Unterricht am Montag begann.

Weiterhin angestrengt, hievte ich mein Gepäck die letzten Meter die Straße hoch. Ich wich zahlreichen Steinen aus und versuchte, auf dem glitschigen Untergrund nicht wegzurutschen.

Wegen des Starkregens hatte ich das Gebäude von unten kaum erkannt, aber nun, da ich direkt davorstand, war ich ehrfürchtig und aufgeregt zugleich.

Ich schirmte mit der einen Hand mein Gesicht vor dem Regen ab und legte den Kopf in den Nacken. Schon das große Eingangstor, das aufgrund der rechts und links verlaufenden Pilaster dem Barockstil ähnelte, war unglaublich imposant. Der kühle beige Stein war mit unzähligen künstlerischen Verzierungen versehen. Und hoch oben über dem Rundbogen prangte das schildförmige von Rosenranken umrahmte Wappen. Während im Schriftband der Name der Universität zu lesen war, erkannte ich innerhalb des Wappens ineinander verschlungene Ballettschuhe, eine Theatermaske, eine Schere mit Nadel und Faden, Hammer mit Meißel und Musiknoten.

Instinktiv hoben sich meine Mundwinkel. Für einen Moment verdrängte ich sogar die Tatsache, dass ich noch immer mitten im Regen stand. Ich war hier. Hier in Lincolnshire, und stand vor den Toren einer der weltweit renommiertesten Akademien der Künste.

Als der Himmel von grellen Blitzen durchzuckt wurde, die diesen in gleißendes Licht tauchten, atmete ich ein letztes Mal tief durch. Ich passierte das Tor und trat in den weitläufigen Vorgarten, hinter dem sich das u-förmig angelegte Hauptgebäude erstreckte. Die Turmspitzen ragten majestätisch vor der dichten Wolkendecke auf. Der von den Giebeln prasselnde Regen, der hin und wieder von einem dumpfen Donnerschlag durchbrochen wurde, erzeugte einen Klang wie ein Orchester.

Der gepflasterte Mittelweg war von Pfützen durchtränkt. Nur wenige Menschen waren auf dem Außengelände unterwegs. Einige von ihnen suchten unter den Bäumen Schutz. An einem sonnigen Tag musste der Garten unglaublich schön aussehen mit seinen akkurat angelegten Wiesen, die von blühenden Sträuchern und Hecken umsäumt waren, und den Springbrunnen, die sich rechts und links wie Wasserfälle auftürmten. Nun war all dies in ein tristes Grau getränkt, als hätte jemand die Sättigung aus sämtlichen Farben genommen.

Ich beschleunigte meine Schritte. Die kleinen Absätze klackerten auf dem Stein. Das Geräusch war so laut, dass ich das Gefühl hatte, es würde selbst den prasselnden Regen übertönen.

Als ich am Hauptgebäude angekommen war, schlug die Glocke 6 Uhr. Der plötzliche Laut ließ mich zusammenzucken, wobei mir beinahe der Griff meines Koffers entglitt. Zügig huschte ich die zwei Stufen zum überdachten Eingang hoch. Das dunkle Holz der massiven Doppeltür war beängstigend, denn es war das Einzige, was mich noch von meinem neuen Leben trennte. Ein Leben, das ich mir zwar erträumt hatte, es aber wirklich zu leben, war eine ganz andere Hausnummer.

»Komm schon, Hazel, du schaffst das«, sprach ich mir selbst Mut zu, während ich nach der verschnörkelten Klinke griff, die ganz schwer in meiner Hand wog. Ich drückte sie hinunter und öffnete die Tür.

»Pass doch auf, wo du hinläufst«, zischte ein blondes Mädchen in meinem Alter und presste sich an mir vorbei. Dabei peitschte sie mir ihren Pferdeschwanz ins Gesicht. Sie zog die Brauen zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf, ehe sie die Stufen hinunterging.

Zu perplex, um zu reagieren, blinzelte ich ein paarmal und schaute ihr hinterher, bis sie mit dem Regen verschmolz. Was bitte war das denn gewesen? Sie hatte schließlich mich angerempelt und nicht andersherum. Ich schluckte gegen die in mir aufkeimende Wut an und trat über die Schwelle. Eine angenehme Wärme hüllte mich ein, und ein sanftes Prickeln überzog meine Haut, als meine zitternden Glieder auftauten.

Das Gebäude war schon von außen imposant gewesen, doch die Eingangshalle übertraf alles. Mit stockendem Atem ließ ich den Blick schweifen und nahm die Architektur des Foyers in mich auf. Den Steinboden zierte ein dunkles Mosaik, das das Universitätswappen darstellte. Von der mit Stuck verzierten Decke baumelte ein funkelnder Kronleuchter, der so alt aussah, wie er vermutlich auch war.

Wenige Studenten huschten an mir vorbei, beachteten mich allerdings nicht. Langsam lief ich weiter auf die breite Treppe zu, die mit einem dicken bordeauxfarbenen Teppich ausgelegt war. Selbst durch meine Sohlen fühlte dieser sich weich und luxuriös an.

Möglichst leise hob ich meinen Koffer auf die erste Stufe. Ich strauchelte von dem Gewicht und das, obwohl die meisten meiner Sachen erst in der kommenden Woche angeliefert wurden. Somit hatte ich nur die nötigste Kleidung für die nächsten Tage und eine der Uniformen eingepackt, die man mir zur Verfügung gestellt hatte.

Glücklicherweise mussten wir diese lediglich zu besonderen Anlässen und an den Prüfungstagen tragen. Um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, hieß es auf der Internetseite. Doch das hatte schon auf meiner Schule in Cardiff nicht funktioniert. Denn nur weil man die gleiche Kleidung trug, war man noch lange nicht gleich. Und es gab immer jemanden, der einem diese Tatsache ständig vor Augen führte.

Das Büro des Rektors lag in der ersten Etage des Nordflügels, in dem sich auch die Fakultät für Bildende Künste befand. Deren Studienangebot umfasste neben Kunstgeschichte auch Malerei, Bildhauerei und Grafik.

Jede Fakultät hatte ihre Unterrichtsräume in einem anderen Flügel, der aus zwei Gebäuden bestand. Diese waren auf jeder Etage durch eine Brücke miteinander verbunden. Die Darstellenden Künste wurden im Westflügel gelehrt, an den auch das Universitätstheater angrenzte.

Für die gestalterischen Fachbereiche wurde vor rund zwanzig Jahren ein neuer Anbau errichtet, und die Fakultät für Musik – meine Fakultät – lag im Ostflügel. Dahinter befand sich das Konzerthaus, auf das ich mich schon besonders freute. Bisher hatte ich die Universität lediglich auf Bildern gesehen, da die Aufnahmeprüfungen in London stattgefunden hatten. Nun wirklich hier zu sein entfachte ein ungeahntes Feuer in mir.

Der Flur schien endlos. Während die hohen Fenster auf der rechten Seite dämmeriges Licht hineinließen, waren auf der linken Seite unzählige Türen zu finden, die alle nahezu identisch aussahen. Ich warf einen Blick auf die ersten beiden Zimmernummern und steuerte dann die entgegengesetzte Richtung an.

Hier in der ersten Etage wuselte es vor Kunststudenten, obwohl das Semester noch nicht begonnen hatte. Oder es handelte sich bei ihnen um Neuzugänge wie mich.

Eigentlich wollte ich ebenfalls vor einigen Tagen bereits anreisen, aber mein Chef hatte keinen Ersatz für meine Schichten im Café gefunden. Das hätte nicht meine Sorge sein müssen, aber wir pflegten ein gutes Verhältnis zueinander. Er hatte mir den Job als Barista gegeben, obwohl ich weder Vorkenntnisse noch Talent hatte. Dennoch hatte er mich nicht sofort wieder entlassen, sondern mir eine Chance eingeräumt. Daher wollte ich ihn nicht hängen lassen.

Das war allerdings der Grund, weshalb ich nun erst am Samstagabend vor Studienbeginn hier war und kaum Zeit hatte, mich einzuleben oder umzusehen. Glücklicherweise war das Gelände relativ übersichtlich.

Alexander Cavanaugh stand auf der an der Wand befestigten goldenen Plakette neben der Zimmertür, vor der ich stehen blieb.

Ein letztes Mal schaute ich an mir hinab. Ich sah wirklich furchtbar aus. Es wäre wohl besser gewesen, ich hätte erst mal einen Waschraum aufgesucht, um wenigstens meine Frisur zu richten, aber ich war bereits spät dran. Zwar hatte ich rechtzeitig angerufen und Bescheid gegeben, als der Bus aufgrund des Regens kurzzeitig liegen geblieben war, dennoch machte das an einem Ort wie Rosefield sicher nicht den besten Eindruck.

Ich klopfte dreimal und wartete.

Ein leises Räuspern. »Herein.«

Ich trat in ein großzügiges Büro, der dunkle Teppich war leicht verblasst, das tat seinem Charme jedoch keinen Abbruch. An den Wänden reihten sich schokoladenbraune Bücherregale auf, die zahlreiche ledergebundene Wälzer beherbergten. Eine kleine Tür verband das Büro mit dem Nebenzimmer, in dem sich das Sekretariat befinden musste. Im Zentrum stand der Mahagonischreibtisch, hinter dem Rektor Cavanaugh saß.

Sein ergrautes Haar war ordentlich zurückgekämmt, sein bordeauxfarbenes Jackett fein säuberlich gebügelt, genauso wie das weiße Hemd und die karierte Krawatte, die er darunter trug. Die Hände hatte er ineinander verschränkt auf dem Tisch abgelegt und musterte mich aus grünblauen Augen. Die neutrale Miene auf seinem Gesicht ließ nicht auf seine Gemütslage schließen.

»Miss Gibbs, wie schön, dass Sie hergefunden haben. Wie mir scheint, sind Sie mitten in den Regen gekommen, das tut mir sehr leid. Setzen Sie sich doch bitte.« Seine Stimme war freundlich, während er weiterhin sein Pokerface trug und auf den freien Stuhl vor sich deutete.

Ich stellte meinen Koffer neben der Tür ab, zog den Mantel aus und strich mir das Kleid glatt. Nun ja, ich versuchte es zumindest. Dann schob ich mir den mit Samt überzogenen Stuhl zurecht und setzte mich. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen, weil ich den Stoff völlig durchweichte.

»Vielen Dank«, sagte ich und bettete meine leicht zitternden Hände in den Schoß. »Es ist wirklich eine Ehre, an der Academy aufgenommen worden zu sein. Ich danke Ihnen sehr für diese Chance. Ich werde Sie nicht enttäuschen.« Auf dem Weg hierher war ich dieses Gespräch gedanklich unzählige Male durchgegangen, trotzdem war ich nervös und befürchtete, etwas Falsches zu sagen.

Rektor Cavanaughs Mundwinkel zuckten. »Das glaube ich auch nicht, Miss Gibbs.« Vor ihm lag eine Akte, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Jetzt strich er über den Einband, schlug sie auf und reichte mir das oben aufliegende Papier. »Das hier wird Ihr Stundenplan des ersten Semesters sein. Wie Sie sicherlich wissen, gliedert sich der Unterricht in Rosefield in zwei Semester pro Jahr anstatt drei Trimester, anders als an vielen anderen britischen Universitäten. Ihre Einzelstunden finden donnerstags von vier bis sechs bei Mrs Hildred statt. Seien Sie pünktlich.«

»Natürlich.« Ich nahm den Stundenplan an mich, wagte es aber nicht, so unhöflich zu sein und ihn schon durchzugehen. Stattdessen konzentrierte ich mich weiterhin auf Mr Cavanaugh.

»Gut.« Er widmete sich wieder der Akte. »Wie ich sehe, sind Sie mit Lucy Gibbs verwandt.« Mitgefühl lag in seinen Augen, als er meinen Blick auffing. »Mein herzliches Beileid.«

»Danke schön.« Meine Stimme verlor sich. Ich hatte nicht damit gerechnet, schon am Ankunftstag auf meine Schwester angesprochen zu werden.

»Sollten Sie mit jemandem reden wollen, sagen Sie Bescheid. Es gibt zahlreiche Spezialisten an der Universität, sollten unsere Studenten mit Problemen zu kämpfen haben.«

Leise räuspernd senkte ich den Blick. »Danke, das ist nicht nötig.«

Lucys Tod lag bereits vier Jahre zurück. Natürlich vermisste ich sie in jeder wachen Minute schmerzlich, aber ich hatte gelernt, damit umzugehen. Die schönen Erinnerungen an sie konnte mir niemand nehmen. Auf diese Weise lebte sie in mir weiter und zauberte mir in schwierigen Phasen ein Lächeln auf die Lippen.

»Falls Sie es sich anders überlegen, wenden Sie sich gerne an mich. Wir werden einen Termin passend zu Ihrem Stundenplan finden.«

»Okay.« Mehr sagte ich nicht, denn ich wollte das Thema nicht vertiefen.

»Gut. Dann kommen wir nun zum Regelwerk«, fuhr Mr Cavanaugh fort. Ich hatte mir die umfangreichen Regeln zwar mehrfach durchgelesen und weitestgehend verinnerlicht, um nicht in den ersten Tagen gleich ins Fettnäpfchen zu treten, trotzdem lauschte ich seinen Worten. »Es ist Ihnen jederzeit gestattet, das Gelände zu verlassen. Sehen Sie allerdings zu, dass Sie pünktlich zum Unterricht erscheinen und keine Stunden versäumen. Pünktlichkeit ist an dieser Institution das A und O.«

Er hob den Blick, woraufhin ich nickte. »Besucher von außerhalb werden nur nach einwöchiger Vorankündigung und nicht über Nacht gestattet. Auch nicht an den Wochenenden. Das dazugehörige Antragsstellungsformular händigt das Sekretariat Ihnen gern aus. Es ist täglich von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends besetzt. Exzessive Partys und der Konsum von Alkohol sind auf dem Universitätsgelände strengstens untersagt. Wir sind eine Lehrinstitution und kein Nachtclub. Wer gegen diese Regel verstößt, erhält eine Abmahnung. Bei der zweiten Abmahnung werden Sie der Universität verwiesen, und ein anderer Bewerber rückt für Sie nach. Einzige Ausnahme gilt für die von den Fakultäten oder der Universität ausgerichteten angemeldeten Veranstaltungen.«

Mir brach der Schweiß aus. Ich war zwar ohnehin keine Partygängerin, dennoch empfand ich diese Regel als sehr hart. Aber ich wollte in keinem Fall meinen Studienplatz gefährden, daher würde ich mich daran halten.

Noch ein paar Minuten las Mr Cavanaugh die restlichen Regeln vor und ging ab und zu sicher, dass ich ihm folgen konnte. Als er schließlich am Ende angekommen war, stieß ich erleichtert den Atem aus.

»Haben Sie noch Fragen?« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute mich abwartend an.

Ich schüttelte den Kopf. »Fürs Erste nicht, nein.«

»Sehr schön.« Mr Cavanaugh schloss die Akte und schob sie zur Seite. Anschließend öffnete er die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte ein Schlüsselbund hervor. Auf der Plakette stand B–2–24. »Das hier ist Ihre Wohneinheit. Wohnheim B, zweite Etage, Zimmer vierundzwanzig. Ihre Mitbewohnerinnen sind Miss Charlotte Barton und Miss Mila Clarkson, zwei unserer angesehensten Studentinnen aus dem zweiten Lehrjahr. Ich denke, Sie sind bei ihnen sehr gut aufgehoben. Sollten Sie Fragen haben, werden die beiden Ihnen jederzeit behilflich sein. Sie werden Sie ebenfalls über das Gelände führen und Ihnen die wichtigsten Anlaufstellen zeigen.«

»Vielen Dank.« Ich nahm die Schlüssel entgegen. Eigentlich hatte ich geglaubt, mir die Wohneinheit mit zwei Erstsemestlern zu teilen. Ich hoffte inständig, dass meine beiden Mitbewohnerinnen nicht so unhöflich waren wie das Mädchen, das mich gleich nach dem Ankommen angepampt hatte.

»Die Einführungsveranstaltung findet am Montag um 8 Uhr im Theater statt. Kleiden Sie sich dafür angemessen.« Er deutete auf sein Jackett, und ich verstand. Uniformpflicht. »Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Zeit an der Rosefield Academy of Arts.« Mr Cavanaugh stand auf und reichte mir die Hand. Als ich sie ergriff, schüttelte er meine fest. »Machen Sie uns stolz.«

»Das werde ich«, versprach ich, ehe ich mich mit Schlüssel und Stundenplan in der Hand abwandte. Ich legte mir den Mantel über, nahm meinen Koffer und verließ das Büro. Eine zentnerschwere Last fiel von meinen Schultern.

Ich hatte mir das Erstgespräch zwar deutlich schlimmer vorgestellt, trotzdem war es immer merkwürdig, im Büro eines Rektors zu sitzen. Man hatte jedes Mal das Gefühl, etwas verbrochen zu haben.

Die Wohnheime befanden sich auf der Westseite des Hügels hinter dem Theater. Ich trat aus dem Gebäude und folgte dem blumenbewachsenen Pfad, der zur Anlage führte. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört.

Im Gegensatz zum Hauptgebäude waren die abgeflachten Wohnhäuser in einem etwas moderneren Stil gehalten, der sich von der sonst vorherrschenden barocken und gotischen Bauweise abhob. Das lag daran, dass sie erst vor einem halben Jahrhundert nachträglich gebaut worden waren. Zur Zeit der Gründung von Rosefield im Jahre 1770 hatten die Unterkünfte noch in den oberen beiden Etagen des Westflügels gelegen, wo Jungen und Mädchen – nachdem auch diese sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts für ein Studium einschreiben durften – streng getrennt worden waren. Trotz des elitären Status der Akademie wurde glücklicherweise nicht an diesen längst überholten Traditionen festgehalten.

Jedes der Wohnheime bestand aus vier Etagen mit jeweils vierundzwanzig Wohneinheiten. Insgesamt boten diese also Platz für rund eintausend Personen – was zwei Dritteln der Obergrenze der Studenten an der Rosefield entsprach. Ob wirklich jedes Zimmer belegt war, wagte ich allerdings zu bezweifeln. Denn es war nicht verpflichtend, auf dem Gelände wohnhaft zu sein.

Schwungvoll öffnete ich die Tür zum Wohnheim B. Augenblicklich pustete mir stickige Luft ins Gesicht, die im kompletten Gegensatz zu der Schwüle draußen stand. Ich geriet ins Schwitzen, während ich das Treppenhaus zu meiner Rechten ansteuerte. Ich blickte in ein paar freundliche und teilweise nervöse Gesichter, nickte einigen Studenten im Vorbeigehen zu oder erwiderte einen Gruß. Es erweckte den Anschein, als wären die meisten relativ höflich, was mich erleichterte.

Mein Zimmer lag zwar nur in der zweiten Etage, das änderte aber nichts daran, dass ich heftig nach Atem rang, als ich mein Stockwerk erreicht hatte. Langsam lief ich den schmalen Flur bis zum Ende entlang. Vor meiner Wohneinheit blieb ich stehen. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.

»Hallo?«, sagte ich und schob den Kopf hindurch. Ein leises Tuscheln ertönte, kurz darauf wurde die Tür aufgerissen.

»Du musst Hazel sein!«, sagte ein rothaariges Mädchen, das bis über beide Backen strahlte. Dann zog sie mich so plötzlich in eine Umarmung, dass ich versteifte. Als sie wieder von mir abließ, entschuldigte sie sich leise. Sie hatte sich ein paar bunte Bänder in die Haare geflochten, die bei jeder Kopfbewegung auf- und abwippten. »Ich bin Mila, das ist Charlotte«, fuhr sie fort und deutete auf das zurückhaltende blonde Mädchen, das schräg hinter ihr stand und grinsend winkte. »Wir freuen uns so sehr, dass du hier bist, Hazel. Komm rein, komm rein, dann zeigen wir dir dein Zimmer.«

»Okay«, brach es verunsichert aus mir hervor. Mila schien eindeutig ein Wirbelwind zu sein, was mich ein wenig überforderte. Sie griff nach meinem Handgelenk und zog mich förmlich in die Wohnung. Ich hatte keine Gelegenheit, die Diele näher zu betrachten.

»Du gewöhnst dich daran«, flüsterte Charlotte kichernd, als wir bei ihr angekommen waren. Ihre Gesichtszüge waren so weich, dass sie mich an eine Fee erinnerte. Dazu hatte sie große braune Knopfaugen, denen man sicher gern jeden Wunsch erfüllte. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und folgte uns. Ihr glockenförmiger Rock schwang hin und her.

»Hoffentlich«, murmelte ich und grinste.

»Das hier ist der Gemeinschaftsraum alias Wohnzimmer und Küche«, sagte Mila und betätigte den Lichtschalter.

»Wow«, hauchte ich ehrfürchtig. Ich hatte gewusst, dass uns ganze Wohnungen zur Verfügung standen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass diese so geräumig waren.

Der Wohnbereich grenzte an eine kleine offene Kochnische und maß etwa fünfzehn Quadratmeter. Den meisten Platz nahm dabei die große und bequem aussehende Couch ein. Entlang der rechten Wand befand sich eine Kommode, auf der ein Fünfzigzoller stand. Daneben war eine Tür, die sicher in eines der Schlafzimmer führte.

Auf dem Boden vor dem Fernseher waren zahlreiche Spielekonsolen verstreut, die ich argwöhnisch musterte. Als Mila meinen Blick bemerkte, lachte sie. »Falls wir am Abend mal Zeit haben, zocken wir Videospiele. In Mario Kart bin ich unschlagbar.«

»Oh, das werden wir noch sehen«, erwiderte ich. Zwar spielte ich nicht oft auf der Konsole, war aber trotzdem in vielen Spielen ein Naturtalent, was womöglich an meinen ausgeprägten motorischen Fähigkeiten lag.

Mila verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete mich zweifelnd. »Das schreit doch förmlich nach einem Wettkampf.«

»Erst müssen wir Hazel ihr Zimmer zeigen«, entgegnete Charlotte. Dabei war ich noch nicht mal damit fertig, das Wohnzimmer in mich aufzunehmen.

»Du hast recht!« Mila legte mir die Hand an den unteren Rücken und schob mich an der Kochnische vorbei zur linken Wandseite, von der zwei weitere Türen abgingen. Charlotte nahm mir meinen Koffer ab und folgte uns.

Noch wusste ich nicht recht, wie ich die beiden einschätzen sollte. Ich war von der Anreise aus Wales ausgelaugt, war verschwitzt und fühlte mich dreckig. Und bisher hatte es keinen Moment gegeben, um einfach mal richtig ankommen zu können. Natürlich rechnete ich es ihnen hoch an, dass sie mich sofort in ihr Grüppchen aufnahmen, dennoch ging das alles wahnsinnig schnell.

Trotz meines Zwiespalts flatterte mein Herz aufgeregt. Gleich würde ich das Zimmer sehen, in dem ich, wenn alles nach Plan lief, die nächsten drei Jahre meines Lebens verbringen würde.

»Bereit?«, fragte Mila. Als ich nickte, öffnete sie die Tür. Aber in keiner Weise schnell, sondern so quälend langsam, dass meine Atmung sich vor Nervosität beschleunigte.

»Mach schon!«, drängelte Charlotte an meiner statt.

Mila lachte leise. Es war ein angenehm melodischer Ton, sodass ich mich fragte, ob sie wohl Gesang studierte. Die Stimmfarbe dafür hatte sie allemal.

Mir klappte die Kinnlade herunter, kaum dass die Tür geöffnet war. Das Zimmer war etwas kleiner als der Wohnbereich, aber unfassbar gemütlich eingerichtet. Glücklicherweise stellte die Universität ihren Studenten den Großteil des Mobiliars. Ich wäre wahnsinnig geworden, hätte ich mich auch noch darum kümmern müssen.

Die beige-braunen Gardinen waren zugezogen, sodass kein tristes Dämmerlicht ins Zimmer drang. Aber das war auch nicht nötig. Auf der Kommode neben dem Bett stand eine kleine Leuchte, die an eine antike Öllampe erinnerte. Ihr sanfter Schein tauchte das Zimmer in ein schummeriges Licht, bei dem ich mich am liebsten mit einem dicken Buch und einem heißen Tee unter der Bettdecke eingemummelt hätte. Eine rostfarbene Tagesdecke war über die Laken geworfen.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein Kleiderschrank, der augenscheinlich aus dunklem Mahagoni gefertigt war wie auch die Möbel im Büro des Rektors und ebenso wie der kleine Sekretär zu meiner Rechten.

Ich ging einige Schritte durchs Zimmer und ließ die Finger über den Tisch gleiten. Kein Krümelchen Staub haftete daran. Schon immer hatte ich mir einen solchen Sekretär gewünscht. Durch die Ablagen und Schubladen bot er genügend Platz für meine Lernutensilien. Des Weiteren gab es noch ein hohes Regal, das ich nicht nur mit den Lehrbüchern, sondern auch mit den Romanen füllen konnte, die in einem der Umzugskartons sein würden.

»Und jetzt das Beste!« Charlotte lief am Bett vorbei und zog ruckartig die Gardinen auf. Zum Vorschein kam ein breites Fensterbrett, das mit einer dünnen Decke und Kissen ausgelegt war.

Wie von selbst ging ich zu Charlotte und lächelte. Da unsere Wohnung die letzte auf der Etage war, offenbarte sich mir der einzigartige Blick auf den Wald, der hinter der Universität verlief. Bäume standen dicht an dicht, reckten ihre kümmerlichen Äste gen Himmel. Die wenigen Blätter an ihnen wogen im Takt des Windes hin und her. Fast meinte ich, ihr Rascheln durch das geschlossene Fenster zu hören. Für viele war dieser Anblick vermutlich gespenstisch, gerade da es hier oft nebelig war, aber für mich war diese Aussicht perfekt.

»Das Zimmer ist unglaublich«, hauchte ich. Zwar fehlte noch einiges, um es heimisch zu machen, aber sobald meine Kartons hier waren, würde ich mich so richtig eingewöhnen können. Und dann wäre ich angekommen.

»Ja, du hast das beste Zimmer erwischt«, pflichtete Mila mir bei. »Eigentlich wollte ich einziehen, nachdem Scarlett von der Uni geflogen ist, aber Charlotte hat es mir verboten.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihrer Freundin einen empörten Blick zu.

»Warum ist Scarlett geflogen?«, fragte ich und setzte mich auf die Matratze, die sofort unter meinem Gewicht nachgab. Am liebsten hätte ich mich in die Kissen geschmiegt und erst mal ordentlich geschlafen.

Mila lehnte sich mir gegenüber gegen den Sekretär. »Nun, nicht viele halten dem Druck der Academy stand. Das Leben hier ist hart, es herrschen Rivalitäten untereinander.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dafür war Scarlett einfach nicht gemacht.«

»Oh«, entfuhr es mir. Der leichte Anflug von Panik musste aus meiner Stimme herauszuhören sein.

»Aber das bedeutet nicht, dass du es nicht schaffst. Das wirst du mit Sicherheit«, sagte Charlotte schnell und lächelte aufmunternd. »Du studierst klassische Musik mit Schwerpunkt Klavier, richtig?« Sie setzte sich zu mir und schaute mich aus diesen großen braunen Augen an. Alles an ihrer Ausstrahlung wirkte beruhigend.

Ich nickte. »Ja, genau. Und was studiert ihr?«

»Ich studiere Fashion Design«, erklärte Charlotte, dann deutete sie auf Mila. »Sie studiert Musical und Show. Wundere dich also nicht, wenn du morgens durch ihre Gesangseinlagen geweckt wirst.«

Ich schaute Mila noch einmal an. Es ergab Sinn. Die bunten Bänder in ihren Haaren, die klangvolle Stimme, die aufbrausende Art. Eigentlich schrie alles an ihr nach purem Entertainment.

»Oder Charlotte weckt dich, weil du sonst zu spät kommst, womit du gegen die Regeln verstoßen würdest. Und unsere kleine Miss Perfect hier würde niemals gegen eine Regel verstoßen.« Mila streckte Charlotte die Zunge heraus.

»Das stimmt doch gar nicht!«

»Du gehst nicht mal in einem verlassenen Ort bei Rot über die Straße.«

»Ja, weil ich kein schlechtes Vorbild für andere sein möchte.«

»Die Betonung lag nicht ohne Grund auf verlassen.«

Ich lehnte mich zurück und genoss die Show. Mila und Charlotte schienen nicht nur optisch zwei grundverschiedene Typen zu sein, sondern auch charakterlich. Aber allem Anschein nach verstanden sie sich trotzdem. Man sagte wohl nicht grundlos, dass Gegensätze sich anzogen.

»Wie ist das bei dir, Hazel? Bei Rot über die Straße gehen oder nicht?«, fragte Mila mit einem herausfordernden Unterton.

Ich legte den Kopf schief und lachte. »Kommt drauf an, wie eilig ich es habe und wo ich bin.«

»Ha!«, stieß Mila hervor und deutete auf Charlotte. »Du bist eindeutig überstimmt.«

Charlotte schüttelte den Kopf und stand auf. »Wie wäre es, wenn wir Hazel erst mal ankommen lassen? Dann können wir das gleich gern bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer ausdiskutieren.«

»Und bei einer Partie Mario Kart«, fügte Mila hinzu, ehe sie sich ebenfalls vom Sekretär abstieß und die Tür ansteuerte. »Überleg dir schon mal einen Wetteinsatz, Hazel.«

»Mach ich.«

»Das Bad geht von der Diele ab«, sagte Charlotte.

»Danke. Für alles. Es ist wirklich nett, dass ihr mich mit offenen Armen empfangt.«

»Wir freuen uns einfach, dass du hier bist.« Charlotte zog die Tür hinter sich zu.

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, drückte ich den Kopf ins Kissen und stieß einen Freudenschrei aus. Ich war wirklich hier. An der Rosefield Academy of Arts! Hier würde ich nicht nur studieren und meinen Abschluss in klassischer Musik machen, nein. Ich würde außerdem endlich herausfinden, was vor vier Jahren wirklich geschehen war.

2

Hazel

Mein Kopf dröhnte.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Einführungsveranstaltung so lange dauern würde. Ein weiteres Mal hatte uns Rektor Cavanaugh lang und breit das Regelwerk erklärt, anschließend wurde uns eine Liste mit Prüfungstagen und den wichtigsten Veranstaltungen ausgehändigt, die im Laufe des ersten Semesters stattfanden.

Nach zweieinhalb Stunden waren wir endlich entlassen worden, woraufhin Charlotte und Mila mir ein paar Ecken des Unigeländes gezeigt hatten. Da es hier in England heute halbwegs sonnig war, hatten sie mich durch die unzähligen zwischen den Gebäuden versteckten Gärten geführt und mir das Sportzentrum gezeigt, wo ich mir gleich den Aushang mit den Angeboten abfotografiert hatte. Da ich einen Großteil meiner Zeit am Klavier oder dem Schreibtisch verbrachte, benötigte ich einen körperlichen Ausgleich. Dass ich nicht wirklich in Form war, ließen wir dabei lieber außer Acht.

Die Auswahl war zwar nicht sehr umfangreich, aber das erwartete ich von einer Akademie der Künste auch nicht. Neben den angebotenen Sportkursen durften wir auch das Fitnesscenter nutzen, und von 6 Uhr morgens bis 8 Uhr abends war die Schwimmhalle geöffnet, in der wir einige Bahnen ziehen konnten. Ich musste dringend Mum schreiben, dass sie mir noch ein paar meiner Bikinis schicken sollte. Ich konnte mir auch welche online bestellen oder zum Shoppen nach Lincoln oder ins nahegelegene Market Rasen fahren, aber ich hielt nicht sonderlich viel davon, ständig neue Kleidung zu kaufen, wenn ich noch gute besaß. Ohnehin kaufte ich meine Sachen lieber auf dem Flohmarkt als neu.

Nach unserer Tour durch die Gärten waren wir essen gegangen. Der Speisesaal lag in der untersten Etage des Nordflügels und bot Platz für ein paar hundert Studenten. Das Essensangebot war enorm. Ich war regelrecht überfordert und hatte keine Ahnung, wofür ich mich entscheiden sollte, weshalb ich Charlotte und Mila die Wahl ließ.

Im Gegensatz zu vielen anderen Studenten hatten die beiden einen ordentlichen Appetit. Bei dem Berg an Nudeln auf meinem Teller hatte ich mich schon fast geschämt, gerade weil viele um uns herum lediglich auf Obstschnitzen oder Gemüsesticks herumgekaut hatten.

Leider raste die Zeit, weshalb ich noch immer die Schuluniform trug. Der bordeaux-beige karierte Rock reichte mir bis knapp über die Knie. Dazu war ich in passende Strümpfe geschlüpft, hatte diese mit Lackschuhen und dem Jackett kombiniert, auf dessen linker Seite das Wappen der Universität aufgestickt war. Ich fühlte mich richtig elitär.

Die Absätze klackerten auf dem Steinboden, während ich mich auf die Suche nach meinem Probenraum begab. Aufgrund der Einführung hatte der Unterricht heute erst zur zweiten Tageshälfte begonnen. Von 14 bis 16 Uhr hatte ich Musiktheorie gehabt. Der Kurs hatte mich ordentlich ins Schwitzen gebracht.

Nun war ich auf dem Weg zum Probenraum, in dem ich endlich wieder spielen konnte. Zweimal wöchentlich stand dieser mir für eine Doppelstunde zur Verfügung, zusätzlich zu der Einzelstunde, die ich donnerstags hatte. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, mich einem Ensemble anzuschließen, mit dem ich ebenfalls gemeinsam spielen konnte. Darüber würde ich mir aber erst Gedanken machen, wenn ich mich eingelebt hatte.

Ich schaute noch mal auf meinen Stundenplan. Die Flure sahen so gleich aus, dass es mir schwerfiel, mich zu orientieren. Sie unterschieden sich lediglich durch die Gemälde, die zwischen den hohen Fenstern an der Wand hingen. M–1–12. Das musste hier doch irgendwo sein.

Schnell rannte ich den Flur hinunter, verstärkte den Griff um meine Umhängetasche, in die ich einige Notenblätter geworfen hatte. M–1–9, M–1–10 … bis mein Raum endlich in Sicht kam. Gerade als ich die Tür öffnen wollte, hörte ich eine Melodie, die aus dem Inneren kam.

Laut meiner Handyuhr war es bereits Viertel nach vier, aber das hier war definitiv der mir zugeteilte Raum. Sollte ich einfach reingehen und der Person sagen, sie solle gehen? Schließlich wollte ich meine volle Zeit nutzen und vermisste es bereits schmerzlich, die Finger über die Tasten gleiten zu lassen.

Ich klopfte und wartete einen Moment, aber niemand sagte etwas. Daher klopfte ich noch mal etwas lauter, doch weiterhin wurde ich von Schweigen empfangen. Ich hatte keine andere Wahl, als reinzugehen. Langsam öffnete ich die Tür und lauschte den lauter werdenden Klängen der Musik.

Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich mich gegen den Türrahmen. In einigen Metern Entfernung stand ein junger Mann. Er hatte mir den Rücken zugewandt und spielte Halleluja auf der Geige. Seine linken Finger bewegten sich souverän auf den Saiten, während er mit der rechten Hand den Bogen führte. Ganz langsam drehte er sich um. Da er die Augen geschlossen hielt, sah er mich nicht. Aber ich sah ihn.

Er durfte kaum älter sein als ich, hatte dichtes blondes Haar und wenige Bartstoppeln, die sein markantes Gesicht betonten. Er trug die beige Hose, die zur Uniform gehörte, und hatte diese mit Hosenträgern fixiert. Darunter ein weißes Hemd, das er in den Bund gesteckt hatte.

Aus seiner weichen Mimik ließ sich schließen, dass er die Musik nicht nur spielte, sondern sie mit jeder Faser seines Seins fühlte. Als wollte er mit diesem Stück etwas ausdrücken, zu dem Worte nicht in der Lage waren.

Ich lauschte den Klängen so lange, bis sich das Stück dem Ende zuneigte. Bedächtig senkte er den Bogen, und ich kam nicht umhin, zu klatschen.

Erschrocken öffnete er die Lider und schaute mich irritiert aus blauen, von Schatten umrahmten Augen an. Dann hob er das Kinn und warf einen Blick auf die Wanduhr, die über der Tür angebracht war. »Sorry, ich habe nicht bemerkt, wie spät es ist.« Seine Stimme klang wohlig warm und traf direkt in mein Innerstes.

»Schon okay«, winkte ich lächelnd ab. »Ich habe dir gern zugehört. Du spielst wahnsinnig gut.«

Er hob die Mundwinkel, wodurch sich kleine Grübchen auf seinen Wangen abzeichneten. Vorsichtig legte er die Geige zurück in den braunen Violinkasten. »Danke. Spielst du auch?«

Ich nickte zum schwarzen Flügel, der an der gegenüberliegenden Wand stand. »Ich spiele Klavier. Heute ist mein erster Tag hier.«

Er schob seine Hosenträger zurecht, nahm den Kasten und kam auf mich zu. »Dann wünsche ich dir viel Spaß an der Academy. Und lass dich nicht unterkriegen.« Er verharrte einen Moment neben mir und zwinkerte. »Man sieht sich.«

Auch nachdem er aus meinem Sichtfeld verschwunden war, hing noch der Geruch von Fichte in der Luft, der ihm vermutlich aufgrund des Materials seiner Geige anhaftete. Seufzend schloss ich die Tür hinter mir und ging in Richtung des Flügels. Wenn ich eines nicht gebrauchen konnte, dann, mir von einem gut aussehenden Kerl den Kopf verdrehen zu lassen. Es war wichtig, dass ich mich auf das Studium konzentrierte. Aber ich musste gestehen, dass dieser Geiger wirklich attraktiv war und ich absolut nichts dagegen einzuwenden hätte, ihm öfter über den Weg zu laufen.

Ich legte meine Tasche neben der Klavierbank ab, holte die Notenblätter hervor und platzierte sie auf dem Notenpult. Bei dem Instrument handelte es sich um einen Konzertflügel von Steinway & Sons, einem der bekanntesten Hersteller aus den USA. Ein solcher Flügel kostete mehr, als meine Eltern zusammen in einem Jahr verdienten, weshalb ich besonders behutsam damit umgehen wollte.

Langsam lief ich um das Instrument herum, strich über den pechschwarzen Lack, atmete den Duft von Politur ein. Als ich wieder vor der Bank ankam, schob ich sie mir so zurecht, dass ich eine angenehme Sitzposition einnehmen konnte. Vorsichtig öffnete ich die Tastenklappe. Ich lächelte.

Sacht ließ ich die Finger über die einzelnen Tasten gleiten. Sie fühlten sich schön unter meiner Haut an, edel. Ein Glücksgefühl erfüllte mich, als ich das C hinunterdrückte und der Klang durch den Probenraum hallte.

Ich atmete tief durch, senkte die Lider und spielte. Erst ein paar wenige Melodien, um ein Gefühl für den Flügel zu bekommen. Anschließend wechselte ich zu Kiss the Rain, mein Lieblingslied von Yiruma, ehe ich mich den vierundzwanzig Préludes von Chopin widmete.

Es war ein unglaublich berauschendes Gefühl, endlich wieder zu spielen. Wobei es gerade mal drei Tage her war, dass ich an einem Klavier gesessen hatte. Doch dieser kurze Zeitraum war mir wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen.

Als ein Räuspern ertönte, öffnete ich die Augen und hielt in meiner Bewegung inne. Eine junge Frau stand im Raum und schaute mich grimmig an. »Ich bin dran, raus hier.«

»Ähm, Entschuldigung, ich habe die Zeit vergessen.« Damit sagte ich genau das Gleiche wie der gut aussehende Geiger vorhin. Aber wann immer ich spielte, vergaß ich die Welt um mich herum. Für diesen Moment gab es nur mich und die Klänge der Musik.

Sie stöhnte und verdrehte die Augen. Dann stampfte sie weiter in den Raum hinein, warf ihren Rucksack auf einen der Stühle und verschränkte die Arme vor der Brust. Einige dunkle Strähnen fielen ihr ins Gesicht. »Stell dir das nächste Mal einen Wecker.«

»Das kann man auch freundlicher sagen, meinst du nicht?« Ich stand auf, schloss die Tastenklappe und sammelte meine Notenblätter zusammen.

»Was denkst du, wo wir hier sind? In Disneyland? In Rosefield überleben nur die Stärksten. Ich habe keinen Bock, wegen einer wie dir nicht genug proben zu können.«

Da ich mich nicht auf diese Diskussion einlassen wollte, verabschiedete ich mich lächelnd und atmete erleichtert auf, als ich im Flur stand. Es war nicht so, dass ich nicht vorab gewusst hatte, worauf ich mich einließ, wenn ich an einer Eliteuniversität studierte, dennoch hatte ich nicht damit gerechnet, so oft angegangen zu werden. Ich versuchte, den Gedanken an diese unangenehme Situation wieder zu verdrängen.

Da mein morgiger Unterricht erst um 10 Uhr begann, entschied ich, noch etwas durch die Gänge zu streifen und mir die schnellsten Wege von A nach B einzuprägen. Da Rektor Cavanaugh so viel Wert auf Pünktlichkeit legte, wäre es besser, ich würde mich daran halten.

Die Hallen waren um diese Zeit beinahe menschenleer. Es war bereits nach 18 Uhr. Die meisten waren somit schon auf ihren Zimmern, wo sie vermutlich lernten. Daran sollte ich mir dringend ein Beispiel nehmen, denn die Stunde Musiktheorie hatte mich schon an meine Grenzen gebracht, und die Professorin hatte nicht den Anschein erweckt, Fehler durchgehen zu lassen.

Der gemusterte Boden roch frisch gewischt. Einige ältere Teppiche waren ausgelegt, die meine Schritte ein wenig dämpften. Die Luft war kühl, zeitgleich kitzelten einzelne Staubpartikel meine Nase. Die hohen Fenster ließen die letzten Sonnenstrahlen von draußen die Flure erhellen. In einer Stunde würde es hier stockduster sein.

Im Foyer, das Ost- und Nordflügel voneinander trennte, steuerte ich den Ausgang an. Doch nicht, ohne die Finger sachte das Steingeländer entlanggleiten zu lassen. Einzelne Bilder waren in die Säulen geschlagen worden. Sie waren schön, keine Frage, aber nicht so akkurat wie von Profis, weshalb ich vermutete, dass dies das Werk von Studenten der Bildhauerei war.

Ich stieß die Tür auf und wurde von lauwarmer Spätsommerluft in Empfang genommen. Einzelne Strähnen lösten sich aus meinem Pferdeschwanz. Ich steuerte den steinernen Pfad an, der mich zu dem Gewächshaus hinter der Sportanlage führte.

Das Glas war außen von unterschiedlichen Efeupflanzen überwuchert, die sich bis über das spitz zulaufende Dach schlängelten. Dadurch konnte ich leider nur einen spärlichen Blick ins unbeleuchtete Innere erhaschen.

Ich lehnte die Stirn an das kühle Glas und atmete tief durch. Wehmut hielt mich fest im Griff. Instinktiv fragte ich mich, ob Lucy auch hier gestanden und sich das Gewächshaus angesehen hatte. Ob ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren, als sie durch die Hallen der Akademie gelaufen war.

Hinter meinen Lidern brannte es, aber ich blinzelte die Tränen fort. Ich wollte nicht weinen, das hatte ich seit Jahren nicht getan, und ich würde jetzt nicht damit anfangen. Aber die Gedanken an Lucy … Trauer war nun mal der Preis, den man für eine verlorene Liebe zahlte.

»Ich verspreche dir, ich werde herausfinden, was damals geschehen ist«, flüsterte ich in die Stille der Dämmerung. Das war der wesentliche Grund, aus dem ich herkommen wollte. Es hatte genügend andere Universitäten gegeben, an denen ich hätte studieren können. Meine Noten waren immer schon hervorragend, und ich war eine fantastische Pianistin. Aber Rosefield war der Ort, an dem Lucy vor vier Jahren ihr Leben verloren hatte, weshalb ich herkommen musste.

Die ermittelnden Detectives hatten den Vorfall als tragischen Unfall aufgrund jugendlichen Leichtsinns eingestuft. Aber ich war schon damals sicher gewesen, dass weitaus mehr dahintersteckte. Seitdem war ich fest entschlossen, an der Uni angenommen zu werden und die Geheimnisse um Lucys Tod aufzudecken.

Ich spürte erst, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte, als meine Nägel sich schmerzhaft in meine Handflächen bohrten. Sichelförmige Einschnitte zeichneten sich auf meiner Haut ab.

Lucy und ich hatten uns sehr nahegestanden. Ihr Tod hatte nicht nur ein tiefes Loch in meinem Herzen hinterlassen, sondern auch unsere Familie fast entzweit. Besonders Dad hatte sehr gelitten. Zwar sagte man immer, dass Eltern kein Lieblingskind hatten, aber ich war mir sicher, dass das nicht stimmte. Lucy war sein Ein und Alles. Mit ihrem Gesang hatte sie unser Haus stets mit Leben erfüllt. Aus ihr wäre eines Tages eine unglaubliche Sopranistin geworden.

Manchmal fiel es mir auch jetzt noch schwer, zu begreifen, dass sie nicht mehr bei uns war. Von Zeit zu Zeit hatte ich das Gefühl, ich könnte ihre Stimme hören, die durch die Zimmer getragen wurde. Wann immer ich dem Klang folgen wollte, musste ich schmerzlich feststellen, dass dieser nur meiner Einbildung entsprungen war.

Für meine Eltern war es schwierig, dass ich ebenfalls an die Rosefield gehen wollte, da sie nur Schmerz und Trauer mit der Akademie in Verbindung brachten. Von meinem Vorhaben, herauszufinden, was mit Lucy geschehen war, hielten sie auch nichts. Sie ermahnten mich, ich sollte nicht in der Vergangenheit herumstochern, sie loslassen und nach vorn blicken. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass auch sie nicht an einen Unfall glaubten.

Lucy war nie wild, sondern stets besonnen gewesen. Sie hatte sich zwar nicht penibel genau an jede Regel gehalten, aber sie hätte sich niemals selbst in Gefahr gebracht. Dafür war sie zu klug gewesen. Es musste also einen anderen Grund für ihren Tod gegeben haben. Es musste mehr dahinterstecken.

Zugegebenermaßen wusste ich noch nicht genau, wo ich mit meinen Recherchen starten und wen ich befragen sollte, aber ich würde mir in den nächsten Tagen einen Plan zurechtlegen. Und womöglich konnten meine Mitbewohnerinnen mir helfen. Denn eines stand in jedem Fall fest: Ohne Antworten würde ich die Uni niemals verlassen.

3

Tristan

Ich tauchte die letzten Meter bis zum Beckenrand unter der Oberfläche. Das Wasser legte sich schützend um meinen Körper. Ich liebte es, am frühen Morgen hierherzukommen. Der Großteil der Studenten schlief noch, sodass ich das Hallenbad für mich allein hatte. Ruhig und gleichmäßig zog ich meine Bahnen, eine nach der anderen, um sämtliche Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Das machte ich jetzt schon, seit ich vor einem Jahr mein Studium begonnen hatte. Dienstags und freitags um 7 Uhr morgens. Nur heute war es anders.

Um zu wenden, stieß ich meine Füße gegen den Beckenrand, drehte mich und schwamm eine weitere Bahn. Als ich durch die Oberfläche brach, holte ich Luft und wechselte ins Kraulschwimmen über. Ich kreiste die Arme. Schneller und schneller. Meine Lunge fühlte sich an, als würden sie jeden Moment explodieren. Doch so lange die Gedanken noch laut waren, wollte ich das Becken nicht verlassen.

Auch nach sechs weiteren Bahnen ging es mir nicht besser, der gewünschte Effekt schien sich heute nicht einstellen zu wollen. Ich kam einfach nicht runter.

Kopfschüttelnd stieg ich aus dem Wasser und steuerte die Duschkabinen an. Noch immer war niemand hier. Ich schleuderte die Badehose von mir und wusch mir das Chlor vom Körper. Anschließend trocknete ich mich ab und warf mir Hose und meinen beigen Strickpulli über. Heute war es selbst für England Anfang September frisch. Zwölf Grad und bewölkt. Das war wohl das Einzige, was ich an diesem Land abgrundtief hasste: das Wetter.

Dafür war fast alles andere großartig. Die Leute, die Mentalität und vor allem die Landschaft. Dass die Rosefield ausgerechnet in den Lincolnshire Wolds lag, war für mich ein großer Pluspunkt. Ich liebte es, durch den Nebel zu wandern, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und mit leiser Musik auf den Ohren. Das war neben dem Schwimmen die beste Möglichkeit für mich, auf andere Gedanken zu kommen.

Ich verließ die Schwimmhalle und steuerte die Wohnanlagen an. Mittlerweile war es halb neun, weshalb das Gelände überwiegend leer war. Die Studenten waren entweder schon in ihren Kursen oder hatten erst zum nächsten Block Unterricht, so wie ich. Das zweite Studienjahr würde noch mal deutlich härter werden. Denn nachdem wir die Grundlagen beherrschten, standen jetzt die Vertiefungsmodule auf dem Lehrplan. Ich hatte mir das Stundenverzeichnis im Onlineportal angeschaut und konnte gut und gern darauf verzichten. Aber wenn ich wirklich einer der größten Geiger werden wollte, den die Welt je gesehen hatte, sollte ich mir lieber den Arsch aufreißen und dieses Studium durchziehen.

Ich beschleunigte meine Schritte, denn meine Haare waren nass, und ich konnte es mir nicht leisten, mich zu erkälten. Als auch noch ein nieselnder Sprühregen einsetzte, rannte ich fluchend die letzten Meter bis zum Wohnheim C und steuerte mein Zimmer im Erdgeschoss an.

Kaum hatte ich die Tür geöffnet, hörte ich ein Knallen, worauf ein lautstarkes Stöhnen folgte. Schien ganz so, als hätten Joshua und Harvey, meine beiden Mitbewohner, sich mal wieder in die Haare gekriegt. Sie stritten sich schon, seit uns die Wohneinheit vor einem Jahr zugeteilt worden war. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie es irgendwann schafften, das Kriegsbeil zu begraben, aber Fehlanzeige. Stattdessen schlugen sie einander buchstäblich die Köpfe ein.

Zugegeben, ich verstand Josh. Harvey konnte nämlich ziemlich ätzend sein. Sein arrogantes Gehabe ging auch mir auf die Nerven, aber ich versuchte, ihm einfach aus dem Weg zu gehen, was meistens gut funktionierte. Schließlich war ich nicht an die Uni gekommen, um zwangsläufig Freundschaften zu schließen. Ich war immer schon eher der Typ dafür gewesen, mein eigenes Ding durchzuziehen und den anderen lediglich höflich zu begegnen. Aber Josh war korrekt und war schnell zu einem meiner engsten Freunde geworden.

Als ich in den Wohnbereich kam, stand er mit dem Rücken zu mir und raufte sich die dunkelbraunen Haare.

»Na, worum ging es dieses Mal?«, fragte ich grinsend und lehnte mich gegen den Türrahmen.

Josh ließ sich auf die schwarze L-Couch fallen und warf die Füße auf den Tisch vor sich. Er ächzte gefährlich, gab aber nicht nach. Dass dieses Teil noch nicht in sich zusammengebrochen war, grenzte an ein Wunder. Es machte den Anschein, genauso alt wie die Uni zu sein, wenn nicht sogar älter.

»Ich habe mein Glas nicht sofort in die Spüle gestellt.« Josh stöhnte ein weiteres Mal theatralisch – etwas, das er im Schauspielunterricht sicher ganz hervorragend anwenden konnte. »Dieser Kerl treibt mich noch in den Wahnsinn.«

Harvey war ein Ordnungsfanatiker. Er hasste Schmutz vermutlich mehr als alles andere auf der Welt und ließ uns das bei jeder Gelegenheit spüren. Das Schlimmste daran war, dass er einen Riecher dafür hatte, wann wir für eine Minute etwas stehen ließen. Ich hatte schon mehr als einmal die Vermutung geäußert, dass er irgendwo eine kleine Kamera installiert hatte und uns von seinem Zimmer aus beobachtete. Anders war es nicht möglich, dass er immer in genau dem Moment rauskam und explodierte, wenn ein Teller oder eine Tasse kurz herumstanden.

Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf die Couchlehne. »Du hättest es wissen müssen. Am besten nimmst du auch gleich die Füße vom Tisch, wenn du den Frieden wahren willst.«