Rote Seiten - Lybra Lorr - E-Book

Rote Seiten E-Book

Lybra Lorr

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Beschreibung

Es ist das Jahr 2268 und die Existenz von Vampiren ist so normal wie die jeder anderen Spezies. Doch als die Vampirin Yuna Mizuno bei einem Job von einer Gruppe Menschen angegriffen wird, findet sie sich in einer fremden Welt wieder. Und in einer Ära, in der die Erschaffung von Vampiren noch in weiter Ferne liegt. Bei dem Versuch herauszufinden, wie sie dorthin gekommen ist, gerät Yuna zwischen die Fronten zweier verfeindeter Nationen. Aber auch ihr Hunger macht sich bald bemerkbar.

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Rote Seiten

Lybra Lorr

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Texte: © Copyright by Lybra Lorr

Umschlaggestaltung: © Copyright by Lybra Lorr

Herausgeber:

Lybra Lorr

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str.15

01237 Dresden

www.lybralorr.de

Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

 

 

 

 

 

Für alle, die Geschichten

genauso lieben wie ich

 

Prolog: Das AV-Projekt

Zeit vergeht schnell. Weil sie nicht stehen bleibt, geht alles irgendwann zu Ende. Zumindest sollte es so sein. Aber für jemanden wie mich, der für die Ewigkeit geschaffen wurde, ist Zeit irrelevant. Und so habe ich mir nicht die Mühe gemacht, die Jahre zu zählen, seit die Menschheit das geschaffen hat, was sie das AV-Projekt nennt. Ursprünglich war es ein Projekt, um die Stärke und das Durchhaltevermögen von Soldaten zu verbessern, aber es wurde zu mehr. Nur wegen eines Mannes.

Ich erinnere mich genau an den Moment, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Das war, nachdem er mit seinen Experimenten begonnen hatte und ich eine Testperson wurde. Es hieß, er würde von Geschichten getrieben, die er seit seiner Kindheit las, der Ursprung seines Interesses an einer bestimmten Lebensform. Aus diesem Grund galt er als verrückt.

Vielleicht lag es daran, dass das Projekt nicht eingestellt wurde. Weil niemand außer ihm an seinen Erfolg glaubte. Weil niemandem bewusst war, dass die Menschen, die an dem Projekt teilnahmen, ihre Menschlichkeit verlieren würden.

Das war es, was das AV-Projekt war und von Anfang an ausmachte. Der Wunsch eines einzelnen Mannes, der von der Idee besessen war, die Spezies zu erschaffen, die er so bewunderte. Eine, die die Menschheit lange kannte, obwohl sie nicht existierte. Ein Projekt zur Erschaffung künstlicher Vampire.

 

»Miss Mizuno?« Cassandra Tusk, die Tochter meines derzeitigen Arbeitgebers, wirft mir einen neugierigen Blick zu. Bis jetzt hat sie fleißig an ihren Hausaufgaben für die Schule gearbeitet, aber nun scheint sie eine Pause zu brauchen.

Wir befinden uns in der Bibliothek des geräumigen Anwesens ihrer Familie, einer Bibliothek, in der es tatsächlich Bücher gibt. Obwohl sie nur einen ästhetischen Nutzen haben, genieße ich das nostalgische Gefühl, durch die Seiten zu blättern.

»Alle diese Bücher sind digitalisiert, wenn Sie sie lesen wollen. Wir haben sie auch als Scans«, sagt Cassandra, während ihre großen, braunen Augen mich mit Verwunderung über das, was ich tue, beobachten. Es ist zwei Wochen her, dass ich meine Arbeit hier begonnen habe und inzwischen hat sie sich an mich gewöhnt.

»Es geht mir nicht darum, sie zu lesen«, sage ich mit dem Blick auf das Buch, das ich gerade in der Hand halte. Es heißt ‚Der Wind der Zeit‘ von Henry Calton und scheint ein Mystery-Buch zu sein.

»Mögen Sie Bücher?« Cassandra dreht sich auf ihrem Stuhl um und das Display auf ihrem Smartdesk wird schwarz, als sie ihre Aufmerksamkeit auf mich richtet.

»Ich war nur neugierig«, sage ich mit ruhiger Stimme.

Das Mädchen ist nervös.

Ich kann hören, wie ihr Herzschlag schneller wird, ebenso ihr Atem. Es ist keine ungewöhnliche Reaktion, aber es ist nicht unbedingt ein Zeichen von Angst. Bei Cassandra merke ich, dass sie aufgeregt ist, denn Neugier steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Besitzen Sie nicht eigene Bücher?«

»Doch, aber ich lese sie nie.«

Cassandra macht ein verwirrtes Gesicht und ich schließe ‚Der Wind der Zeit‘ und stelle es zurück ins Regal. »Sie haben meinem Onkel gehört und ich hatte bisher keinen Grund, sie loszuwerden.«

»Oh«, macht Cassandra daraufhin nur. »Aber sie sind jetzt bestimmt ein Vermögen wert.« Sie grinst etwas unbeholfen. Geld spielt für mich kaum eine Rolle, aber sie hat es wohl nett gemeint.

Ich lächle, denn mir fällt nichts ein, das ich darauf antworten könnte.

Cassandra wendet sichwieder ihrem Smartdesk zu und ich beschließe, sie mit ihren Studien allein zu lassen.

Ich gehe hinunter in die Küche und bleibe stehen, um durch die große Fensterfront in den Garten zu schauen. Es ist einer, der von einem Gartenroboter in perfekter Ordnung gehalten wird. Heute ist es ein Statussymbol, einen Garten zu haben. Wie immer zeigen Menschen gerne ihren Wohlstand und ein gepflegter und großer Garten ist wieder in Mode gekommen.

Für mich ist es eine Arbeitserleichterung, da der große Garten das Haus von der Straße und anderen Häusern trennt, was es mir erlaubt, einen Eindringling schnell zu registrieren.

Ich bin gerade dabei, einen Rundgang durch das Haus zu machen, als das Haustelefon klingelt. Heutzutage hat jeder seinen eigenenPersonal Artificial Intelligence Assistant kurz PAIA, mit dem er sich jederzeit vernetzen kann.Aber da die Verbindung zwischen dem Haustelefon und der Wohnung, in der Mrs. Tusk und Cassandras älterer Bruder Jason gerade wohnen, gesichert ist, habe ich ihnen geraten, diese zu nutzen.

Ich habe nicht die Absicht, den Anruf anzunehmen, denn es scheint sich um einen persönlichen Anruf zu handeln. Es vergeht jedoch eine Minute, in der das Klingeln nicht aufhört, und es scheint, dass Cassandra nicht beim Lernen unterbrochen werden möchte.

Da ich nicht weiß, ob der Anruf wichtig ist, entschließe ich mich, ihn doch anzunehmen. »Tusk-Villa. Hier spricht Yuna Mizuno, mit wem möchten Sie sprechen?«

Ein paar Sekunden lang ist es still, aber ich kann den Atem des Anrufers hören. Und dann: »Wer hat dir erlaubt, Familiengespräche anzunehmen, Vampir? Das ist unser Haustelefon. Fremde sind nicht erlaubt!« Jason Tusks Einstellung mir gegenüber ist schlecht, seit wir uns an meinem ersten Tag hier kennengelernt haben. Es kam nicht unerwartet, daJasons Zwillingsbruder Raymond verschwunden ist, nachdem er eine Affäre mit einem Vampir hatte.

»Es tut mir leid, Mister Tusk, aber Ihre Schwester lernt gerade und Ihr Vater ist noch im Büro. Möchten Sie, dass ich eine Nachricht weiterleite?« Ich erwarte, dass er auflegt, aber er beginnt zögerlich zu sprechen: »Ähm … sag Cassandra, dass ich sie später besuchen komme. Und dass ich mit ihr Essen gehe.«

»Ist das alles?«

»Nur damit das klar ist: Ich weiß, dass du mitkommen musst, aber du bist nicht eingeladen!« Er sagt das mit eindringlicher Stimme, als ob es nötig wäre, das klarzustellen.

Ich bin ein Leibwächter und ein Vampir. Der Gedanke, dass er mich zu einem Essen einlädt, ist so absurd, dass es schon seltsam ist, dass er es anspricht. »Solange keine Gefahr für Sie oder Ihre Schwester besteht, wird keiner von Ihnen meine Anwesenheit bemerken.«

»Gut.« Er räuspert sich.

»Gibt es sonst noch etwas?«, frage ich, nachdem er eine Weile geschwiegen hat.

»N-Nein! Bye!« Damit ist er weg.

Nachdenklich über sein seltsames Verhalten, mache ich mich auf den Weg in die Bibliothek. Ich wurde von Jasons und Cassandras Vater, für die Dauer seiner Kandidatur für den Vorsitz des EU-Parlaments angeheuert. Hauptsächlich, um den Gerüchten über Raymonds Verschwinden entgegenzuwirken.Deshalb wundert mich Jasons sorgloser Wunsch, mit seiner Schwester auszugehen nicht. Aber es ist seltsam, dass er eine so triviale Bitte an mich richtet. Er hätte auch versuchen können, später anzurufen, um mit Cassandra statt mit mir zu sprechen. Ich jedenfalls dachte, dass er eher unangemeldet hier auftauchen würde, als mich eine Nachricht überbringen zu lassen.

Als ich die Bibliothek erreiche, öffnet sich die Tür automatisch, wie die meisten Türen in diesem Smarthouse, weshalb ich nicht klopfen kann. Wegen dieser Türen ist Anklopfen in diesen Zeiten unüblich geworden, was ich bedauerlich finde. Ich fühle mich immer sehr unhöflich, wenn ich in einen Raum platze, besonders wenn ich weiß, dass die Person drinnen beschäftigt ist.

In Ermangelung einer Tür klopfe ich an die Wand, denn Cassandra, die immer noch an ihrem Smartdesk sitzt, hat meine Rückkehr nicht bemerkt.

»Verzeihen Sie die Störung, MissCassandra. Ihr Bruder bat mich, Ihnen zu sagen, dass er heute Abend mit Ihnen essen gehen möchte.«

Cassandra dreht den Kopf, um über ihre Schulter zu mir zu schauen, mit einem überraschten Gesichtsausdruck. »Jason will mit mir essen gehen? Was ist denn mit dem los? Hat meine Mutter ihm das befohlen?«

»Er hatkeinen Grund genannt.«

Sie schürzt die Lippen und sieht mich einen Moment lang an. Dann fängt sie an zu grinsen. »Was haltenSie von Jason?«

»Ich habe keine Meinung zu ihm.« Ich antworte ruhig auf Cassandras offensichtliche Erregung.

Sie kichert. »Stimmt, er ist ja auch ziemlich gemein zu Ihnen. Aber Siewissen ja, was man über einen Jungen sagt, der ein Mädchen schikaniert.« Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu.

»Ihr Bruder hat mich noch nie schikaniert. Ich denke, dass er sich Sorgen um Sie macht.«

Wieder wird Cassandras Smartdesk schwarz, als sie sich auf ihrem Stuhl zu mir dreht, die Arme vor der Brust verschränkt. »Sie denken, Jason macht sich Sorgen um mich, wegen dem was mit Ray passiert ist, richtig? Aber ich stehe nicht auf Frauen, also wird das auf keinen Fall passieren.«

»Verzeihung?«

»Ich weiß, dass alle etwas anderes sagen, aber ich habe gesehen, was für ein liebeskranker Idiot mein Bruder war, bevor er verschwunden ist. Er wurde von keinem Vampir ermordet oder entführt, er hat sich in einen verliebt und sie hat ihn abblitzen lassen. Ich glaube, er ist weggelaufen, weil es ihm peinlich war.« Sie hat einen stolzen Ausdruck auf dem Gesicht, als hätte sie mir ein Geheimnis verraten.

»Tatsächlich?« Ich habe das Gefühl, ihr antworten zu müssen, aber meine unbeeindruckteAntwort scheint Cassandra nicht zu befriedigen. Sie lässt die Arme sinken und macht ein enttäuschtes Gesicht.

»Ich will damit nur sagen, dass sie Zwillinge sind und wahrscheinlich den gleichen Geschmack bei Frauen haben. Und Sie sind sehr hübsch, Miss Mizuno.« Cassandra zuckt mit den Schultern, als rede sie über eine Kleinigkeit.

»Ich weiß das Kompliment zu schätzen, aberSie irren sich.«

»Wirklich?« Sie schürzt unzufrieden die Lippen. »Ich verstehe nämlich überhaupt nicht, worüber er sich aufregt. Sie sind ein Vampir, aber Sie sind überhaupt nicht unheimlich. Zuerst war ich ein bisschen unsicher, aber Siesind viel höflicher als alle, die ich kenne, mit dem Verbeugen und so. Ich dachte, es wäre nervig, einen Leibwächter zu haben, aber Sie nehmen sehr viel Rücksicht auf meine Privatsphäre. Ich finde Sie sehr nett.« Cassandra reibt sich nachdenklich das Kinn, während sie mir das sagt, und ich kann erkennen, dass das ihre ehrlichen Gedanken sind. Es ist eine unschuldige Betrachtungsweise und leider furchtbar naiv. »Ich danke Ihnen, Miss Cassandra.«

Sie blinzelt und ihre Augen, die einen nachdenklichen Blick in sich hatten, richten sich wieder auf mich. Eine leichte Röte überzieht ihre Wangen. »Oh, äh, das ist keine große Sache«, sagt sie und lächelt mich dann schüchtern an.

Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle sie mehr sagen, doch dann wendet sie sich wieder ihrem Schreibtisch zu.

»Dann lasse ich Sie jetzt mit Ihren Aufgaben allein.« Ich verbeuge mich respektvoll, doch noch während ich den Kopf senke, höre ich ein Geräusch. Ein leises Rauschen von draußen.

Ich stürze vorwärts. In weniger als einer Sekunde hebe ich Cassandra von ihrem Stuhl und bringe sie auf die andere Seite der Bibliothek. Dortschirme ich siemit meinem Körperab, während das Fenster vor dem Smartdesk explodiert.

Es gibt nicht viele Waffen, die die Fenster dieser Villa so leicht durchbrechen können und alle sind schwer zu beschaffen. In diesem Fall ist es eine Plasma-Sniper. Sie hat genug Feuerkraft, um sogar mich verletzen zu können, und sie hat das Fenster in einem Augenblick geschmolzen.

Cassandra klammert sich an mich. Sie zittert in meinen Armen und ich bin froh, dass ich ihr die Sicht auf die Szene hinter mir versperre.

Ich kann fünf Personen hören, die sich schnell nähern. Sie tragen Jumpbooster, Stiefel, die sie schnell genug machen, um in wenigen Sekunden hier zu sein und ihnen ermöglichen, durch das Loch, das der Scharfschütze geschossen hat, ins Haus zu springen.

»Miss Cassandra, bitte bleiben Sie ruhig. Ich werde Sie in ein paar Sekunden hier rausbringen.« Ich will die Bibliothek verlassen, bevor die Leute mit den Jumpboostern hier sind, aber ich kann nicht sicher sein, dass der Scharfschütze nicht wieder schießt. Mit Cassandra im Arm, will ich kein Risiko eingehen und so warte ich darauf, dass seine Komplizen eintreffen.

Ich bereite mich darauf vor, mit Cassandra durchs Fenster zu springen, und dann, kurz bevor der erste Angreifer durch das Fenster kommt, höre ich erneut ein leises Klicken. Diesmal kommt es von einer Waffe, die Projektile verschießt.

Ich mache schnell eine Hand frei, aber anstatt an meiner Handfläche abzuprallen, explodiert das Projektil. Es verletzt mich nicht, aber die Explosion setzt Rauch mit einem seltsamen Geruch frei. Ich verschwende jedoch keine Zeit darauf, mich zu fragen, was das ist, und springe aus dem Fenster.

Ich schaffe es ohne Probleme hinaus, ein bisschen zu problemlos, wenn man bedenkt, wie gut durchdacht der Angriff bis jetzt war. Ich bleibe in Bewegung, um nicht von dem Scharfschützen ins Visier genommen zu werden, während ich nach ihm Ausschau halte.

Und dann beginnt mein Herz plötzlich heftiger zu pochen. Mein Zahnfleisch juckt und ich öffne automatisch den Mund, als meine Fangzähne wachsen. Ich spüre, wie dasselbe mit meinen Nägeln geschieht, den Nägeln derselben Hände, die Cassandra halten. Versteckt durch die Handschuhe, werden meine Finger sichtbar länger. Gleichzeitig wird meine Sicht schärfer und ich kann das laute Donnern von Cassandras Herz hören, das Rauschen ihres Blutes. Sie hat Angst.

Aus irgendeinem Grund gelingt es mir nicht, meine Verwandlung zurückzudrängen, so sehr ich es auch versuche. Und wenn ich mich nicht zurückverwandeln kann, wird man mir befehlen, auf Stand-by zu gehen. Schnell, damit Cassandras Körper keine Zeit zum Fallen hat, nehme ich eine Hand unter ihr weg, um mein Headset in meine Tasche zu stecken.

Ich kann nur vermuten, dass dieser seltsame Rauch aus dem Projektil vorhin für die Verwandlung verantwortlich ist, aber ich beschließe, meine verbesserten Sinne zu nutzen und Cassandra in Sicherheit zu bringen.

Ich renne um die Villa herum, sodass das Gebäude zwischen uns und dem Scharfschützen liegt. Die Tusk-Villa befindet sich in einer noblen Nachbarschaft mit mehreren Einfamilienhäusern mit Gärten, die sie umgeben. Es gibt nicht viele hohe Gebäude, was es für einen Scharfschützen einfacher macht, sein Ziel im Auge zu behalten.

Cassandras Zimmer befindet sich auf der anderen Seite des Hauses und da ich nicht mit Sicherheit sagen kann, dass es keinen zweiten Scharfschützen gibt, möchte ich, dass sie sich in einem Raum befindet. Und ihr Zimmer besitzt eineigenes Sicherheitssystem.

Ich sollte schnell genug gerannt sein, sodass uns der Scharfschütze aus den Augen verloren hat, und lande mit einem letzten Sprung auf Cassandras Balkon. Die Tür zu ihrem Zimmer ist geschlossen, aber sie erkennt Cassandra und schwingt auf.

Sobald ich einen Schritt hineingegangen bin, zappelt Cassandra in meinen Armen und ich setze sie so schnell wie möglich ab, ohne sie fallen zu lassen.

Sie fällt trotzdem. Ihre Beine zittern so stark, dass sie nicht einmal mehr aus eigener Kraft stehen kann. Aber sie will so schnell von mir weg, dass sie rückwärts über den Boden kriecht, bis sie mit dem Rücken an die Wand auf der anderen Seite des Raumes stößt.

Ihr Gesicht ist blass und vor Angst verzerrt. Ich kann es praktisch auf meiner Zunge schmecken. Ihr Geruch hat sich im Vergleich zu vorher verändert und ich kann ihr Herz so schnell schlagen hören, wie das eines kleinen Vogels.

Es passiert manchmal. Menschen, die noch nie Kontakt mit Vampiren hatten, sind anfangs schüchtern, aber nach einer Weile hören sie auf, vorsichtig zu sein. Sie wissen, was wir sind und doch vergessen sie es. Aber nur so lange, wie sie nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden.

Ich habe das schon oft erlebt. Der Blick in ihren Augen, wenn sie sich erinnern, der Geruch von Schweiß und das Donnern ihrer ängstlichen Herzen. Aber es ist das erste Mal, dass es mein Gesicht ist, das diese Angst auslöst.

Es ist für einen Vampir verboten, sich grundlos zu verwandeln, weshalb die wenigsten Menschen je einen verwandelten Vampir gesehen haben. Aber so sehr ich es auch versuche, ich kann die Verwandlung nicht rückgängig machen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, meine Fangzähne hinter meiner Hand zu verstecken und meine Augen zu schließen.

»Bitte verzeihen Sie mir.« Meine Stimme klingt rau. Da die Verwandlung auch meine Kehle betrifft, klingt sie nicht so, wie sie es normalerweise tut. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie noch menschlich klingt. Und ich kann hören, wie Cassandra versucht, noch weiter von mir zurückzuweichen.

Ich bereue es, gesprochen zu haben und versuche erneut, meine Verwandlung rückgängig zu machen. Was auch immer das für eine Droge ist, mein Körper sollte in der Lage sein, sie zu neutralisieren. Dass ich überhaupt davon betroffen bin, ist seltsam genug.

Irgendwie schaffe ich es, zumindest mein Gesicht wieder in das zu verwandeln, das Cassandra gewohnt ist, und das scheint sie etwas zu beruhigen. Aber sie zittert immer noch und kauert am Boden.

Während ich darauf achte, mich langsam zu bewegen, ziehe ich die Jacke meines Anzugs aus und gehe auf Cassandra zu. »Ich werde gehen und die Männer in Gewahrsam nehmen. Bitte aktivieren Sie das Sicherheitssystem, sobald ich weg bin.«

Sie zuckt zusammen, als ich sie mit meiner Jacke zudecke und ich ziehe mich schnell wieder zurück.

»Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe, aber Siewerden hier sicher sein. Ich werde nach Ihrem Vater schicken, sobald die Situation es zulässt.« Ich hoffe, sie mit meinen Worten zu beruhigen, jetzt wo meine Stimme wieder normal klingt, aber Cassandra starrt mich an, als hätte sie mich nicht gehört.

Ichverbeuge mich zum Abschied höflich, wie ich es immer tue. Dann kehre ich auf den Balkon zurück und springe, sobald ich aus Cassandras Blickfeld verschwunden bin.

Diesmal nehme ich den Weg durch die Luft über das Haus. Hinter mir höre ich, wie das Sicherheitssystem aktiviert wird, und ich lasse zu, dass sich mein Körper wieder verwandelt. Die Droge ist lästig, aber ich beschließe, vorerst davon Gebrauch zu machen. Ich folge dem leicht verbrannten Geruch und richte meine Augen auf das Dach des Zierturms der Villa, drei Häuser weiter.

Als Vampir ist es sehr leicht, Gerüche wahrzunehmen, erst recht im verwandelten Zustand, und ihnen wie einer Spur zu folgen.

Mit meinen Augen zoome ich auf das Dach, auf dem ein dunkelhaariger Mann eilig die Plasma-Sniperauseinanderbaut, um sie in einem Werkzeugkoffer unterzubringen. Er trägt den blauen Overall eines Technikersdes Smarttech-Supportservice, der ihm jedoch etwas zu klein ist.

Sobald ich auf dem Boden gelandet bin, setze ich mein Headset wieder auf, um mich mit dem Büro zu verbinden. »Hier spricht Mizuno. Die Tusk-Villa wurde von Unbekannten angegriffen. Die derzeit einzig Anwesende, Cassandra Tusk, wurde in Sicherheit gebracht. Ich habe die Position eines Scharfschützen lokalisiert und verfolge ihn. Fünf weitere Angreifer befinden sich im Haus. Das Eindringen erfolgte durch das Fenster der Bibliothek mit Hilfe einer Plasma-Sniper. Außerdem benutzen sie eine Droge, die die Verwandlung eines Vampirs zu erzwingen scheint.« Während ich meinen Bericht abgebe, laufe ich auf das Gebäude mit dem Scharfschützen zu. Der Turm ist etwa dreißig Meter hoch und direkt mit dem Haupthaus verbunden. So kann ich zuerst auf das Dach der Villa springen und von dort aus auf den Turm, ohne dass der Scharfschütze es bemerkt. Sobald ich hinter ihm stehe, gebe ich ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, sodass er das Bewusstsein verliert.

»Yuna Mizuno, wir haben Veränderungen in Ihrem körperlichen Zustand festgestellt. Ihr Befehl lautet, auf Stand-by zu gehen. Es ist Ihnen verboten, mit Menschen in Kontakt zu treten.« In mein Ohr spricht die distanzierte Stimme einer Frau. Sie ist diejenige, die normalerweise meine Anrufe entgegennimmt, wenn ich das Büro kontaktiere, aber ich habe sie nie persönlich kennengelernt, noch kenne ich ihren Namen.

Ich blicke auf den bewusstlosen Mann zu meinen Füßen hinunter. »Ich habe den Scharfschützen bereits außer Gefecht gesetzt. Er ist bewusstlos, aber nicht schwer verletzt. Da ich mich auf einem Dach befinde, möchte ich ihn mit nach unten nehmen.«

Es ist für einige Sekunden still am anderen Ende, während sich meine Kontaktperson mit ihrem Vorgesetzten berät. »Sie sollen den Mann vom Dach auf den Boden bringen und ihn dort für das Sanitätsteam zurücklassen. Kehren Sie zur Tusk-Villa zurück und beschützen Sie weiterhin Cassandra Tusk. Lassen Sie sich nicht auf einen Kampf ein.«

»Verstanden.« Ich hebe den Mann vom Dach und springe direkt auf den Boden. Da er eine Bedrohung darstellte, die ich nicht einschätzen konnte, musste ich mich um ihn kümmern, bevor ich den Befehl bekommen konnte, auf Stand-by zu gehen. Ich werde mit Konsequenzen rechnen müssen, weil ich mein Headset ausgeschaltet und unter Drogeneinfluss auf eigene Faust gehandelt habe, aber das ist mir lieber als die Alternative.

Ich verlangsame meine Schritte, damit ich gesehen werde, und springe durch das Loch in der Wand in die Bibliothek.

Die Überreste des Fensters und Cassandras Smartdesk knirschen unter meinen Füßen, als ich auf dem Boden lande. Vor mir bis hin zur Wand gegenüber ist der Boden schwarz und schwelt noch immer und die Luft von draußen konnte den stechenden Geruch von Verbranntem nicht vertreiben.

Mein Blick bleibt an dem Regal auf der anderen Seite des Raumes hängen. Die Hitze des Schusses hat ausgereicht, um kleine Flammen zu hinterlassen, die nun die dort ausgestellten Bücher verzehren. Die Meisten von ihnen wurden bereits zerstört und es scheint, dass der Rest folgen wird.

Menschen hängen sehr an ihren Besitztümern. Und so beginne ich, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu nehmen und die Flammen mit den Händen zu ersticken, während ich warte.

Ich bin beim elften Buch, als die erste Person durch das Fenster eintritt, und ich verlangsame meine Bewegungen auf durchschnittlich menschliche Geschwindigkeit. Als ich nach Buch Nummer Zwölf greife, sind alle fünf Personen im Raum. Erst dann werde ich angesprochen.

»Hey du! Vampir! Sind deine Sinne abgestumpft?« Der Sprecher ist ein Mann, der in der Mitte der Reihe steht, die die Gruppe gebildet hat. Sie alle tragen einen Sicherheitshelm und einen Overall sowie diese Halsbänder, die vor einem Vampirbiss schützen sollen. Sie sind unnötig, denn ein Blutersatz wurde schon vor langer Zeit erfunden. Es ist über ein Jahrhundert her, dass ich meinen letzten Tropfen echtes Blut getrunken habe.

Trotz des Helms kann ich am Geruch erkennen, dass der in der Mitte, ein Mann mittleren Alters ist, der in einer Bar oder einem Restaurant arbeitet. Der Geruch von Alkohol haftet an ihm, aber er riecht auch nach Essen und Rauch. Es sollte nicht schwer sein, herauszufinden, wer er ist.

»Vielleicht hat es seine Wirkung schon verloren.« Die Frau links neben dem Mann spricht und sobald sie das tut, machen die fünf Leute alle ihre Waffen bereit. Sie sehen aus wie normale Pistolen, aber ich nehme an, dass sie alle die gleiche Droge in ihren Projektilen versteckt haben. »Das ist nicht nötig.« Obwohl ich spreche, schießen sie alle.

Selbst für mich ist es schwierig, ein Projektil zu fangen, ohne es zu zerstören. Es würde durch seine eigene Geschwindigkeit an meiner Handfläche zerschmettert und wenn ich versuchen würde, es aus der Luft zu fangen, würde die Kraft, die ich dafürbrauche, es zerquetschen. Die Droge im Inneren würde so oder so freigesetzt werden und ich hätte keine Proben, die ich zur Analyse mitnehmen könnte. Und die brauche ich als Beweis, dass ich mich nicht aus eigenem Antrieb verwandelt habe.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schließe ich meine Faust um eins der Projektile und folge seiner Flugbahn, um es zu verlangsamen, bevor ich es stoppe. Aber da ich nur zwei Hände habe und das Zeit kostet, schlagen die anderen drei Projektileein. Eins trifft meine linke Schulter, eins meinen Bauch und das letzte das Regal hinter mir. Da die Projektile, die Droge enthalten und brechen sollen, sind sie nicht stabil genug, um meine Haut zu durchbohren. Dampf steigt um mich herum auf und ich halte den Atem an, während ich die beiden Projektile, die ich gefangen habe, in meine Tasche stecke.

Ich binwieder allein in der Bibliothek. Die Gruppe hat sich nach den Schüssen sofort zurückgezogen. Sie scheinen weder viel Erfahrung mit Vampiren zu haben, noch die nötige Geschicklichkeit, um eine Chance gegen einen zu haben. Die Tatsache, dass einer von ihnen mich auf kurze Distanz verfehlt hat, sagt mir, dass sie außerdem nicht sehr viel Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen haben.

Ich habe keinen Grund, ihnen zu folgen, also fahre ich damit fort, die Bibliothek aufzuräumen. Der Schuss hat dazu geführt, dass das bereits ramponierte Regal, mehrere Bücher unter seinem Holz begraben hat. Ich beginne damit, das Holz zu entfernen und die Bücher vorsichtig einzusammeln.

Minuten vergehen und schließlich sind alle Spuren des Dampfes aus der Luft verschwunden. Einer der Angreifer kommt zurück in die Bibliothek. Es ist wieder der Mann, der schon vorhin mit mir gesprochen hat und diesmal richteter eine Schrotflinte auf mich. »Was hast du mit Mason gemacht?!«

Wenn ich raten muss, dann ist Mason der Scharfschütze. Die Fünf haben ihn wohlkontaktiert, damit er mich aus der Ferne beobachtet, und dabei bemerkt, dass er nicht mehr antwortet.

»Beruhige dich! Wir dürfen unsere Namen nicht verraten.« Es ist die Frau, die vorhin ebenfalls gesprochen hat, die nun gefolgt von den anderen hereinkommt.

»Wen kümmerts?! Die Droge wirkt nicht, also müssen wir es sowieso töten!«

Es, denke ich verdrossen.Nicht nur sind sie unhöflich, sie sind auch sehr ehrgeizig. Es braucht viel, um einen Vampir zu töten, und für ein paar Menschen allein ist es praktisch unmöglich.

»Aber die Droge hat nicht gewirkt, was ist, wenn das auch nicht funktioniert?«

»Die Droge hat gewirkt«, sage ich, um Zeit zu gewinnen. Auf diese Weise hoffe ich, dass Verstärkung eintrifft, bevor sie versuchen können, mich zu töten. »Sie hat mich vorhin gezwungen, mich zu verwandeln. Deshalb habe ich sie dieses Mal nicht eingeatmet.«

»... nicht eingeatmet ...?« Die Frau wiederholt meine Worte, als ob sie deren Bedeutung nicht kennt.

»Ich atme nur, um Gerüche wahrzunehmen und um zu sprechen. Wussten Sie das nicht?« Ihren Reaktionen nach zu urteilen, wussten sie es wirklich nicht. Obwohl es kein Geheimnis ist, aber Anti-Vampir-Fanatiker neigen dazu, grundsätzlich alles anzuzweifeln und nur zu glauben, was in ihr Weltbild passt. Vielleicht haben sie auch nicht daran gedacht, weil atmen für Menschen so selbstverständlich ist. In diesem Fall liegt eine gewisse Ironie darin.

»Du arrogante Missgeburt! Wag es nicht, uns zu verspotten!« Der Mann schreit jetzt und macht seine Schrotflinte bereit.

Ich höre auf, Bücher zu sammeln und verbeuge mich respektvoll vor der Gruppe. »Verzeihung. Das war nicht meine Absicht.« Obwohl es eine Entschuldigung ist, hat sie nicht die beabsichtigte Wirkung. Darüber hinaus scheine ich ihre Abneigung gegen mich noch verstärkt zu haben. Aber ich halte es für angebracht, sich zu entschuldigen, wenn man jemanden verärgert hat.

»Ich schlage vor, Sie ergeben sich. Wenn Sie von weiteren Verstößen absehen, wird das vom Gericht anerkannt«, sage ich ruhig, was die Gruppe noch nervöser macht.

Der Mann schnaubt abfällig und zielt.

»Selbst wenn Sie es irgendwie schaffen, mich zu töten, wird Mister Jason Tusk sicher eine Aussage machen.«

Das lässt ihn zögern.

»Der Zweck seines Anrufes war es, seinen Besuch anzukündigen, damit er auftauchen und seine Schwester in letzter Sekunde retten kann, nachdem Sie mich unter Drogen gesetzt und so dazu gebracht haben, Miss Cassandra anzugreifen. Das war der Plan.« Ich halte kurz inne und das unruhige Schweigen der Gruppe bestätigt meine Vermutung. »Aber Sie haben beschlossen, den Planzu ändern.Denn ein fast totes Mädchen macht nicht so viel Eindruck wie ein ganz totes, oder nicht?«

Ihre Reaktionen sind unübersehbar. Schneller Puls und Atmung, viel Schlucken, Schweiß. Und doch weichen sie nicht zurück. Selbst wenn der Plan scheitert und sie schwer bestraft werden, würde das nichts für sie ändern. Eine der herausragendsten Eigenschaften der Menschen. Wenn sie wirklich von etwas überzeugt sind, würden sie alles tun, um an diesem Glauben festzuhalten.

»Ich werde Sie nicht daran hindern, mich zu töten, aber vorher möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Ich habe noch nie einen von Ihnen getroffen, aber Sie scheinen mich alle so sehr zu hassen. Wieso?« Ich kenne die Antwort auf diese Frage. Und doch stelle ich sie mir immer wieder. Ist es für Menschen unveränderlich, das zu hassen, was sie fürchten? Ich erinnere mich an Cassandras Gesicht, nachdem sie meine Verwandlung gesehen hat. Obwohl sie gerade anfing, sich mir zu öffnen, und obwohl ich mein Bestes getan habe, sie vorsichtig zu behandeln, fürchtet sie mich nun. Seit ich ein Vampir geworden bin, ist jede menschliche Zuneigung, die ich erfahre, oberflächlich und brüchig. Und nach mehr als zweihundert Jahren bezweifle ich, dass sich das jemals ändern wird.

Ohne mich um die Waffen zu kümmern, die immer noch auf mich gerichtet sind, drehe ich mich zum Bücherregal und greife nach den letzten Büchern, die unter dem Holz stecken.

»Stirb, Missgeburt!«, schreit mich der Mann an und ich höre, wie er seine Schrotflinte abfeuert.

Meine Finger schließen sich um den Rücken eines Buches. Dann gibt es einen lauten Knall und die Welt wird weiß.

I.

Ich höre Vogelgezwitscher, das Summen von Insekten und das Rascheln von Blättern und Gras im Wind. Was für ein nostalgisches Gefühl. Ich atme tief ein und genieße den Duft von Wildblumen, Gras und Erde, der nicht durch menschliche Gerüche verunreinigt ist. So einen reinen Duft habe ich nicht mehr gerochen, seit ich ein Mensch war. Meine Nase muss beschädigt worden sein.

Ich öffne meine Augen und sehe den strahlend blauen Himmel über mir. Ein Himmel, der genauso sauber ist wie die Luft, ohne Wolkenkratzer oder Flugzeuge. Verwirrt setze ich mich auf und sehe mich um. Es ist ein Wald. Ich finde mich inmitten einer Lichtung mit wild wachsendem Gras und Blumen, umgeben von großen Bäumen, wieder. Darüber hinaus kann ich nur den Himmel sehen.

Ich berühre meinen Kopf. Bis jetzt haben virtuelle Realitäten bei Vampiren immer versagt. Aber das hat sich offensichtlich geändert, denn alle meine Sinne sind vollkommen davon überzeugt, dass ich mich in einem Wald befinde. Heutzutage wird jedes Stück Natur von den Menschen kontrolliert. Einen wilden, unkontrollierten Ort wie diesen, gibt es nicht mehr.

Ich habe keine Ahnung, wieso ich mich in einer virtuellen Realität befinde, aber ich nehme an, man wird mich bald darüber informieren.Bis dahin werde ich einfach hier liegen und die Ruhe dieses Ortes genießen.

Stunden vergehen und ich kann riechen, wie die Luft kühler wird. Als ich meine Augen öffne, hat sich der Himmel deutlich verdunkelt und ich beginne mich zu fragen, was es mit dieser Illusion auf sich hat. Sie ist sehr überzeugend, da sich die Geräusche und Gerüche mit dem Beginn der Nacht ändern. Es gibt sogar eine Menge Gerüche, die ich nicht kenne. Das ist nicht unbedingt ungewöhnlich, aber es ist seltsam, dass es so viele unbekannte Gerücheauf einmal sind.

Ich setze mich auf – und finde mich Auge in Auge mit einer Katze wieder. Einer großen Katze, die zwischen den Bäumen steht und mich misstrauisch beobachtet.

Meine Augen weiten sich, als ich erkenne, dass die Katze eigentlich ein Luchs ist. Allerdings sind Luchse lange ausgestorben und kein lebender Mensch hat jemals einen gesehen. Abgesehen von Bildern im Internet.

Außerdem kann ich ihn riechen und das sollte nicht möglich sein. Obwohl ich mich als Mensch an den Luchs erinnere, habe ich nie einen als Vampir gesehen und kenne somit seinen Geruch nicht. Ich dachte, diese Illusion benutzt meine Erinnerungen, um jeden Geruch für mich überzeugend zu machen, denn er ist zu facettenreich, um künstlich erzeugt worden zu sein. Wenn dies eine Illusion ist, dann habe ich nicht erkannt, wie weit die menschliche Technologie gekommen ist.

Ich stehe auf, was den Luchs prompt dazu bringt, in den Wald zu fliehen, aber ich beachte ihn nicht. Es ist an der Zeit, herauszufinden, was hier eigentlich los ist.

 

Es ist bereits Morgen, als ich meine Erkundung beende. Ich habe die ganze Nacht damit verbracht, verschiedene Dinge auszuprobieren, wie hoch in den Himmel zu springen oder tief in einen See zu tauchen. Alles, um Eindrücke zu sammeln, die Menschen normalerweise nicht erleben. Und ich konnte keine einzige Schwachstelle finden. Sogar mein Headset, das ich, genau wie die Projektile, noch bei mir habe, spielt verrückt, weil es sich weder verbinden noch das Terrain laden kann.Dafürhabe ich weitere Gerüche und Geräusche entdeckt, die ich nicht identifizieren kann, und als ich die Gegend ausgekundschaftet habe, bin ich auf eine kleine Stadt gestoßen. Ich kann sie immer noch von dem Felsen aus sehen, auf dem ich sitze. Der Turm einer Kirche und etwas, das wie eine alte europäische Burg aussieht. Nur dass sie überhaupt nicht alt ist. Die innere Stadt ist von einer Mauer umgeben und das Tor, um hineinzukommen, wird bewacht.

Es ist für die Nacht geschlossen, aber ich kann ein Licht im Fenster des kleinen Turms neben dem Tor sehen. So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gesehen. In historischen Filmen und Dokumentationen.

Als die Sonne schließlich über dem Horizont aufgegangen ist, höre ich Geräusche aus der Stadt und mache mich auf den Weg dorthin. Wie üblich passe ich mich dem menschlichen Tempo an, bevor ich nahe genug bin, um entdeckt zu werden, aber trotzdem werde ich zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als ich die Straße hinuntergehe und die ersten Häuser außerhalb der Mauer passiere.

Ich habe mir gedacht, dass dies ein Viertel der Unterschicht sein muss und obwohl es nicht ganz ein Slum ist, sind die meisten Häuser in keinem guten Zustand. Und dann ist da der Geruch. Ich wurde von einer Welle unangenehmer Gerüche getroffen, die von der Stadt ausgeht, noch bevor ich sie betreten habe, weshalb ich nicht mehr atme.

Meine asiatischen Gesichtszüge erregen Aufsehen, ebenso wie die Tatsache, dass ich kein Kleid trage, wie es für eine Frau an diesem Ortüblich zu sein scheint.

Ich suche mir ein junges Paar aus, das gerade an mir vorbeiläuft und mich dabei unverhohlen anstarrt, und gehe auf sie zu. »Bitte entschuldigen Sie«, sage ich mit freundlicher Stimme, während ich mich höflich verbeuge. Ich weiß, dass es für Menschen im Westen unüblich ist, sich zu verbeugen, aber meiner Erfahrung nach sehen sie es gerne. Ich dachte, es wäre vor allem in diesem historischen Rahmen angemessen, aber als ich den Kopf hebe, ist das Paar bereits auf der Flucht. »Von allen Leuten hier, warum gerade wir?«, höre ich den Mann flüstern, während sich die Frau an ihn klammert, als hätte sie Angst.

Ich hätte nicht fragen sollen, wenn so viele Menschen hier sind, denke ich, während ich ihnen hinterhersehe. Menschen lassen sich eher auf Vampire ein, wenn sie allein sind.

Ich verlasse die Hauptstraße und biege am nächsten Haus in eine kleine Gasse ein. Wobei ‚Trampelpfad‘ eine passendere Beschreibung wäre. Er ist so schmutzig, dass er Fliegen und andere Insekten anlockt. Wenn alle diese kleinen Gassen so aussehen, ist es kein Wunder, dass dieser Ort derart stinkt.

Ich muss ein bisschen suchen, bevor ich hier Menschen finde. Es ist eine Gruppe von fünf Männern. Zwei von ihnen sitzen auf einer Decke auf dem Boden und würfeln, während die anderen zuschauen.

Obwohl ich Informationen brauche und es mir nicht leisten kann, wählerisch zu sein, was den Anbieter angeht, zögere ich, einen von ihnen zu fragen. Eine Gruppe junger Männer wie sie würde eher einen Streit mit mir anfangen. Aber während ich noch abwäge, entdeckt mich einer der Männer. Er deutet in meine Richtung und lenkt die Aufmerksamkeit der anderen auf mich.

Ich kann sie reden hören.

»Ein kleines Mädchen, angezogen wie ein Mann.«

»Eine Ausländerin, eh? Was denkst du?«

Ich frage mich, ob sie das Vampirmal unter meinem Auge bemerkt haben und in diesem Moment winkt mir einer der sitzenden Männer auffordernd zu.

Ich gehe zu ihnen hinüber. »Bitte entschuldigen Sie«, sage ich mit einer leichten Verbeugung. Als ich den Kopf hebe, sehe ich fünf überraschte Gesichter, so als hätte ich Eindruck hinterlassen.

»Schau an, die hat ja richtig Manieren! Das muss unser Glückstag sein, Leute.« Der Mann, der mich her gewinkt hat, klatscht erfreut in die Hände. Die anderen, abgesehen von dem, der ebenfalls sitzt, grinsen.

Ich kann ihnen nicht folgen. »Ich würde gerne ein paar Fragen stellen.«

Während ich rede, stellen sich die drei Männer um mich herum auf. Der Mann, der zuvor gesprochen hat, zieht ein Messer. »Du bist keine von Frederic, oder? Sei ein gutes Mädchen und sag uns wo du herkommst.« Er grinst, während er das Messer in seinen Händen dreht und aufsteht, um den Kreis um mich zu schließen.

Ich kann immer noch nicht folgen, verstehe aber, dass diese Männer schlechte Absichten haben.

»Du willst doch sicher nach Hause zurück. Und ich wette, dein Herr bezahlt ein hübsches Sümmchen für unsere Hilfe.« Er schwingtdas Messer bedrohlich.

Für eine Sekunde bin ich zu verblüfft, um etwas zu tun. Ich verstehe immer noch nicht, wovon der Mann spricht, wohl aber, dass ich von einem Menschen bedroht werde. Mit einem Messer.

Ich reibe mir nachdenklich das Kinn. Übersehe ich etwas? Ist das so etwas wie eine Spielshow mit versteckter Kamera?

»Hey!« Offensichtlich verärgert von mir ignoriert zu werden, greift der Mann mit dem Messer nach meinem Arm.

Ich weiche aus und werfe ihm einen warnenden Blick zu. »Soll das witzig sein?!«

Der Mann hält erschrocken inne, aber dann verzerrt sich sein Gesicht vor Wut. »Wer hat dir erlaubt, das Maul aufzumachen, Sklave?!«

Zum zweiten Mal bin ich zu verblüfft, um etwas zu sagen. Der Ton, in dem er mit mir spricht, ist schon außergewöhnlich genug für einen Menschen, der einen Vampir vor sich hat, aber er nennt mich Sklave? Und damit nicht genug, er holt mit der Hand aus, als wolle er mir eine Ohrfeige geben. Dabei bringt er so viel Schwung in seinen Schlag, dass er taumelt, als er mich nicht trifft. So als hätte er tatsächlich erwartet, ich würde still halten. Es ist seltsam, wenn man bedenkt, dass es für ihn sehr viel unangenehmer gewesen wäre, hätte ich das getan.

»Wissen Sie, was das ist?«, frage ich, bevor der Mann, der reichlich verwirrt aussieht, sich wieder sammeln kann, und tippe auf meine linke Wange. Dort, wo das schwarze V unter meinem Auge eintätowiert ist, das mich als Vampir kennzeichnet.

»Was, ist dein Herr ein hohes Tier? Denkst du, ich scheiß mir jetzt in die Hose?«

Er erkennt es nicht. Dabei sollte das unmöglich sein.

»Packt sie.« Der Mann streckt die Hand mit dem Messer nach mir aus, vielleicht weil er denkt, ich würde erneut zurückweichen und damit seinen Kumpanen direkt in die Arme laufen, aber diesmal schlage ich seine Hand weg. Das Messer landet auf dem Boden.

Alle vier Männer erstarren in ihren Bewegungen.

»Ich bin weder eine Sklavin, noch jemand, den ihr einfach packen könnt«, sage ich genervt. »Aber ich habe ein paar Fragen!«

Der Mann, der nun völlig unbewaffnet vor mir steht, starrt mich einen Moment lang an, dann geht er leicht in die Knie und hebt die Fäuste. »Du willst also raufen, ja? Na los!«

Ich seufze tief. So wie es aussieht, werde ich alle vier verprügeln müssen, bevor sie mir etwas sagen und bei der Intelligenz, die sie ausstrahlen, wird das wohl kaum viel sein.

Natürlich ist der Anführer außerdem ein Feigling, weshalb der Mann zu meiner Rechten mich als erster angreift.

Ich packe seinen Arm, als er seine Faust auf mich zubewegt und ziehe ihn an mir vorbei, sodass er in seinen Kameraden auf meiner linken Seite hineinstolpert. Dann laufe ich in mäßiger Geschwindigkeit durch die Lücke, die sich mir geboten hat.

Ich werde verfolgt und ich wünschte, ich hätte auf meine Vorahnung bezüglich der Männer gehört. Ich muss davon ausgehen, dass ich mich an einem fremden Ort befinde, an dem man mich zwar als Ausländerin, nicht aber als Vampir erkennt. Eine Gruppe zwielichtiger Männer, die nach mir sucht, ist das Letzte, das ich jetzt gebrauchen kann.

Aber ich bin sicher, eine Wache beim Tor zur inneren Stadt gesehen zu haben. Probleme mit Menschen überlässt man am besten den Menschen, und da mir die Männer so bereitwillig folgen, führe ich sie zum Tor.

Sie brauchen erstaunlich lange, um mein Vorhaben zu bemerken, oder es ist ihnen so wichtig, mich einzufangen, denn sie verfolgen mich bis zur Hauptstraße. Erst dann bleiben sie stehen, ohne mich aus den Augen zu lassen, als hofften sie, dass ich in die Gassen zurücklaufen würde.

»Bitte entschuldigen Sie«, sage ich zu einer der Wachen, die vor dem Tor stehen und mich bereits misstrauisch mustern. Sie tragen eine antik aussehende Lederrüstung, mit einem Wappenrock darüber und Speeren in der Hand. Das Wappen zeigt ein Schild mit einem Kreuz und einer Sonne und was auch immer das bedeutet, sie scheinen eine gewisse Autorität zu besitzen.

Ich deute auf die Männer, die noch immer in einer Gasse stehen und zu mir herübersehen. »Diese Männer haben mich angegriffen und bis hierher verfolgt.«

Aber anstatt der Richtung meiner Hand zu folgen, bleibt der Blick der Wachen auf mich gerichtet. »Eine Sklavin?«, fragt der Linke, ein breiter Mann mit buschigen Augenbrauen und einem Vollbart, und mustert mich von oben bis unten. »Wo ist dein Herr?!«

»Ich bin keine Sklavin«, antworte ich, etwas überrascht, über seinen barschen Tonfall. »Mein Name ist Yuna Mizuno und ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt. Sie sehen aus, als wären sie für die Ordnung hier zuständig oder irre ich mich?«

Der Mann sieht mich verwirrt an. Er tauscht einen Blick mit seinem Partner. »Meinst du, wir sollen sie einsperren?«

Der andere zuckt mit den Schultern.

»Weswegen?«, frage ich, nun leicht verärgert, allerdings werde ich erneut ignoriert.

Die Männer richten ihre Speere auf mich. »Ergib dich und komm mit uns.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe gefragt, weswegen!«

»Du hast hier gar nichts zu sagen!«, sagt der Mann mit dem Vollbart, während er und sein Partner mich mit ihren Speeren umrunden. »Na los doch!« Er stößt mit dem Speer nach mir, als wolle er mich antreiben, loszugehen.

Ich packe die Speerspitze und halte sie fest, während ich den Mann warnend ansehe. Er versucht daraufhin, seinen Speer zurückzuziehen, was ihm jedoch nicht gelingt.

»Ich bin nicht hier, um Ärger zu machen.«

Der Mann starrt mich einen Moment entgeistert an. Dann reißt er den Mund auf und brüllt: »ALARM!«

Der plötzliche, laute Schrei lässt mich zusammenzucken und ich lasse den Speer los, um meine Ohren zu schützen. Ich hasse es, wenn Menschen zu schreien anfangen, wenn ich neben ihnen stehe.

Währenddessen bringt der Alarmschrei Bewegung in die Menschen um mich herum. Die Passanten auf der Straße rennen davon. Gleichzeitig geht eine Tür in der Mauer auf und Wachen strömen heraus und auf der Mauer hinter den Zinnen steht plötzlich eine Reihe Männer und richtet Gewehre auf mich.

Schon wieder, denke ich resigniert, auch wenn es sich dieses Mal um sehr alte Modelle handelt, deren Feuerkraft vermutlich gerade ausreicht, um mir ein paar blaue Flecke einzubringen. Daher kann man eigentlich gar nicht davon sprechen, dass ich bedroht werde. Aber all das fühlt sich so real an, dass ich mich lieber nicht auf einen Kampf einlassen will.

Ich hebe beide Hände in die Luft. »Das ist unnötig!«, sage ich mit lauter Stimme.

»Dann ergibst du dich?«, fragt die Wache von zuvor, ohne ihren Speer zu senken.

Ich finde es eigenartig, dass ich plötzlich mit so viel Vorsicht behandelt werde, denn auch die Wache hat mein Vampirmal für ein Sklavenzeichen gehalten. »Ich bin kein Feind«, sage ich, ohne die Hände zu senken.

»Das entscheiden wir!«

Ich lasse die Hände sinken. »Dann werde ich gehen«, sage ich und drehe mich um.

Plötzlich ziehen die Männer den Kreis um mich herum enger, sodass ich nun die Speerspitzen unter der Nase habe. »Keine Bewegung!«

Offenbar sind diese Menschen fest entschlossen, mich zu verhaften, aber ich sehe nicht ein, dass ich mich für rein gar nichts einsperren lasse. Und da sie nicht mit sich reden lassen, werde ich nicht noch einmal in diese Stadt kommen, wenn es sich vermeiden lässt.

»Was geht hier vor sich?«, ertönt eine laute Stimme hinter mir, bevor ich entscheiden kann, ob ich die Speere beiseite stoßen oder einfach darüber hinwegspringen soll.

Ich sehe über die Schulter und entdecke zwischen den Männern mit den Speeren, einen weiteren Mann, der jedoch keine Wache zu sein scheint. Er trägt eine lange, weiße Robe mit einer weiten Kapuze, die sein Gesicht jedoch nicht verdeckt. Um seinen Hals hängt ein silbernes Kreuz mit einer Sonne und er trägt einen großen Ring am rechten Ringfinger, dessen Hand er erhoben hat, wie um die Wachen anzuweisen, innezuhalten. Und tatsächlich treten die Wachen beiseite, obwohl der Mann verglichen mit den meisten Wachen jung zu sein scheint. Er betrachtet mich eingehend. »Wer seid Ihr?« Seine Ausdrucksweise klingt altmodisch, aber höflich.

Ich beschließe, es noch einmal zu versuchen. »Mein Name ist Yuna Mizuno. Ich bin erst heute in die Stadt gekommen und als ich in einer Gasse von ein paar Männern angegriffen wurde, wollte ich es der Torwache melden. Aber jetzt wollen sie mich verhaften, ohne mir den Grund zu nennen.« Als ich ebenso höflich antworte, kommt der Mann auf mich zu, und die Wachen auf den Zinnen senken ihre Gewehre, während die mit den Speeren zurücktreten. Es scheint, als wollten sie ihre Waffen nicht auf ihn richten. »Und woher kommt Ihr?«

Ich zögere. Nicht nur weiß ich nicht, wie ich diese Frage beantworten soll, es scheint mir, dass dieser Mann keinen Fehler im Verhalten der Wachen erkennt. »Nicht von hier«, sage ich schließlich bedächtig. »Ich weiß nicht einmal, wo ‚hier‘ ist.«

»Soll das heißen, dass Ihr Euch verlaufen habt?«, fragt er, aber seine Stimme ist kühl.

»So könnte man es sagen. Wo befindet sich diese Stadt?«

»In Warrenheim. Direkt an der Grenze zu Valiante.«

Zuerst bin ich überrascht, dass er mir antwortet und dann bin ich verwirrt. Ich kann mit keinem dieser Namen etwas anfangen.

»Das hier ist das Nordtor. Der einzige Grund, den gefährlichen Weg durch den Wald zu nehmen, ist, dass Ihr aus Valiante hierhergekommen seid«, fährt der Mann fort und aus seinem Blick lese ich, dass das etwas Schlechtes ist.

»Ich bin vielleicht von dort gekommen, aber ich stamme nicht von dort.«

»Es wird sich zeigen, ob das die Wahrheit ist. Im Moment sorgt Eure Anwesenheit für Angst in der Stadt. Deshalb muss ich Euch bitten, widerstandslos mit den Wachen mitzugehen.«

»Und wieso sollte ich das tun?«

»Weil wir ausschließen müssen, dass Ihr auf Lord Valoas Befehl hier seid«, antwortet der Mann geduldig.

»Und Lord Valoa ist wer?«

»Er ist der Mann, der in diesem Moment Krieg gegen uns führt.«

 

II.

»Woraus sind die gemacht?«, frage ich, während ich auf die Handfesseln hinabsehe, die man mir angelegt hat. Für Handfesseln sind sie schwer, aber besonders stabil sehen sie nicht aus. Ich spanne die Kette, die die Fesseln verbindet, probeweise.

»Eisen«, antwortet der Mann, der sich mir als Lucius Crevell vorgestellt hat. Er ist der Oberste Priester von Ederand, der Stadt, in der ich mich befinde.

Ich höre auf, an der Kette zu ziehen. Stattdessen verschränke ich meine Finger miteinander, damit ich die Hände nicht versehentlich zu weit auseinander bewege. Wenn es nur Eisen ist, könnte ich sie versehentlich zerbrechen.

»Es muss unangenehm für Euch sein, aber wenn Euch tatsächlich nichts mit Lord Valoa oder Valiante verbindet, so wie Ihr sagt, werden wir sie Euch abnehmen.«

Ich werfe ihm einen Blick zu. Ich hätte mich nicht verhaften lassen, aber alles worum Lucius gebeten hat, ist, dass ich mir die Handfesseln anlegen lasse und ihm folge. Selbst wenn ich die Handfesseln nicht zerbrechen könnte, könnte mich niemand davon abhalten zu gehen, wann immer ich will. Daher habe ich keinen Grund gesehen, mich zu widersetzen.

Lucius ist nicht sehr gesprächig, aber im Wesentlichen habe ich verstanden, was vor sich geht. Zwei benachbarte Gebiete liegen im Krieg miteinander und ich habe das Pech, genau an der Grenze aufzutauchen, was mich natürlich verdächtig macht.

Ich werde in die Burg gebracht. Durch das Eingangstor in einen Innenhof und von dort aus eine Treppe in den Keller hinunter. Es ist tatsächlich ein Kerker, und zwar einer wie man ihn aus alten Filmen kennt. Mit steinernen Wänden, Eisengittern und Ketten an den Wänden.

»Bitte verzeiht die Unannehmlichkeit«, sagt Lucius, als ich in eine der Zellen gesteckt werde. »Geduldet Euch nur, bis Lord Frederic über Euch informiert wurde.«

Der Name lässt mich aufhorchen. Ich habe ihn schon einmal gehört, von dem Mann, der mich mit einem Messer bedroht hat. Da er mit Lord angesprochen wird, nehme ich an, dass es sich um ein patriarchisches Regierungssystem mit Adligen als Oberhäupter handelt, so wie es in der Vergangenheit üblich war.

Lucius scheint mir die Frage vom Gesicht abzulesen, denn er fügt hinzu: »Er ist der Graf von Warrenheim und der Burgherr. Er wird entscheiden, was mit Euch geschehen wird.«

»Ich verstehe«, sage ich mit einem Kopfnicken, nur um dann angewidert das Gesicht zu verziehen. Da es in der Stadt so stinkt, habe ich nur zum Sprechen eingeatmet und so fällt mir erst jetzt auf, wie bestialisch die Kerker stinken. Modrig, nach menschlichen Exkrementen und Verwestem, sodass ich mir unwillkürlich die Hände über Mund und Nase lege.

Lucius runzelt die Stirn, aber da ich nicht noch einmal den Mund aufmache, sagt er nichts und geht.

Ich werde allein gelassen. Nicht einmal eine Wache bleibt hier, sodass es niemand bemerken würde, sollte ich entscheiden, einfach zu gehen.

Ich sehe mich in meiner Zelle um. Es ist ein quadratischer Raummit unebenen Steinwänden, in dem sich bis auf einen Eimer und ein paar modriger Decken nichts befindet. Gegenüber von der Tür ist ein kleines Gitterfenster, dessen unteren Rand ich vielleicht geradeso mit den Fingerspitzen erreichen könnte. Die Wand auf meiner linken Seite besteht aus Gittern und ich kann in die benachbarten Zellen schauen. Aber direkt neben mir befinden sich keine Insassen.

Ich sehe aus dem Fenster. Besonders viel sehen kann ich nicht und so beobachte ich eine Fliege, die durchs Fenster hereingeschwirrt kommt. Es ist eine sehr große Fliege, denke ich, während ich ihr mit den Augen folge und bevor mir auffällt, dass es nicht ihre Größe ist, die mir eigenartig vorkommt. Es ist die Tatsache, dass sie sechs Flügel hat.

Ich blinzle verwirrt, sicher, dass ich mich verguckt habe, und ich strecke die Hand aus, um sie einzufangen. Dabei vergesse ich jedoch, dass ich immer noch Handfesseln trage und ich spüre ein Reißen an meinem linken Handgelenk, begleitet von einem Knacken der Eisenkette.

Ich gefriere in der Bewegung. Ohne mich zu bewegen, senke ich den Blick auf die Fesseln. Glücklicherweise sind sie nicht zerbrochen, aber ein Kettenglied weist einen Riss auf.

Ich verschränke meine Hände wieder miteinander und beschließe, die Fliege nur zu beobachten. Jedoch hat sie meine Zelle bereits wieder verlassen.

 

Ich muss mehrere Stunden warten, bevor ich von zwei Wachen abgeholt werde. Sie führen mich aus dem Kerkerzurück in den Innenhof und von dort durch den überdachten Flur zu einer großen Flügeltür, die von zwei Männern in Uniform bewacht wird. Sie sind ähnlich gekleidet, wie die Wachen unten am Tor, aber sie sehen gepflegter aus und sie haben Quasten, in demselbenGrün ihrer Wappenröcke, an die Schäfte ihrer Speere geknotet und auf ihren Stahlhelmen.

Der Raum hinter der Flügeltür ist eine große Halle. Hohe Fenster lassen das Licht der Abendsonne herein und die Kamine sorgen für zusätzliches Licht. Es scheint mir jedoch etwas gewagt zu sein, so viel Feuer in einem Raum brennen zu lassen, der mit Holz ausgekleidet ist. Es wäre schade um die Schnitzereien an den Wänden und der Decke. Immerhin wurde auf die Beleuchtung der drei riesigen Kronleuchter verzichtet, auf denen dutzende von Kerzen stehen dürften.

Am Ende der Halle, auf einem kleinen Podest, steht ein großer Stuhl auf dem, wie ich vermute, Lord Frederic sitzt. Er sieht aus wie ein Mann um die vierzig, mit einem Schnurrbart und ungekämmtem, dunkelblondem Haar. Seine Kleidung besteht aus Hemd, Hose und einem dunkelroten Umhang, womit er schlichter gekleidet ist als die restlichen Menschen im Raum. Er sieht wie jemand aus, der die Nacht durchgearbeitet hat und schon seit einer Weile nicht mehr an der Sonne war.

Lucius steht rechts neben Frederic und auf seiner linken Seite steht eine Frau, in einem dunkelgrünen Kleid mit goldenen Stickereien, und einem goldenen Haarnetz, das ihre braunen Haare im Nacken zusammenhält. Sie scheint mir etwa zehn Jahre jünger als Frederic zu sein und ihr Gesicht ist angespannt, während sie in meine Richtung starrt.

Es sind noch sieben weitere Männer im Raum. Zwei davon sind Wachen, die rechts und links vom Podest stehen, die anderen fünf Männer stehen links vor dem Podest, in einer Reihe aufgestellt. Sie scheinen Berater oder hochrangige Bedienstete zu sein. Erst ein alter Mann, neben ihm einer mit einem spitzen Ziegenbart, ein dicker, ein blonder Jüngling und als letztes einer mit einer silbernen Maske über der linken Gesichtshälfte.

Als wir nahe genug vor dem Podest stehen, um in menschlicher Hörweite zu sein, bleiben die Wachen stehen. »Es ist die Frau, my Lord«, sagt einer mit gesenktem Kopf.

Frederics Augen schmälern sich, während er mich mustert und schließlich verpasst mir die Wache, die gesprochen hat, einen Stoß mit dem Schaft seines Speers.

Ich spüre es kaum, aber unhöflich ist es trotzdem und ich sehe die Wache verärgert an.

Sie funkelt wütend zurück. »Zeig Respekt und verbeuge dich vor seiner Lordschaft!«, knurrt sie leise.

Ich richte meinen Blick auf Frederic. »Ich bin mit den Gepflogenheiten in Eurem Land nicht vertraut«, sage ich, wobei ich versuche, Lucius’ Art zu sprechen zu imitieren. »Aber wie Ihr sehen könnt, kooperiere ich mit Euch, daher bitte ich um Nachsicht.« Um meine Worte zu unterstreichen, hebe ich meine immer noch verschränkten Hände mit den Handfesseln.

»Unverschämtheit!« Diesmal ist es nicht die Wache, sondern einer der Männer, die neben dem Podest stehen. Der mit dem Ziegenbart. »Wer hat dir erlaubt, Lord Frederic anzusprechen, Sklave?!«

Ich werfe dem Mann einen entnervten Blick zu, beschließe aber, ihn zu ignorieren.

»Ich habe mich grundlos verhaften lassen und mehrere Stunden in einem modrigen und stinkenden Kerker verbracht. Ihr versteht sicher, wenn ich mich Euch gegenüber nicht dankbar zeige«, sage ich zu Frederic, der jetzt überrascht wirkt.

Er hebt eine Hand, um den Ziegenbart von einer Erwiderung abzuhalten. »Ihr sprecht nicht wie eine Sklavin, Miss … wie war noch gleich Euer Name?«

»Mizuno«, sage ich und neige höflich den Kopf. »Mein Name ist Yuna Mizuno. Und ich bin keine Sklavin.«

Frederic blinzelt und sieht mich etwas überfordert an. »Könntet Ihr Euren Namen wiederholen?«

»Mizuno«, sage ich erneut, diesmal etwas langsamer und deutlicher.

Er kneift die Augen zusammen. »Miso…nu?«

Ich seufze leise. Es ist eine Weile her, dass ich jemandem meinen Namen erklären musste. »Nennt mich Yuna.«

»Dann Miss Yuna, wenn Ihr keine Sklavin seid, weshalb tragt Ihr ein Sklavenmal auf dem Gesicht?«

»Es ist kein Sklavenmal«, sage ich und will meine linke Wange berühren, lasse meine Hände dann jedoch verschränkt. »Es ist … ein Clan-Symbol. Alle meine Leute tragen es auf dem Gesicht.«

»Und was wollt Ihr in Warrenheim? Soweit ich weiß, seid Ihr allein. Es ist gefährlich für ein junges Mädchen wie Euch, ganz ohne Begleitung zu reisen, besonders hier.«

»Man hat mir gesagt, dass Ihr Euch in einem Krieg befindet. Aber das hat nichts mit mir zu tun.«

Frederic breitet die Arme aus und lehnt sich etwas in seinem Stuhl vor, während er mich bedauernd ansieht. »Ich würde Euch gern glauben, aber ein Mädchen, das ganz allein und als Junge verkleidet in meine Stadt kommt, ist nun mal sehr verdächtig. Noch dazu beherrscht Ihr unsere Sprache auf eine Weise, die es sehr zweifelhaft erscheinen lässt, dass Ihr tatsächlich aus demOsten stammt.«

»Auf welchem Kontinent liegt Warrenheim?«, frage ich, auch wenn ich die vage Vermutung habe, dass mir auch das nichts sagen wird.

Frederic sieht mich verdutzt an. »Wie bitte?«

»Warrenheim ist was, eine Grafschaft? Zu welchem Staat gehört es?« Da Lucius Frederic als den Grafen von Warrenheim bezeichnet hat, macht das Warrenheim wohl zu einer Grafschaft, aber soweit ich weiß, ist eine Grafschaft kein eigenständiges Land.

»Diese Impertinenz!«, ruft der Ziegenbart, während Frederic mich noch immer verdutzt anstarrt. »Diese Frau gehört in den Kerker!«

»Ich habe Euch gesagt, dass ich mit Euren Angelegenheiten nichts zu tun habe. Ob Ihr mir glaubt, ist Eure Sache«, sage ich weiterhin an Frederic gerichtet. »Ich bin nur mit Euren Leuten mitgegangen, weil ich Fragen habe.«

Einen Moment ist es still. Dann schwingt die Wache neben mir wieder ihren Speer. »Auf die Knie!«, ruft sie und versucht, mir mit dem Schaft in die Kniekehle zu schlagen. Aber dieses Mal fange ich den Schaft mit meinem Fuß ab und ziehe ihn nach vorn, sodass der obere Teil des Speers die Wache am Kopf trifft. Als er, überrascht davon, zurückweichen will, schiebe ich meinen Fuß hinter seinen, sodass er das Gleichgewicht verliert und auf dem Hosenboden landet.

»Benutzt dieses Ding noch einmal und Ihr landet als Nächstesauf Eurem Gesicht«, sage ich mit einem Blick auf die Wache, ehe ich wieder zu Frederic sehe.

Der sieht mit geweiteten Augen zu der Wache am Boden und dann zu mir. Dann lacht er laut auf und klatscht in die Hände. »Ihr seid wahrlich keine Sklavin.« Er nickt der Wache, die nicht auf dem Boden liegt, zu. »Nimm ihr die Handfesseln ab.«

Ich sehe Frederic fragend an, löse jedoch meine Finger voneinander und strecke meine Hände der Wache entgegen.

»Ich muss Euch für mein Verhalten, um Vergebung bitten, Lady Yuna. Ich hätte sofort erkennen müssen, dass Ihr von noblem Blut seid. Diana, meine Liebe, es muss für Lady Yuna schrecklich unangenehm sein, in diesen schäbigen Kleidern vor uns zu stehen.«

Die Frau neben Frederic mustert mich missbilligend und sie ist nicht die Einzige.

»Aber my Lord, seht Euch ihre Kleidung an«, sagt der Ziegenbart. »Sie ist eine Hochstaplerin!«

Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich eine Lady bin.

»Unsinn!«, Frederic wedelt abweisend mit der Hand in Richtung des Ziegenbartes. »Eine noble Herkunft lässt sich nicht vortäuschen. Und was für ein Mann wäre ich, wenn ich einer verirrten Dame meine Hilfe verwehren würde. Lady Yuna, Ihr seid mein Gast, bitte fühlt Euch auf Burg Rande wie Zuhause.«

Seine Beweggründe erscheinen mir etwas zweifelhaft, aber das allein ist kein Grund, ihn zurückzuweisen. Und ich habe nicht vor, den Unmut des ranghöchsten Menschen in dieser Stadt auf mich zu ziehen.

Ich neige höflich den Kopf. »Ich danke Euch, my Lord.«