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»Tom Hillenbrand regt genussvoll den Appetit der Krimileser an.« Die Welt Seit der Luxemburger Koch Xavier Kieffer mit Frankreichs berühmtester Gastrokritikerin liiert ist, wird er zu den exklusivsten Events eingeladen. Doch das edle Dinner beim Pariser Bürgermeister endet bereits nach der Vorspeise: Ryuunosuke Mifune, Europas berühmtester Sushi-Koch, kippt plötzlich tot um. Die Diagnose lautet: Fischvergiftung. Doch Kieffer ist skeptisch und deckt schnell Widersprüche auf. Er taucht ein in die Welt der Sushiküche und muss erkennen, dass es Fische gibt, die teurer sind als Gold – und wertvoller als ein Menschenleben.
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Seitenzahl: 373
Tom Hillenbrand
Ein kulinarischer KrimiXavier Kieffers zweiter Fall
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Tom Hillenbrand
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Nachwort
Glossar: Küchenlatein
Inhaltsverzeichnis
Für meinen Vater
Inhaltsverzeichnis
Es war ein Fehler gewesen, diese neuen Schuhe anzuziehen. Er war zu Fuß gelaufen, den ganzen Weg von der Opéra Garnier hinunter zur Seine, vorbei an der Place Vendôme, dann den Quai des Tuileries entlang. Am Samstagabend um diese Zeit ein Taxi zu bekommen, war nämlich unmöglich. Die stickige Métro wäre eine Option gewesen – aber nur, wenn man in einem aus allen Nähten dampfenden Smoking zu seinem Dinner erscheinen wollte, mit klammem Hemd und Schweißperlen auf der Stirn. Xavier Kieffer sah an sich herab und strich mit der Linken über den dunklen Stoff seines neuen Anzugs. »Für dich muss ich mindestens eine Woche arbeiten«, brummte er und begann, in der Jacketttasche nach seinen Ducal zu kramen.
Nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, lief Kieffer schmerzenden Fußes bis zur Mitte der Passerelle Senghor, umfasste mit seinen Händen das metallene Geländer und schaute den Fluss hinauf, Richtung Eiffelturm. Er stippte die Asche über die Brüstung und sah zu, wie die grauen Flocken vom Wind fortgeweht wurden. Er rümpfte die Nase. Paris im Frühling war seiner Meinung nach nicht halb so wunderbar, wie die meisten Menschen glaubten. Vor allem, wenn das Wetter so feucht und heiß war wie seit einer Woche. Dann duftete die Stadt der Lichter nicht nach Blumen und Liebe, sondern nach Autoabgasen und Müll.
Xavier Kieffer seufzte. In Grund, seinem Wohnviertel in der Luxemburger Unterstadt, war die Luft im April stets klar und frisch. Und anders als die Seine war die Alzette sauber. Dort könnte er nun sitzen, in seiner Laube am Fluss, mit einem schönen Glas Wein und etwas Rieslingspaschtéit … Kieffer zündete sich an der verglimmenden Ducal eine weitere an und inhalierte tief. Warum so miesepetrig, dachte er bei sich. Eigentlich hast du doch keinen Grund, so übellaunig zu sein, wahrhaftig nicht.
Schließlich war er in Paris, einer Stadt, die er eigentlich mochte. Und er war zu einem schicken Abendessen eingeladen. Nicht zu irgendeinem, sondern zu dem exklusivsten Dinner, das an diesem Abend in der Metropole stattfand. Ryuunosuke Mifune würde kochen, der größte Sushimeister Frankreichs, vielleicht sogar ganz Europas. Geladen hatte François Allégret, der Bürgermeister von Paris. Mehrere Staatsminister würden anwesend sein, diverse Chefredakteure, Wirtschaftsbosse und allerlei andere gut betuchte Freunde Allégrets.
Trotzdem war Kieffer unwohl. Es lag nicht nur an den rahmengenähten Budapestern, die seine Plattfüße malträtierten. Dies war die Art von Veranstaltung, bei der ein kleiner Luxemburger Koch wie er in etwa so viel verloren hatte wie eine Maus in einer Sterneküche. Warum also war er hier? Der Bürgermeister und seine High-Society-Freunde interessierten Kieffer herzlich wenig. Einmal persönlich von einem japanischen Großmeister wie Mifune bekocht zu werden, war schon eher etwas, wofür er bereit war, sich in einen viel zu teuren, viel zu schmal geschnittenen Boss-Anzug zu zwängen.
Aber der eigentliche Grund war natürlich Valérie.
Ohne sie wäre er nicht von Luxemburg nach Paris gefahren, um kalten Fisch mit Seetang zu essen, so meisterhaft dieser auch zubereitet sein mochte. Und ohne die Hilfe der Chefredakteurin und Eigentümerin des legendären Restaurantführers Guide Gabin hätte er sicher nie jene Einladung aus schwerem, goldumrandetem Büttenpapier erhalten, die ein Bote vor zwei Wochen in seinem Restaurant abgeliefert hatte:
»François Allégret erlaubt sich, Sie zu einer soirée privée zu Ehren von Monsieur Ryuunosuke Mifune einzuladen. 17. April, 21 Uhr, Le Musée d’Orsay. Abendgarderobe. R.S.V.P.«
Kieffer hatte sofort gewusst, dass Valérie hinter der Einladung steckte. Nicht nur, weil die Gabin-Chefin gut mit dem Pariser Bürgermeister befreundet war, sondern auch, weil sie ihm zuvor kein Wort gesagt hatte. Das war typisch für sie; kein Hinweis, keine Ankündigung, geschweige denn eine behutsam formulierte Frage, ob er überhaupt Lust habe, endlich einmal wieder einen Abend mit ihr zu verbringen. Stattdessen diese Einladung nach Paris, aus heiterem Himmel, über Bande gespielt. Und nicht zu einem Tête-à-tête in einem romantischen kleinen Restaurant in Saint-Germain, was eher nach Kieffers Geschmack gewesen wäre, sondern zu einem Society-Event, bei dem er sich schon unwohl fühlte, bevor die Veranstaltung überhaupt begonnen hatte.
Wütend war er gewesen, als er die Karte gelesen hatte. Doch noch am selben Abend hatte er ein Zugticket gekauft.
Der Eiffelturm riss Kieffer aus seinen Gedanken. Er hatte plötzlich zu funkeln und zu blitzen begonnen, leuchtete nun im Schein Tausender Lichter. Dieses Touristenspektakel wiederholte sich allabendlich nach Einbruch der Dunkelheit zu jeder vollen Stunde. Es musste folglich bereits 21 Uhr sein. Der Luxemburger warf seine Zigarette über die Brüstung und lief los. Am Ende der Brücke bog er nach rechts ab und ging raschen Schrittes den Quai Anatole hinunter, bis zum hell erleuchteten Musée d’Orsay.
Kieffer betrat die riesige Haupthalle des ehemaligen Bahnhofs. Ein Wachmann überprüfte seine Einladung.
»Am Ende der Allée Centrale befindet sich ein Fahrstuhl, über den Monsieur in den dritten Stock gelangt, zur Salle des Fêtes.« Er nickte und lief die Stufen zum etwas tiefer gelegenen Hauptgang hinunter. Im Mittelteil der Haupthalle standen Dutzende griechischer und klassizistischer Statuen. An den Wänden zu beiden Seiten waren Gemälde aufgehängt. Der Luxemburger passierte diverse Götter und Helden und blieb dann vor einem großen Ölschinken namens »Les Romains de la décadence« stehen. Kieffer betrachtete das Ensemble aus Weinkrügen, Speisen und nackten Leibern. Ihm wurde bewusst, dass er anscheinend der einzige Mensch in der wohl 30 Meter hohen, mehr als 100 Meter durchmessenden Haupthalle des Orsay war. Er lief weiter. Am Ende des Saals, unter einem riesigen Jugendstilrelief mit verzückt tanzenden Feen, erblickte er Valérie, die versunken auf ihren Blackberry starrte. Er betrachtete sie einen Moment, ohne etwas zu sagen. Die Gabin-Erbin trug ein hinreißendes, goldfarbenes Knitterkleid aus Crêpe de Chine – und darüber eine ausgewaschene blaue Jeansjacke, die erstaunlicherweise gut dazu passte.
Als Valérie Kieffer erblickte, lief sie auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Er hatte sich vorab einige Sätze zurechtgelegt, hatte etwas zu der seltsamen Art und Weise der Einladung sagen wollen, aber er kam nicht dazu. Denn Valérie küsste ihn sofort leidenschaftlich auf den Mund und schlang ihre Arme um seine Hüften. »Du bist hier«, murmelte sie. Sie schaute ihn aus ihren großen grünen Augen an, fuhr mit dem Finger über seine Nasenspitze. »Und wir haben das ganze Wochenende für uns, wenn du willst.«
Kieffer beschloss, die Diskussion über Valéries kritikables Kommunikationsverhalten auf einen deutlich späteren Zeitpunkt zu vertagen und lächelte sie stattdessen an. »Das wäre schön. Wobei ich den Eindruck habe, dass wir heute Abend nicht eine Minute allein sein werden.« Er deutete in Richtung des Eingangs. Dort war ein Pulk von Menschen aufgetaucht, der sich gerade vom Seitenflügel her in die Haupthalle schob. Vorneweg lief ein enorm gut aussehender, schlanker Mittvierziger, der von zwei jüngeren Männern mit Aktentaschen flankiert wurde.
»Ist er das? Unser Gastgeber?«, fragte Kieffer.
»Ja, das ist François, wie er leibt und lebt.«
Der Pariser Bürgermeister nahm lockeren, aber forschen Schrittes die Stufen hinunter zum Hauptgang. Er wich gekonnt einem marmornen Faun aus, drehte sich mehrfach um und winkte den Gästen zu, die hinter ihm durch die Türen drängten. Gleichzeitig parlierte er auf dem Handy mit einem Unbekannten und gab einem seiner jugendlichen Adlaten Handzeichen. Allégret trug einen perfekt maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Seine von ersten grauen Strähnen durchzogenen kastanienfarbenen Haare umrahmten ein braun gebranntes Gesicht, das in einen Modekatalog gepasst hätte: Charakterkinn, hohe Wangenknochen, leicht gebogene Nase.
»Euer Bürgermeister wäre auch auf dem Laufsteg gut aufgehoben.«
»Ja, er ist wirklich ein Schnittchen«, pflichtete Valérie Gabin ihm bei. Sie hakte sich bei Kieffer unter. »Aber ich kann dir versichern, dass wir beide völlig chancenlos sind.«
»Wir beide? Wie meinst du das?«
»Ich bin eine Frau. Und du bist zu alt.«
Kieffer verstand. »Deshalb die beiden … Assistenten?«
Sie nickte. »Aber jetzt Schluss mit dem Getratsche, hier kommt er.«
Sobald François Allégret die Gabin-Chefin erblickt hatte, reichte er das Mobiltelefon an einen seiner Gehilfen weiter und eilte auf sie zu. Er verneigte sich leicht, ergriff Valéries ausgestreckte Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Wie zauberhaft Sie wieder aussehen, liebe Freundin.« Er warf einen bewundernden Blick auf ihr Kleid. »Sie sind wie geschaffen für Dior.«
Dann ging er auf Kieffer zu und griff mit beiden Händen beherzt nach dem rechten Arm des Kochs. »Monsieur Kieffer, ich freue mich, dass wir uns endlich kennenlernen. Valérie erzählt so viel von Ihnen. Ich will alles über Ihre Küche wissen, ich bin so schrecklich neugierig.« Während er redete, strahlte Allégret den Luxemburger mit weit aufgerissenen Augen an und umschloss dessen Hand und Unterarm noch fester.
»Sie sind sehr freundlich, Herr Bürgermeister«, entgegnete er. »Aber mit Paris können wir in Luxemburg kulinarisch wohl kaum mithalten.«
Allégret schüttelte tadelnd den Kopf, während er Kieffers Rechte weiter fest umklammert hielt. »Aber nein, aber nein! Für Sie bin ich François! Und Paris hat 111 Sterne, Luxemburg hat 14. Ist aber nicht einmal so groß wie der Marais! Pro Kopf gerechnet liegen Sie vorne!«
Dann ließ er Kieffers Hand ohne ein weiteres Wort abrupt los und rotierte auf seinen Absätzen um 180 Grad. Den durch die Allée Centrale auf sie zuschlendernden Gästen zugewandt klatschte Allégret in die Hände. »Kinder, lasst doch jetzt bitte Cézanne und Degas, die sind immer hier. Aber unseren lieben Ryuunosuke Mifune, den haben wir nur heute Abend. Lasst uns nach oben gehen. Es ist ja auch später noch Zeit für eine Tour. Wir haben das Orsay die ganze Nacht für uns.«
Mit dem Lift fuhren sie zusammen mit einigen weiteren Gästen als Erste ins Obergeschoss und durchquerten einen langen Gang, der, wenn Kieffer richtig aufgepasst hatte, in den Westflügel führte. Seine Freundin schien den Weg zu kennen, er und die anderen Gäste folgten ihr. »Was genau ist eigentlich der Anlass dieser Party?«, fragte er Valérie.
»Mifune bekommt einen Orden. Er wird nächste Woche zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt.«
Kieffer pfiff anerkennend durch die Zähne. »Das ist noch nicht vielen Köchen gelungen.«
»Nein, außer Bocuse fällt mir keiner ein«, antwortete sie. »Aber Mifune ist schließlich auch nicht irgendjemand. Er ist einer der besten Sushiköche der Welt. Und er ist außerdem der Mann, der diese Küche in den Achtzigern überhaupt erst nach Europa gebracht hat. François ist ein großer Fan von ihm. Und da hat er die Gelegenheit genutzt, einen Event zu organisieren, auf dem Mifune für ihn kocht.«
»Aber der Mann hat doch ein Restaurant in Paris. Da kann der Bürgermeister Mifunes Sushi so oft essen, wie er will.«
Sie nickte. »Im ›Ue no Tai‹, das stimmt«, sagte Valérie. »Aber da bekommt François bestimmt kein Omakase wie dieses. Du weißt, was das ist?«
Kieffer schnaufte ärgerlich. »Natürlich. Ich war vier Jahre Souschef im ›La Houle‹, falls dir das etwas sagt.«
»Das vielleicht beste Fischrestaurant in Paris, allerdings vor gut 15 Jahren. Oder ist es noch länger her?«
»Danke, dass du mich an mein fortgeschrittenes Alter erinnerst.« Omakase war der japanische Begriff für ein Menü, bei dem der Gast sich dem Koch völlig auslieferte. Wer sich in eine Sushibar setzte und »Omakase« rief, der überließ es dem Koch, was serviert wurde. Auch bei ihrem heutigen Dinner würde es keine Auswahl geben, keine Wahlmöglichkeiten bei den Gängen. Niemand hatte Mifune für die Speisenfolge irgendwelche Vorgaben gemacht – alle würden essen, was der Sushimeister ihnen vorsetzte.
»Aber der Sinn des ganzen Manövers erschließt sich mir dennoch nicht«, sagte Kieffer.
»Der Bürgermeister isst dauernd in Drei-Sterne-Tempeln wie dem ›Tour d’Or‹. Er ist es gewohnt, stets das Beste vom Besten vorgesetzt zu bekommen. Trotzdem oder gerade deswegen, das beichtet er mir regelmäßig, ist François schrecklich gelangweilt. Er sucht stets nach etwas Neuem, Ausgefallenerem. Darum hat er sich diese kleine Party ausgedacht.«
Kieffer ahnte, was seine Freundin meinte. Valérie hatte ihm bereits erzählt, dass François Allégret sie regelmäßig um Restauranttipps anging und ein fanatischer Gourmet war. Aus eigener Erfahrung wusste er jedoch, dass einem das Schlemmen auf höchstem Niveau nach einiger Zeit sehr fad werden konnte. Bei Kieffer selbst war es so, dass ihm die komplexe, aufwendige französische Sterneküche nach einigen Jahren keinerlei Gaumenkitzel mehr beschert hatte. Das war einmal anders gewesen, aber inzwischen würde er eine Scheibe frisches Landbrot mit Käse oder eine luxemburgische Bouneschlupp mat Mettwurscht jederzeit kulinarischen Monstrositäten wie pigeon en feuilleté au chou nouveau et au foie gras vorziehen. François Allégret hingegen, der ganz augenscheinlich ein extravaganterer Charakter als Kieffer war, hatte die Freude an der haute cuisine offenbar noch nicht verloren, war aber, wie viele Gourmets, stets auf der Suche nach einem noch größeren kulinarischen Kick.
»Wie genau wird diese Party dem Mann beim Ausleben seiner kulinarischen Fantasien helfen?«, fragte Kieffer.
»Er setzt Mifune unter Druck, ist das nicht offensichtlich? Daran, dass der Japaner in die Ehrenlegion aufgenommen wird, ist François nicht ganz unschuldig. Er hat den Präsidenten auf die Pionierleistung dieses Kochs aufmerksam gemacht. Und dann dieser pompöse Event – der japanische Botschafter kommt, der Vorstandschef eines amerikanischen Internetkonzerns …«
»… sogar die Chefin des berühmtesten Restaurantführers der Welt gibt sich die Ehre«, fügte Kieffer hinzu. »Wie praktisch, wo dem armen Mifune-san noch sein dritter Stern fehlt, wenn ich richtig informiert bin.« Kieffer erlaubte sich ein Grinsen und kassierte von Valérie dafür umgehend einen Ellbogenknuffer.
»Du bist unmöglich.«
»Ich habe aber recht.«
»Ja, hast du. Ich gehöre wohl tatsächlich zur Tischdekoration. Und dann diese absurde Location. Ist dir bewusst, dass er das ganze Musée d’Orsay hat sperren lassen?«
»Ist es nicht abends ohnehin geschlossen?«, fragte Kieffer.
»Es war auch schon den gesamten Nachmittag zu, wegen einer Privatführung für François’ ausländische Dinner-Gäste.«
»Und dieses ganze Brimborium wirkt sich positiv auf unser Abendessen aus? Da wäre ich ja skeptisch.«
Valérie zerrte an seinem Arm. »Hier müssen wir rechts.« Sie zog ihn näher zu sich heran. Kieffers Nase erhaschte einen Hauch von Chanel. »Ich weiß genau, wie mein hübscher Bürgermeister funktioniert. Wenn er von jemandem etwas will, dann überhäuft er ihn mit Aufmerksamkeit und Zuneigung. Von beidem hat er Mifune mit diesem Dinner derart viel zuteilwerden lassen, dass der Mann ihm aus lauter japanischem Ehrgefühl das beste Sushimenü auftischen muss, das je auf diesem Kontinent serviert worden ist.« Sie legte ihren Arm um ihn. »So zumindest stellt sich Monsieur Allégret den Verlauf des Abends vor.«
Kieffer wollte gerade eine Bemerkung über die französischen Politikern angeborene Großmannssucht machen, als der Gang nach links abbog und den Blick auf eine geöffnete Flügeltür freigab, vor der zwei Japanerinnen im Kimono standen. Dahinter lag ein Saal von der Größe eines Tennisplatzes, dessen hohe Wände und Decke überreich mit Gold und Stuck verziert waren. Durch die Fensterfront an der Nordseite eröffnete sich dem Betrachter ein fantastischer Blick auf Sacré-Cœur. Auf Staffeleien standen zahlreiche impressionistische Gemälde, die allesamt asiatische Motive zeigten. Kieffer erkannte einen Gauguin, der Rest sagte ihm nichts.
»Er hat die halbe Japonismus-Abteilung des Orsay hierher bringen lassen, der Wahnsinnige«, murmelte Valérie.
Der große Tisch in der Mitte des Raumes bildete einen deutlichen Kontrast zur absolutistischen Grandezza des Saals. Es handelte sich um eine Tafel aus unlackiertem Zedernholz, die mit schlichter japanischer Keramik eingedeckt war. Außer kleinen Schüsseln, Menükärtchen, Servietten und Essstäbchen lag nichts auf dem Tisch, weder Blumengestecke noch andere Dekorationen.
Hinter der Tafel, am anderen Ende des Saals, hatte man mehrere japanische Paravents aufgestellt, hinter denen sich offenbar ein Teil der improvisierten Küche verbarg. Vor den Reispapier-Wänden befand sich eine wuchtige Arbeitsplatte, an der ein Japaner mit pockennarbigem Gesicht stand. Das musste Mifune sein. Jedes Mal, wenn ein weiteres Grüppchen von Gästen eintrat, verneigte er sich tief.
Hinter dem Paravent tauchten nun weitere Frauen im Kimono auf und begannen, den Gästen Willkommensdrinks zu servieren. Insgesamt mussten es inklusive Valérie und Kieffer knapp 25 sein. Er erkannte einen deutschen Minister und einen französischen Fernsehmoderator; die anderen Leute waren ihm unbekannt.
»Wer sind diese Menschen? Kennst du die alle?«
»Fast«, erwiderte Valérie. Während Kieffer an geeistem Pflaumenwein nippte, flüsterte sie ihm die Namen der ihr bekannten Gäste zu. Allégrets Dinnerdekoration umfasste neben drei Ministern aus Deutschland und Frankreich den japanischen Botschafter, den Chef eines französischen Lebensmittelkonzerns, mehrere Medienmogule sowie einen amerikanischen Milliardär. Valérie studierte eine kleine Karte, auf der die Sitzordnung für den Abend verzeichnet war.
»Du sitzt übrigens neben ihm, Xavier.«
»Ich hatte gehofft, neben dir zu sitzen und den ganzen Abend alle anderen Gäste ignorieren zu können.«
Sie verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Warst du eigentlich schon immer so ein misanthropischer Griesgram? Oder musstest du lange daran arbeiten?«
»Die Frage ist mir zu rhetorisch.«
»Wir sitzen natürlich nebeneinander, Xavier. Aber zu deiner Rechten, da sitzt der Milliardär. Er heißt Cesar Lee Willinon.«
»Womit«, fragte Kieffer, »ist er denn so reich geworden? Mit Öl?«
»Nein, irgendwas mit Software, glaube ich.«
Kieffer wollte sich gerade nach einem Aschenbecher umsehen, als François Allégret begann, mit einem Löffel gegen sein Champagnerglas zu klopfen. »Liebe Freunde, ich begrüße euch alle herzlich zu diesem besonderen Abend.« Er übergab einem seiner Assistenten das Glas und breitete die Arme aus. »Willkommen. Oder besser: Irasshaimashita! Dieser Abend steht ganz im Zeichen der wunderbaren japanischen Küche. Viele von euch lieben Sushi, das weiß ich«, der Bürgermeister zeigte auf einen Gast im hinteren Teil des Saals. »Lee hat sogar sein eigenes Restaurant, wenn ich richtig informiert bin.«
Allégret wandte sich nun Mifune zu, der immer noch hinter seiner Arbeitsplatte verharrte. Sein Gesicht verriet keinerlei Regung. »Ryuunosuke Mifune ist nicht nur einer der besten Köche der Welt, er ist auch derjenige, dem wir es zu verdanken haben, dass Sushi in Europa derart populär geworden ist. Als Mifune-sama in Nizza sein erstes Restaurant eröffnete, hielten die meisten von uns Thunfisch noch für etwas, das aus der Dose kommt und kalten Fisch für etwas, das nur Holländer freiwillig essen.« Das Publikum lachte. »Das war 1985. Heute ist Sushi überall.«
François Allégret machte eine kurze Pause, dann zeigte er auf Mifune. »Aber das beste Sushi Europas macht immer noch unser Ehrengast, der deswegen am Mittwoch vom Staatspräsidenten verdientermaßen ausgezeichnet wird, mit dem höchsten Orden, den unsere Republik zu vergeben hat. Und uns wird heute Abend die Ehre zuteil, ein ganz besonderes Omakase-Menü von Ryuunosuke Mifune zubereitet zu bekommen.«
Er verneigte sich leicht in Richtung des Koches. »Arigatoo goozaimasu, Monsieur.« Mifune sagte nichts, sondern verneigte sich tief und steif.
Die ersten Gäste begannen sich zu setzen. Kieffer rückte Valérie den Stuhl zurecht und nahm dann ebenfalls Platz. Zu seiner Rechten saß bereits ein sportlich aussehender Endvierziger mit kahlgeschorenem Kopf und kurz getrimmtem Vollbart, der ihm augenblicklich die Hand entgegenstreckte. »Hi, ich bin Lee!«, donnerte er in dem unverständlichsten Französisch, das Kieffer je vernommen hatte. »Wirklich fantastisch, Sie kennenzulernen.«
»Xavier Kieffer, ganz meinerseits. Wir können auch Englisch …«
»Super, großartig. Leichter für mich. Ich versuche es zu lernen, Französisch, aber, na ja, Sie wissen schon.« Der Amerikaner trug einen hellgrauen Anzug und ein enges schwarzes T-Shirt, das sich über seine muskulöse Brust spannte.
»Paris ist fantastisch«, erklärte Willinon. »Ich liebe es. Was ist das für eine Kirche, die man dort hinten auf dem Hügel sieht? Großartige Architektur, ich liebe sie!«
»Das ist Sacré-Cœur«, erwiderte Kieffer und versuchte, das Thema zu wechseln. »Der Bürgermeister erwähnte, Sie besäßen selbst ein Sushi-Restaurant?«
Willinon, der mit seinen Essstäbchen gerade gekonnt eine gesalzene Pflaume aus einer Schüssel fischte, nickte energisch. »Korrekt. Ich habe in Rio del Mar eine eigene Sushibar, zusammen mit Robert. Robert De Niro. Direkt am Wasser.« Er warf Kieffer einen Verschwörerblick zu und senkte die Stimme. »Sie läuft nur so mittel, aber es ist halt ein Hobby von mir.«
»Sushi?«
»Alles was mit Japan zu tun hat«, sagte Willinon und winkte eine Kellnerin herüber. »Osake o kudasai! Wollen Sie auch einen Sake, Xavier?«
»Gute Idee, warum nicht«, sagte Kieffer. Ohne Alkohol würde er dieses kalifornische Energiebündel kaum den ganzen Abend ertragen können.
»Futatsu. Zwei!«, brüllte Willinon der Kellnerin hinterher. »Japanisches Essen – es ist das Beste. Ich liebe es! Ich bin extra wegen dieses Omakase rübergeflogen. Mich interessiert, was dieser Mifune auf dem Kasten hat. Guckt ein bisschen verkniffen, oder? Kennen Sie sich mit Sushi aus, Xavier?«
»Ein wenig. Ich bin selbst Koch.« Kieffer hatte nichts gegen japanisches Essen, im Gegenteil. Als er in den Neunzigern Souschef im angesagten Fischrestaurant »La Houle« gewesen war, hatte der Sushiboom Paris bereits voll erfasst. Viele seiner Stammkunden waren desertiert, weil sie statt Hummer oder Austern plötzlich lieber Sashimi und Thun-Nigiri essen wollten. Irgendwann hatte der Geschäftsführer des »La Houle« deshalb eine eigene Sushibar einrichten lassen und einen japanischen Shokunin eingestellt, einen speziell ausgebildeten Koch. Insofern wusste Kieffer einigermaßen Bescheid.
»Ich höre, Mifune ist sehr gut«, sagte er vorsichtig. »Er soll ein Traditionalist sein. Also vermutlich eher keine California Rolls mit Mayonnaise heute Abend.«
»Ich verstehe.« Cesar Lee Willinon nickte und strich sich durch seinen Bart. Dann brach es aus ihm heraus.
»Tradition ist cool, aber Frische ist das Wichtigste, wissen Sie? Ganz frische Seeigel zum Beispiel, ich liebe sie! Wir bekommen in meinem Restaurant alles direkt vom Tsukiji, dem Tokioter Fischmarkt. Fliegen es selbst ein«, sagte der Kalifornier und nippte an seinem Sake. »Sie sollten mal bei uns reinschauen, Xavier.«
»Mache ich, wenn ich das nächste Mal an der Westküste bin«, erwiderte Kieffer.
»Großartig! Die Meinung eines französischen Kochs zu unseren Produkten, das würde mich wirklich interessieren.«
»Nein, also verzeihen Sie, ich hatte mich nicht richtig vorgestellt«, sagte Kieffer. »Ich bin kein Franzose, sondern Luxemburger.«
»Wirklich? Faszinierend. Das hätte ich gar nicht gedacht. Ihr Französisch ist so makellos. Sie haben ja überhaupt keinen Akzent, obwohl Sie Deutscher sind.«
Zu Kieffers Erleichterung kam in diesem Moment der erste Gang. Es gab Sashimi aus hauchdünn aufgeschnittenem Wildlachs, den Mifune kurz vor dem Servieren mit siedendem Sesamöl beträufelt hatte, sodass die Oberseite der Fischstücke leicht angegart war.
»Was denken Sie, Xavier?«, fragte Willinon eine Spur zu laut, womit er die Blicke der umliegenden Gäste auf sich zog.
»Makellos«, erwiderte Kieffer, nachdem er gekostet hatte. Es war in diesem Fall nicht nur die geboten höfliche Antwort, sondern gleichzeitig auch die Wahrheit. Er ließ sich ein weiteres Stück Lachs auf der Zunge zergehen. Die Vorspeise war sehr simpel, aber auch sehr gut. Perfekte Zutaten, perfekte Zubereitung – vielleicht hatte Valérie recht und dies war ein Menü, wie man es höchstens alle paar Jahre serviert bekam.
Kieffer beobachtete Ryuunosuke Mifune bei der Arbeit. Der Sushimeister stand hinter seiner quer vor dem Kopfende der Zederntafel aufgestellten Arbeitsplatte, gut zehn Meter von ihm entfernt. Er war gerade dabei, eine Wasabiknolle über ein mit rauer Haifischhaut bespanntes Holzbrett zu raspeln. In den meisten modernen Küchen wurde dafür heutzutage eine Edelstahlreibe verwendet, aber Mifune arbeitete nach der althergebrachten japanischen Methode. Dann füllte der Koch den geriebenen Rettich in mehrere Schälchen und bedeutete seinem Assistenten, ihm einige vorgekochte Oktopusstücke zu reichen. Mifune betrachtete nun prüfend die Tentakel. Einen Moment lang schien er zu stutzen, bevor er begann, den Tintenfisch in kleine Sushihäppchen zu schneiden.
Kieffer fiel auf, dass Mifune sich wie ein Roboter bewegte. Er stand mit durchgedrücktem Kreuz an seiner Arbeitsplatte und hackte mehr, als dass er schnitt. Japaner mochten nach landläufiger Meinung besonders steife und formelle Gesellen sein. Tatsächlich traf das auf die guten Sushiköche, die Kieffer bisher erlebt hatte, nicht zu. Ruhig und kontrolliert verrichteten sie ihre Arbeit, bewegten sich dabei aber so geschmeidig wie chinesische Schattenboxer.
Mifune hingegen stakste durch seine Küche wie ein aufgezogener Blechkamerad. Kieffer legte seine Hand auf den Unterarm von Valérie, die gerade mit dem zu ihrer Linken sitzenden deutschen Umweltminister plauderte.
»Was ist?«
»Achte mal auf Mifune«, flüsterte er ihr zu, »irgendwas stimmt mit dem nicht.«
Valérie wollte etwas erwidern, doch als ihr Blick auf den Sushimeister fiel, verstummte sie. Mifune stand immer noch hinter seiner Arbeitsplatte, das schmale Yanagi-Filetiermesser in der Rechten. Doch er hatte aufgehört, Fisch zu schneiden. Stattdessen stand er kerzengerade vor seiner Mise en place, den Kopf leicht gesenkt, den starren Blick auf die vor ihm liegenden Oktopusarme gerichtet.
Die anderen Gäste waren ins Gespräch vertieft oder genossen ihr Sashimi. Sie schienen von Mifunes merkwürdigem Verhalten bisher nichts bemerkt zu haben.
»Du hast recht, Xavier«, flüsterte sie nervös. »Was passiert denn da? Was ist mit ihm?«
Bevor Kieffer antworten konnte, ertönte die donnernde Stimme Willinons. »Das ist ein Zen-Ritual, Ma’am. Unser Koch macht das auch.«
Valérie schaute den Amerikaner prüfend an. »Zen.«
Kieffer kannte diesen Blick und fragte sich, ob er den arglosen Kalifornier besser warnen sollte. Willinon fuhr unterdessen unbeirrt fort. »Es ist eine japanische Tradition, glaube ich. Eine innere meditative Versenkung, mit der sich der Koch einige Sekunden vor dem Fisch verneigt, bevor er ihn schneidet.«
Kieffer wollte einwenden, dass Ryuunosuke Mifunes Versenkung schon deutlich länger währte als einige Sekunden. Doch er kam nicht mehr dazu. Denn im gleichen Moment begann der stocksteife Koch zu wanken. Sein Teint wechselte ins Bläuliche. Andere Gäste sahen nun ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Unruhe machte sich breit.
Dann kippte Mifune nach hinten. Kieffer erhaschte noch einen letzten Blick auf das völlig versteinerte Gesicht des Japaners, bevor dieser mit lautem Krachen auf den hölzernen Dielen des Saals aufschlug.
Inhaltsverzeichnis
Sie saßen in Valéries Büro an der Avenue de Breteuil und blickten aus dem Fenster. Über den Dächern der Stadt würde gleich die Sonne aufgehen. Kieffer sog an seiner Ducal. Dann sagte er: »Ich glaube, unser gemeinsames Wochenende ist hinüber. Vielleicht sollten wir das nächste Mal besser aufs Land fahren.«
Sie sprang vom Sofa auf und sah ihn zornig an. »Mein Gott, ist das alles, woran du jetzt denken kannst? Mifune ist tot!« Valérie Gabin lief durch ihr ebenso großes wie unaufgeräumtes Chefredakteursbüro und blieb vor einem überdimensionalen Fotoposter stehen, das einen Surfer auf einer gigantischen Welle zeigte. »Dein Zynismus ist manchmal unglaublich.«
»Schieb’ es auf mein Alter«, erwiderte er. »Es war übrigens als Scherz gemeint.«
Bevor Valérie etwas sagen konnte, klingelte ihr Handy. Während sie das Gespräch annahm, betrachtete Kieffer die Flasche Calvados, die vor ihnen auf dem Tisch stand und überlegte, ob er sich noch einmal nachschenken sollte. Er entschied sich dagegen. Es musste fast 5 Uhr sein, und er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.
Nachdem Mifune während des Omakase umgefallen war, hatte es ein ziemliches Chaos gegeben. Der blau angelaufene Sushimeister war in ein Krankenhaus gebracht worden, mit dem Verdacht auf eine schwere Vergiftung. Er war dort zwar noch lebend angekommen, aber kaum eine Stunde später gestorben.
Die Pariser Polizei hatte die Gäste zunächst im Orsay festgesetzt, um sie gleich vor Ort zu verhören. Viele der Anwesenden waren Ausländer, und die Beamten befürchteten offenbar, ihrer zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr habhaft werden zu können. Auf Druck des Bürgermeisters hatte man sie dann relativ rasch gehen lassen. Valérie und Kieffer waren daraufhin zu Fuß zum Hauptquartier des Guide Gabin gelaufen, das sich unweit des Museums befand. Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen, aber Valérie telefonierte immer noch, um weitere Details herauszufinden. Sie musste bereits ein halbes Dutzend Menschen aufgeweckt haben.
Seit einigen Minuten hörte sie nun schon einem Kieffer unbekannten Gesprächspartner zu, ohne Fragen zu stellen. Dann sagte sie: »Es tut mir sehr leid, François. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, ruf’ mich an, ja?« Danach legte sie auf.
Kieffer beugte sich vor, um seine Zigarette abzuaschen. »Was sagt der Bürgermeister?«
»Mifune ist definitiv an einer Vergiftung gestorben. Ein starkes Nervengift, das Lähmungserscheinungen hervorruft.« Er sah, dass sie schlucken musste. »Es führt im schlimmsten Fall zum Atemstillstand.«
»Er wurde vergiftet, sagt Allégret? Also ermordet?«
»Nein, das wohl nicht. Die Polizei geht vielmehr davon aus, dass es sich um einen tragischen Unfall handelt.«
»Einen Unfall mit Nervengift?«
»Ja, so seltsam das klingt. Man hat in Mifunes Körper eine tödliche Dosis Tetrodotoxin gefunden. Das ist das Gift, das in diesem japanischen Kugelfisch vorkommt.«
Kieffer pfiff leise durch die Zähne und blies dabei Rauch aus. Dann sagte er: »Fugu heißt er. In Japan eine Delikatesse. Wobei ich mich nicht erinnern kann, dass Kugelfisch auf der Menükarte stand.«
Sie schüttelte den Kopf und suchte in ihrer Schachtel vergeblich nach einer weiteren Zigarette. Kieffer hielt ihr seine Ducal hin.
»Nein, danke. Die rauche ich erst, wenn Gauloises pleitegeht. Ich habe irgendwo noch welche.« Nachdem sie in einer Schublade eine neue Schachtel gefunden hatte, sagte sie: »Offenbar gibt es auch noch andere Meerestiere, die dieses Gift absondern, sagt die Police Judiciaire. Kraken zum Beispiel.«
»Ja, das könnte hinkommen. Oktopus hätte es«, Kieffer zog die kleine Menükarte aus der Tasche, die er im Orsay eingesteckt hatte, »als dritten Gang gegeben.«
»Und theoretisch ist es wohl möglich, dass man davon als Koch etwas abbekommt. Sagen die Forensiker.«
»Habe ich noch nie gehört, aber gut. Und daran stirbt man?«
»François sucht, wie ich dir bereits erzählt habe, ständig nach kulinarischen Herausforderungen, und deshalb hat er selbst schon einmal Fugu gegessen, in Tokio. Er hat mir erklärt, dass sich die meisten dieser Tetrodotoxin-Vergiftungen dort ereignen und meist glimpflich ausgehen. Denn die japanischen Ärzte kennen die Symptome, und wenn man dem Opfer rasch hilft, hat es gute Überlebenschancen. Hier waren sie im Krankenhaus zunächst völlig ratlos und haben wertvolle Minuten verloren. Mifune selbst muss sich schon eine ganze Zeit lang unwohl gefühlt haben. Hätte er früher einen Arzt gerufen, wäre die Sache vielleicht noch glimpflich ausgegangen. Stattdessen hat er aber anscheinend die Zähne zusammengebissen und weitergearbeitet.«
»Dann hat ihn seine eiserne Disziplin umgebracht, gewissermaßen.«
Sie schaute ihn missbilligend an. »Da ist er ja wieder, dein unnachahmlicher Zynismus. François glaubt nun, dass er schuld ist, weil er Mifune derart unter Druck gesetzt hat. Er fühlt sich schrecklich, glaube ich.«
Kieffer konnte das verstehen. Auch er hatte mitangesehen, wie Mifune erstickt war. Das Bild des steif nach hinten umkippenden Japaners mit den vor Entsetzen aufgerissenen Augen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er goss sich nun doch einen weiteren Calvados ein, hob das Glas und betrachtete die goldene Flüssigkeit. Dann stellte er es weg.
»Wir sollten uns ein bisschen hinlegen, Val. Das war alles sehr aufreibend.« Er stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie ließ es geschehen. Nach einigen Sekunden löste sie sich jedoch aus seiner Umarmung und sagte: »Du kannst gerne in meine Wohnung fahren und dort etwas schlafen. Ich … ich kann jetzt nicht. Vielleicht lenkt mich etwas Arbeit ab. Oder eine Runde Schwimmen.« Sie drückte ihm ihren Hausschlüssel in die Hand.
»Ich verstehe«, sagte er. Dann ging er durch die leere Redaktion zum Fahrstuhl. Valéries Schlüssel legte er in ihrem Vorzimmer auf den Schreibtisch.
Inhaltsverzeichnis
Wenn es einen Zeitpunkt gab, zu dem Paris stillstand, dann wohl gegen kurz vor fünf am Sonntagmorgen. Kieffer schaute die Avenue de Breteuil hinunter, eine breite Haussmann’sche Allee mit üppigem Grünstreifen. Sie war menschenleer. Er lief die verlassene Prachtstraße ein Stück hinauf, Richtung Seine-Ufer.
Sein Magen knurrte. Seit den drei Scheibchen Sashimi am Vorabend hatte er nichts mehr gegessen, und nun regte sich in ihm ein mächtiger Hunger. Kieffer überlegte, zum Pied de Cochon zu laufen, einem der wenigen Lokale in der Innenstadt, das um diese Zeit geöffnet hatte.
Dabei musste er jedoch augenblicklich an Valérie denken. Im Cochon hatten sie sich kennengelernt, als er mit ihr über einen Tester des Guide Gabin gesprochen hatte, der in Kieffers Luxemburger Restaurant unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war.
Damals hatte ihn die junge Frau auf Anhieb beeindruckt, weil sie ganz anders war, als er sich die Erbin und Chefin des berühmtesten Gastronomie-Imperiums der Welt vorgestellt hatte. Im Kataster seiner Vorurteile trugen Frauen wie Valérie Perlenketten, fuhren stets in einer dunklen Limousine vor und waren es gewohnt, dass ihnen tout le monde Reverenz erwies.
Valérie jedoch wirkte in ihren Jeans und Turnschuhen wie ein ganz normaler Mensch, wie jemand, den weder obszöner Reichtum noch Privatschule hatten verbiegen können. Ihre Offenheit und ihre Zugänglichkeit hatten ihn seinerzeit umgehauen.
Kieffer setzte sich unweit der Invalidenbrücke auf eine Bank und rauchte eine Zigarette. Es dämmerte inzwischen. Es war dumm, wohlhabende Frauen allesamt als blasierte Perlhühner abzustempeln. Er seufzte. Und die millionenschwere Erbin eines Pariser Medienimperiums wegen ihrer abgewetzten Turnschuhe und ihrer Surferklamotten für das unkomplizierteste Mädchen der Welt zu halten, war ebenfalls einfältig.
Das Cochon kam also auf keinen Fall infrage, nicht jetzt, nicht nach dieser Nacht. Plötzlich fiel Kieffer ein, wo man um diese Zeit ein erstklassiges Frühstück bekam. Und er wusste auch, mit wem er sich dort zu dieser absurd frühen Stunde verabreden konnte. Der Koch nahm sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer, die er immer noch auswendig kannte.
Nach dem zweiten Klingeln bellte eine raue Stimme: »Hashimoto Kaneda. Moshi moshi!« Im Hintergrund hörte Kieffer einen ohrenbetäubenden Krach.
»Hier ist Xavier. Xavier Kieffer. Erinnerst du dich noch an mich, Toro?«
»Xavier-kun! Natürlich Mann, das ist eine Überraschung. Bist du in Paris?« Der zweite Satz ging beinahe in lautem Scheppern unter.
»Ja«, sagte Kieffer, »und du bist auf dem Rungis, das hört man.«
»Hai!«
»Hast du Zeit für ein kleines Frühstück, Toro?«
»Ja. Kannst du um sechs im ›La Marée‹ sein? Du weißt schon, das Fischrestaurant hier am Großmarkt.«
Spiegeleier mit Speck wären Kieffer um diese Uhrzeit deutlich lieber gewesen als Austern – egal, wie frisch diese sein mochten. Doch er beschloss, jetzt nicht schwierig zu werden. »Ich fahre gleich los. Bis später, Toro.«
Der Rungis befand sich im Süden, ein gutes Stück außerhalb des Pariser Innenstadtrings. Früher, da hatte der Großmarkt mitten in der Stadt gelegen, in Les Halles, unweit der Börse. Den »Bauch von Paris« hatte Émile Zola den riesigen Markt genannt, weil man dort alles kaufen konnte, was auch nur im Entferntesten essbar war. Irgendwann waren Les Halles jedoch aus allen Nähten geplatzt, und so hatte man den Markt in den Sechzigern verlegt, auf einen Acker vor der Stadt. Dort, wo sich früher die schläfrigen Dörfer Rungis und Chevilly-Larue befunden hatten, erstreckte sich nun über eine Fläche von mehr als 230 Hektar der Marché international de Rungis, der größte Lebensmittelgroßmarkt des Planeten. Was früher einmal der Bauch von Paris gewesen sein mochte, war jetzt eher der Wanst der Welt. Zahllose Hallen gab es hier, für Fleisch, für Fisch, für Innereien, dazu allein neun Gebäude für Gemüse. Dazu kamen Restaurants, Filialen aller wichtigen Banken, eine Polizeistation und sogar eine Bibliothek, in der man sich über die Feinheiten der angebotenen Nahrungsmittel informieren konnte. Der Rungis besaß auch einen eigenen Bahnhof, in den täglich Kühlzüge einfuhren, beladen mit frischen Austern, Hummern, Rinderhälften oder Hasenfilets. Noch weitaus größere Essensberge kamen per Lkw und über den neben dem Großmarktareal gelegenen Flughafen Orly. Wo auch immer auf der Erde ein Nahrungsmittel geerntet, gefangen oder geschlachtet wurde – 24 bis 48 Stunden später landete zumindest ein Teil davon in den Hallen des Rungis, um von dort seinen Weg in die Küchen von Restaurants in Frankreich, Deutschland oder Luxemburg zu finden.
Während Paris noch döste, herrschte auf dem Rungis bereits Hochbetrieb. Wer etwas mit Gastronomie oder Lebensmittelhandel, mit den métiers de la bouche zu tun hatte, der kam frühmorgens hierher, um sich frische Ware zu besorgen. Kieffer ließ sich von seinem Taxifahrer vor dem Pavillon de la Marée absetzen. Ihm fiel auf, dass man die Fischhalle deutlich vergrößert hatte. Dann lief er über den Parkplatz, vorbei an unrasierten Männern, die auf Sackkarren und mit kleinen Gabelstaplern Kisten voller geeister Meerestiere zu ihren Lastwagen brachten. Zwei Chinesen bugsierten einen ganzen Hai an ihm vorbei, den sie mit Schnüren notdürftig auf einem Fahrrad befestigt hatten. Kieffer wich den Männern aus und hielt auf die blaue Leuchtschrift des Restaurants »A la Marée« zu. Angeblich bekam man nirgendwo frischere Meerestiere serviert als hier, direkt neben der Fischhalle. Früher hatte man im »Marée« mit etwas Glück Staatspräsident François Mitterrand getroffen, der zu früher Stunde gerne zwei Dutzend Frühstücksaustern verzehrte.
Als Kieffer das Restaurant betrat, sah er Kaneda Hashimoto sofort. Er stand bereits mit einem Espresso an der Bar und plauderte mit einem der Köche. Alle seine Freunde nannten den Japaner Toro, was als ironische Anspielung auf sein Äußeres gemeint war. Toro hieß im Sushijargon das besonders fette Bauchfleisch des Thunfischs. Und wenn es etwas gab, das Hashimoto garantiert nicht besaß, dann war es Fettgewebe. Er war hochgeschossen, an die 1,80 Meter, also ziemlich groß für einen Japaner. Dabei wog er bestenfalls sechzig Kilo.
Hashimoto sah genauso aus wie früher, als er die Sushibar im »La Houle« betreut hatte. Er bestand immer noch ausschließlich aus flächendeckend tätowierter Haut und Knochen. Seine schwarze Jeans und sein Dead-Kennedys-T-Shirt schlackerten um den dürren Leib. Der Japaner hatte einen kurzen Kinnbart und einen kahlrasierten Schädel, der ihm etwas Mönchhaftes verlieh.
Als er Kieffer sah, grinste er breit. »Shibaraku desu ne! Sehr lange ist es her!« Hashimoto streckte ihm die erhobene Hand hin. Der Luxemburger klatschte brav ab. Nachdem sie sich gesetzt und Kaffee bestellt hatten, fragte Kieffer: »Und Toro, wie läuft das Geschäft?«
»Ganz okay. Ich habe meine eigene kleine Sushibar, in Saint-Germain. Und du hast doch ein Geschäft in Luxemburg, wie hieß es noch mal?«
»Les Deux Eglises. Läuft ebenfalls passabel.«
Der Kellner brachte zwölf Austern für den Japaner sowie zwei frisch aufgebrochene Seeigel. Kieffer war immer noch etwas schwummrig vom Calvados, deshalb versuchte er es mit Bückling und Bratkartoffeln.
Hashimoto beträufelte seine Austern mit Tabasco und begann, ihre Schalen zügig und unter lautem Schlürfen zu leeren. »Was treibt dich her?«
»Ich war gestern Abend bei einem Dinner im Musée d’Orsay, mit deinem Landsmann Ryuunosuke Mifune.«
Der Japaner lachte. Es klang wie das Meckern einer asthmatischen Ziege. »Vornehm, Alter. Aber ein bisschen steif, komm lieber heute Abend zu mir, dann zeig’ ich dir, dass Sushi auch Rock’n’Roll sein kann. Wie hat dir Mifunes Zeug geschmeckt?«
»Kann ich nicht sagen. Er ist während des Dinners mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Und jetzt ist er tot.«
Hashimoto legte seine Auster aus der Hand. »Scheiße. Das ist ja Wahnsinn. Vergiss was ich gesagt habe. Mifune war ein ganz Großer. Womit soll er sich denn vergiftet haben?«
»Tetrodotoxin, das Zeug aus dem Kugelfisch. Die Polizei sagt, es komme auch in anderen Fischen vor, und er sei bei der Zubereitung seines Omakase damit in Berührung gekommen, was ich allerdings nicht ganz verstanden habe.«
Hashimoto winkte einem der Kellner. »Meine Flasche und zwei Schälchen, bitte.« Dann wandte er sich wieder Kieffer zu.
»Der Anstand gebietet, dass wir gleich einen Osake auf diesen außergewöhnlichen Shokunin trinken, möge er in Frieden ruhen.« Der Japaner runzelte die Stirn. »Wie war das mit dem Gift?«
»Ich dachte eigentlich, du könntest mir das erklären.«
»Tetrodotoxin ist ein schweres Nervengift. Die meisten Leute kennen es aus dem Fugu, dem Kugelfisch. Aber es kommt auch in vielen anderen Meerestieren vor. Krebse, Schnecken, Seesterne, Oktopussys …«
»Die produzieren alle das gleiche Gift?«
»Ja. Nein. Das Zeug wird nicht von den Tieren selbst produziert, sondern von irgendwelchen Bakterien, die eine Symbiose mit ihnen eingehen. Glaube ich. Ich bin kein Biologe, Mann! Aber jeder japanische Koch weiß, dass man mit bestimmten Meerestieren ein bisschen vorsichtig sein muss.«
Der Kellner brachte eine Sake-Flasche und zwei kleine Schalen. Hashimoto füllte sie und schob Kieffer eine hinüber. »Auf einen großen Koch. Kanpai!«
»Kanpai. Kannst du dir mal dieses Menü ansehen, Toro?«
»Ist das von gestern Abend?«
»Korrekt.«
Hashimoto studierte kurz die Speisenfolge auf der Tischkarte und lachte erneut sein Asthmaziegen-Lachen. »Muzukashii yo!«
»Wie bitte?«
»Schwierig! Ein sehr schwieriges Menü«, sagte der Sushikoch. »Sehr schlicht, aber gleichzeitig sehr kompliziert.«
»In welchen der dort aufgeführten Zutaten könnte das Gift gewesen sein?«
Hashimoto schaute ihn an. »In keiner.«
Kieffer war irritiert. »Sieh mal hier, der dritte Gang. Tako mit Abalone. Tako ist doch Oktopus, oder? Und du hast gesagt, dass Kraken dieses Nervengift enthalten können.«
»Können. Aber nicht bei Mifune.«
»Toro, jetzt lass’ dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
»Ist ja gut. Es läuft folgendermaßen: Das Tetrodotoxin injiziert ein Tako seinem Opfer, wenn er zubeißt. Es konzentriert sich also nahe seines Mauls. Da den Krakenkopf niemand isst, ist die Gefahr, was davon abzukriegen, sehr gering.«
Hashimoto schüttete Chilisoße in eine Austernschale. Die Auster war unter dem Tabasco kaum noch zu erkennen. »Mitunter kann sich das Gift jedoch auch in den Spitzen der Tentakel ansammeln. Aber nur da.«
»Passiert das häufig?«
»Verdammt selten. So selten, dass sich die meisten Sushiköche gar nicht drum scheren und das Problem einfach ignorieren. Nur ein paar Traditionalisten aus der Spitzengastronomie, die halten sich noch an die überlieferten Regeln. Die servieren nie Tentakelspitzen, sie fassen die nicht einmal ohne Handschuhe an. Mifune war einer von ihnen.«
»Vielleicht hat er einfach einen Fehler gemacht«, wandte Kieffer ein.
Hashimoto schüttelte energisch den Kopf. »Mifune ist eine Legende, Mann. Mit 13 Jahren hat er in Shibuya seine Lehre begonnen, er hat über 40 Jahre Erfahrung. Und Tako war eine seiner Spezialitäten. Kraken sind das Schwierigste. Ein kleiner Fehler bei der Zubereitung und der schmeckt wie Autoreifen. Ein großer Fehler und du hast einen Gast, der nach Luft schnappt und ins Krankenhaus muss.«
Der Japaner gab Kieffer das Menukärtchen zurück und schaute ihm in die Augen. »Ich sage dir: Wenn es in dieser Stadt, ach, auf diesem Kontinent einen Typen gab, der sich bestimmt nicht selber mit Tako vergiftet hätte, dann war es Ryuunosuke Mifune.«
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Hashimoto nahm Kieffer in seinem alten Mazda Cosmo mit zurück in die Stadt und setzte ihn vor der Gare de l’Est ab. »Willst du nicht doch noch mit in mein Restaurant kommen?«, fragte der Japaner. »Die Jungs würden sich freuen, dich kennenzulernen.«
»Danke, Toro. Vielleicht ein andermal. Ich sollte jetzt wirklich zurück nach Luxemburg, heute Abend muss ich wieder in meiner Küche stehen und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«
Hashimoto nickte verständnisvoll. »Wir werden alt. Früher hätten wir einfach was eingeworfen und wären dann den ganzen Abend wie aufgezogen durch die Küche geflitzt.«
»Früher hatten wir kein eigenes Restaurant und mussten uns nur um uns selbst kümmern.«
»Stimmt wohl. War aber auch ganz geil.«
Sie gaben einander die Hand und Kieffer sah zu, wie Hashimoto in seinem roten Oldtimer davonfuhr. Er wusste nicht recht, was er als Nächstes tun sollte. Sein Zeitplan war völlig durcheinander. Er war völlig durcheinander. Valérie wollte er nicht anrufen, sie hatte ihm ziemlich deutlich gemacht, dass sie ihn an diesem Wochenende nicht mehr sehen wollte. Andererseits würde Toros Einschätzung, Mifune könne sich kaum selbst vergiftet haben, die Gabin-Chefin brennend interessieren.
Kieffer kaufte sich in einem amerikanischen Coffeeshop einen Espresso, den ihm der Barista zu seinem großen Missfallen in einem fingerhutgroßen Pappbecher überreichte. Dann tippte er eine SMS an Valérie. Seit er mit der Pariserin liiert war, hatte er einiges über moderne Kommunikationstechnologien gelernt. Zum Beispiel, dass man sich in den Tiefphasen einer Beziehung, wenn man weder miteinander schlafen noch sprechen wollte, immer noch Textnachrichten schicken konnte. Und dass diese nonverbale Verständigung mitunter die Chance erhöhte, auf Fragen überhaupt eine Antwort zu bekommen.
Zwischen Schlucken lauwarmen Kaffees komponierte Kieffer seine Nachricht, schrieb sie mehrfach um, löschte dann alles wieder und begann von vorne. Zum Schluss stand im Display: »Fahre heim. Ruf mich an, wenn du magst. Habe neue Details zu RM.« Er schickte die SMS ab und begab sich zum Bahnsteig. Er hatte Glück, der nächste Schnellzug nach Luxemburg fuhr bereits wenige Minuten später.
Im Zug machte er sich zunächst über mehrere französische Zeitungen her, die er am Bahnhofskiosk erstanden hatte. Keine einzige erwähnte den Tod des Sushimeisters. Vermutlich war das Ganze zu spät passiert, um noch in die Sonntagsausgaben zu gelangen. Doch am nächsten Tag, da war sich Kieffer sicher, würden die Blätter voll mit der Geschichte sein. Nach einer halben Stunde merkte er, wie seine Lider schwer wurden. Er war nun seit über 24 Stunden auf den Beinen, und kein Espresso der Welt würde ihn noch länger wach halten. Er kippte den Sitz zurück und schlief sofort ein.
Als er wieder aufwachte, war der TGV schon in Luxemburg. Sie fuhren gerade in die Stadt ein. Es war ein herrlich sonniger Morgen. Schweres Gepäck hatte Kieffer keines, und so beschloss er, zu Fuß zu seiner Wohnung in der Luxemburger Unterstadt zu laufen.
Er verließ den Bahnhof und spazierte die Avenue de la Gare hinauf. Dann querte er das Viadukt, das die unter ihm liegende Pétrusse-Schlucht überspannte. Im Tal konnte er Sonntagsspaziergänger beobachten, die durch die Auen flanierten. Hinter der Brücke bog er nach rechts ab, lief über das Plateau du St. Esprit und gelangte am Ende des Platzes an einen Aufzug, der in die Felswand eingepasst war. Zusammen mit einigen japanischen Touristen betrat er den Lift und glitt von der Luxemburger Ober- in die etwa 70 Meter tiefer gelegene Unterstadt.