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»Ein erschütterndes Buch. Der beste Roman von Sorj Chalandon.« L'Express Tyrone Meehan ist zurückgekehrt, in das Cottage seines Vaters, im irischen Killybegs. Hier wartet er auf die Rache seiner Landsleute, auf seine Erschießung. Er hat sein Land verraten, die IRA, seine Familie. 2006 wurde er, ein ranghoher IRA-Kämpfer, als Spion des britischen Geheimdienstes enttarnt. Er hatte einst im Kampfgetümmel einen Gefährten erschossen. Seine Männer bemerkten dies nicht, kürten ihn sogar zum Helden. Der MI 5 aber kannte den wahren Sachverhalt – und erpresste Meehan. In Killybegs will er die Geschichte seines Lebens aufschreiben, weil weder Freunde noch Feinde wissen, wie er zum Verräter geworden ist.
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Seitenzahl: 341
SORJ CHALANDON
Rückkehrnach Killybegs
Roman
Aus dem Französischenvon Brigitte Große
Deutscher Taschenbuch Verlag
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung ihrer Arbeit.
Deutsche Erstausgabe 2013
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41774-7 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-24974-4
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Für alle, die einen Verräter liebten
»Wisst ihr, was die Bäume sagen,
wenn die Hacke in den Wald kommt? Schaut mal, der Stiel ist einer von uns!«
Spruch auf einer Mauer in Belfast
»Jetzt, wo alles aufgedeckt ist, werden andere an meiner Stelle reden. Die IRA, die Briten, meine Familie, meine Freunde oder Journalisten, die ich nie getroffen habe. Einige werden sich an eine Erklärung wagen, warum und wie ich zum Verräter wurde. Womöglich werden auch Bücher über mich geschrieben werden, eine Vorstellung, die mich rasend macht. Hört nicht auf ihre Behauptungen. Traut meinen Feinden nicht und noch weniger meinen Freunden. Wendet euch von jenen ab, die sagen, sie hätten mich gekannt. Niemand steckte je in meiner Haut, niemand. Wenn ich heute spreche, dann weil ich der Einzige bin, der die Wahrheit kennt. Und weil ich hoffe, dass nach mir Schweigen herrscht.«
Killybegs, 24. Dezember 2006Tyrone Meehan
Wenn mein Vater mich schlug, schrie er Wörter aus der englischen Soldatensprache, als wollte er unsere Sprache heraushalten. Mit verzerrtem Mund brüllend prügelte er auf mich ein. Wenn mein Vater mich schlug, war er nicht mehr mein Vater, sondern nur Patraig Meehan. Meehan mit dem zerbeulten Gesicht und dem gefrorenen Blick, ein böser Wind, dem man am besten auswich, indem man die Straßenseite wechselte. Wenn mein Vater betrunken war, zertrampelte er den Boden, zerriss er die Luft, malträtierte er die Worte. Wenn er mein Zimmer betrat, zuckte das Dunkel zusammen. Er zündete keine Kerze an. Schnaufte wie ein altes Tier, und ich machte mich auf seine Fäuste gefasst.
Wenn mein Vater betrunken war, fiel er über Irland her wie unser Feind. Er war der Feind, und er war überall. Unter unserem Dach, auf der Schwelle unseres Hauses, auf den Wegen von Killybegs, in der Heide, am Waldrand, bei Tag und bei Nacht. Mit groben Bewegungen besetzte er jeden Ort. Man konnte ihn schon von Weitem sehen. Und hören. Die stolpernden Wörter, den schwankenden Körper. Im »Mullin’s«, unserem Dorfpub, rutschte er vom Hocker, ging zu den Tischen hin und haute mit der flachen Hand zwischen die Gläser. Er war anderer Meinung? Das sagte er auch so. Ohne Worte, die Finger im Bier, mit seinem Blick. Die anderen schwiegen mit gesenkter Mütze und abgewandten Augen. Dann richtete er sich wieder auf und forderte mit verschränkten Armen den ganzen Saal heraus. Wartete auf Widerspruch. Wenn mein Vater betrunken war, war er zum Fürchten.
Einmal schlug er auf dem Weg zum Hafen George, den Esel des alten McGarrigle, mit der Faust. Der Kohlenhändler hatte sein Tier nach dem König von England benannt, um ihm in den Arsch treten zu können. Ich war dabei. Mein Vater schwankte und stolperte nach dem morgendlichen Besäufnis, ich trottete hinter ihm her. An einer Straßenecke gegenüber der Kirche plagte sich der alte McGarrigle. Zog an seinem störrischen Esel, die eine Hand auf dem Sattel, die andere am Halfter, und drohte mit allen Heiligen. Mein Vater blieb stehen. Beobachtete den alten Mann, das bockende Tier, die Hilflosigkeit des einen, die Halsstarrigkeit des anderen, und ging über die Straße. Er stieß McGarrigle weg, stellte sich vor den Esel und beschimpfte ihn wüst, als spräche er mit dem englischen König. Ob er eine Ahnung habe, wer Patraig Meehan sei. Ob er überhaupt wisse, wem er sich da widersetze. Drohend vorgeneigt, Stirn an Stirn mit dem Esel, erwartete er eine Antwort, seine Kapitulation. Und dann schlug er zu, ein schrecklicher Hieb zwischen Augen und Nüstern. George schwankte, fiel auf die Flanke, und der Kohlenkarren kippte um. »Éirinn go Brách!«, schrie mein Vater und zog mich am Arm hinter sich her. »Gälisch sprechen heißt Widerstand leisten«, murmelte er noch. Dann gingen wir weiter.
*
Als Kind schickte mich meine Mutter manchmal in den Pub, ihn holen. Nachts. Ich traute mich nicht hinein. Ging vor der Tür und den geschlossenen Vorhängen des »Mullin’s« auf und ab. Wartete, bis wer herauskam, und drückte mich dann in den Raum mit dem scharfen Geruch nach Bier, Schweiß, feuchten Mänteln und kaltem Tabak.
»Pat? Zeit für die Suppe«, lachten seine Freunde.
Wenn es keiner sah, erhob er die Hand gegen mich, wenn ich jedoch seine Welt betrat, nahm er mich mit offenen Armen auf. Ich war sieben. Stand mit gesenktem Kopf an der Theke, bis sein Lied zu Ende war. Er hatte die Augen geschlossen, die Hand auf dem Herzen und klagte um sein zerrissenes Land, die toten Helden,den verlorenen Krieg,rief die großen Ahnen zu Hilfe, die Rebellen von 1916, die traurige Schar unserer und aller früheren Besiegten, die Chefs der gälischen Clans und auch noch Saint Patrick mit seinem Krummstab, um die englische Schlange zu verjagen. Ich sah zu ihm hoch. Hörte ihm zu. Sah die anderen schweigen und war stolz auf ihn. Trotz alledem. Stolz auf Pat Meehan, stolz auf diesen Vater, trotz der braunen Striemen auf meinem Rücken und der ausgerissenen Haarbüschel.Wenn er unser Land besang,hatten alle die Stirn erhoben und die Augen voller Tränen.Bevor er gemein wurde, war mein Vater ein irischer Dichter, und ich wurde als Sohn dieses Dichters empfangen. Kaum trat ich durch die Tür, gab es obendrauf Wärme. Klapse auf den Rücken, Schulterklopfen, Augenzwinkern von Mann zu Mann, obwohl ich doch noch ein Kind war. Jemand ließ mich die Lippen in den ockerfarbenen Schaum eines Bieres tauchen. Daher meine Bitterkeit. Ich genoss es. Trank dieses starke, schwarze Gebräu aus Erde und Blut, das mein Lebenselixier werden sollte.
»Wir trinken unsere Erde. Wir sind keine Männer mehr. Wir sind Bäume«, sang mein Vater, wenn er glücklich war.
Die anderen stellten die Gläser hin, setzten die Mützen auf und verließen den Pub. Er nicht. Bevor er aus der Tür trat, erzählte er immer noch eine Geschichte. Nahm noch ein letztes Mal die Aufmerksamkeit in Beschlag. Dann erst stand er auf und zog seinen Mantel an.
Schließlich gingen wir beide nach Hause. Er schwankend, ich in dem Glauben, ihn zu stützen. Er zeigte auf den Mond, den hellen Weg: »Das Licht der Toten.«
Im Schein des Mondes bewegten wir selbst uns schon wie Gespenster. In einer nebligen Nacht nahm er mich an der Schulter. Versprach mir vor den umflorten Hügeln, dass nach dem Leben alles so wäre, still und schön. Dass ich mich vor nichts mehr fürchten müsse. Als wir am Dorfende das Schild mit dem durchgestrichenen NA CEALLA BEAGA passierten, versicherte er mir, dass im Paradies Gälisch gesprochen werde. Dass der Regen dort so fein sei wie heute Abend, aber wärmer, und dass er nach Honig schmecke. Er lachte. Schlug mir den Jackenkragen hoch, um mich vor der Kälte zu schützen. Einmal nahm er mich auf dem Rückweg sogar bei der Hand. Und ich – war traurig. Ich wusste, dass diese Hand wieder zur Faust werden würde, die Zärtlichkeit zur Eisenhärte. In einer Stunde oder morgen und ohne dass ich wüsste, warum. Aus Gemeinheit, Stolz, Ärger, Gewohnheit. Ich war in seiner Hand, ein Gefangener. In jener Nacht aber, als meine Finger sich mit seinen verschränkten, nutzte ich seine Wärme.
*
Mein Vater war Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee. Ein volunteer, gälisch óglach, einfacher Soldat der IRA-Brigade von Donegal. 1921 widersetzte er sich mit ein paar Kameraden dem mit den Briten ausgehandelten Waffenstillstand. Er lehnte die Grenzziehung, die Schaffung Nordirlands, die Zweiteilung unserer Heimat ab. Er wollte bis zur letzten Patrone kämpfen und die Engländer aus dem ganzen Land vertreiben. Nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten brach bei uns der Bürgerkrieg aus.
»Verräter, Feiglinge, alle bestochen!«, schäumte mein Vater gegen seine früheren Waffenbrüder, die sich hinter den Burgfrieden stellten.
Diese Fahnenflüchtlinge seien von den Engländern bewaffnet und uniformiert worden, um auf ihre Kameraden zu schießen. Sie hätten nichts Irisches mehr an sich außer unserem Blut an ihren Händen.
Mein Vater wurde von den Briten ohne Urteil interniert, zum Tode verurteilt und begnadigt. 1922 wurde er erneut verhaftet, diesmal von den Iren, die sich auf die Seite des Kompromisses geschlagen hatten. Das hat er mir nie erzählt, aber ich wusste es. Nach sechs Jahren saß er wieder im selben Gefängnis, in der gleichen Zelle. Und wurde von seinen ehemaligen Gefährten genauso misshandelt wie zuvor vom Feind. Sie schlugen ihn eine Woche lang. Die Soldaten des neuen Freistaats Irland wollten wissen, wo sich die letzten IRA-Kämpfer versteckten, die Aufsässigen, die Ungehorsamen. Wollten die geheimen Waffenlager der Rebellen finden. In diesen Stunden, Tagen, Nächten der Gewalt quälten diese Schweine meinen Vater auf Englisch, die Stimme mit dem Stahl des Feindes gerüstet. Als wollten sie unsere Sprache heraushalten.
»Sind Sie Engländer?«, hatte ihn einmal eine alte Amerikanerin gefragt.
»Nein, im Gegenteil«, hatte mein Vater darauf geantwortet.
Wenn mein Vater mich schlug, war er sein Gegenteil.
Im Mai 1923 legten die letzten óglachs der IRA ihre Waffen nieder, und Papa wurde alt. Unser Volk war getrennt. Irland in zwei Teile zerrissen. Pat Meehan hatte den Krieg verloren. Er war kein Mann mehr, nur noch ein Verlierer. Er begann zu viel zu trinken, herumzubrüllen, sich zu prügeln. Seine Kinder zu schlagen. Als seine Armee sich ergab, waren es drei. Am 8. März 1925 gesellte ich mich zu Séanna, Róisín und Mary hinzu, die kreuz und quer in dem großen Bett schliefen. Sieben weitere sollten noch aus dem Bauch meiner Mutter kommen. Zwei haben nicht überlebt.
*
Im November 1936 habe ich den Mut meines Vaters zum letzten Mal aufflackern sehen. Er kam aus Sligo zurück. Dort hatte er mit anderen IRA-Veteranen eine öffentliche Versammlung der »Blauhemden« angegriffen, der irischen Faschisten, die in Spanien an der Seite von General Franco kämpfen wollten. Nach der Auseinandersetzung, die mit Fäusten und Stühlen ausgetragen worden war, hatten mein Vater und seine Kameraden beschlossen, der spanischen Republik zu Hilfe zu kommen. Mehrere Tage lang sprach er nur noch davon, wieder in den Krieg zu ziehen. Schön, aufrecht, aufgeregt marschierte er mit großen Schritten durch unsere Küche wie ein Soldat. Er wollte die Männer der Connolly-Kolonne mit den internationalen Brigaden vereinigen. Irland, sagte er, habe eine Schlacht verloren, der Krieg spiele sich jetzt anderswo ab. Mein Vater war nicht bloß Republikaner. Als Katholik aus Nachlässigkeit hatte er sein Leben lang für die soziale Revolution gekämpft. Die IRA sollte seiner Meinung nach eine revolutionäre Armee sein. Er verehrte unsere Fahne, aber die rote der Arbeiterkämpfe bewunderte er.
Damals war er einundvierzig, ich elf. Er hatte seine Tasche für Madrid schon gepackt. Ich erinnere mich an diesen Morgen. Meine Mutter war in der Küche, sie hatte die ganze Nacht mit ihm geredet. Und geweint. Sein Gesicht war versteinert. Sie schälte Kartoffeln. Leise murmelte sie unsere Namen, einen nach dem anderen. Wie ein Gebet, eine schmerzliche Litanei. Sie saß am Tisch, wiegte den Körper langsam vor und zurück und betete sie herunter wie die Perlen eines Rosenkranzes. »Tyrone … Kevin … Áine … Brian … Niall …« Mein Vater stand mit dem Rücken zu ihr vor der Eingangstür, die Stirn ans Holz gelehnt. Wenn er ginge, sagte sie, müssten wir hungern. Sie könne uns niemals alle versorgen. Das Land würde uns nicht mehr ernähren, wenn sie keinen Mann mehr hätte. Alle würden sich von uns abwenden, wenn wir vorübergingen. Uns Kinder würden die Barmherzigen Schwestern holen. Dann würden wir mit anderen Straßenkindern auf den Booten von Father Nugent nach Québec oder Australien verschifft werden. Mein Vater würde fallen. Und nie mehr wiederkommen. Sie würde allein zurückbleiben und nicht mehr leben wollen. Außerdem sei Spanien weiter weg als die Hölle. Ich weiß noch genau, was mein Vater dann tat: Er schlug mit der Faust gegen die Tür. Heftig, ein einziges Mal, als verlangte er Audienz bei dem gefallenen Engel. Dann drehte er sich langsam um, mit zusammengepressten Lippen. Sah meine Mutter an, die hinter einem Haufen Kartoffelschalen am Tisch saß. Nahm seine für den nächsten Tag gepackte Tasche. Und warf sie quer durch den Raum in den Ofen. Selbst das Feuer wirkte überrascht. Zuckte vor dem Luftzug zurück. Dann umhüllten die blauen Flammen den Stoff, es roch nach Torf und Tuch. Mein Vater war wie erstarrt. Manchmal machte er solche Sachen, deren Sinn er selbst nicht begriff. Einmal trat er mich ins Kreuz, und als ich mit eingeknickten Armen vor ihm auf dem Bauch lag, betrachtete er mich, ohne zu verstehen, was ich da auf dem Boden machte. Er hob mich auf und klopfte mir die Kiesel von den aufgeschürften Beinen. Dann entschuldigte er sich, aber das alles sei meine Schuld, ich hätte ihn eben nicht so anschauen dürfen, mit diesem trotzigen Blick und dem Lächeln auf den Lippen. Er liebe mich dennoch. Sosehr er könne. Ein anderes Mal sah er Blut an meinem Mund. Ich kannte dessen herben Geschmack und hatte es extra über mein Kinn rinnen lassen und die Augen verdreht, als würde ich gleich umkippen. Da kriegte er Angst, glaube ich. Mit der Handfläche wischte er mir über Lippen und Hals. »Mein Gott!«, sagte er immer wieder, »mein Gott!« Als ob nicht er mich geschlagen hätte, sondern ein anderer. Manchmal, wenn er mich im Dunkeln geohrfeigt hatte, legte er die Finger unter meine Augen. Er wollte wissen, ob ich weinte. Ich wusste immer, dass das kommen würde. Von den ersten Schlägen an wusste ich das. Seine Strafaktionen endeten immer damit, dass er sich meines Schmerzes vergewissern wollte. Aber ich weinte nicht. Nie. »So wein doch!«, flehte meine Mutter. Also steckte ich mir die Finger in den Mund, während ich mein Gesicht schützte, und befeuchtete sie mit Speichel, den ich mir auf die Wangen schmierte. Er hielt meinen Speichel für Tränen und hatte endlich die Gewissheit, dass sein Teufelsbalg die Lektion verstanden hatte.
An diesem Morgen, vor dem Herd, sah er genauso überrascht drein. Er begriff nicht, was er gerade getan hatte. Er schaute auf seine Tasche, seine Sachen, sein Leben. Seine Hosen, seine kragenlosen Hemden, seine zwei Westen, sein eines Paar Schuhe, seine Pfeife zum Wechseln. Und seine Bibel, die eine sehr blaue Flamme ergab.
Mein Vater packte mich am Arm. Zerrte mich gewaltsam aus dem Haus. Schleppte mich bis zum Weg. Dann ließ er mich los. Er ging voran, ich folgte schweigend. Es war der Weg zum Hafen. Seine Augen waren fast geschlossen. Als wir McGarrigle begegneten, der an George, dem Esel, zerrte, spuckte mein Vater auf den Boden. Der Esel iahte.
»Éirinn go Brách!«, schrie mein Vater, nachdem er das Tier geschlagen hatte. »Irland für immer!« Der Schlachtruf des »einigen Irland«, der heilige Spruch, der die grüne Fahne mit der goldenen Harfe zierte.
Das war am Donnerstag, dem 9. November 1936. Patraig Meehan hatte die Hand gegen einen Esel erhoben. Und ich hatte nicht nur den Vater, sondern auch einen Helden verloren. In Killybegs wurde mein Vater am Ende zum »bastard«, so nannten ihn die Leute flüsternd hinter seinem Rücken. Für mich war er der »böse Mann«. Er, Patraig Meehan, der frühere IRA-Kämpe, der legendäre Veteran, das wunderbare Großmaul, der abendliche Geschichtenerzähler, der Pubsänger, der Hurling-Spieler, der größte Stout-Trinker, der je auf dem Boden Donegals geboren wurde. Man hatte Angst vor ihm. Auf der Straße gefürchtet, im Pub ignoriert, in seiner Ecke zwischen Dartscheibe und Männertoilette der Gleichgültigkeit überlassen. Ein Dreckskerl, ein Mann ohne Bedeutung.
*
Er starb mit den Taschen voller Steine. So haben wir erfahren, dass er sich das Leben nehmen wollte. Das war im Dezember 1940. Da legte Pat Meehan eines Morgens unter dem Schweigen meiner Mutter seinen Sonntagsstaat an. Ging aus dem Haus und nahm seinen Platz im »Mullin’s« ein. Trank viel, wie jeden Tag. Die Gläser sollten nicht abgeräumt, sondern an der Tischkante gestapelt werden, um zu demonstrieren, wozu er imstande war. Er trank allein, las nicht, sprach mit niemandem. In dieser Nacht haben wir auf ihn gewartet.
Im Morgengrauen hüllte sich meine Mutter in ihr Wolltuch, um Baby Sara zu schützen, die in ihrem Bauch schlief. Und suchte in dem verlassenen Dorf nach ihrem Mann. Ich ging in den Pub. Der Kellner rollte mit der Hand Bierfässer über den Bürgersteig. Mein Vater hatte die Kneipe um ein Uhr verlassen. Als einer der Letzten. Kurz bevor sie geschlossen wurde, war er zwischen den Tischen umhergeirrt und hatte nach einem Blick gesucht. Aber keinen gefunden. Der Wirt hatte ihm mit dem Kinn die Tür gewiesen. Draußen bog er nach links ab. Richtung Hafen. Streifte im Gehen an den Mauern seines Dorfs entlang. Zwei Zeugen hatten gesehen, wie er sich in der Nähe des Steinbruchs bückte und etwas vom Straßenrand aufhob. Es war sehr kalt. Man fand ihn am frühen Morgen am Ausgang des Dorfs, auf dem Weg zum Meer. Grau auf der gefrorenen Erde liegend, Eis statt Blut in den Adern. Den linken Arm erhoben, die Faust geballt, als hätte er mit einem Engel gekämpft. Die Polizei glaubte erst an einen Zufallstod. Betrunken hingefallen, nicht mehr hochgekommen und beim Warten auf den Morgen eingeschlafen. Erst als sie ihn umdrehten, begriffen die Männer von der Garda Síochána, dass mein Vater auf dem Weg in den Tod gestorben war. Überall Steine. In den Taschen seiner Hose, seiner Weste, seiner Jacke, seines blauen Wollmantels. Sogar in seiner Mütze. Nachts am Steinbruch hatte er Felsbrocken gesammelt. Und während er seinem Ende entgegenging, hatte sein Herz aufgegeben. Er wollte sterben wie die Bauern hier. Ins Meer gehen, bis es ihn mitnahm. In den Taschen ein bisschen von seinem Land. Beladen mit seiner Erde, ohne Worte, ohne Tränen. Nur Wind, Wellen und das Licht der Toten. Patraig Meehan wollte ein legendäres Ende. Das meines Vaters war kläglich, das Gesicht vom Eis zerschrammt und die Steine umsonst.
Nach dem Tod meines Vaters wandten sich die Blicke von uns ab. Elend war ansteckend. Uns vorbeigehen zu sehen brachte Unglück. Wir waren keine Familie mehr, nur noch ein blasses Häuflein. Ein klägliches Rudel, angeführt von einer Wölfin am Rande des Wahnsinns. Wir gingen hintereinander her und hielten uns jeder am Mantel des anderen fest. Drei Monate lebten wir von der christlichen Nächstenliebe. Halfen für Kohl und Kartoffeln im Kloster. Róisín und Mary schrubbten auf Knien die Flure. Séanna, Klein-Kevin und ich putzten Dutzende Fenster. Áine, Brian und Niall halfen im Refektorium, meine Mutter saß auf einer Bank im Flur, Baby Sara unter dem Wolltuch an ihrer Brust vergraben. Ich war nicht unglücklich. Nicht traurig, nicht neidisch. Wir lebten von dem bisschen. Abends lieferten sich meine Brüder und ich Faustkämpfe mit der Bande von Timy Gormley, der sich »König der Kais« nannte. Ein Dutzend Jungs. Zerrissen, geflickt, grindig und voller Wut wie wir, aber hart wie Lebkuchen und erstaunt, wenn sie sich blutige Nasen holten. Sie nannten uns die »Meehan-Gang«. Father Donoghue schlug mit Nussbaumästen auf uns ein, um uns zu trennen. Er duldete kein Lachen in den Gewölben des Klosters und noch weniger unsere nächtlichen Spiele. Im Winter 40 gingen Séanna und ich Torf stechen. Zwei Monate lang, jeden Tag. Im Frühling und zu Allerheiligen hatten wir dort schon immer ausgeholfen, mit dem Spaten Stücke aus dem Moor gebrochen und die Maultiere beladen, aber es war das erste Mal, dass wir im Frost arbeiteten. Der Bauer brauchte Arbeitskräfte, um die Ernte einzubringen. Sonst hatte uns der Schlamm die Schuhe ausgezogen, jetzt wurden sie durch die Nässe und den Reif steif wie Pappe. Um die zwanzig Kinder standen in den Gräben. Der Bauer nannte uns seine »Saisonarbeiter«. Das klang hübscher als Waisenkinder. Wir froren und schlotterten, die gestapelten Torfsoden lagen schwer wie tote Kameraden in unseren Armen. Dafür bekamen wir Torf, Speck und Milch. Kein Geld. Geld sei nur was für Männer, wir müssten ja weder trinken noch rauchen.
Joseph »Joshe« Byrne war der Wackerste unter uns und der Jüngste, knapp sechs. Neun Stunden täglich stapelte er die gefrorenen Ziegel und beschwerte am Ende die schützende Plane. Und sang dabei. Er schenkte uns den Himmel. Seine Stimme machte uns zu Seefahrern und ließ unsere Hände, die in der Erde gruben, fliegen, als setzten wir Segel. Er sang im Takt, mit verschränkten Armen, bei Regen und Wind, auf Irisch und Englisch. Er sang und stampfte dabei mit dem Fuß auf die Erde. Da er noch nicht lesen und schreiben konnte, kam er mit den Texten manchmal durcheinander. Er erfand Wörter und Reime und brachte uns zum Lachen.
Sein Vater war weg, seine Mutter tot. Joshe, der einzige Junge der Familie, wurde von seinen Schwestern großgezogen, wuchs zwischen erdbeschmierten Röcken und fettigen Schürzen auf. Er wollte entweder Soldat oder Priester werden, etwas, was den Menschen nützte. Da er zart war und Brillenträger, kam also nur Priester in Frage.
Wenn er nicht sang, betete er am Rand eines Grabens für uns – wie am Rand eines Grabes. Morgens, bevor wir den Spaten in die Hände nahmen, lauschten wir kniend. Abends, beim Angelusläuten von Saint Brigid, sagte er das Ave-Maria auf und schaute böse, wenn unsere Lippen geschlossen blieben. Father Donoghue mochte ihn. Nannte ihn »den Engel«. Joshe war sein Chorknabe. Alle hatten vor ihm Respekt, trotz seines zarten Alters, seines hässlichen Gesichts, seiner Kreidehaut, seines Rosshaars, seiner schielenden Augen und riesigen Ohren. Manche Frauen meinten, sein Körper sei von einem Geist besessen. Mama hielt ihn für einen leprechaun, einen Elf, einen Kobold aus unseren Wäldern. Tim Gormley schwor, Gott habe ihn mit seinem Aussehen geschlagen, um ihn zu einem Märtyrer zu machen.
»Das wäre schade!«, erwiderte Joshe sanft. »Hoffentlich nicht.«
Und Gormley stand da mit seiner Bosheit, im Kreise seiner Hyänenbrüder, und wusste nicht genau, was er damit anfangen sollte.
Wegen der Gormleys haben wir Irland verlassen. Ihre Grausamkeit brachte das Fass zum Überlaufen. Im Februar hatten Timy und Brian Klein-Kevin auf dem Weg vom Pfarrhaus abgepasst und in die Enge getrieben. Er hatte gerade Milch vom Bauern geholt. Er schwang seine Kanne und spuckte. Das machte er immer. Wenn er Angst hatte, wenn er wütend war oder ihn jemand in seinem Schweigen störte, sträubte er sich wie eine Katze. Die roten Haare vor den Augen, die Lippen über den schwarzen Zähnen hochgezogen, das Kinn vollgesabbert, spuckte er. Diesmal wichen die Gormleys nicht zurück. Timy schlug ihm mit einem Hurling-Schläger auf die Beine, Brian ihm mit der geballten Faust aufs Ohr. Klein-Kevin verbeulte die Aluminiumkanne an der Mauer und spuckte nach den Schatten. Als er nach Hause kam, hinkte er und weinte, den Henkel der Kanne, die auf den Bürgersteig gefallen war, in der Hand. Niemand schimpfte. Meine Mutter schaute aus dem Fenster. Aus Angst, dass die Bande ihn verfolgte. Séanna und ich stürzten hinaus, mit einem Geschmack von Milch und Blut im Mund. Klein-Kevin war voller Urin. Die Schweine hatten auf ihn gepisst. Wir rannten durchs Dorf und riefen Timy Gormley bei seinem verfluchten Namen. Séanna warf einen Stein in die Auslage des Krämerladens, in dem Timys Mutter arbeitete. Wir brachten niemanden um. Wir gaben auf. Und gingen nach Hause.
Meine Mutter erwartete uns an der Tür. Sie hatte ihr Wolltuch um und die Einladung ihres Bruders Lawrence Finnegan angenommen. Wir könnten nicht länger in Killybegs leben, inmitten von Demütigung, Moder und Prügeleien. Sie wollte weg, wir folgten. Verließen unser Irland, unser Vaterland. Wechselten auf die andere Seite, über die Grenze zum Krieg.
»Solange ich lebe, werden meine Kinder keine britische Flagge sehen«, hatte mein Vater, vom Bier beflügelt, behauptet.
Nun war er tot. Und seine Worte waren mit ihm gestorben.
Mama beschloss, das Haus meines Vaters zu verkaufen. Wochenlang steckte das gelbblaue Schild im Kies davor. Aber keinen interessierte unser trauriger Haufen Steine. Das Haus war viel zu klein, viel zu weit weg von allem. Außerdem geisterte der Tod darin herum, das Elend und das Leid der Witwe mit dem Rosenkranz, die mit Jesus umsprang wie mit ihrem Mann.
Eines Morgens, sehr früh, kam Onkel Lawrence mit seinem Schornsteinfegerwagen. Das war am 15. April 1941, zwei Tage nach Ostern. Meine Mutter hatte gesagt, wir würden am nächsten Tag in Belfast zur Messe gehen.
Belfast. Ich fürchtete mich vor der großen Stadt, dem anderen Land. Lawrence war wie Mama, nur mit rauer Stimme, die meistens schwieg, und härterem Blick. Er sagte selten etwas, fluchte nie, sang nicht. Seine Lippen waren für ihn die Schwelle zum Gebet.
Er zählte meine Geschwister auf, wie man bei uns einem Käufer aus der Stadt die Namen der Schafe sagt. Das Wetter war gut. Das heißt, es gab keinen Regen, nicht einmal drohende Wolken. Der Seewind fuhr stoßweise ins Haus. Wir nahmen fast nichts mit. Nicht den Tisch, nicht die Bank, nicht den Küchenschrank. Immerhin die Suppenschüssel aus Galway, ein Geschenk meiner Großmutter an ihre Tochter. Die Matratzen lagen auf einem Stapel unter der Plane. Séanna, meine Mutter und Baby Sara saßen neben Lawrence, der Rest von uns drängte und zankte sich hinten. Ich erinnere mich an eine seltsame Szene, in der sich Komik und Zermürbung mischten: Mama weinte. Sie hatte die Haustür geschlossen und mit dem Fuß dagegengetreten. Dann bat sie ihren Bruder, einen Umweg zu machen, damit sie sich von ihrem Mann verabschieden könne.
Wir fuhren durch das Dorf. Eine Frau bekreuzigte sich, als wir vorüberkamen. Viele andere gingen einfach weiter. Wir hatten keine Feinde, keine Freunde, keinen, der uns nachtrauerte oder uns verfluchte. Wir verließen unsere Heimat, und ihr war es egal.
Vor dem Friedhof ließ mein Onkel die Ladeklappe herunter. Wir gingen alle gemeinsam zum Grab, außer Baby Sara, die wir schlafen ließen, und Lawrence, der am Lenkrad sitzen blieb. Vor dem Kreuz hieß Mama uns niederknien. Dann sagte sie zu meinem Vater, dass er an alldem schuld sei. Dass wir nie mehr ein Dach über dem Kopf haben würden und nie mehr etwas zu essen. Dass sie krank werden würde und wir einer nach dem anderen von deutschen Bomben oder englischen Bajonetten zerrissen. Dass sie so viel Kummer und wir so hohle Wangen und schwarz umringte Augen hätten.
»Sehen Sie das, ja?«, rief sie eine Dame als Zeugin an, die den Kies auf dem Grab ihres Mannes glatt rechte. »Haben Sie sie gezählt? Es sind neun! Neun! Ich bin allein mit neun Kindern, und keiner da, der mir hilft!«
Die Dame warf einen Blick auf unser Trüppchen und nickte schweigend. Ich erinnere mich an diese Szene, weil eine Möwe gelacht hat. Sie schwebte über unseren Köpfen im Wind und lachte uns aus.
*
Ich hatte noch nie eine englische Uniform gesehen außer durch die hasserfüllten Augen meines Vaters. Wie viele Soldaten er nach seinen Worten am Schlafittchen gehabt hatte! Wenn man ihm so zuhörte, hatte die halbe Armee des Königs unser Land mit seinem Schuhabdruck am Hintern verlassen.
An der Grenze zu Nordirland ließen die Briten uns alle aussteigen. Noch konnte ich die Ulster Defence Volunteers, die Royal Irish Constabulary und die »B-Specials«, die bei meinem Volk besonders verhassten Sondereinheiten der Polizei, nicht auseinanderhalten. Lawrence sagte kein Wort. Meine Mutter auch nicht. Als wäre es einem Meehan oder Finnegan per Geheimbefehl verboten, mit solchen Menschen zu sprechen. Sie trugen Schirmmützen und Kommissstiefel, über denen sich ihre Hosen ringelten. Der, der uns durchsuchte, hatte den Kragenknopf geschlossen, eine flache Mütze auf dem Kopf, eine Tasche über der Brust, ein Gewehr auf dem Rücken und das Bajonett, das Mama so fürchtete. Zum zweiten Mal in meinem Leben sah ich eine britische Fahne.
Das erste Mal war am 12. Juni 1930 im Hafen von Killybegs gewesen. Die »Go Ahead«, ein englischer Dampftrawler, hatte wegen einer Havarie dort festgemacht. Sie hatte zwei Masten, dunkelrote Segel, und ihr Schornstein spuckte schwarzen Rauch. Kaum eine Stunde später stand das ganze Dorf am Pier. Ich war fünf. Séanna hielt mich an der Hand, mein Vater war auch da. Während die Seeleute die Stelling anbrachten, sollte ich das Kennzeichen vorlesen, das weiß ans Heck des Schiffes gemalt war. Ich war ganz stolz, dass ich die Ziffern erkannte. LT 534 – die Nummer habe ich lange behalten, weil ich sie gleich für Mama aufschrieb, als wir wieder zu Hause waren. Zwei Hafenpolizisten gingen an Bord, eine irische Fahne in der Hand, denn die Gastlandflagge, die der Kapitän gesetzt hatte, war beschmutzt und zerrissen. Killybegs schenkte ihnen eine ganz neue. Sie wurde steuerbords gehisst, am vorderen Mast. Die Polizisten salutierten beim Aufziehen. Die Menge applaudierte laut. Die Fischer rauchten schweigend, an die Reling gelehnt. Ihre riesige Flagge schlummerte hinten, von unserem Wind um den Mast gewickelt.
Einmal hat mein Vater zur Feier des Osteraufstands von 1916 gemeinsam mit seinen Kumpels einen Union Jack auf unserem Dorfplatz abgefackelt. Zu Ehren von James Connolly, Patrick Pearse und allen anderen, die damals erschossen wurden, hatten sie sich vor dem »Mullin’s« versammelt. Es hatte aufgehört zu regnen. Mein Vater stand auf einem Bierfass, die Stirn gerunzelt, die Arme nach Art eines Redners erhoben, und hielt eine Ansprache. Er erinnerte an das Opfer unserer Patrioten und bat um eine Schweigeminute. Danach trat einer aus der Menge und zog aus seiner Jacke eine britische Fahne, die mein Vater mit seinem Feuerzeug anzündete. Es war keine richtige Flagge. Nicht in England für Engländer gemacht. Nur irgendwie auf die Rückseite eines weißen Hemdes gepinselt. Die Farbe war verwischt und über die Kreuze hinausgelaufen, aber man erkannte sie trotzdem. Als sie Feuer fing, begannen die Leute zu klatschen. Ich war auch da. Sehr stolz. Und klatschte wie die anderen. Wir waren ungefähr fünfzig. Zwei irische Polizisten überwachten die Versammlung.
»Scheiße! Lass das, Pat Meehan! Nicht ihre Drecksfahne!«, rief der ältere, als mein Vater die Flamme dranhielt.
»Die Stadt kriegt noch Ärger!«, sekundierte der andere.
Irland war seit fünfzehn Jahren ein freier Staat, aber die Leute glaubten immer noch, dass die britische Armee die Grenze überschreiten würde, um sich zu rächen.
Die zwei Polizisten liefen über den Platz. Mein Vater und seine Kumpels brüllten: »Auf die Verräter!« Sie waren bereit, sich zu schlagen, um das Feuer zu beschützen. Die Frauen schrien und pressten ihre Kinder an sich. Dann hatte Cathy Malone eine schöne Idee. Sie legte ihr Tuch ab, hob die Stirn, schloss die Augen und stimmte das »Soldatenlied« an, die Fäuste an ihr Kleid gepresst. Papa und die anderen alten Soldaten nahmen ihre Mützen ab und standen Habtacht. Die Polizisten erstarrten. Von den ersten Tönen in ihrem Lauf gestoppt, standen sie stramm, als hätten sie eine Trillerpfeife gehört. So verharrten sie Seite an Seite, rückten mit den Daumen die Koppel zurecht und hoben die Hand zum Mützenschirm. Sonst war nichts mehr zu hören. Nur unsere Hymne, unser kristalliner Stolz und Cathy Malone, die Tränen in Strömen vergoss. Die Fahne war auf die feuchte Straße gefallen und brannte dort weiter, weil eine Handvoll Patrioten, ein paar Frauen im Wolltuch, ein Dutzend Kinder mit zerschundenen Knien und zwei irische Polizisten in Uniform den Feind herausgefordert hatten. Bei all den gigantischen Memorials und grandiosen Feiern, die ich noch erleben sollte, habe ich nie wieder die schlichte Schönheit und Freude dieses Augenblicks gespürt.
Die Fahne an der Grenze war sehr klein und schäbig. Sie hing auf Halbmast wie Wäsche zum Trocknen. Doch diesmal war es die echte. Und es waren echte Briten. Ich hatte den Eindruck, dass sie besser angezogen waren als unsere Soldaten. Vielleicht, weil sie mir Angst machten. Mama hatte uns eingeschärft, den Blick zu senken, wenn wir mit ihnen sprachen, aber ich sah ihnen ins Gesicht.
»Kommst du, um gegen die Jerrys zu kämpfen?«, fragte der Soldat, der mich durchsuchte.
»Gegen wen?«
Der Typ sah mich komisch an. Er hatte den gleichen Akzent wie Lawrence. Ein Nordire in britischer Uniform. Auf seiner Jacke war ein Abzeichen, eine Harfe unter einer Krone.
»Die Jerrys, die Krauts, den Fritz, wach mal auf, Kleiner!«
»Die Deutschen«, soufflierte mein Onkel.
Der Typ tastete mich am Rücken ab, zwischen den Schenkeln, unter den waagrecht ausgestreckten Armen.
»Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?«
»Doch, das weiß ich.«
Er öffnete meine Tasche und wühlte darin herum, als wäre es seine.
»Nein, du weißt gar nichts, Ire. Überhaupt nichts!«, rief der Soldat, der den Lastwagen durchsuchte.
Der war echt. Ein Engländer aus England. Mein Vater hatte oft ihre Art zu reden nachgemacht, mit der Oberlippe an den Zähnen und der lächerlichen Aussprache der Radioansager.
»Schau mir nicht in die Augen, Ire! Los, dreh dich um! Dreht euch alle um, Hände nach oben und Fresse an die Plane!«
Mein Onkel schnappte mich und drehte mich um. Wir hatten alle die Hände erhoben.
»Das ist doch euer Trick, uns in den Rücken zu schießen, oder?«
Ich spürte ihn hinter mir.
»Du hast doch auch Beifall geklatscht, als die IRA-Schweine uns letztes Jahr den Krieg erklärt haben?«
Ich wollte nicht antworten.
»Weißt du, dass sie in Kinos Bomben legen, in London, in Manchester? In Postämtern? In Bahnhöfen? In der U-Bahn? Hast du davon schon gehört? Was hältst du davon, Ire?«
»Er ist doch erst sechzehn«, warf meine Mutter ein.
»Maul halten! Ich rede mit dem Rotzlöffel!«
»Hör auf damit«, murmelte der andere Soldat ruhig.
Er hieß mich umdrehen und die Arme senken. Gab mir die durchwühlte Tasche zurück.
»Willst du uns helfen, den Krieg zu gewinnen, hä, Rotzlöffel?«
Ich schaute auf seine dreckigen Schuhe. Und dachte ganz fest an meinen Vater.
»Sonst habt ihr hier nämlich nichts verloren.«
Ich sah wieder hoch.
»Verräter werden bei uns aufgeknüpft. Wir haben mit Hitler genug zu tun, klar?« Er wurde immer lauter. »Okay, ihr hört jetzt mal zu. Ihr betretet das Vereinigte Königreich. Hier gibt’s keinen De Valera, keine Neutralität, den ganzen Papistenquatsch. Und wenn euch das nicht passt, könnt ihr gleich wieder gehen!«
Mein Blick traf den von Lawrence. Stumm, die Stirn an der Plane, die Hände noch immer erhoben, bedeutete er mir zu schweigen.
Also senkte ich den Kopf, wie er, wie Mama, wie meine Brüder und Schwestern. Wie alle am Seitenstreifen wartenden Iren.
Mein Onkel lebte in der Nähe von Cliftonville im Norden von Belfast. Ein katholisches Ghetto, eine nationalistische Bastion, eingekreist von protestantischen, der britischen Krone gegenüber loyalen Vierteln. Er war Witwer, kinderlos und besaß zwei Häuser nebeneinander mit einem gemeinsamen Hof. Das erste war seine Schornsteinfegerwerkstatt, im anderen wohnte er. Ich hatte noch nie so gerade Straßen gesehen, solche Aneinanderreihungen von Backsteinmauern, düster, rechtwinkelig, endlos. Jeder Familie ihr Kaninchenstall. Alle strikt gleich. Eine Eingangstür, zwei Fenster im Erdgeschoss, zwei im ersten Stock, ein Schieferdach und ein hoher Schornstein. Nichts Buntes, keine Fassaden in knalligem Grün, Gelb oder Blau wie bei uns, überall das schmutzige, schwärzliche Rot der Belfaster Ziegel. Nur die Vorhänge lächelten ein wenig. Sogar die betenden Jungfrauen in den Fenstern waren überall gleich, blau-weiß und aus Gips, von Hanlon’s Gemüsehandel.
Wir wohnten in der Sandy Street 19. Meine Mutter zog mit Róisín, Mary, Áine und Baby Sara in eines der oberen Zimmer. Klein-Kevin, Brian und Niall nahmen das andere mit dem Fenster zum Hof. Séanna und ich legten unsere Matratze ins Wohnzimmer im Erdgeschoss. Lachend rannten wir die schmale Treppe hinauf und hinunter, nahmen das Haus in Besitz. In der Küche fehlte eine Fensterscheibe, die durch eine Holzplatte ersetzt wurde. Alles war feucht, die Tapete löste sich von den Wänden, der Kamin zog schlecht, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf.
Für unseren ersten Abend in Belfast hatte Lawrence Lammragout mit Kohl gekocht. Er würde von nun an in seiner Werkstatt wohnen, aber unsere Schlüssel behalten. In Belfast versperrt man die Haustür. Wir setzten uns auf den Boden, die Teller auf den Knien. Ich hatte Hunger. Mein Onkel sprach sein eigenes Tischgebet:
»Lieber Gott, lass unsere Teller und Becher immer voll sein. Lass das Dach über unserem Kopf immer fest genug sein. Und hole uns eine halbe Stunde, bevor der Teufel von unserem Tod erfährt, ins Paradies. Amen.«
Mama verdrehte die Augen. Sie mochte es nicht, wenn man über den Teufel Witze machte. Wir bekreuzigten uns. Ich liebte diesen Mann auf der Stelle. Er schnitt das Brot und verteilte es anständig.
»Bedankt euch bei Onkel Lawrence!«, sagte meine Mutter, als sie die Teller abräumte.
»Danke, Onkel Lawrence!«
Er gab keine Antwort. Er gab selten Antwort. Klein-Kevin hat ihn einmal gefragt, ob sein Mund zugeklebt sei. Da hat er gelächelt, glaube ich.
Séanna wollte hinaus, Mama verlangte aber, dass er vor dem Haus bleibe. Ich ging mit. Es war beinahe warm und regnete so gut wie gar nicht. Die ganze Straße entlang lehnten Männergrüppchen an den Mauern und unterhielten sich. Alle redeten sich mit Vornamen an. Wie bei uns im Dorf.
Ich war gerade sechzehn geworden. An diesem Abend, dem ersten meines neuen Lebens, in einem Irland, das noch nicht meins war, lernte ich Sheila Costello kennen. Sie war vierzehn, wohnte im linken Nachbarhaus und kam gerade die Straße entlang. Groß, kurze schwarze Haare, seegrüne Augen und dieses Lächeln. Für ein bisschen Geld würde meine Schwester Mary bald ihre Schwester hüten, wenn ihre Eltern abends im Pub waren. Ein paar Tage später, an einem Sonntag, küsste ich Sheila im Dunkeln, gleich nach dem Angelusläuten. Sie beugte sich ein wenig herunter, bis unsere Lippen sich trafen. Ein Kuss sei nichts, sagte sie, aber man dürfe das nicht wiederholen oder gar weitergehen. Sie nannte mich weeman, »kleiner Mann«. So wurde sie meine Frau.
*
»Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?«, hatte mich der Engländer gefragt.
An diesem Abend, dem 15. April 1941, wurde es uns bewusst.
Wir waren gerade schlafen gegangen. Hinter meinen geschlossenen Lidern Bilder von Sheila.Sie hatte meinen Akzent »bäurisch« genannt. Ich würde mich bemühen, ihren nachzuahmen. Rücken an Rücken mit Séanna, dessen kaltes Bein ich wegstieß, versank ich in meiner Nacht. Plötzlich erbebte alles. Ein unmenschlicher Krach, dröhnender Stahl, schepperndes Blech, sehr niedrig, ganz nah über den Häusern.
»Scheiße, Flieger!«, rief mein Bruder.
Er sprang auf, schaute zur Decke. Schaltete das Licht an. Sirenengeheul. Tumult im Treppenhaus. Ein verschrecktes Häuflein. Mama ganz grau, Baby Sara weinend, meine Schwestern mit ihren nächtlichen Gesichtern. Klein-Kevin mit offenem Mund, Niall mit irrem Blick. Onkel Lawrence kam herein und sagte, wir sollten uns schnell anziehen. Die erste Bombe warf Brian um. Nur der Krach. Er fiel auf den Rücken und knallte mit dem Kopf auf den Boden, die Augen verdreht. Lawrence nahm ihn in die Arme. Er sprach laut und schnell. Wir hätten nichts zu befürchten. Die deutschen Flieger seien schon öfter gekommen, aber sie bombardierten nicht unsere Viertel, sondern griffen die Innenstadt an, den Hafen, den Bahnhof, die Kasernen, die Reichen, nicht die Armen.
»Nicht die Armen! Tötet nicht die Armen!«, flehte meine Mutter, als sie auf die Straße trat.
Wir hatten wieder unsere klägliche Raupe gebildet, jeder an ein Stück Kleidung des anderen geklammert. Lawrence eröffnete den Marsch. Familien tauchten auf, ließen die Türen offen stehen. Angst im Blick. Es war fast Mitternacht, Vollmond, der lichte Himmel hatte die Stadt entblößt. Die Flugzeuge waren da, über uns, unter uns, in uns, überall, sie dröhnten in unserem Bauch. Wir trauten uns nicht, aufzuschauen. Senkten den Kopf aus Angst, dass ihre Flügel uns streiften. In der Ferne brannte die Stadt, aber keines von unseren Häusern.
»Mein Gott, verschone uns!«, weinte Mama, Wange an Wange mit Baby Sara.
Am Ende der Straße gab es eine Riesenexplosion, weiße Garben schossen aus der Kapelle, in die wir uns flüchten wollten. Der Lärm des Krieges. Der echte, der sprachlos macht. Das Gewitter der Menschen. Brutal zu Boden geschleudert entlang der Häusermauern, über- und untereinander sitzend, liegend, schreiend. Manche starben vor Entsetzen im Stehen. Andere fielen kraftlos zu Boden.
Wir bildeten einen Kreis der Angst, mit dem Rücken zur Gefahr. Lawrence hatte sich hingekniet. Mama und die Jüngsten in der Mitte. Séanna, Róisín, Mary, mein Onkel und ich schützten sie. Kopf an Kopf, mit geschlossenen Augen, die Arme umeinandergelegt.
»Schaut nicht in die Blitze, davon wird man blind!«, schrie eine Frau.
Wir beteten ein Ave-Maria nach dem anderen, immer schneller, verstümmelten die Worte. Wir taten Buße. Mama hatte aufgehört zu beten, den vertrauten Frieden verlassen. Den Rosenkranz wie ein Perlenarmband um die Handgelenke gewickelt, schrie sie zu Maria, wie man gegen den Tod anschreit. Rief sie zu Hilfe in dieser Hölle.
Wir schafften es nicht mehr bis zur Fabrik O’Neill mit ihrem riesigen Keller. Wir blieben da, bis der Krieg nachließ. Bis die Flugzeuge abdrehten und hinter den schwarzen Bergen verschwanden. Dann gingen wir durch den Schutt zurück. Unsere Straße war heil geblieben. Doch gleich dahinter brannten Häuser. Der gesamte Norden der Stadt war zermalmt.
»Die Protestanten haben gekriegt, was sie verdienen!«, knurrte ein Typ, der den rot-schwarzen Himmel über der York Street betrachtete.
»Glaubst du, die Jerrys sind besser?«, fragte eine Nachbarin.
Der Typ starrte sie zornig an.
»Was schlecht ist für die Brits, ist gut für uns!«