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Das Feuer von Rügen.
Rügen in den zwanziger Jahren. Das Kurhaus in Binz ist das erste Haus am Platz. Hier steigt die erfolgreiche Krimiautorin Dorothee von Stresow ab. Seit ihre Eltern bei einem Brand auf dem Gut ihrer Familie vor achtzehn Jahren ums Leben kamen, ist Dorothee nicht mehr auf der Insel gewesen. Nun trifft sie auf einem Empfang ihre Freundin Margarethe wieder, die Andeutungen macht, sie wisse etwas über das Feuer von damals. Schon am nächsten Tag wird ein Anschlag auf Dorothee verübt – und ihre Freundin liegt tot in einer Jagdhütte ...
Ein Mordfall in Binz im Jahr 1920 – mit Lokalkolorit und einer ungewöhnlichen Ermittlerin.
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Seitenzahl: 299
Dorothee von Stresow lebt als erfolgreiche Kriminalschriftstellerin in Berlin. Nur widerwillig kommt sie einer Einladung nach Rügen nach. Hier soll sie in ihrer ehemaligen Schule eine Rede halten. Seit ihre Eltern bei einem Brand ums Leben kamen und sie selbst der Feuerhölle nur knapp entrinnen konnte, ist sie nicht mehr auf der Insel gewesen. Gleich am ersten Tag kommt eine alte Freundin auf sie zu: Margarethe macht Andeutungen, dass sie etwas über die Brandnacht weiß. Genaueres kann sie aber nicht in aller Öffentlichkeit mitteilen. Die beiden Frauen verabreden sich für den nächsten Tag in Margarethes Jagdhütte. Als Dorothee ankommt, findet sie ihre Freundin ermordet vor – und sie selbst wird von hinten niedergeschlagen. Doch Dorothee wäre nicht eine erfolgreiche Kriminalautorin, wenn sie nicht selbst auf die Suche nach dem Täter gehen würde.
Sylvia Frank ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellerehepaares, das auf der Insel Rügen lebt. Sylvia Vandermeer, geboren 1968, studierte Biologie, Psychologie und Bildende Kunst. Heute ist sie freiberuflich als Schriftstellerin und Malerin tätig. Frank Meierewert, geboren 1967, ist promovierter Ethnologe und seit 2016 als freier Autor tätig.
Im Aufbau Taschenbuch ist von ihnen lieferbar: »Das Haus der Winde«, »Gala und Dalí – Die Unzertrennlichen« sowie »So long, Marianne – Leonard Cohen und seine große Liebe«.
Mehr Informationen unter https://sylviafrank.myportfolio.com/home
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Sylvia Frank
Rügentod
Kriminalroman
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Widmung
Prolog — Rügen, 1905
Kapitel 1 — Rügen, 1920
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Danksagung
Impressum
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Für unseren Freund Nikolaus »Nike« Kleiner
Rügen, 1905
Das Kindermädchen klopfte in Dorothees Rücken die Kissen auf.
»Gerda? Möchten Sie wissen, wofür ich vorhin gebetet habe, ich meine zusätzlich, außer der Reihe?«
Das von einer weißen Haube gesäumte gutmütige Gesicht der Frau erschien in ihrem Blickfeld.
»Um gute Schulnoten?«
»Ach, wie langweilig! Doch nicht so was.« Dorothee schüttelte die langen braunen Locken und ließ ihren Kopf ins Kissen sinken.
Die Frau legte die Stirn in Falten, als müsste sie angestrengt nachdenken, während sie die Zudecke bis an das Kinn des Mädchens zog. »Vielleicht um viele Geschenke? Schließlich ist morgen Ihr Geburtstag.«
Dorothee spürte, wie ihr bei dem Gedanken das Herz freudig schneller schlug. Sie wurde zwölf, und einen Moment lang dachte sie an den Besuch in der Schneiderei, die sie am Nachmittag in Begleitung ihrer Mutter aufgesucht hatte, um ihr neues Kleid abzuholen. Taubenblaue Seide mit gestickten Silberfäden. Es war das Schönste, das sie je besessen hatte.
»Nein. Sie erraten es nicht.« Dorothees Blick streifte kurz den Sekretär, wo sie in einer geheimen Schublade ihr Tagebuch wusste. »Wenn sich der Wunsch erfüllt hat, werde ich es Ihnen sagen.«
»Gut.«
Das Mädchen musterte die Kinderfrau. Ihr dunkles Kleid war frisch gebügelt und hatte einen neuen weißen Kragen.
»Sie haben sich aber fein gemacht«, stellte sie fest.
»Heute Abend ist Tanz in der Pommernkate.«
»Da ist Ihr Franz bestimmt auch da«, neckte Dorothee.
»Na, dir will ich helfen …«, drohte Gerda, aber Dorothee wusste, dass sie es nicht ernst meinte.
»Und Sie haben wirklich keine Idee, was es sein könnte, worum ich gebetet habe?«
Gerda lächelte. »Nein, wirklich nicht. Da müssen Sie mir schon einen Hinweis geben.« Das Kindermädchen erhob sich vom Rand des Bettes und drehte den Docht der Petroleumlampe herunter.
Dorothee spürte, wie sie verlegen wurde. »Das kann ich nicht.«
Als Gerda gegangen war, wanderten ihre Gedanken hinaus zum Bodden. Wieder versteckte sie sich hinter dem Stamm einer Buche, von wo aus sie Albert, den Sohn des Verwalters, beobachtete, wie er am Ufer stand und mit einer weit ausholenden Bewegung die Angel auswarf. Sonnenflecken standen auf dem Wasser und spiegelten sich auf seinem braun gebrannten Gesicht. Doch dann wurde aus dem schimmernden Wasser die Silberborte ihres neuen Kleides, alles verschwamm ineinander, und sie schlief ein.
Mitten in der Nacht erwachte sie aus einem Traum. Zuletzt hatte er etwas Bedrohliches bekommen. Als Dorothee die Augen aufschlug, konnte sie sich nur noch vage an die Bilder erinnern. Die Mutter stand in einem wunderschönen Abendkleid auf einer Bühne, um den Hals das Collier aus Gold und Elfenbein mit dem Shintō-Schrein als Anhänger, und sang, während sie neben ihrem Vater saß und sie beide ihr von einer Loge aus zusahen. Das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt. Als die Leute anfingen, zu klatschen, mischte sich ein Knacken und Knistern in den Applaus, das sich nicht zuordnen ließ, jedoch immer lauter wurde und sie am Ende weckte.
Dorothee spürte eine Unruhe und horchte in die Dunkelheit hinein.
Irgendetwas war anders. Aber sie konnte nicht sagen, was es war.
Vorsichtig tastete sie mit der Hand nach dem Docht der Petroleumlampe, drehte ihn höher und stützte sich auf ihre Ellenbogen.
Alles im Zimmer schien vertraut. Schemenhaft zeichneten sich die Konturen der Möbelstücke ab, nur unter dem schweren Brokatvorhang vor dem Fenster sickerte ein schwacher Streifen gelbroten Lichts.
Wo kam dieses Licht her? Es war doch mitten in der Nacht.
Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Zimmerdecke hinauf, wo vergoldete Stuckleisten geometrische Muster bildeten.
Da war es wieder, dieses Knacken.
Dorothee wollte den Blick abwenden, als sie einen dünnen Rauchwirbel bemerkte, der hinter einer der breiten Zierleisten am Rand der Decke hervorquoll. Zuerst glaubte sie, dass sie sich den Qualm nur einbildete, dass ihr die Müdigkeit einen Streich spielte. Sie schloss die Lider, holte tief Luft und öffnete sie wieder.
Sie erstarrte.
Der Rauchwirbel war immer noch da … und er hatte sogar an Intensität gewonnen. Wie ein grauer Vorhang breitete er sich im Zimmer aus. Die Luft schmeckte plötzlich eigenartig bitter, biss und kratzte im Hals.
Hastig schlug Dorothee die Zudecke zurück, getrieben von Furcht und dem Wunsch, zu den Eltern zu eilen und ihnen davon zu berichten. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und wollte nach dem Morgenmantel greifen, als sich über ihr ein Stück Putz von der Decke löste. Einen Meter entfernt krachte es auf die Dielen. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall.
Entsetzt prallte sie zurück, und als ihr verängstigter Blick endlich nach oben wanderte, sah sie lodernde Flammen, die um die gezackte Öffnung tanzten.
Dorothee entfuhr ein schriller Schrei. Sie stürzte zur Tür und riss sie auf.
Der hohe geräumige Flur, der sonst die beiden Seitenflügel des Gutshauses mit den Wohnräumen in der ersten Etage verband und der die Ahnengalerie, eine Sammlung wertvoller Wandteppiche, sowie Mutters italienische Möbel beherbergte, war kaum wiederzuerkennen.
Das Feuer musste diesen Raum schon früher erreicht haben, denn von der Decke hingen brennende Balken, und unerbittlich fraßen sich Flammen durch die Stofftapeten, züngelten gierig an den Vorhängen empor.
Die Schlafzimmer ihrer Eltern lagen im Westflügel. Dafür musste sie dem Korridor folgen, dann die hintere Flügeltür passieren.
Dorothee prallte zurück, so glühend heiß war die Luft.
Kurz überlegte sie, zurück in ihr Zimmer zu laufen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, als sie über ihrem Kopf erneut ein bedrohliches Knacken vernahm, dem ein furchtbarer Donnerschlag folgte. Unter ihren Füßen erzitterte der Dielenboden.
Dorothee rannte los.
Die Hitze war grauenhaft. Aber noch schlimmer als die Hitze war der Qualm, der sie jeden Augenblick zu ersticken drohte.
Sie zog ihr Nachthemd bis über die Nase, zum Glück war es aus weißem, dicht gewebtem Stoff und bot ein wenig Schutz.
Trotzdem fiel ihr das Atmen schwer, und es gestaltete sich zunehmend schwieriger, den schweren Möbelstücken, die ohne Vorwarnung aus dem Dunst auftauchten, rechtzeitig auszuweichen.
Als sie sich heftig das Knie anstieß, schlug sie der Länge nach hin und biss sich die Lippen blutig. Verzweifelt rappelte sie sich auf und humpelte weiter, ihr blieb keine andere Wahl.
Die lodernden Flammen, die sie umgaben und die sie zu verfolgen schienen, als wären sie lebendige, gewaltbereite Wesen, darauf aus, sie zu töten, waren so hoch und gleichförmig, dass Dorothee für eine Sekunde überrascht innehielt. Lag es daran, dass dieses ungezügelte Feuer so viel Nahrung fand?
Endlich erreichte sie die Flügeltür.
Die Türblätter waren aus den Angeln gerissen, die Scheiben zersplittert. Plötzlich trat sie mit dem Fuß auf etwas Schlaffes, Weiches. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass es ein ausgestreckter Arm war. Entsetzt wich sie zurück.
An der Uniform erkannte sie, dass es Hans war, der alte Diener ihres Vaters. Aus seinem Ohr sickerte Blut.
Sie wollte die Hand ausstrecken, zuckte jedoch sofort zurück, als eine heiße Flüssigkeit ihr die Finger verbrühte.
Geschmolzenes Kristall tropfte von einem Lüster an der Decke.
Dorothee versuchte, es mit einer schnellen Bewegung abzuwischen, dabei starrte sie auf die gewaltige Mauer aus Feuer, die sich vor den Zimmern der Eltern aufgebaut hatte.
Der Anblick lähmte sie, dann fasste sie einen Entschluss. Sie musste umkehren. Möglicherweise konnte sie im Erdgeschoss das Feuer umgehen, um so in den Westflügel zu gelangen. Noch hegte sie die Hoffnung, dass das Feuer nicht im ganzen Haus ausgebrochen war. Dass die Feuerwand irgendwo zu Ende war …
Sie hetzte zurück in den Korridor. Das verletzte Knie spürte sie kaum noch.
Dafür traf sie jetzt hier auf dasselbe Inferno, dem sie eben noch entkommen war. Einen halben Meter über ihr explodierte die Holzvertäfelung in einem Feuerball, fauchten die Flammen wie glühende Schlangen unter der Decke entlang, alles verschlingend, was sich ihnen in den Weg stellte.
In der Hitze und dem Rauch war der Korridor kaum noch zu erkennen. Dorothees Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Jetzt ging es nur noch ums nackte Überleben. Keine Zeit darüber nachzudenken, ob der eingeschlagene Weg richtig oder falsch war. So sich eine Lücke in der Feuerwand bot, hieß es handeln oder sterben.
Dorothee tauchte unter einem herabfallenden Balken weg, sprang in letzter Sekunde über eine chinesische Bodenvase und eilte weiter. Sie hatte mittlerweile das Gefühl, als würde sie glühende Kohlen einatmen. Jeder Atemzug jagte einen sengenden Schmerz durch ihre Brust.
Sie erreichte die Ahnengalerie, wo hässliche Brandblasen das stolz dreinblickende Gesicht des Großvaters entstellten, bevor sich feurige Reißzähne von hinten durch die Leinwand bohrten und das Gemälde zu Asche zerfiel. Den anderen Bildern erging es nicht besser. Die Flammen sprangen von Rahmen zu Rahmen weiter, wie feurige Monster, deren einziges Ziel es war, zu zerstören. Selbst der wertvolle Canaletto fand in ihren Augen keine Gnade. Das schönste Gemälde der Sammlung, wie Dorothee immer fand. Wie oft hatte sie davorgestanden und sich nach Venedig geträumt, war in Gedanken auf dem Markusplatz spazieren gegangen und hatte den Campanile bestiegen …
Kurz war sie abgelenkt und reagierte nicht schnell genug, als eine der brennenden Tapisserien neben ihr herabstürzte. Sie versuchte, mit einem Sprung auszuweichen, aber nicht weit genug, denn der schwere Teppich streifte ihre linke Schulter, und das Nachthemd fing sofort Feuer.
Beim Anblick des brennenden Stoffes breitete sich Panik in ihr aus. Dorothee drehte sich um die eigene Achse, versuchte aus einem ersten Impuls heraus, sich die Sachen vom Körper zu reißen, doch als sie wieder halbwegs bei Verstand war, griff sie nach einem Kissen und schlug auf die Flammen ein, bis sie erloschen waren. Dann riss sie mit bloßen Händen die Reste des verkohlten Ärmels ab. Auf der Haut spürte sie einen brüllenden Schmerz, die Finger ihrer rechten Hand waren gefährlich rot, bald würden sich die ersten Blasen zeigen.
Dorothee begann zu zittern und taumelte zum großen Kamin in der Mitte des Flures. Auf Händen und Füßen kauerte sie sich in die Öffnung und erbrach sich, bis nichts mehr da war, was sie hervorwürgen konnte.
Sie starrte hinaus in die Flammenhölle, wo sich weitere Teile der Decke lösten und in Funkenwolken zu Boden stürzten.
Sollte sie aufgeben?
Nein, ihr war klar, dass sie weitermusste. Sie zitterte so sehr, dass sie sich anfangs nicht bewegen konnte. Die Anstrengung beim Würgen hatte ihr Tränen in die Augen getrieben. Ihr war schwindelig, und sie schnappte nach Luft.
Du hast zehn Atemzüge lang Zeit, sagte sie sich.
Zehn Atemzüge zum Ausruhen.
Die Schmerzen in der Schulter waren kaum auszuhalten, und als sie begann, vorsichtig nach dem Rand der Wunde zu tasten, bemerkte sie, dass die Flammen ihr langes Haar versenkt hatten.
Kurz registrierte sie die Veränderung.
Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf einen möglichen Fluchtweg, der sie an den brennenden Balken vorbei in Richtung Treppenhaus entkommen lassen würde.
Ihr kam der Gedanke, sie könnte den Kamin hochklettern. Sie hatte mal ein Buch gelesen, da hatte sich der Held so in Sicherheit gebracht. Ihr Blick glitt nach oben über die Mauer aus dunklen Feldsteinen, und sofort verwarf sie den Gedanken.
Neun, zehn – sie hatte sich zehn Atemzüge gegönnt.
Dorothee sprang auf und rannte.
Wenn es ihr gelang, bis zum Treppenhaus vorzudringen, würde sie vielleicht außerhalb der Reichweite des Feuers sein.
Sie stürzte voran, getrieben von dem beängstigenden Gefühl, das Feuer würde sie verfolgen. Als hinter ihr die gesamte Decke zerbarst, vergeudete sie keine Zeit, sich umzudrehen. Feuersäulen zischten empor, Glutstücke prasselten auf sie herab und mannshohe Spiegel splitterten, die Scherben flogen wie Geschosse durch die Luft.
Wenn sie stehen blieb, würde sie sterben.
Rügen, 1920
Dorothee von Stresow stand im Rahmen des bodentiefen Balkonfensters und starrte auf die Binzer Strandpromenade hinaus. Das gestutzte Laub der Bäume, die hier den Weg säumten, warf bläuliche Schatten auf den Kies, und draußen auf dem Meer hielt ein Dampfer auf den Kopf der Seebrücke zu, wo er von einer Menschenmenge freudig erwartet wurde.
Doch Dorothee sah weder die Bäume noch den Dampfer.
Sie dachte an den geöffneten Brief, der hinter ihr auf der grünen Schreibtischunterlage lag.
Die Einladung zum Festakt. Siebzig Jahre Höhere Töchterschule in Bergen auf Rügen. Vom Schuldirektor persönlich an Sie gerichtet. Er hatte ihr damals vor ihrem Umzug nach Berlin aufmunternde Worte mitgegeben, die ihr mehr halfen als das Mitleid und Bedauern der anderen. Die Erinnerung an sein fürsorgliches Auftreten war der Grund, dass sie die Einladung überhaupt angenommen hatte.
Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge. Sie sah einen schmucklosen grau verputzten Kasten mit zwei Reihen Fenstern und Schindeldach. Das Büro des Direktors sowie das Auditorium, ein Raum für besondere Schulanlässe, waren im oberen Stockwerk untergebracht. Im Dachgeschoss darüber wohnte der Schulwächter. Die übrigen Räume wurden für den Unterricht genutzt. Über eine Steintreppe erreichte man auf der Rückseite des Gebäudes den Garten, wo auf einem Stück Rasen unter hohen Bäumen, der von einem breiten geharkten Kiesweg umrundet wurde, die Mädchen ihre Pausen verbrachten.
In ihren Gedanken hatte der Ort etwas Zauberhaftes. Zu viert saßen sie damals im Gras unter einer weit ausladenden Rotbuche, tuschelten und lachten miteinander oder lernten noch schnell ein paar Vokabeln für den Lateinunterricht.
Dorothee legte die Hände ineinander.
All das war so lange her. Inzwischen waren viele Jahre vergangen, in denen sie anfänglich häufiger und später immer weniger an ihre Kindheit auf Rügen gedacht hatte. Manche Bilder verblassten bereits, anderes wie der Schmerz über den Verlust ihrer Eltern und das geliebte Zuhause verging nie. Obwohl sie versucht hatte, ihn in den Tiefen ihrer Seele zu vergraben.
Und jetzt? War sie bereit, sich dem allen zu stellen?
Was würden die anderen Frauen über sie sagen?
Sie war damals zwölf, als sie zu ihrer Tante nach Berlin geschickt wurde. Keine der Frauen hier auf Rügen konnte ihre Entwicklung verfolgen, ihre Entscheidungen nachvollziehen, die dazu führten, dass sie heute Kriminalromane schrieb und davon lebte. Keiner wusste, dass sie heimlich eine Verlobung mit einem Mann aus den besten Kreisen eingegangen war, der sie in ihren Ambitionen zu schreiben tatkräftig unterstützt hatte und der seit mehr als zwei Jahren – bei dem Gedanken schnürte sich ihre Kehle zu – als im Krieg vermisst gemeldet worden war.
Dorothee schloss das Fenster.
Warum hatte sie eigentlich nie hierher zurückkehren wollen?
Nach dem Tod ihrer Eltern war sie nicht nur eine Waise, sondern zudem noch völlig mittellos. Ihr Vormund hatte erklärt, dass die Erlöse aus dem Verkauf von Grund und Boden und aus den Viehauktionen zur Tilgung der immensen Schulden herangezogen wurden, die der Vater angeblich angehäuft hatte und mit denen das Gut belastet war.
Etwas, das sie bis heute bezweifelte.
Es klopfte an der Tür.
Ein Page überbrachte die Nachricht, dass die Limousine, die sie zum Festakt bringen würde, soeben eingetroffen war.
Dorothee gab ihm eine Münze, und er verbeugte sich brav.
Mit einem letzten Blick in den Spiegel vergewisserte sie sich noch einmal, dass sie mit dem eng geschnittenen grünen Kostüm die richtige Wahl getroffen hatte. Es passte wie angegossen und brachte ihre schlanke Figur und ihre gerade Haltung hervorragend zur Geltung. Außerdem harmonierte der Farbton wunderbar mit ihren Augen.
Mit der Hand fuhr sie sich durch das dichte Haar, welches, nach der neuesten Mode geschnitten, in weichen Wellen ihr Gesicht umrahmte.
Nur ihr Teint erschien ihr ziemlich blass.
Was soll’s?, dachte Dorothee. Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los und zog ein wenig ungehalten die Zimmertür hinter sich zu.
Sie klemmte sich die schwarze Ledermappe mit ihrer Rede unter den Arm, während sie die gewundene Treppe zur Empfangshalle erreichte. Sie mahnte sich zur Eile, doch der lange schmale Rock des Kostüms erlaubte ihr nur kleine Schritte, daher ließ sie den Blick beim Hinuntergehen über den hohen hellen Raum schweifen. Sie bemerkte die Hoteldiener, die in weinroten Uniformen mit goldenen Gepäckwägen Inseln aus Palmen und Orchideen umrundeten; Damen in hellen Sommerkleidern hakten sich bei Herren in weißen Anzügen ein, und Kinder im Matrosenanzug hüpften ungeduldig auf und ab.
An der Rezeption fiel Dorothee ein junger Mann auf, der sich lebhaft mit dem Concierge unterhielt und der nicht so recht in dieses Bild der Sommerfrischler passen wollte. Er trug derbe Cordhosen und ein Tweedjackett. Neben ihm auf dem Boden stand eine abgewetzte braune Arzttasche. Sie wollte bereits den Blick abwenden, als er sich unvermittelt zur Seite drehte und sie sein Profil sah.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Es war Albert Badrow.
Noch bevor sie die halbe Höhe der Treppe passiert hatte und sich bemerkbar machen konnte, eilte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, zu ihr hinauf. Dorothee befürchtete schon, dass er an ihr vorbeihasten würde, ohne sie zu bemerken, deshalb trat sie ihm mit einem schnellen Schritt in den Weg.
»Hallo, Albert!«
Ihre Worte kamen etwas zu laut heraus, weil sie erregt war, und die ältere Dame mit dem Spitzenhäubchen, die gesetzten Schrittes vor ihr ging, drehte sich um und streifte sie mit einem missbilligenden Blick.
Albert blieb erstaunt stehen, aber rasch wandelte sich das Erstaunen in Zurückhaltung. Er verbeugte sich steif und sah ihr ins Gesicht. Die blauen Augen, die so einen harten Gegensatz zu seinem schwarzen Haar bildeten, musterten sie abwartend. Hatte er sie nicht erkannt?
»Dorothee, Dorothee von Stresow …«, erklärte sie rasch und rang sich ein Lächeln ab.
»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte er und blickte sie unfreundlich an.
Sie schluckte. Das war nicht die Reaktion, die sie sich erhofft hatte. »Ich … ich bin eingeladen worden. Heute halte ich eine Rede in meiner alten Schule in Bergen, du erinnerst dich vielleicht …«
Sie verstummte. Seine ablehnende Haltung brachte sie beinahe aus der Fassung. »Aber sag, was tust du hier?«
»Ich bin Tierarzt und wurde zu einem Fall gerufen. Ein kranker Hund eines Gastes. Wenn du bitte entschuldigst.« Aus einem Impuls heraus streckte sie ihre Hand vor, damit er sie ergreifen musste.
Sein Händedruck war fest, und er hielt ihre Hand einen Moment länger als üblich. Dann eilte er, ohne sich noch einmal umzudrehen, die restlichen Stufen hinauf und entschwand aus ihrem Blickfeld.
Albert war Tierarzt?
Dann musste er studiert haben.
Aber woher hatte er als Sohn des Verwalters die Mittel dazu gehabt?
Diese Frage beschäftigte sie noch, als sie den Fuß der Treppe erreichte. Erst jetzt bemerkte sie den Chauffeur, der bereits ungeduldig vor dem Eingang hin und her lief, ein Schild mit ihrem Namen in der Hand.
Es war Zeit, aufzubrechen.
Der Schulwärter hatte sich ihr angeboten, sie zum Büro des Direktors zu begleiten, was Dorothee höflich abgelehnt hatte.
Zum einen wusste sie, wo das Zimmer lag, zum anderen war sie sich nicht sicher, wie sehr sie der Moment des Wiedersehens nach so vielen Jahren aufwühlen würde. Außerdem wollte sie die Eindrücke, die sie beim Betreten der Schule empfand, ungestört auf sich wirken lassen.
Sie kam an einem Klassenzimmer vorbei, gefolgt von der Teeküche mit einem Hinweisschild an der Tür: Nach dem Verlassen bitte das Licht löschen.
Dorothee ging weiter, als plötzlich eine laute, arrogante Frauenstimme in ihr Ohr drang, die ihr sofort bekannt vorkam.
Mit dieser Stimme verknüpfte sich in ihrer Erinnerung eine Person, die sie stets ausgesprochen unsympathisch fand.
»Hören Sie, Sie wissen ganz genau, dass ich eine Ihrer besten Kundinnen bin«, erklärte die Frau eindringlich. »Ich bestelle großzügig Champagner und Wein bei Ihnen … Selbstverständlich bekommen Sie Ihr Geld, ich habe doch wohl noch immer gezahlt … Da ist es doch das Mindeste, dass Sie sich ebenso korrekt verhalten. Aber nein, Sie lassen mich hängen.«
Auf Zehenspitzen schlich Dorothee weiter und lugte neugierig durch den Türspalt ins Büro des Direktors. Sie hatte sich nicht geirrt. Das wallende rote Haar, das weit über die Schultern herabfiel, ließ keinen Irrtum zu. Vor ihr stand Margarethe von Klippholm, im Nadelstreifenanzug und Lackschuhen.
»Das interessiert mich nicht. Wenn die Ware bis morgen nicht da ist, storniere ich den Auftrag und suche mir einen anderen Lieferanten, und Sie verklage ich, Guten Tag.«
Dann knallte sie den Hörer auf die Gabel.
»So ein großer Haushalt bringt jeden Tag andere Sorgen«, hörte Dorothee den Direktor sagen.
»Sorgen, dass ich nicht lache.« Margarethe warf den Kopf zurück. »Es ist die reinste Qual. Wenn die Lieferanten dich hängen lassen, kannst du dich erschießen. Ich habe nächste Woche eine Jagdgesellschaft. Und wehe, es ist nicht alles bereit, dann ziehen sie zum Nachbargut weiter und quartieren sich dort ein. Und dann noch der Ärger mit den Bediensteten. Man muss ja schon froh sein, wenn die einen heutzutage noch grüßen.«
»Ich verstehe«, sagte der Direktor. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit dem Telefonat trotzdem behilflich sein.«
Dorothee sah, wie Margarethe von Klippholm ihr Handtäschchen zu sich heranzog. Was sie antwortete, hörte sie nicht mehr, denn sie huschte rasch davon. Größer als ihr Wunsch, den Direktor zu begrüßen, war die Abneigung, die sie bei dem Gedanken empfand, Margarethe von Klippholm gegenübertreten zu müssen. Während sie die Treppenstufen hinunterstieg, tröstete sie sich damit, dass es gewiss noch ausreichend Gelegenheit geben würde, dem Direktor für die Einladung zu danken.
Ein wenig später begegnete sie ihren alten Schulfreundinnen von damals – Lotte, Wilma und Christine; es gab eine große Begrüßungsrunde mit Umarmungen und Küssen. Dann schlenderten die vier Frauen zusammen durch den Garten, der sich an das Schulgebäude anschloss. Dorothee streifte mit einem Seitenblick ihre Begleiterinnen.
Lotte Vollmer und Wilma Teßmar gingen einige Schritte vor ihr. Lotte war groß und knochig, hatte ein langes Gesicht und struppige Haare. Sie arbeitete als Redakteurin bei der Ostsee-Zeitung. Wilma, klein und rundlich, bewegte sich mit wiegenden Schritten in ihrem schwarzen Reformkleid. Auf dem Kopf trug sie einen glockenförmigen Strohhut mit Schleife. Sie war als Hebamme tätig. Offenbar waren beide Frauen über die Jahre in Verbindung geblieben, denn sie sprachen über alltägliche Dinge auf der Insel, wie es nur Leute tun konnten, die gemeinsame Belange teilten.
»Du bist sehr schweigsam«, sagte Christine Looks, die neben Dorothee ging.
»Oh, entschuldige bitte. Ich war in Gedanken. Das war unhöflich von mir.«
Ihr Blick glitt irritiert über die weiße gestärkte Haube, die mit einer Klemme im Haar ihrer Schulfreundin befestigt war, darunter ein müdes Gesicht, das einmal sehr hübsch gewesen war. In ihrer Erinnerung glich die Freundin aus Kindertagen einer Elfe mit langem blondem Haar. Sie war intelligent und lebhaft gewesen. Wenn sie Christine nun betrachtete, konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie mit der Tochter des Apothekers in einer Klasse gewesen war, so alt schien sie ihr.
Dorothee riss sich aus ihren Gedanken und deutete auf das mit Perlen besetzte Bustier der Tracht. »Das ist hübsch. Sag, wie ist es dir ergangen?«
»Nun, ich habe einen Fischer geheiratet«, erwiderte Christine.
Sie lachte auf und winkte ab. »Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denkst. Mein Gott, wie kann man nur so ein Leben für sich wählen? Mit den Männern in aller Herrgottsfrühe raus, anschließend die Tiere füttern, das Feld bestellen, Kinder und Haus sauber halten. Und immer in Sorge, ob mein Heiner wieder heil nach Hause kommt … und das uns die Aufkäufer einen ordentlichen Preis für den Fang zahlen.«
Dorothee sah die zierliche Frau an. Kurz fragte sie sich, wie wohl die Reaktion des Apothekers ausgefallen war, als ihm seine Tochter mitteilte, dass sie einen Fischer heiraten würde. Doch sie hatte auch den liebevollen Ton bemerkt, mit dem Christine den Namen ihres Mannes aussprach.
»Es klingt nach einem harten Leben«, sagte Dorothee.
Christine fixierte einen Punkt in der Ferne, als würde sie dort die Antwort finden. »Ich liebe meinen Mann … aber manchmal, in letzter Zeit … Er bleibt lange draußen … Schau mich an, die Schönheit ist dahin …« Sie brach ab. »… doch ich würde mit niemandem tauschen wollen.«
Ihre Blicke trafen sich, und die beiden Freundinnen von damals schwiegen einen Moment.
»Mein Gott«, sagte Christine dann, »ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles mitteile. Es tut mir leid, ich habe noch nie …«
Dorothee legte ihr die Hand auf den Unterarm und bedachte sie mit einem Lächeln. »Alles gut, Christine. Ich habe gefragt, und du hast geantwortet. Sagen die Fischer nicht, was auf dem Boot gesprochen wird, bleibt auf dem Boot. Wir halten das genauso.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Dorothee, wie die anderen beiden stehen blieben. »Die Hexe kommt«, zischte Wilma, und dann erkannte Dorothee auch Margarethe von Klippholm, die zielsicher auf sie zuhielt.
»Allerliebst, das Kleeblatt, immer noch ein Herz und eine Seele?«, fragte Margarethe und zog eine Augenbraue hoch.
»Christine, was trägst du da für ein albernes Kostüm, willst du zum Fasching?«
Jeder der vier fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.
»Du findest dich wahrscheinlich großartig darin. Eine nette kleine Fischersfrau in einer Mönchguter Tracht. Aber wen willst du täuschen? Jeder hier weiß, dass du dich unter Wert verkauft hast.«
»Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du sowieso nur jeden beleidigst?«, warf Lotte Vollmer erbost ein.
»Recherchiere lieber ein wenig genauer, bevor du deine Schmierereien in die Zeitung setzt. Es war nicht mein Liebhaber, der mich verlassen hat, ich habe diesen Dreckskerl hinausgeworfen.«
Lotte stemmte die Hände in die Seiten. »Glaubst du, jemand hier interessiert sich für deine Affären?«
Margarethe verzog höhnisch den Mund. »Tu doch nicht so scheinheilig. Kaum bin ich um die Ecke, zerreißt ihr euch das Maul über mich.«
Dorothee fühlte, wie sie wütend wurde. »Ich denke, du irrst dich. Zumindest kann ich das für mich sagen. Ich bin hierhergekommen, um die Insel und meine Freundinnen wiederzusehen und bin an schmutziger Wäsche nicht interessiert.«
Margarethe taxierte sie, sagte aber nichts.
Durch den Garten kam ihnen eine resolute Gestalt entgegengeeilt. »Frau von Klippholm, die Mitglieder des Stiftungsrates erwarten Sie zu einer kurzen Zusammenkunft in meinem Büro. Wenn ich Sie bitten darf?« Der Direktor machte eine einladende Geste in Richtung Schulgebäude.
Margarethe drehte sich auf dem Absatz um und ging.
Der Direktor blickte ihr einen Moment lang nach, als wollte er sich vergewissern, ob sie seiner Anweisung auch Folge leistete, und wandte sich dann wieder der Gruppe zu. »Guten Tag, die Damen. Wie schön, Sie nach so langer Zeit gesund und munter wiederzusehen.«
Er trat einen Schritt vor. »Frau von Stresow, auf ein Wort, bitte.«
Dorothee ließ sich dankbar vom Direktor entführen.
»Wie schön, dass Sie es einrichten konnten!«, redete der Direktor weiter.
»Ehrlich gesagt, habe ich lange gezögert …«, erwiderte Dorothee.
Der Direktor hob leicht den Kopf und musterte sie durch seine runden Brillengläser. »Sie dürfen an das alles nicht mehr denken. Ich weiß, das ist viel leichter gesagt als getan. Aber es liegt Jahre zurück, und heute erinnert sich kaum noch einer daran. Das Leben geht weiter, selbst auf einer Insel wie Rügen.« Er schmunzelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Was wirklich zählt, ist die Arbeit, die Sie heute leisten, nicht wahr? Übrigens, ich kann es kaum erwarten, Ihren neuen Kriminalroman zu lesen.« Er senkte die Stimme und raunte verschwörerisch. »Ihr Roman ›Mörderisches Lächeln‹ hat mich absolut begeistert.«
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor.«
Der korpulente Mann warf einen abschätzenden Blick auf die große Uhr über ihren Köpfen. »In zehn Minuten geht es los. Sind Sie bereit?«
Dorothee nickte zustimmend.
»Gut, dann sehen wir uns gleich im Auditorium.«
Der Direktor redete mit kräftiger Stimme. Er sprach von der Geschichte der Höheren Töchterschule; erwähnte wortreich Errungenschaften, die noch weit in die neue Zeit hineinwirken würden; er umriss des Weiteren die Sonderstellung der Mädchenschule auf der Insel, schloss seinen Vortrag mit einem klassischen Zitat und verwies auf die Großzügigkeit der Spendergemeinschaft und die Mitwirkung des Stifterrates bei der Planung und Durchführung des Festaktes.
Anschließend bat er Dorothee auf die Bühne und überließ ihr mit einem Lächeln den Platz hinter dem Rednerpult.
Sie spürte einen Anflug von Lampenfieber, als sie in die erwartungsvollen Gesichter blickte. Die Rede hatte sie fein säuberlich auf zwei Blätter Briefpapier aus ihrer Hotelsuite notiert.
Dorothee räusperte sich, bevor sie dem Direktor und den Persönlichkeiten herzlich für die Einladung dankte und ihnen erklärte, wie sehr sie sich freue, heute hier zu sein. Dann verlas sie ihre Rede.
Nach dem verdienten Applaus versammelte sich schnell eine Menschentraube um sie, und geduldig signierte sie die mitgebrachten Bücher und beantwortete Fragen. Erst als der Direktor zur Eröffnung des Büfetts in den Speisesaal bat, lichteten sich die Reihen.
Dorothee schraubte die Kappe auf den Füllfederhalter.
Deutlich verspürte sie den Wunsch nach einer Zigarette und betrat an diesem Tag zum zweiten Mal den Garten. Sie wusste, dass auf dem Schulgelände Rauchen untersagt war, aber sie war keine Schülerin mehr, daher öffnete sie ihre Handtasche, zog eine Zigarette aus der Schachtel und schob sie zwischen die Lippen. Dann begann sie, nach den Streichhölzern zu suchen, bis sie sich erinnerte, dass sie die Schachtel gestern herausgenommen hatte, um die Kerze in ihrem Hotelzimmer anzuzünden. Sie wollte die Zigarette soeben wieder aus dem Mund nehmen, als neben ihr ein Feuerzeug klickte. Dorothee schob die Zigarette über die Flamme und inhalierte den Rauch. Als sie den Kopf drehte, erblickte sie Margarethe. »Danke«, sagte sie zögerlich.
Margarethe ließ das Feuerzeug zuschnappen.
»Gute Rede. Ist interessant, zu erfahren, wie jemand mit Schreiben sein Geld verdient. Kann man davon leben?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, entgegnete Dorothee reserviert.
Zu ihrer Überraschung lenkte Margarethe ein. »Stimmt, das geht mich nichts an.«
Eine Pause entstand, in der die beiden Frauen sich auf die Bank unter den Bohnenranken setzten und rauchten, dann ließ Dorothee den Rest ihrer Zigarette fallen und trat sie aus. Sie war gerade im Begriff aufzustehen, als Margarethe sie am Unterarm festhielt.
»Ich denke, ich habe Informationen, die dich interessieren könnten. Von damals … über den Brand. So viel lässt sich sagen, es war kein Unfall. Dafür waren deine Eltern zu wichtige Figuren in der Partie.«
»Bitte? Was redest du da? Was für eine Partie?«
»Komm morgen Vormittag zu mir in die Jagdhütte. Dann reden wir.« Margarethe reichte ihr ein Kärtchen. »Die Adresse. Ist leicht zu finden. Aber du musst mir versprechen, allein zu kommen.«
Plötzlich betrat eine Gruppe Mädchen laut lachend den Garten.
Margarethe nickte ihr wortlos zu, bevor sie ging.
Dorothee fuhr gleich nach dem Frühstück los und tuckerte eine der vielen Alleenstraßen entlang.
Die kryptische Andeutung Margarethe von Klippholms hatte sie kaum schlafen lassen, und sie hatte sich dabei ertappt, wie sie morgens um halb sechs ruhelos den Strand entlanglief und grübelte.
Nun zeigte ihre Uhr am Handgelenk halb zehn, ihr blieb also noch eine halbe Stunde bis zur Verabredung in der Jagdhütte. Der Concierge im Hotel hatte ihr eine Straßenkarte von Rügen verkauft, die aufgefaltet neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Durch das geöffnete Fenster strömte der würzige Geruch von Erde und Meer herein. Die Landschaft öffnete sich, und Sonnenlicht überflutete die gesamte Szenerie.
Dorothee bremste und lenkte das Automobil mit dem letzten Schwung an den Straßenrand. Sie stieg aus und umrundete den Kühler.
Was für eine phantastische Aussicht!
Sie beschattete mit der Hand die Augen und blickte über die in gleißendes Licht getauchten Felder hinab bis zum Greifswalder Bodden, dessen Wasserfläche in der Ferne wie getriebenes Gold schimmerte. Rauchschwalben flogen über ihrem Kopf wagemutige Manöver, Klatschmohn, Kornblumen und Kamille blühten auf dem Randstreifen, und der blaue Himmel, der sich wie eine gewaltige Kuppel wölbte, erschien ihr unfassbar hoch.
Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich habe vergessen, wie schön es hier ist, dachte sie. Kurz befürchtete sie, dass mit dem Gedanken gleichzeitig Bitterkeit in ihr aufsteigen könnte. Doch zu ihrer Überraschung war da nur Freude über das nach so vielen Jahren Wiedergefundene. Erleichtert atmete sie aus.
Gleichzeitig beglückwünschte sie sich zu der Idee, mit dem Auto von Berlin nach Rügen gefahren zu sein. Gewiss wäre die Anreise mit der Bahn leichter und bequemer gewesen. Sie hätte im Waggon sitzen bleiben können, wenn der Zug von Stralsund im Hafen von der Lok abgekoppelt und über Schienen auf die Eisenbahnfähre geschoben worden wäre. Ein Automobil jedoch bot ihr die Möglichkeit, sich auf Rügen frei und unabhängig zu bewegen.
Ein flüchtiger Blick auf die Uhr mahnte sie zum Aufbruch. Es konnte nicht mehr weit sein, trotzdem wollte sie sich nicht verspäten. Sie startete den Motor und folgte dem Verlauf der Straße, bis sie zu einer Kreuzung gelangte, wo sie rechts abbog.
Wie aus dem Nichts kam Dorothee eine Bemerkung ihres Vaters in den Sinn: Für ein gutes Geschäft würde Frieder von Klippholm seine Großmutter verkaufen. Von jeher begegneten die Gutsbesitzer auf Rügen den Klippholms mit Argwohn. Soweit Dorothee sich erinnern konnte, war Margarethes Vater einer der ersten Unternehmer auf der Insel gewesen. Er besaß nicht nur Gerbereien in Bergen, sondern unterhielt auch Fabriken auf dem Festland, in denen das Leder weiterverarbeitet wurde, vor allem für die Armee. Kein Wunder, dass sogar Reichskanzler Otto von Bismarck regelmäßig zu Gast bei den Klippholms gewesen war.
Bald erreichte sie das Dorf Lancken mit den niedrigen Katen, über dem eine alte Backsteinkirche thronte.
Aus der Zeitung hatte sie erfahren, dass Frieder von Klippholm kurz vor dem Krieg an einem Herzinfarkt verstorben war. Da war Margarethes Mutter bereits einige Jahre tot. Wenn sie sich recht entsann, hatte Margarethe noch zwei ältere Geschwister, einen Bruder und eine Schwester.
Hinter der Kurve tauchte ein Fuhrwerk vor ihr auf. Dorothee verringerte das Tempo. Auf einem Berg Frühkartoffeln hockten zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, die sie interessiert musterten. Das Mädchen winkte ihr zu, und Dorothee betätigte die Hupe, als sie den Lastkarren, der von zwei Kühen gezogen wurde, überholte.
Unmittelbar hinter dem Dorf wurde der Zustand der Straße schlechter, der trockene, harte Lehmboden war hier mit Löchern und tiefen Spurrinnen übersät, die von schweren, mit Metall beschlagenen Holzrädern stammten.
Der Wagen kippelte bedrohlich, und Dorothee umfasste das Lenkrad fester, als sie links in eine Kastanienallee einbog.
Wenig später mündete der Weg in eine verlassene, unbefestigte Freifläche vor einem schmiedeeisernen Tor, das von dichtem Gebüsch und Wald begrenzt wurde.
Dorothee hielt an, öffnete die Tür und stieg aus.