Das Haus der Winde - Sylvia Frank - E-Book
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Das Haus der Winde E-Book

Sylvia Frank

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Beschreibung

Eine Liebe auf Hiddensee.

Juni 1934: Die dänische Schauspielerin Asta Nielsen will den Sommer auf Hiddensee verbringen. Eine schmerzliche Trennung liegt hinter ihr, und sie ist in Sorge um ihren Freund Joachim Ringelnatz, dem die Nazis Auftrittsverbot erteilt haben. Doch der Zauber der Insel Hiddensee wirkt, und Asta verbringt unbeschwerte Sommertage voller Leichtigkeit. Als sie bei einem Bootsausflug in Seenot gerät, kommt Kai, einer der Fischer, ihr zu Hilfe. Die beiden verlieben sich ineinander, doch eines Tages bestellen hohe Nazi-Funktionäre Asta nach Berlin ein und machen ihr ein Angebot. Sie fällt eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändern wird – und ihre Liebe zu Kai ...

Eine tragische Liebesgeschichte und ein unvergesslicher Sommer mit Asta Nielsen – erzählt nach wahren Begebenheiten.

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Über das Buch

Juni 1934: Asta Nielsen, der dänische Filmstar, verbringt Sommertage voller Leichtigkeit auf Hiddensee, sie badet im Meer und trinkt Mokka. Bei einem Bootsausflug gerät sie in Seenot, und Kai, einer der Fischer, kommt ihr zu Hilfe. Er ist es auch, bei dem Asta Trost findet, als sie von der schweren Erkrankung ihres Freundes Joachim Ringelnatz erfährt. Eines Tages treffen Nazi-Funktionäre auf der Insel ein und machen Asta, der berühmten Schauspielerin, ein Angebot. Sie fällt eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändern wird – und ihre Liebe zu Kai.

Über Sylvia Frank

Sylvia Frank ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellerehepaares, das auf der Insel Rügen lebt.

Sylvia Meierewert, geboren 1968, ist habilitierte Betriebswirtschaftlerin. Sie studierte darüber hinaus Biologie, Psychologie und Bildende Kunst. Heute ist sie freiberuflich als Schriftstellerin und Malerin tätig.

Frank Meierewert ist 1967 geboren. Er ist promovierter Ethnologe und seit 2008 als freier Autor tätig.

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Sylvia Frank

Das Haus der Winde

Asta Nielsen und ein Sommer auf Hiddensee

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Anmerkungen

Danksagung

Quellennachweis

Impressum

Für

Sylvias Großmutter Lucie und ihren Großvater Kurt, mit denen sie an den Montagabenden die Sendung »Willi Schwabes Rumpelkammer« und alte Filme angeschaut hat.

Franks Großmutter Emma und seinen Großvater Heinrich, der am Ausgang der Ufa-Filmstudios in Babelsberg wartete, um die Autogramme der Stars zu sammeln.

Prolog

Kopenhagen, 1893

Asta tanzte.

Selbstvergessen warf sie die Arme in die Luft, streckte den Rücken und hielt einen Moment lang die Pose. Sie war überzeugt, dass ihr herzkranker Vater, der auf dem alten Sofa lag, das Klingeln der Schellen an ihren Knöcheln und Handgelenken ebenso hören konnte wie sie, auch wenn sie diese nur aus buntem Papier gebastelt hatte.

Sie lief einige schnelle Schritte vorwärts, und der Sand auf den Dielen stob zur Seite, verwandelte sich in ihren Augen in eine vor Hitze flimmernde Wüste. Das karge, halbdunkle Zimmer nahm auf einmal die Gestalt eines Beduinenzeltes an, das in einer Oase im Schatten hoher Palmen stand.

Und ihr Vater mit seinen dunklen Haaren und dem gewaltigen Schnurrbart wurde zu einem geheimnisvollen Kalifen mit goldenem Turban, der von ihrer Darbietung verzaubert war und ihr aufmunternd zulächelte. Genauso, wie es der Sultan in ihrem Buch »Märchen aus 1001 Nacht« bei der berühmten Tänzerin tat.

Seine Aufmerksamkeit spornte sie weiter an. Asta wirbelte herum, das bunte Tuch, das sie sich ins lange Haar geknüpft hatte, flatterte. Sie drehte sich mit weit ausgestreckten Armen um sich selbst, und plötzlich löste sich etwas Unbekanntes in ihr, floss ungehindert durch ihre Muskeln und Adern und ließ sie tanzen, immer weiter sich drehen …

***

Asta sah den Schlag nicht kommen. Deshalb unternahm sie auch nicht den Versuch, sich zu ducken oder den Arm nach oben zu reißen, um ihr Gesicht zu schützen.

Die Ohrfeige traf sie mit voller Wucht und riss den Kopf herum. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen, alles schien auf eine seltsame Art hinter einem Dunstschleier von ihr abzurücken, und im Ohr klingelte es. Plötzlich spürte sie den Geschmack von Blut auf ihren Lippen.

Dabei hätte ihr klar sein müssen, dass die Mutter so reagieren würde. Sie packte Asta an der linken Hand und riss dabei die Papierschellen in Fetzen. Mit eisigen Augen fixierte sie ihre Tochter.

»Wo sind die Säcke?« Ihre Stimme klang hart. »Zum Teufel mit dir! Wo hast du sie versteckt?«

Aus Astas Gesicht war jede Farbe gewichen. Haltlos streifte ihr Blick über die löchrigen Mehlsäcke, die es für die Mutter noch zu stopfen galt, und die weiße Staubschicht auf den Dielen, zwischen denen es von Kakerlaken nur so wimmelte. Kurz dachte sie an Johanne, ihre viereinhalb Jahre ältere Schwester, die seit Kurzem von morgens bis abends im Lager einer Litzenfabrik arbeitete und nie da war, wenn man sie brauchte.

Sie nahm aus dem Augenwinkel den Vater wahr, ausgemergelt und bleich wie ein Gespenst, der sich mühsam und nach Atem ringend aufzurichten versuchte.

»Ida, lass doch die Kleine …«, murmelte er, bevor er kraftlos mit einem tiefen Seufzer ins Polster zurücksank.

In Astas Kopf herrschte so ein Durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Die Mutter hielt plötzlich die Reitpeitsche in der Hand, eine rotgelb geflochtene Gerte, deren Spitze ausgefranst war, und drosch damit schnalzend auf die Tischplatte.

»Ich hab den Vorarbeiter der Mühle getroffen. Er war furchtbar wütend.« Wieder schnitt die Peitsche surrend durch die Luft. »Er hat mich angeschrien, mir gedroht, dass wir den Auftrag verlieren, wenn wir nicht pünktlich abliefern. Willst du, dass wir auf der Straße landen? Zum letzten Mal, Asta, wo sind die verdammten Mehlsäcke?«

Hilflos und ungläubig musterte sie die Mutter. Sie konnte nicht fassen, wie weit sie bereit war zu gehen.

»In der Waschküche«, sagte Asta tonlos und trat zur Seite.

Ihre Brust schmerzte beim Atmen, als hätte sie glühende Kohlen inhaliert. Ihr Blut rauschte in den Ohren, und sie fragte sich, wieso sie es getan hatte. Sie wusste, dass die Zeiten für die Familie bitter und entbehrungsreich waren. Trotzdem verstand sie das Aufheben nicht, das die Mutter um die paar gestopften Mehlsäcke machte. Es hätte doch völlig ausgereicht, sie morgen zur Mühle zu bringen.

Trotz und Scham kämpften in ihr, als sie mit ansah, wie die Mutter an ihr vorbeiging. Eigentlich hatte sie das Versteck klug gewählt. Man badete nur an den Samstagen und auch nicht an jedem Wochenende.

Die gestärkte Schürze ihrer Mutter raschelte gefährlich bei jedem Schritt. »Wehe dir, du hast mich angelogen …«

Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand.

»Im Waschzuber, unter den Laken.«

Als Nächstes vernahm Asta, wie die Peitsche in die Ecke flog und die feuchten Laken nacheinander auf den Boden klatschten.

Sie wusste, was jetzt kam. Während die Mutter die Mehlsäcke demonstrativ ausschüttelte und aufeinander stapelte, würde sie ihr mit finsterem Gesicht erklären, wie ungerecht das Leben sei.

Ja, ihr Leben ist ungerecht, dachte Asta bitter. Und was ist mit meinem Leben und dem von Johanne?

Sie wusste, nachher würde die Mutter zu ihr kommen und von ihr verlangen, für die Situation, in der sie lebten, doch mehr Verständnis aufzubringen. Doch wehe, sie gab Widerworte oder zögerte auch nur mit ihrer Zustimmung zu lange. Dann würde die Mutter wieder ausrasten, mit dem Schicksal hadern, dem Unfall des Vaters in der Mühle ihres Bruders. Schließlich würde sie sich beklagen, dass keiner in der Familie daran dachte, sie zu unterstützen.

Asta drehte sich um, zog stumm das grobe Wolltuch vom Haken und riss die Wohnungstür auf. Im fahlen Winterlicht wirkte das Treppenhaus noch schäbiger als sonst. Dort, wo noch Bruchstücke von Putz wie Inseln an den Wänden hafteten, schimmerten trübe die verblassten Reste alter Ölfarbe. Drumherum reihten sich die groben Steine der Ziegelmauer, von grüngelben Flechten überzogen, als wollte ungesunder Schorf rohe Wunden heilen. Der Anblick der bleichen, abgetretenen, von steter Last gebogenen Treppenstufen erinnerte Asta daran, wie viele Menschen schon hier im Hinterhaus gelebt hatten, und nicht selten fragte sie sich, was aus ihnen wohl geworden war.

Sie legte die Stola um und rannte die Treppe hinunter.

Im Parterre empfing sie eisige Kälte, die der Ostwind durch die Spalten der Haustür drückte, in der seit Monaten die Glasscheibe fehlte und die mit zwei Holzbrettern provisorisch zugenagelt war.

Der Innenhof war nicht groß, vielmehr eine Verbreiterung des Durchgangs, der von der Straße durch das Vorderhaus hier hinein führte. Es war ein quadratischer Lichtschacht, in dem ein zerbeulter grauer Aschekasten stand.

Als Asta den Hof betrat, roch es verbrannt, denn aus dem Metallkübel stieg beißender Qualm auf. Wahrscheinlich hatte wieder einer der Bewohner glühende Asche hineingeschüttet und somit den restlichen Inhalt in Brand gesetzt.

Überhaupt war Asche auf dem Hof allgegenwärtig. Die kargen Schneereste vor den Mülltonnen und nahe dem Kellergeländer hatten sich rostrot verfärbt. Auch die Schmelzwasserlachen waren von Ascherändern gesäumt, und selbst auf der Rinde des alten Birnbaumes, der seine entlaubten knorrigen Äste anklagend dem blassen, gelbgrauen Winterhimmel entgegenstreckte, zeichneten sich rötliche Aschemale ab.

Asta durchschritt zügig den Innenhof. Neben ihr stöberte eine gelbe Katze im Schmutz. Als sie das Mädchen bemerkte, fauchte sie und funkelte Asta aus dem gelben Auge, das sie noch besaß, böse an.

Kurz bevor sie den Durchgang erreichte, sah sie im ersten Stock des Vorderhauses, wie mit einer flüchtigen Bewegung die Gardine hinter einem Fenster zur Seite geschoben wurde. Sie wusste, wer dort wohnte. Vor einigen Jahren noch hatte die Frau öfter auf sie und Johanne aufgepasst, wenn der Vater zur Arbeit gegangen war und die Mutter die Wäsche fremder Menschen gewaschen hatte.

Asta schenkte Frau Andersen, die ihr gutmütig zunickte, ein mattes Lächeln, bevor sie in das Halbdunkel des Torbogens eintauchte.

Zitternd, die Arme eng um die Brust geschlungen, blieb sie stehen und blickte auf die Straße hinaus. Es war ein sinnloser Versuch gewesen, die Säcke zu verstecken. Dabei hatte sie sich nur ein paar Stunden gestohlen, in denen sie zur wunderschönen Scheherazade werden konnte.

***

Tränen stiegen ihr in die Augen. Vorsichtig tastete sie mit den Fingerspitzen über die Wange, die vom Schlag angeschwollen war. Sie schluchzte. Struppig und abgerissen hockte sie hier im Dreck, den Demütigungen ausgesetzt. Warum gehörte sie nicht zu so achtbaren Familien wie die Mädchen, die ihr manchmal im Park begegneten? Warum war es ihr nicht vergönnt, so aufzuwachsen? Geborgen, wohlbehütet und umsorgt wie eine kleine Prinzessin. Dementsprechend selbstbewusst traten die Mädchen auch auf. Wer geliebt wird, lernt schnell, auch sich selbst zu lieben, dachte Asta bitter.

Sie wusste, dass sie nie zu diesen Mädchen gehören würde. Dafür waren die Unterschiede zwischen ihnen zu offensichtlich, ihre eigenen Möglichkeiten begrenzt. Wenn sie wenigstens vorzeigbar gewesen wäre, vielleicht, aber mit den zerschlissenen Kleidern und den Holzschuhen … Da nützten ihr auch die schönen, großen braunen Augen nichts. Längst hatte sie sich angewöhnt, ihr Verlangen nach Zugehörigkeit zu dieser Mädchenwelt zu ignorieren, und sie spürte, wie ihr beharrlicher Starrsinn ihr dabei half, allmählich keinen Wert mehr darauf zu legen. Auch wenn es sie schmerzte, einsehen zu müssen, dass ihr Schicksal, ihre Zukunft, wohl immer mit einem Dasein in der Mietskaserne verknüpft sein würde.

Diese Aussicht war ihr inzwischen vertraut, ebenso wie das Gefühl, hier in der Dunkelheit auszuharren und das Leben der anderen Menschen wie in einer Parallelwelt zwischen den beiden Pfeilern des Torbogens am Ende des Durchgangs zu betrachten.

Asta spuckte angewidert aus und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Doch was konnte sie tun? Abhauen?

Sie war doch erst zwölf, und wo zum Teufel sollte sie hin?

Unerwartet begann es zu schneien. Ein Vorhang aus weißen Flocken, der sich geräuschlos über die Stadt legte und die grauen Narben zudeckte.

Müde lehnte sie sich an die kalte Mauer. Sie spürte, dass sie auch heute nicht die Kraft finden würde, eine Entscheidung zu treffen.

Plötzlich rollte eine schwarze Droschke in ihr Blickfeld, blieb mitten im Torbogen stehen. Neugierig reckte Asta den Kopf. So ein beeindruckendes Gefährt hatte sie hier im Viertel noch nie gesehen.

Die Tür im Fond öffnete sich, und ein junger Mann in einem dunklen Mantel mit Pelzkragen stieg aus. Er war braungebrannt, zog zum Schutz vor dem Schnee den Kopf zwischen die Schultern und schlug hastig den Kragen hoch.

Der Kutscher löste einen beachtlichen Schrankkoffer von der Gepäckablage und stellte ihn auf den Gehsteig. Danach reichte er dem Fahrgast eine braune Reisetasche, lupfte zum Abschied seinen Zylinder und stieg zurück auf den Kutschbock. Nach einem lauten Schnalzen rollte das Gefährt davon.

Unschlüssig stand der junge Mann zwischen den Gepäckstücken und sah sich abschätzend um.

Asta löste sich von der Mauer und ging auf ihn zu. Seitdem er die Droschke verlassen hatte, kam er ihr irgendwie bekannt vor.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie schüchtern.

»Ja, gerne. Würdest du für mich die Reisetasche tragen? Sie ist nicht schwer. Ich nehme den Koffer.«

Er lächelte und reichte Asta die Tasche. Nebeneinander liefen sie durch den Torbogen. Verstohlen musterte sie den Koffer, der genietet, an den Ecken verstärkt und mit bunten Aufklebern übersät war. Einige trugen Aufschriften von bekannten Städten, bei anderen nahm sie an, dass es sich um die Bezeichnungen von Schiffen handelte. Sie buchstabierte die Namen still vor sich hin.

»Wir müssen hier hinein«, sagte der Mann und deutete mit dem Kinn auf den Eingang zum Vorderhaus. Asta stieß die Tür mit der Schuhspitze auf und blockierte sie mit ihrem Körper, bis er mit dem gewaltigen Koffer an ihr vorüber war. Als sie ihm folgte, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass er im ersten Stock vor einer Wohnungstür stehen geblieben war und läutete. Erschrocken blickte sie auf die große Tasche in ihren Armen. Jetzt wusste sie auch, warum der Mann ihr so bekannt vorgekommen war. Am liebsten hätte sie die Reisetasche auf den Stufen abgestellt und wäre davongerannt.

Als sich die schweren Schritte der Tür näherten, wandte sie sich halb ab, so dass sie vom Körper des Mannes und dem Gepäck verdeckt wurde.

»Sören?«, rief Frau Andersen überrascht und umarmte ihren Sohn. »Junge, dass du schon da bist!«

»Der Kapitän hat ein paar Kohlen mehr aufgelegt. Wollte wohl auch schnell nach Hause«, erwiderte er lachend und tastete nach den Koffergriffen.

»Das ist ja toll. Komm rein.« Sie tat einen Schritt zur Seite, und ihr Sohn verschwand im Flur. Dabei fiel ihr Blick auf Asta, die jetzt ohne Deckung mitten im Treppenhaus vor ihr stand.

»Hallo Asta.« Frau Andersen kam auf sie zu, ihre blauen Augen unter den dichten Augenbrauen betrachteten sie liebevoll.

»Wie geht es dir?«, fragte sie leise, und Asta bekam plötzlich einen Kloß im Hals. Ihr wurden die Knie weich, und eine Mischung aus Zuneigung und Furcht erfasste sie, es war ein Gefühl, das neu für sie war. Gleichzeitig spürte sie, dass sie kurz davor stand, sich bereitwillig diesem Gefühl hinzugeben und sich in die Arme der Frau zu werfen. Doch zu guter Letzt konnte sie sich auf ihren Argwohn verlassen. Das hier war nicht ihre Familie. Das hier war das Vorderhaus.

Asta räusperte sich, als wollte sie auf die Frage eingehen, trat dann aber nur einen schnellen Schritt zurück und hielt der Frau die Reisetasche entgegen. »Ich habe nur Ihrem Sohn beim Tragen geholfen.«

»Ich verstehe.« Frau Andersen lächelte noch immer, und es wirkte nicht falsch und einstudiert, wie manchmal bei Astas Mutter. Nur eine Spur trauriger.

Aber Asta hatte sich im Griff und verzog keine Miene mehr.

»Warte bitte hier«, sagte Frau Andersen und folgte ihrem Sohn in die Wohnung, nur um kurz darauf wieder im Türrahmen zu erscheinen.

»Danke, dass du Sören geholfen hast«, sagte sie und nahm ihr die Tasche ab. Zu ihrem Erstaunen hielt sie plötzlich ein schmales Kuvert in der Hand.

»Das hier sind zwei Theaterkarten für die heutige Abendvorstellung. Wie du siehst, ist unser Junge schon da, und es gibt sicher viel zu erzählen.« Sie lächelte. »Du und Johanne, ihr könntet doch für uns dorthin gehen.«

Ungläubig betrachtete Asta die silberne Prägung des Königlichen Theaters von Kopenhagen auf dem Papier. Sie hatte keine Ahnung, wie es war, ein Theater zu besuchen.

»Zuerst müsst ihr im Foyer die Eintrittskarten vorzeigen«, hörte sie Frau Andersen sagen, »danach begebt ihr euch auf die Plätze, die auf den Billetts angegeben sind.«

Astas Blick wechselte zwischen dem Kuvert und der Frau hin und her. Schließlich bedankte sie sich mit einem kurzen Nicken bei ihr.

»Gern geschehen, Asta. Und morgen erzählst du mir alles. Abgemacht?«

Nachdem Frau Andersen die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, blieb Asta noch einen Moment davor stehen, öffnete den Umschlag und zog behutsam die beiden Eintrittskarten heraus. Sie waren aus lindgrünem Papier, rochen noch ein wenig nach Druckerschwärze und waren für die erste Reihe im zweiten Rang bestimmt.

***

Asta und Johanne nahmen die Pferdebahn, um ins Zentrum von Kopenhagen zu gelangen. Es dunkelte schon, als sie ausstiegen. Der blasse glasige Schein der Gaslaternen lag auf dem Schnee, und aus den kleinen Läden am Boulevard erklang beständig der dünne, schrille Ton der Türglocken.

Bis zum Königlichen Theater am Kongens Nytorv war es nicht mehr weit. Sie mussten nur noch den Platz mit der Statue von König Christian überqueren.

Asta wich einer Pfütze aus, streng darauf bedacht, dass die frisch geputzten Lackschuhe, die vorn an den Zehen ein wenig drückten, keine Flecken bekamen. Denn sie und Johanne hatten viel Mühe darauf verwendet, die blauen Baumwollkleider sorgfältig zu bügeln und sich zu frisieren, erfüllt von der Vorfreude auf Henrik Ibsens »Frau Inger auf Östraat«.

Ihr Atem stieg in kleinen weißen Wölkchen auf, aber Asta spürte die Kälte kaum. Sie war viel zu aufgeregt. Trotz der vorgerückten Stunde waren die Straßen belebt. Unzählige Leute begegneten ihnen, manche blieben vor den Auslagen stehen, andere trafen sich zufällig, sprachen kurz miteinander, bevor jeder in seine Richtung weiterging.

Vor dem Theater herrschte bereits dichtes Gedränge. Pferdekutschen warteten in langer Reihe auf dem Kopfsteinpflaster, bis sie vor dem Eingang vorfahren konnten.

Asta blieb stehen und staunte mit offenem Mund.

Soeben verließ eine modisch gekleidete Dame ihre Droschke. Sie war eingehüllt in eine weiße Pelzrobe, die bis hinab zu den Knöcheln reichte. Wenn sie elegant auf dem Trittbrett ein Bein ausstellte, zeigte sich darunter ein Seidenkleid, das im Abendlicht schimmerte und ihren Körper verheißungsvoll umspielte. Asta sah, wie diese Frau den ihr dargebotenen Arm eines eleganten Begleiters nahm, dabei lächelnd den Kopf zurücklegte und die Treppe zum Portal hinauf schritt, als wäre sie eine Göttin, die nun in ihr angestammtes Reich zurückkehrte.

Während sie ihre Augen nicht von der Frau abwenden konnte, nahm Johanne ihren Arm. »Asta, wir müssen jetzt hinein«, sagte sie und zog sie ungeduldig hinter sich her.

Ein Mann in Livree öffnete ihnen die Tür.

Erst als sie eine weit geschwungene Marmortreppe bis kurz unters Dach hinaufgestiegen waren und sich auf ihren Plätzen im zweiten Rang befanden, wagte Asta wieder zu atmen. Sie beugte sich vor, krallte sich dabei an der Brüstung fest und riskierte einen Blick in den Zuschauerraum.

Das Theater war gut gefüllt, ringsum erspähte sie erwartungsvolle Gesichter. Es war für sie berauschend, in das Stimmengewirr unten im Parkett hineinzulauschen. Die Menschen zu sehen, die sich begrüßten, miteinander plauderten, um nach dem dritten Gong würdig auf den roten Samtstühlen Platz zu nehmen.

Ihr Blick wanderte über die rotgoldenen Stofftapeten zur Kuppel hinauf, von der majestätisch ein Kristallkronleuchter hing, dessen Licht in diesem Moment erlosch. Der Vorhang hob sich. Gaslichter flammten auf, und Frau Inger trat vors Publikum. Applaus brandete auf.

Begeistert verfolgte Asta die Aufführung. Johanne reichte ihr ein Opernglas, und sie vergaß, es ihr zurückzugeben, so gebannt war sie von jeder Regung im Gesicht der Akteurin.

»Gefällt es dir?«, raunte Johanne.

Asta fehlten die Worte, um zu beschreiben, was in ihr vorging. Sie suchte im Dunkeln die Hand ihrer Schwester und umschloss sie mit festem Griff. Wie schön und traurig waren die großen, schmerzvollen Gesten, die Hingabe der Frau auf der Bühne, deren ergreifende Darbietung sie ganz mit einem tiefen Mitleid erfüllte. Ohne dass sie es bemerkte, rannen ihr die Tränen über die Wangen.

Als der Vorhang nach dem letzten Akt fiel und die Leute sich erhoben, um ihre Kleidung zu richten, und sich anschickten, das Theater zu verlassen, blieb Asta wie betäubt auf ihrem Platz sitzen.

Nun wusste sie es. Sie wusste, dass sie jetzt ein Ziel hatte.

Diese Erkenntnis löste in ihr eine solche Erregung aus, dass sie am ganzen Leib zu zittern begann und ihr schwindelig wurde. Sie nahm kaum wahr, wie Johanne neben ihr aufstand und sie still von der Seite betrachtete.

»Asta«, sagte sie unvermittelt. »Mehr gibt es heute nicht.«

Wie im Traum drehte sie sich zu ihrer Schwester um.

»Ich werde Schauspielerin, Johanne«, sagte Asta mit fester Stimme, und sie wunderte sich, dass ihre Worte nicht schwärmerisch klangen, sondern bestimmt, so wie die einer Erwachsenen, die eine unumstößliche Wahrheit formuliert.

»Ich weiß«, erwiderte Johanne ruhig und berührte sie sanft an der Schulter. »Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich bin davon überzeugt, dass alle besonderen Eigenschaften, die für diesen Beruf notwendig sind, in dir schlummern.«

Zuerst glaubte Asta, ihre Schwester wollte sie necken. Aber in ihrem Gesicht entdeckte sie keine Spur von Ironie. Eher Achtung, Nähe und Zuneigung.

»Ich meine das ernst«, sagte Asta nachdrücklich.

»Ich auch, Schwesterherz«, erwiderte Johanne.

1

Berlin, 1934

Die Lilien dufteten stark und süß. Asta Nielsen trat mit einem Arm voller Blumen, die an den Stängeln wippten, hinter den Vorhang. Es sah aus, als schwebte ihr Gesicht über den zarten Blütenköpfen.

Ihre zahllosen Verehrer kannten ihre Vorliebe für weiße Lilien und kauften sie bei den Blumenhändlern am Kurfürstendamm rund um das Theater.

Sie ließ sich von Gudrun, ihrer Ankleidedame, in die Garderobe begleiten, dicht gefolgt von einem Pulk Presseleuten, die sich hinter ihr im Korridor eng aneinander drängten und ihr Fragen stellten.

»Frau Nielsen, was sind Ihre Pläne nach der Sommerpause …«, rief einer aus dem Hintergrund, ein anderer fragte: »Wann gibt es einen neuen Film?«

Um sie herum explodierten grelle Lichtblitze, und die Glasscherben der abgebrannten Birnen bedeckten bald den Boden und knirschten unter den Sohlen der Männer.

Erschöpft betrat Asta den halbdunklen Raum, hielt inne und vernahm erleichtert, wie Gudrun hinter ihnen energisch die Tür schloss. Es dauerte eine Weile, dann entfernten sich hastig die Schritte, und der Lärm verebbte.

Die Garderobiere nahm ihr die Blumen ab, gab sie in eine Vase und stellte sie auf den Tisch in der Mitte des Raums zu den anderen Sträußen.

Asta wartete geduldig, bis Gudrun wieder neben sie trat und geschickt begann, mit einer liebevollen, geradezu mühelos wirkenden Beharrlichkeit die Klammern in ihrem Haar zu lösen und das Hütchen von ihrem Kopf zu nehmen. Ohne Eile drapierte sie es in eine Schachtel und kam zurück, um am Rücken den Reißverschluss ihres Bühnenkleides zu öffnen. Keine der beiden Frauen verlor dabei ein Wort. Asta mochte die stumme, eingespielte Choreographie des Entkleidens. Sie gab ihr die Möglichkeit, wieder ein Gespür für die Wirklichkeit zu bekommen, die Rolle, die sie auf der Bühne spielte, wie eine fremde Haut abzustreifen.

Der Stoff raschelte, als Asta aus dem Kleid stieg und einen Schritt zur Seite tat. Dabei fiel ihr Blick auf den großen Ankleidespiegel, und das, was sie sah, gefiel ihr. Sie war zweiundfünfzig, gerade mal zweiundfünfzig, und immer noch war sie schlank und beinahe unnatürlich gesund. Ihre Schenkel straff und fest, und die Haut sah frisch und rosig aus. Sie fühlte sich noch genauso gut wie damals in Dänemark, als sie mit einundzwanzig Jahren im Dagmar-Theater in Kopenhagen debütiert hatte.

Gudrun hielt ihr den Bademantel auf, und Asta schlüpfte hinein. Anschließend setzte sie sich an den Schminktisch, der von einer Reihe kleiner Lämpchen erhellt wurde, und zog das Kästchen mit der Abschminkwatte zu sich heran.

Es klopfte.

Sie hob fragend den Kopf. »Gudrun, könnten Sie bitte nachsehen?«

Die Ankleidedame ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Dann drehte sie sich zu ihr um, und Asta sah die Ratlosigkeit auf ihrem Gesicht. »Frau Nielsen, ich …«

Aber in diesem Augenblick wurde die Tür bereits aufgeschoben, und ein Mann betrat die Garderobe. Er trug einen dunklen Mantel über seinem Anzug, den Hut hielt er an der Krempe in der linken Hand. Über einem exakt gebundenen Krawattenknoten erkannte Asta sein energisches Kinn, darüber ein sinnlicher Mund und grüne Augen, die jetzt aufmerksam auf sie gerichtet waren. Das immer noch volle dunkle Haar, von ersten Silberfäden durchzogen, hatte er elegant zurückgekämmt.

»Hallo Asjenka.«

Asta hielt den Atem an, ihr Herz pochte plötzlich so laut, dass sie glaubte, er könnte es hören. Vor ihr stand Grigori Chmara.

Sie hatte ihn vor zehn Jahren auf einer Gesellschaft ihres Freundes Georg Brandes getroffen. Die russischen Emigranten standen damals hoch im Kurs in Berlin. Überall öffneten russische Lokale, Balalaikaklänge erfüllten die Luft, und bärtige Kosaken geleiteten die Gäste, die in Scharen in die Restaurants strömten, an die Tische, Patronengurte um die Hüften geschlungen.

In ihrer Erinnerung hockte Grischa auf der breiten Lehne eines alten, wuchtigen Sofas. Die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, spielte er auf einer perlmutteingelegten Gitarre. Er sah gut aus, war überaus charmant, sogar amüsant, wenn er nicht mit einer den Russen eigenen Verbissenheit über Dostojewski philosophierte; und was noch wichtiger war, er war durch und durch ein Theatermensch, genauso wie sie getrieben von dem Verlangen nach Kunst und Schönheit. Unverhofft war er damals ihr Lebens- und Filmpartner geworden.

Dann hatte er sie verlassen.

»Du sagst gar nichts«, bemerkte Grigori.

Asta atmete langsam aus. »Was soll ich denn sagen? Nach fast einem Jahr«, fragte sie betont gleichgültig, während sich ihre Finger fest um ein Watteknäuel schlossen. Noch immer setzte ihr Grigoris Abschied mehr zu, als sie zuzugeben bereit war. Sie hatte die Erklärungen in seinem Brief nur widerwillig hingenommen, was sollte sie auch anderes tun.

»Na ja, zum Beispiel könntest du mich fragen, wie es mir geht.

Oder du sagst mir, wie gut ich aussehe … oder dass du mich nie wiedersehen willst.«

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Ich habe nie über ein Wiedersehen nachgedacht«, entgegnete Asta bestimmt und griff nach dem Topf mit der Vaseline. »Das ist ein Unterschied.«

Sie fuhr mit den Fingern in die Masse hinein und verteilte diese auf ihrem Gesicht.

Grigori grinste. »Na wenigstens kennst du mich noch. Wie schön.«

Asta wischte sich die Hände ab. Die Vaseline musste kurz einwirken.

»Im Gegensatz zu dir vergesse ich nicht so schnell jemanden.« Sie schob den Stuhl mit den Kniekehlen zurück und erhob sich. »Willst du etwas trinken?«

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern schritt zum Tisch, nahm die Flasche aus dem Sektkübel und goss sich selbst Champagner ein. »Ich jedenfalls trinke jetzt was.«

Sie nippte am Glas und ging zurück an ihren Platz. »Gudrun?«

Die Ankleidedame kam hinter einem Paravent hervor.

»Ja, Frau Nielsen.«

»Das ist alles für heute. Sie können gehen.«

»Vielen Dank, Frau Nielsen.« Sie nahm das Kleid und die Hutschachtel und verließ mit einem angedeuteten Knicks den Raum.

Asta begann sich mit der Watte die Vaseline von der Stirn zu wischen. »Wo warst du?«, fragte sie ihn.

»In Paris.«

Sie erinnerte sich, dass er dorthin hatte gehen wollen, weil er der Meinung war, dass es seiner Karriere gut tun würde.

Sie legte den verschmierten Wattebausch zur Seite und nahm einen neuen. »Seit wann bist du zurück?«

»Seit ein paar Tagen.«

Sie hielt in der Bewegung inne und musterte ihn. »Für länger?«

Grigori zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich. »Das kommt darauf an …«

Ihre Blicke trafen sich wieder im Spiegel. »Warum wolltest du mich sehen?«, fragte Asta.

Grigori legte den Hut auf die Tischplatte. »Dafür gibt es zwei Gründe. Ich wollte dich spielen sehen.«

»Und?«

»Du warst großartig. Das Stück ist dir wie auf den Leib geschrieben.«

»Findest du?« Asta fuhr mit der Watte um die Augen herum.

»Und was ist der andere Grund?«

Grigori zögerte. »Der andere Grund ist … Wir beide sollten morgen Abend zusammen essen gehen.«

Asta setzte die Hand ab. »Essen gehen?«

Sie sah im Spiegel, wie sich Grigori erhob, und spürte, wie er hinter sie trat und ihr die Hände auf die Schultern legte.

Vorsichtig begann er sie zu massieren.

Sie schloss die Augen und legte den Kopf leicht zurück, als lausche sie Musik. Wie vertraut ihr seine Hände nach all der Zeit immer noch waren.

Plötzlich hämmerte es energisch an der Tür. »Grigori!«, ertönte die verärgerte Stimme einer Frau mit unverkennbar russischem Akzent, begleitet von weiterem Klopfen. »Verdammt, wie lange dauert das denn noch?«

Astas Oberkörper schnellte hoch, während Grigori einen langen Schritt zurück tat.

»Raus mit dir!«, zischte Asta und ballte die Fäuste.

Er zögerte und stand jetzt still da. »Asta, ich …«

Sie nahm das Glas Champagner, drehte sich um und schüttete es ihm ins Gesicht. »Raus hier! Sofort.«

Er starrte sie an, während er ein Taschentuch aus der Manteltasche nestelte und sich das Gesicht trocken tupfte. Dann wandte er sich wortlos ab und nahm seinen Hut.

»Bist du dieses Jahr wieder auf Hiddensee?«, fragte er unvermittelt, als er schon die Tür erreicht hatte.

Asta funkelte ihn an. »Wag es ja nicht, dort aufzukreuzen!«

Abwehrend hob er die Hände. »Nein. Keine Sorge.« Er setzte den Hut auf. »Ich dachte nur an den letzten Sommer, den wir dort …«

Er brach ab und legte die Hand auf die Klinke.

Plötzlich war alles wieder da. Damals war Asta überzeugt gewesen, dass die letzten zehn Jahre mit Grigori die bedeutendsten und erfülltesten ihres Lebens waren, aber als sie genauer zurückschaute, stellte sie mit Verblüffung fest, dass sie einen Teil dieser »besten Jahre« damit zugebracht hatte, unglücklich zu sein. Hatte sie ihr Lebensglück für die Schauspielerei geopfert? Alles änderte sich so plötzlich. Neue Regisseure kamen, wollten nur mit ihr, dem Filmstar, drehen. Während ihr Stern immer heller strahlte, war seiner verloschen. Andauernd kam es deshalb zum Streit, was am Ende zum Zerwürfnis führte.

»Auf Wiedersehn, Asjenka,« sagte er leise und ging.

2

Stralsund, 1934

Es war die Farbe des Meeres, die ihr verriet, wie weit sie noch von Hiddensee entfernt war. In Stralsund, wo die mächtigen Speicherhäuser aus rotem Backstein lange Schatten auf das Hafenbecken warfen, erschien Asta das Wasser unergründlich dunkel, als hätte jemand unbemerkt schwarze Tusche hinzugefügt.

Jetzt stand sie auf dem Vorderdeck des Dampfers »Swanti« und schlang die blaue Strickjacke fester um ihren Körper.

Es war noch früh an diesem dritten Juni, und eine kühle Morgenbrise strich über die erwachenden Kais. Sie wirbelte Reste einer Getreidelieferung empor, und Astas Blick folgte den goldenen Spelzen und Hülsen, die ungehindert über das vom Nachttau feuchte Straßenpflaster wehten, bis zwei klobige Holzkisten den Weg versperrten, die noch an Deck verladen werden sollten.

Sie zog den Hut tiefer in die Stirn, so dass er die Augen und einen Teil der Nase beschattete.

Johanne wird wohl in diesem Moment innen im umbauten Heck des Dampfers an einem Tisch sitzen, aus dem Fenster sehen und an einer Tasse Tee nippen, dachte Asta und ließ die Perlen der langen Kette durch ihre Finger gleiten. Kurz überlegte sie, ihrer Schwester Gesellschaft zu leisten, doch wieder verspürte sie den dringlichen Wunsch, die Zeit der Überfahrt allein zu verbringen, abseits der anderen Passagiere, die respektvoll zu ihr herübersahen oder einander dezent auf die Anwesenheit der berühmten Filmdiva aufmerksam machten.

Sie dachte an den Brief, den sie zwei Tage vor ihrer Abreise erhalten hatte und der jetzt in ihrem Koffer lag. Sie hatte sich vorgenommen, ihm keine weitere Beachtung zu schenken.

Der lärmende Knall einer Fehlzündung riss sie aus ihren Gedanken. Asta drehte sich um und sah, wie sich auf dem Pier mit stotterndem Motor ein Lastwagen dem Schiff näherte und neben dem Fallreep stehen blieb.

Interessiert trat sie näher an die Reling. Dabei warf sie einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass inzwischen nicht nur all ihr Gepäck verladen, sondern auch die Abfahrtszeit bereits um eine Viertelstunde überschritten war.

Jetzt öffnete sich mit Schwung die Beifahrertür, und ein Mann kletterte aus dem Fahrerhaus. Er war mittelgroß und hatte ausladende Schultern. Schnell und effizient, aber in den Bewegungen sparsam, schickte er sich an, das Fahrzeug zu entladen. Der Mann war mit einer schwarzen Wollhose bekleidet, in der ein hell gestreiftes Oberhemd steckte, über das er eine dunkle Weste gezogen hatte. Auf dem Kopf trug er eine blaue Schirmmütze.

Später konnte Asta sich nicht erinnern, dass sie zum Fallreep vorgegangen war. Es geschah einfach, sie stand neben der Aussparung in der Bordwand und blickte zum Lastwagen hinüber, wo der Mann jetzt eine Seitenwand der Ladefläche löste, während der Fahrer die Abdeckung des Motors öffnete. Sie sah, wie der Mann mit der Weste zwei gewaltige chromglänzende Metallkanister nacheinander zu sich heranzog. Seine Hände umschlossen mit festem Griff die Henkel, anschließend trug er die schweren Behälter mit sicherem Schritt an Bord des Dampfers.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie.

Plötzlich verspürte Asta den Wunsch, sich von ihren Gedanken abzulenken, indem sie den Fremden mit der Schirmmütze ansprach.

»Haben Sie Schwierigkeiten?«, fragte sie mit einem schnellen Seitenblick auf den Fahrer.

»Wie man es nimmt, und Sie?«, erwiderte er im Vorbeigehen, dabei sah er sich nach einem geeigneten Lagerplatz auf dem Zwischendeck um.

»Nein, keine.« Sie schob ihren Hut aus der Stirn. »Ich bin auf dem Weg nach Hiddensee.«

»Dann haben Sie den richtigen Dampfer erwischt«, sagte er und wuchtete die Behältnisse auf die Holzkisten. Jetzt erkannte sie, dass es Farbe war.

»Das ist keine gute Idee«, gab sie zu bedenken. »In den Kisten befindet sich mein gesamtes Geschirr und Porzellan.«

Wortlos hob er die Kanister herunter und stellte sie seitlich daneben ab.

»Sie bleiben länger?«, fragte er währenddessen.

»Ja, ich habe ein Haus auf der Insel. Ich verbringe den Sommer dort. Der Pastor wird mich in Vitte abholen.«

Er nickte stumm. Sie bemerkte den festen Blick seiner Augen, die von ungewöhnlich hellem Blau waren in dem braun gebrannten Gesicht.

»Sind Sie so bekannt hier? Man hat den Dampfer für Sie warten lassen«, bemerkte sie lächelnd.

»Man kennt sich«, antwortete er, und sein Tonfall klang ruhig und leicht gelangweilt, als sei er derartiges Entgegenkommen gewöhnt. Dann drehte er sich um und schickte sich an, wieder an Land zu gehen.

»Fahren Sie nicht mit?«, fragte Asta erstaunt.

»Nein, ich muss weiter.«

Sie spürte etwas Ähnliches wie Enttäuschung. »Und Ihre Farbe?«

»Bekommt der Kollwitz, Willi. Der Pastor kennt ihn.«

Er hatte das Ende des Fallreeps fast erreicht. Da beugte sie sich leicht vor und hob zögernd die Hand. »Ich bin Asta Nielsen.«

»Kai Henning«, antwortete er unbeeindruckt über die Schulter zurück und öffnete die Beifahrertür.

3

Hiddensee, 1934

Ganz in der Nähe ertönte jetzt das Signalhorn. Über Astas Kopf begannen Möwen zu kreisen, bereit, den Dampfer bei seiner Fahrt hinaus aufs Meer zu begleiten.

Zwei Hafenarbeiter lösten geschickt die Tauenden von den Pollern, während das monotone Stampfen der Kolben einsetzte. Asta spürte das ungeduldige Zittern, das den Schiffsrumpf durchlief, als die »Swanti« sich stetig von der Hafenmauer entfernte. Sie ging die wenigen Schritte zurück zum Bug und schaute über die Reling hinweg auf den Horizont, wo der milchig blaue Himmel und das Meer zu verschmelzen schienen.

Der Dampfer ließ die schützende Mole hinter sich und steuerte in den Strelasund hinaus, einem zirka zwei Kilometer breiten Meeresarm, der die Insel Rügen von Stralsund und dem Festland trennte.

Asta setzte sich auf eine schmale Bank, vor der ein Tisch mit Schrauben auf den Planken des Decks befestigt war. Sie zog den Hut vom Kopf, legte ihn neben sich und fuhr mit den Fingern durch das kurz geschnittene, dichte schwarze Haar, das sich nun in der salzigen Luft zu kräuseln begann.

Ein Zeesenboot kam ihnen backbord mit geblähten roten Segeln entgegen. Der Kahn lag tief im Wasser, und schwer schnitt der Kiel durch die himmelblau schimmernden Wellen.

Die Fischer waren vermutlich in der letzten Nacht stundenlang in der Meeresströmung gedriftet, das sackförmige Netz dicht über den Grund hinter sich herziehend. Nun dösten die Männer erschöpft und lehnten mit ihren Rücken an den Masten, während der Steuermann Kurs auf den Heimathafen hielt.

Astas Blick folgte dem Zeesenboot. Unzählige glitzernde Sonnensprenkel tanzten hinter dem Heck auf einer sanft sich wiegenden, silbrig leuchtenden Spur.

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Nielsen?«

Sie unterbrach ihre Beobachtungen und wandte sich um.

»Ja, bitte?«

Vor ihr stand ein Stewart im weißen Jackett und deutete eine leichte Verbeugung an. Die blonden Haare flatterten im Wind. »Ihre Schwester schickt mich. Sie möchte wissen, ob es Ihnen hier draußen gut geht oder ob Sie etwas brauchen«, erkundigte er sich pflichtbewusst, wobei er sich bemühte, sie nicht anzustarren.

Ein Schmunzeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Ja, es geht mir gut. Sagen Sie ihr das.«

Der Stewart wirkte unschlüssig. »Darf ich Ihnen vielleicht etwas bringen, einen Grog oder …« Sein Blick streifte die Lehne der Sitzbank, auf der sie saß. »Eine Decke?«

Kurz überlegte sie. »Dann lieber einen Grog.«

Der Stewart nickte beflissen. »Kommt sofort, gnädige Frau.«

Asta lehnte sich zurück und widmete sich wieder der Landschaft um sie herum. Soeben passierten sie die kleine Insel Heuwiese, auf der zahlreiche Kühe weideten. Einige der schwarzweißen Tiere standen in einer schlammigen Furt bis zur Brust im Wasser und glotzen teilnahmslos zum Schiff herüber.

Abermals klappte die Tür. Der Stewart kam zurück und stellte routiniert ein silbernes Tablett mit einem dampfenden Glas neben ihr auf dem Tisch ab.

»Danke«, sagte sie höflich und wartete, bis der Mann gegangen war. Dann umfasste sie das hohe Glas mit ihren schlanken Händen, erhob sich und stellte sich an die Reling. Als sie es an die Lippen führte, roch sie das würzige Aroma des Rums, der sich nach einigen Schlucken mit wohltuender Wärme in ihrem Magen ausbreitete. Ein Kribbeln durchströmte sie. Was für eine Freude, an einem solchen Morgen am Leben zu sein. Sie kam sich vor wie ein aufsässiges Kind, das beschlossen hatte, all das Belastende einfach über Bord zu werfen. Sie dachte an die zahlreichen Freunde, die am Anleger auf sie warten, sie wie immer vorfreudig empfangen würden. Noch einmal blickte sie an sich herab und überprüfte die sorgfältig ausgewählte Garderobe. Das duftige weiße Ensemble mit der langen Perlenkette wurde von der grobgestrickten dunkelblauen Jacke effektvoll kontrastiert. Es war elegant und trotzdem sehr bequem.

Zufrieden trank sie den Grog und kniff dabei die Augen zusammen. Neugierig reckte sie den Kopf.

Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Erneut wandelte sich vor ihren Augen die Farbe der Ostsee, diesmal schimmerte die Wasserfläche in einem wunderschönen, einladenden Türkis.

Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden und sich eine erwartungsvolle Unruhe in ihr ausbreitete.

Der Dampfer erreichte soeben das südliche Ende von Hiddensee, wo sich ein filigraner Sandhaken weit hinaus ins Meer erstreckte, der fortwährend vom Wirken der Stürme umgestaltet wurde.

Es war kein fester Boden. Eher eine überdimensionierte Sandbank, teilweise vom Flachwasser überspült, durch das die Strahlen der Sonne mühelos den Meeresboden erreichten und nun von ihm reflektiert wurden, was dem Meer diese einzigartige lichtdurchwebte Farbigkeit verlieh.

Sie merkte, wie sie sich plötzlich leicht fühlte, der Zauber des Moments in ihr zu wirken begann.

Jetzt dauert es nicht mehr lange, dachte sie erfreut, bis ich mein Haus der Winde, mein »Karusel« wiedersehe. Sicher sehnt es sich schon nach seinen Sommergästen.

Mit einem letzten Blick auf das Spiegelbild im Bullauge der Kabinentür vergewisserte sie sich der Makellosigkeit ihrer Erscheinung.

4

Sobald die Küstenlinie von Hiddensee als flacher gelbgrüner Streifen sichtbar wurde, füllte sich wie auf ein unsichtbares Zeichen hin das Deck der »Swanti« mit Passagieren, die alle erwartungsvoll zum Ufer hinüberschauten.

Auch Johanne hatte ihren Platz hinter dem Fenster verlassen und stand jetzt neben Asta, als der Hafen in Sicht kam. »Unfassbar! Schau doch nur, wie voll die Landungsbrücke ist.«

Beim Anblick der wartenden Menschenmenge fiel Asta wieder ein, wie bedeutend die tagtägliche Ankunft des Dampfers für die kleine Insel war. Ein ausgesprochen wichtiges gesellschaftliches Ereignis, zu dem Einheimische wie Feriengäste gleichermaßen am Hafen erschienen. Hoteldiener und Privatvermieter fanden sich ein, um Neuankömmlinge abzuholen und ihr Gepäck mit Schub- oder Eselskarren in die Unterkunft zu transportieren. Die Gäste, darunter so mancher Prominente, kamen, weil das Eintreffen des Schiffes die Tagesroutine wohltuend unterbrach und die Landungsbrücke sich für kurze Zeit in einen Ort verwandelte, an dem es was zu sehen gab und an dem man selbst gesehen wurde.

Die »Swanti« ging mit wühlenden Schrauben am Bollwerk längsseits, ihr stählerner Rumpf rieb an den Holzpfählen, bevor er zur Ruhe kam. Zwei Matrosen griffen nach dem Fallreep und schoben es mitten hinein in das aufgeregte Durcheinander.

»Frau Nielsen! Hier sind wir!«, erschallte quer über den Anleger die kräftige Stimme von Pastor Gustavs.