So long, Marianne – Leonard Cohen und seine große Liebe - Sylvia Frank - E-Book
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So long, Marianne – Leonard Cohen und seine große Liebe E-Book

Sylvia Frank

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Beschreibung

So long, Marianne 

Hydra, 1960: Der junge Leonard will ein berühmter Schriftsteller werden. Dann lernt er Marianne und ihren Mann kennen und wird Zeuge, wie ihre Ehe zerbricht. Leonard kümmert sich um die tief verletzte Marianne, sie verlieben sich ineinander. Nachdem sein Roman jedoch von der Kritik zerrissen wird, fällt Leonard in eine Depression. Jetzt ist es an Marianne, ihn zu retten: Sie schenkt ihm eine Gitarre und ermutigt Leonard dazu, Songs zu schreiben. Bald feiert er erste Erfolge. Doch kann Marianne ein Leben an der Seite eines Weltstars führen? 

Ein berührender Roman über die unvergleichliche Liebe zwischen Marianne Ihlen und Leonard Cohen und die Geschichte hinter einem seiner berühmtesten Songs

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Über das Buch

Frühjahr 1960: Auf der griechischen Insel Hydra, wo das Licht wärmer scheint und sich die ersten Künstler ansiedeln, begegnen sich der junge Leonard und die Norwegerin Marianne, die mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn Axel auf der Insel lebt. Leonard ist von der blonden Frau mit der besonderen Ausstrahlung fasziniert. Als Marianne erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, kommt es zu einer schmerzhaften Trennung. In dieser Zeit ist Leonard für sie da, und sie verlieben sich ineinander. Leonards Traum ist es, ein großer Schriftsteller zu werden. Marianne inspiriert ihn. Sie erleben eine unbeschwerte Zeit des Glücks. Doch als Leonards Roman von der Kritik zerrissen wird, stürzt er in tiefe Verzweiflung. Nur Marianne glaubt weiterhin an die Kraft seiner Worte. Sie schenkt ihm eine Gitarre und ermutigt Leonard dazu, Songs zu schreiben. Bald feiert er erste Erfolge, dann gibt er Konzerte in Amerika und Europa. Doch wird die Liebe zwischen Marianne und Leonard in der immer größer werdenden Distanz bestehen?

Über Sylvia Frank

Sylvia Frank ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellerehepaares, das auf der Insel Rügen lebt. Sylvia Vandermeer, geboren 1968, ist habilitierte Betriebswirtschaftlerin. Sie studierte darüber hinaus Biologie, Psychologie und Bildende Kunst. Heute ist sie freiberuflich als Schriftstellerin und Malerin tätig. Frank Meierewert, geboren 1967, ist promovierter Ethnologe und seit 2016 als freier Autor tätig.

Bei Rütten & Loening ist ihr Roman »Das Haus der Winde« über die große Schauspielerin Asta Nielsen erschienen, im Aufbau Taschenbuch liegt ihr Roman »Gala und Dalí – Die Unzertrennlichen« vor.

Mehr Informationen unter https://sylviafrank.myportfolio.com/home 

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Sylvia Frank

So long, Marianne – Leonard Cohen und seine große Liebe

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog — Oslo, 2016

Kapitel 1 — Oslo, 1957

Kapitel 2

Kapitel 3 — London, 1959

Kapitel 4 — Athen, 1960

Kapitel 5 — Hydra, 1960

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 — Larkollen, 1961

Kapitel 20 — Montreal, 1961

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23 — Montreal, 1962

Kapitel 24 — Hydra, 1962

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 — Hydra, 1964

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32 — Hydra, 1965

Kapitel 33 — Hydra, 1965

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37 — New York, 1966

Kapitel 38

Kapitel 39 — New York, 1967

Kapitel 40 — Hydra, Herbst 1967

Kapitel 41 — New York, Frühjahr 1969

Kapitel 42 — Irgendwo, Herbst 1969

Kapitel 43 — Cardiff/Isle of Wight 1970

Kapitel 44 — Hydra, 1971

Kapitel 45 — Hydra, 1972

Kapitel 46 — Los Angeles, 1994

Kapitel 47 — Fredericton, 2008

Kapitel 48 — Larkollen, 2008

1. Juli 2008, Oslo

Epilog

Anmerkungen

Danksagung

Impressum

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Prolog

Oslo, 2016

Es war Ende Juli.

Bienen summten in den Blumenrabatten vor dem Fenster.

Marianne drehte leicht den Kopf.

Sogar jetzt ließ sie sich noch durch den Anblick des Himmels ablenken. Hoch und von hellem Blau zeigte er sich heute über Oslo, durchwirkt von weißen Wolkenbändern.

Das Licht ist anders hier, ging es ihr durch den Kopf. Wie oft hatte sie das nach ihrer Rückkehr festgestellt. Es war glasiger und eine Spur strahlender, die Schatten warfen scharfe Kanten auf dem hellen Untergrund.

Auf Hydra war das Licht wärmer, von einer gelben, schwebenden Textur, als hätte die Sonne Goldpartikel in die Luft eingewebt. Es erstaunte sie immer noch. Alles dort schien zu fließen, alles war grenzenlos. Jedes Wesen war für sich auf der Suche, und doch schienen am Ende alle etwas Höherem zu gehorchen.

Sie schloss die Augen, spürte, wie ihr Herz heftiger anfing zu schlagen.

Hydra.

Die kleine griechische Insel mit ihrer hufeisenförmigen Bucht, die Hänge mit gedrungenen weißen Häusern bedeckt, wie die Sitze in einem Amphitheater, von denen auch sie eines bewohnte …

Dort war sie zu Hause.

Viele Jahre.

Bis sich plötzlich alles änderte. Das lieb gewonnene Inseldasein zerrann ihr zwischen den Fingern, nichts war mehr wie zuvor und als sie auf die Fähre stieg, die sie zum Festland brachte, kam sie sich wie eine Versagerin vor.

Sie öffnete die Augen, versuchte die Beine zu bewegen.

Die Zudecke war schwer, aber nicht unerträglich schwer.

Sie hörte undeutliches Gemurmel draußen auf dem Flur, die Tür zu ihrem Zimmer war nur angelehnt. Regelmäßig kam eine Krankenschwester und sah nach ihr.

Sie hielt inne, ihr Blick verfing sich in einer der Fugen zwischen den Holzlamellen an der Zimmerdecke.

Sie dachte an Leonard, an seine Augen, die Hände und die dunklen Haare, die tiefen Furchen um seinen Mund. Sie dachte an ihren Sohn und an ihren Mann. Plötzlich taten sie ihr so unendlich leid.

Sie schluckte.

Für einen Moment stellte sie sich vor, dass die farblose Flüssigkeit, die aus dem Plastikbeutel über ihrem Kopf in ihre Vene tropfte, ein unerwartetes Wunder bewirkte. Dass der Krebs, der in ihren Adern wohnte und ihr Blut verseuchte, vernichtet wurde und dass sie dieses Bett, nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, verlassen konnte, ihre Tasche nahm, um wieder in ihr kleines Haus in Larkollen zurückzukehren.

Sie würde weiterleben …

Aber es lag längst nicht mehr in ihrer Hand, dies zu entscheiden.

Schon vor einiger Zeit stellten die Ärzte fest, dass sich ihre Blutzellen im Knochenmark veränderten und sich unkontrolliert vermehrten, wobei sie die gesunden Blutzellen verdrängten.

Einen Augenblick lang kam es ihr trotzdem nicht richtig vor; denn es fühlte sich an, als hätte sie ein weiteres Mal versagt.

Sie stieß den Atem aus und schüttelte unmerklich den Kopf.

Auch wenn solche Grübelei zu einem Zeitpunkt und an einem Ort wie diesem zutiefst menschlich waren, wollte sie die wenige Zeit, die ihr noch blieb, mit Wichtigerem verbringen.

Und sie wusste auch schon womit.

Marianne drückte den roten Knopf und wartete, bis der vertraute Anblick der Krankenschwester im Türrahmen erschien.

***

Jan Christian Mollestad stand hinter dem bodentiefen Fenster in seinem Haus in Oslo und schaute hinunter auf die nachterleuchtete Stadt.

Leise drang der Verkehrslärm durch die Scheibe, als er das Weinglas an die Lippen führte.

Wie er erwartet hatte, entpuppte sich der Tag als einer der mühsameren. Doch er war sorgsam vorgegangen, denn er wusste, wie wichtig es war, die Geldgeber von einem neuen Projekt zu überzeugen, bevor sie in einen Film investierten.

Auf dem Couchtisch neben der Weinflasche schnarrte das Mobiltelefon, gab den Erhalt einer SMS bekannt.

Mollestad blickte müde über die Schulter und überlegte, ob er die Mitteilung ignorieren sollte. Doch nach kurzem Zögern entschied er sich dagegen. An einem Tag wie heute konnte er es sich nicht leisten, launenhaft oder leichtfertig zu sein. Möglicherweise gab es noch eine letzte Frage zu dem Projekt, die es zu beantworten galt.

Er nahm das Handy und erstarrte.

Die Nachricht kam von seiner langjährigen Freundin Marianne. Bestürzt las er die Worte auf dem grauen Display:

Ich bin im Krankenhaus, ich sterbe. Bitte kümmere Dich um den kleinen Axel und um Jan, meinen Mann. Kannst Du es bitte auch Leonard sagen? Und bring, wenn Du mich besuchst, eine Kamera mit. Ich habe das Gefühl, ich möchte noch etwas sagen.

Kapitel 1

Oslo, 1957

Die Sonne stand trotz vorgerückter Stunde noch hoch am Himmel.

Marianne atmete hörbar aus und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Sie liebte diese Tage in der Mitte des Jahres, jeder von ihnen schien an Mittsommer eine Ewigkeit anzudauern und reduzierte die Dunkelheit der Nacht auf ein kurzes grauschwarzes Intermezzo.

Ihr Blick wanderte zu Axel, der mit hochgekrempelten Hemdsärmeln neben ihr saß. Seine schlanken Hände hielten lässig das Lenkrad, als wollte er austesten, wie viel Kraftaufwand vonnöten war, um den Wagen auf der Fahrbahn zu halten.

Sie betrachtete sein Profil, die hohen Wangenknochen, die leicht schräg stehenden Augen, die schlanke Nase und den energischen Zug um den Mund. Immer wenn sie ihn länger anschaute, kam sie zu dem Schluss, dass er etwas von Dschingis Khan, dem berühmten Mongolenfürsten, hatte.

Axel wirkte, als ob ihn irgendetwas belustigte.

Offenbar war er heute bester Laune.

Ein Zufall hatte sie zusammengeführt.

Axel würde behaupten, dass es Schicksal war.

Sie kam mit zwei Freundinnen aus einem der Osloer Vororte und war auf dem Weg zurück in die Stadt, als plötzlich vier junge Männer, die sich an den Armen untergehakt hatten, lärmend mitten auf der Fahrbahn standen. Annegret, Mariannes Freundin, die den Wagen lenkte, musste stark bremsen, um das Auto anzuhalten. Die jungen Männer umrundeten mit zunehmendem Interesse den Wagen, lachten und machten anzügliche Bemerkungen, bis Axel sein braun gebranntes Gesicht zum Seitenfenster hineinsteckte und Marianne aus dunklen Augen musterte.

»Wer bist du?«

»Mein Name ist Marianne.«

Er nickte. »Du musst unbedingt heute Abend ins Theatercafé kommen.«

Zuerst zögerte sie, dann entschied sie, hinzugehen, obwohl sie damit gegen den Willen des Vaters handelte, der es lieber sah, wenn sie die Abende zu Hause verbrachte.

Der Wagen ließ das Zentrum von Oslo hinter sich, und sie fuhren jetzt ein Stück am Meer entlang.

Mariannes Blick verlor sich in der Weite.

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie von ihrem Platz aus mit leuchtenden Augen Axels Geschichte lauschte. Er hatte eine Zeit bei den Tuaregs, einem geheimnisvollen Wüstenvolk in der Sahara, zugebracht, und er verstand es ausgezeichnet, ihr mit seinen Worten das Wesen der Menschen dort und ihre spirituelle Verbundenheit mit der Wüste nahezubringen. Er erklärte ihr, dass der westlichen Zivilisation im Kern das wahre Leben abhandengekommen war, dass Wohlstand, Luxus und Gewohnheit die Menschen verweichlichten und die Dekadenz, die uns von Natur aus gegebenen Triebe und Instinkte zum Überleben abtötete. Der westliche Mensch nutzte sein Gehirn nicht, um zu schöpfen, sondern um zu konsumieren. Seiner Meinung nach waren die Menschen um ihn herum nur noch ein Schatten ihrer ursprünglichen Bestimmung.

In seinem Zimmer hatte er aus Decken eine kleine Höhle gebaut, und um die Sonne zu imitieren, hängte er einen roten Schal über das Fenster, hinter dem er eine Kerze anzündete.

Marianne betrachtete Axel aus den Augenwinkeln.

Er war völlig anders als die Menschen, die sie kannte. Er bemühte sich nicht, sich anzupassen, sondern er war selbstbestimmt, sozusagen sein eigener Herr. Sie spürte, dass er sich von den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft auf eine Weise befreit hatte, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Er wehrte sich gegen die vorherrschenden Bildungs- und Moralvorstellungen und hatte sich nach seiner Rückkehr aus der Wüste auf eine Reise begeben, die nur von einem Ziel angetrieben wurde – der Suche nach sich selbst.

Er las Ouspensky, Gurdjieff, Nietzsche, Jung und reichte die Werke in seiner Begeisterung an sie weiter, damit auch sie sich befreite.

Marianne rollte mit den Schultern.

Sie hatte wirklich den ernst gemeinten Versuch unternommen, diese Werke zu lesen. Seite für Seite. Doch so sehr sie sich auch bemühte, der tiefere Sinn erschloss sich ihr nicht, die komplizierte Sprache und die abstrakten Inhalte blieben ihr fremd.

Viel lieber begleitete sie Axel einfach nur ins Theatercafé, wo sie Sandwiches und eingelegten Hering für fünfundsiebzig Öre aßen, immer in der Hoffnung, sie würden für sich bleiben, damit er ganz ihr gehörte. Doch meistens tauchte einer von Axels Freunden auf, mit dem er dann stundenlang über seine Bücher, all die hochfliegenden Ideen, die ihn beschäftigten, und seine Sicht auf die Welt philosophierte.

Meistens saß sie dann nur still daneben und kämpfte gegen ihre Nervosität an, in der Gewissheit, dem Verlauf des Gespräches nicht folgen zu können. Am Ende dieser Abende bekam sie meist Kopfschmerzen, während die Freunde am Tisch lachten und sagten: »Axel ist wieder weit draußen in der Andromeda-Galaxie!«

Plötzlich vernahm sie seine Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss. »Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Gleich wirst du Lasse kennenlernen.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Er ist unser Gastgeber. Ab und zu gehen wir zusammen segeln. Aber nimm dich vor ihm in Acht. Er ist ein Frauenschwarm.« Der Ton seiner Stimme verriet ihr nicht, was er von ihm dachte.

Er wandte sich wieder der Straße zu.

Vor ihnen hielt ein Bus an einer Haltestelle, eine ältere Dame mit einem kleinen Hund an der Leine stieg aus.

Ein Frauenschwarm, dachte Marianne hilflos. Was sollte so ein Mann schon von ihr wollen? Auf Partys gab es immer Frauen, die hübscher und geistvoller waren als sie. Frauen, die sich um Axel drängten.

Sie war schlank, und das blonde Haar fiel ihr über die Schultern, aber sie fand ihr Gesicht zu rund, und meistens schlug sie nur verlegen die Augen nieder, wenn sie fremde Menschen traf.

Marianne schob den unliebsamen Gedanken zur Seite und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein schmiedeeisernes Tor, dessen Flügel weit offen standen. Dahinter führte eine breite Zufahrt, die von dunklen Bäumen gesäumt war, leicht bergan. Helles Zwielicht lag auf dem Kies. Der Weg führte durch den Park und vollzog dann einen weiten Bogen hinauf zu einer herrschaftlichen Villa.

Als Axel auf den Vorplatz einbog, bemerkte sie zahlreiche Automobile, die ein dicht gedrängtes Spalier bildeten. Ihre verchromten Lampenringe und Spoiler schimmerten silbern.

Sie hielten dicht neben einem Springbrunnen, der sich über einem Rasenrondell erhob.

Der Motor verstummte.

Marianne stieg aus. Zuerst vernahm sie nur das plätschernde Geräusch der Wasserfontäne, in das sich, je weiter sie sich mit Axel entfernte, zunehmend gedämpfte Musik mischte, die Klänge waren eindeutig Jazz und drangen leise aus einem beleuchteten Fenster im Souterrain, hinter dem sich schemenhaft Menschen bewegten.

Axel blieb stehen, schloss die Augen und lauschte, bevor er seinen Arm um ihre Schulter legte. »Marianne, hörst du das?«, fragte er beschwörend. »Findest du nicht auch, Jazz ist wie Erotik, eine Mischung aus primitiven, elementaren Stimmungen: Trauer, Hass, Melancholie, Sexus und Freude verschmelzen zu einem neuen Geist. Ich will die Sprache mit demselben Rhythmus durchdringen, mit demselben Geist. Alles, was ich schreibe, soll Jazz sein.«

Er holte mit seinen Schritten beschwingt aus, ganz gefangen genommen von dieser Vorstellung, während Mariannes Blick stumm die beeindruckende schneeweiße Fassade der Villa entlangglitt, die am Dachfirst und den Pilastern der bodentiefen Sprossenfenster dunkelblau abgesetzt war.

Sie hielten am Portal. Axel klingelte, und ein Mann öffnete. Offensichtlich war er erstaunt, sie zu sehen. Er machte die Tür auf, hielt einen Moment inne und wirkte unschlüssig. Axel legte ihm die Hand jovial auf die Schulter und sagte: »Guten Abend, Lasse.«

»Du konntest es einrichten«, stellte dieser tonlos fest, blieb aber im Türrahmen stehen. Er versperrte ihnen den Weg, bis Axel fragte: »Dürfen wir hereinkommen?«

Lasse zögerte, dann trat er beiseite, wobei er den Anschein erweckte, über die Entscheidung noch einmal gründlich nachdenken zu müssen. Er bat sie nicht, ihm zu folgen, sondern drehte sich einfach um und verschwand im Haus.

Axel deutete mit theatralischer Geste auf die verwaiste Tür und Marianne trat unaufgefordert ein. Ihr war nicht wohl dabei, und für einen Moment dachte sie daran, Axel allein hier zu lassen und zur Bushaltestelle zu laufen, von wo aus sie zurück in die Stadt fahren konnte. Der Gedanke machte sie nicht unglücklich.

Eine junge Frau in schwarzer Uniform kam auf sie zu, begrüßte sie und nahm ihnen die Jacken ab, um sie auf einen Garderobenständer zu hängen, an dem bereits vornehme Lodenmäntel und extravagante Pelzroben Platz gefunden hatten. Mariannes roter Mantel mit den schwarzen Samtaufschlägen, den sie im Second Hand gekauft hatte, wirkte schäbig neben all der Pracht.

Axel zündete sich eine Zigarette an. »Bist du so weit?«, fragte er und schaute gespannt hinüber zu einem weit geöffneten Portal, aus dem angeregtes Stimmengewirr drang.

»Ja«, antwortete sie und zupfte schnell den Saum ihres geblümten Kleides zurecht, bevor Axel ihre Hand ergriff und mit langen Schritten dem Salon entgegenstrebte.

Der Raum war mit Menschen gefüllt, die unter den schweren Lüstern entweder in kleinen Gruppen zusammenstanden oder auf gedrechselten Polsterstühlen an halbhohen Tischchen saßen. Die Brokattapeten schimmerten matt in der mit Zigarettenrauch angereicherten Luft, und goldgerahmte Spiegel ließen den ohnehin schon beeindruckenden Salon noch opulenter erscheinen.

»Jensen! Axel Jensen!« Eine männliche Gestalt schälte sich seitlich aus dem Halbdunkel und kam mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Magnus.« Axel schien über den Anblick des Fremden erfreut zu sein.

»Mensch, ich freue mich, dich hier zu sehen. Wie geht es dir?«

Der Fremde nickte Marianne zu, ohne sich vorzustellen.

»Ich habe gehört, du bist bei Cappelen untergekommen. Guter Verlag. Wie weit bist du mit dem Buch?«

»Ich mache gerade die letzten Korrekturen.«

»Wunderbar.« Der Mann zog ihn am Ärmel. »Das sollten wir feiern. In diesem Palais gibt es eine ausgezeichnete Bar. Außerdem sind ein paar Leute da, die du unbedingt kennenlernen solltest.«

Axel warf Marianne einen schnellen Blick zu. »Du kommst zurecht?«

Sie sah an dem ungeduldigen Funkeln in seinen Augen, dass die Frage einzig und allein rhetorischen Ursprungs war und er keine abschlägige Antwort von ihr erwartete.

Noch ehe sie reagieren konnte, wandte Axel sich ab und folgte dem Fremden mit hoch erhobenem Haupt durch die Menge.

Sie blieb unschlüssig und allein an der Stelle im Raum zurück, wo sie in den folgenden Minuten weder jemand ansprach, noch Notiz von ihr nahm. Dann erspähte sie das Mädchen, das ihnen die Mäntel abgenommen hatte und nun auf einem Tablett Champagner in Gläsern herumreichte, und sie wartete geduldig, bis sie an der Reihe war.

Marianne nahm eins und nippte vorsichtig daran. Sie dankte der jungen Frau und fragte sie, was sie sonst noch kulinarisch auf der Party erwartete, aber die junge Frau hatte zum Plaudern keine Zeit, das Tablett war leer, und sie wandte sich ab, um ihre Arbeit zu tun.

Mit dem Champagnerglas in der Hand schlenderte Marianne weiter. Das Gesicht tat ihr schon weh vom unentwegten Lächeln. Sie schob sich an den anderen Leuten vorbei, doch niemand der Gäste bemerkte sie. Ihre Blicke glitten an ihr ab, als wäre sie nicht vorhanden, und unbeirrt setzten sie ihre Gespräche fort, scherzten und lachten.

Marianne spürte einen Stich in der Brust.

Alle, außer ihr, standen mit Freunden oder guten Bekannten beieinander, unterhielten sich über Dinge, die ihr fremd waren oder über die sie kein Wissen besaß. Alle schienen jemanden gefunden zu haben, mit dem sie bereitwillig ihre Zeit teilten und bei dem sie willkommen waren.

Sie stürzte den Champagner hinunter.

Nur sie stand allein herum. Dabei war sie sogar in Begleitung erschienen, in der Annahme, es würde für sie beide ein wunderbarer Abend werden.

Marianne seufzte. Axel Jensen war eben Axel Jensen, von kaum zu bändigender Natur. Wieder dachte sie an die Bushaltestelle. Sie könnte sich die hohen Schuhe von den Füßen streifen und barfuß in der warmen Nacht auf den Bus warten …

Das Mädchen tauchte wieder mit einem vollen Tablett vor ihr auf. Marianne nahm sich ein weiteres Glas, und diesmal spürte sie den kleinen Perlen nach, die angenehm auf der Zunge kribbelten.

Nein, noch wollte sie nicht aufgeben. Axel war hier irgendwo, und sie beschloss, ihn zu suchen. Das Getränk half ihr dabei, ihre Unsicherheit abzulegen, und als kurz darauf ein neues Tablett vorbeischwebte, nahm sie sich noch eins.

Angestrengt hielt sie nach Axel Ausschau.

Sie durchstreifte den Salon, danach die angrenzenden Zimmer, bis sie neben einer Bar auf eine Gesprächsgruppe aus Männern stieß, die lautstark über Politik redeten. Sie suchte eine Lücke, durch die sie schlüpfen konnte, bis sie meinte, in der Nähe eine gefunden zu haben.

Endlich entdeckte sie Axel, der sich eloquent und hektisch gestikulierend mit einem anderen Mann unterhielt. Leere Gläser türmten sich zwischen ihnen auf dem Tisch.

Die Unterhaltung strahlte eine Art Gefahr aus, die noch unsichtbar war, sich aber jederzeit zu einer handfesten Auseinandersetzung manifestieren konnte. Es herrschte zwischen den Männern eine Aura von Anmaßung und übertriebener Besserwisserei.

Marianne haderte noch, ob sie bleiben sollte, als Axel mit der Faust heftig auf den Tisch schlug. »Verdammt!«, schrie er, und Speichelflocken bedeckten seine Unterlippe. »Wie kann man so kleingeistig sein? Es ist genau diese Einstellung, welche die westliche Zivilisation in den Zweiten Weltkrieg geführt hat!« Er schnaubte. »Was wir jetzt brauchen, ist ein Umbruch, die überkommenen Gesellschaftsstrukturen gehören abgeschafft!« Wieder krachte seine flache Hand auf das polierte Holz. »Ich sage, Schluss mit den spießerhaften Konventionen, weg mit der Kirche und den verklemmten Moralvorstellungen, Schluss mit dem ganzen konservativen Zivilgehorsam … Zerschlagen wir die alte Welt und proklamieren eine neue Zeit, in der das freie Denken und die selbst gewählte Spiritualität des Individuums oberste Priorität haben …«

Marianne wandte den Kopf ab, aber es war bereits zu spät.

Sie kannte Axels aufbrausendes Temperament, wenn es darum ging, anderen zu erklären, wie die Welt in seinen Augen funktionieren sollte. Oft genug hatte sie erlebt, dass sich, vor allem, wenn er getrunken hatte, diese Leidenschaft bis zu hitzigen Auseinandersetzungen steigern konnte.

In ihrem Nacken blockierte etwas sehr schmerzhaft.

Sie rieb über die Augen, hinter denen jetzt grelle Lichtblitze zuckten.

Es war nicht das erste Mal, dass sie, mitten in einer von Axel mit ausgesuchter Heftigkeit bestrittenen Diskussion, von einer Migräne heimgesucht wurde. Doch heute erschienen ihr die Kopfschmerzen ganz besonders schlimm, fast unerträglich. Natürlich gab sie auch dem Champagner die Schuld, den sie hastig heruntergestürzt hatte.

Marianne erhob sich und verließ, von Axel unbemerkt, die Runde. Sie schwankte zurück in den Salon. Der Zigarettenrauch, der jetzt wie ein grauer Vorhang im Zimmer stand, brannte ihr furchtbar in den Augen. Ihr war schwindelig, und obwohl sie befürchtete, die Orientierung verloren zu haben, erblickte sie zwei bodentiefe Fenster, die weit geöffnet waren und auf eine Terrasse hinausführten.

Mit letzter Kraft taumelte sie hinaus und klammerte sich an die steinerne Brüstung. Sie spürte das Schwanken der Welt um sie herum, die erfrischende Nachtluft, die sich auf ihr erhitztes Gesicht legte und in ihre Lungen strömte, tiefe Atemzüge, die ihr Klarheit über den bisherigen Verlauf dieses Abends verschafften.

Die Erkenntnis, die sich ihrer anschließend bemächtigte, zwang Marianne, sich hinzusetzen, und da es auf der Terrasse keine Stühle gab, setzte sie sich einfach auf den Steinsockel zu ihren Füßen und lehnte sich erschöpft gegen die Brüstung. Dabei kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn.

Axel ist, wie er ist, dachte sie resigniert. Unangepasst und aufsässig. Ein Schriftsteller, ein Suchender, ein Abenteurer. Er würde sie aus Oslo entführen und sie mitnehmen in ein fernes Land, wo die Sonne immer schien und das Meer die Farbe von Türkis hatte.

Axel besaß die Kraft und den Willen, alles zu erreichen. Und er war ihr Freund.

Als sie zu dieser Einsicht gekommen war, fühlte sie sich besser. Auch das Schwanken hatte nachgelassen.

Nur die Kopfschmerzen blieben.

Marianne zog die Schuhe aus, knetete ihre steifen Zehen und streckte dann wohlig die Beine aus. In Larkollen bei der Großmutter war sie im Sommer immer barfuß gelaufen. In der Stadt war das unmöglich.

Sie legte den Kopf in den Nacken. Genauso unmöglich, wie zu Mittsommer einen Stern zu erkennen.

Plötzlich beugte sich eine Gestalt über sie. Es war Lasse.

»Geht es Ihnen gut?«

Sie blickte in das schöne, von aufrichtiger Sorge verdunkelte Gesicht des Gastgebers, grüne Augen unter geschwungenen Brauen, die prüfend auf sie gerichtet waren.

Kurz überlegte sie, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen sollte.

»Ich … es geht mir nicht gut.« Sie sah ihm an, dass die Antwort ihn irritierte, dass sie ihm nicht genügte, und sie ergänzte: »Ehrlich gesagt habe ich eine heftige Migräne.«

Er nickte mitfühlend. »Dann sollten Sie aber nicht hier auf der Terrasse sein.« Er überlegte kurz. »Ich bringe Sie in ein Zimmer, wo Sie sich ausruhen können.«

Lasse deutete auf ihre Schuhe. Aber Marianne hob abwehrend die Hand und erklärte ihm, dass sie zu sehr schmerzten.

»Gut«, sagte er nur und sammelte sie ein. »Können Sie aufstehen?«

Hilfe suchend sah sie sich nach etwas um, auf das sie sich hätte aufstützen können. Als sie ihren Blick wieder nach vorn richtete, bemerkte sie die kräftige Männerhand, die ihr entgegengestreckt wurde. Sie griff zu, und er half ihr auf.

»Kommen Sie«, sagte er knapp, und sie folgte ihm auf Strümpfen über die Steinplatten, danach über das Parkett im Salon, bis sie im Obergeschoss ein Zimmer erreichten, in dem dicke Teppiche den Boden bedeckten.

Lasse schaltete das Licht ein.

»Es ist Ihr Schlafzimmer«, bemerkte Marianne erstaunt und verlegen zugleich.

»Allerdings«, sagte er und schloss mit einer schnellen Bewegung die schweren Gardinen. »Legen Sie sich aufs Bett. Ich gebe Ihnen noch eine Decke.«

Zögerlich legte sie sich auf das breite Bett und hörte, wie eine Schranktür klappte. Dann breitete er eine weiche Wolldecke über ihr aus, als würde er ein Kind zudecken.

»Ruhen Sie sich ein wenig aus. Wenn ich Jensen sehe, sage ich ihm, dass Sie hier sind.«

»Danke.«

Er löschte das Licht. Leise fiel die Tür ins Schloss.

Marianne lauschte.

Aus weiter Ferne drangen vereinzelte Geräusche an ihr Ohr.

Erleichtert schloss sie die Augen.

Eine tiefe, heilsame Stille breitete sich in ihr aus.

Erschrocken fuhr Marianne hoch.

Die Tür war aufgeflogen, und ein stark torkelnder Axel stürzte mit verzerrtem Gesicht auf das Bett zu. Er packte sie am Handgelenk, riss sie hoch und zerrte sie ungehalten aus dem Bett. Ohne ein Wort zu sagen, zog er sie hinter sich her, die Treppe hinunter in die Küche, die seitlich vom Flur abging.

Sein Gesicht war verschlossen, abweisend.

Er sagte noch immer nichts, legte nur seine flache Hand auf den Küchentisch und griff nach einem Messer, zog es aus dem Block heraus. Er sah sie mit glühenden Augen an und hob es drohend. Dann trieb er die Klinge durch seinen Handrücken.

Marianne schrie auf, presste die Fäuste vor den Mund, alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Sie wandte sich ab und spürte, wie ihr die Knie weich wurden und Übelkeit in ihr aufstieg. Plötzlich füllten hektische Stimmen das kleine Zimmer. Jemand, den sie nicht kannte, führte sie aus der Küche. Das Letzte, was sie sah, war Blut, viel Blut und Axels flehender Blick.

Als das Taxi, das man für sie gerufen hatte, die Auffahrt hinunterrollte, lehnte sie den Kopf gegen das Polster. Aus dem Radio drang Tanzmusik, und sie fragte sich dumpf, warum Axel das getan hatte?

Aus Eifersucht?

Nahm er wirklich ernsthaft an, dass Lasse und sie …? Unmerklich schüttelte sie den Kopf.

Das war es nicht.

Wieder sah sie sein flehendes Gesicht vor sich, und da begriff sie: Nicht nur sie hatte Angst, wieder allein zu sein. Gespeist von ihrer Sorge, Axel könnte sie verlassen, weil sie nicht interessant genug für ihn war.

Sie richtete sich mit einem Ruck auf.

Nein, auch ihn peinigte dieselbe Angst. Auch er brauchte sie. Sie war für ihn die Wurzel, die Verbindung zur realen Welt, die ihm erlaubte, sich gedanklich von ihr zu lösen. Durch sie konnte er seinen Geist befreien, um kreativ zu schöpfen.

Er wusste, dass in ihr eine Kraft wohnte, mit deren Hilfe es ihm gelang, sich immer wieder zu erden, um ins normale Leben zurückzukehren.

Sie ließ sich zurück ins Polster fallen.

Ach, Axel!

Sie atmete schwer.

Warum hast du das getan?

Sorge machte sich breit, Sorge um ihn, Sorge um sie beide.

An guten Tagen gab es keinen anderen Platz, an dem sie lieber war als bei ihm.

Das Taxi erreichte die Straße und bog ab.

Kurz fiel ihr Blick auf ein Pärchen, das eng umschlungen in der Bushaltestelle saß und sich küsste.

Sie wandte den Blick ab.

Der heutige Tag zählte definitiv nicht dazu.

Kapitel 2

Es war spät.

Marianne hockte mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett im runden Schein der Nachtischlampe und las, als die Türglocke klingelte.

Sie ließ das Buch sinken und lauschte dem schweren Schritt, mit dem ihr Vater den Korridor durchmaß, gefolgt von einem metallischen Klirren, als er schwer atmend die Kette an der Tür entfernte.

»Guten Abend«, vernahm sie die Stimme von Axel, die ungewöhnlich forsch klang. »Ist Marianne da?«, hörte sie ihn ungeduldig fragen.

Marianne klappte rasch das Buch zu, warf es zur Seite und eilte aus dem Zimmer. Sie wusste, dass die Eltern Besuche ihrer Freunde grundsätzlich missbilligten, vor allem das Auftauchen möglicher Verehrer.

Als sie auf den Flur hinaustrat, stürmte Axel an ihrem verdutzt dreinblickenden Vater vorbei in die Wohnung, direkt auf sie zu.

Aufgeregt wedelte er mit einem Magazin.

Marianne erkannte, dass es sich dabei um die »Vinduet« handelte, eine norwegische Literaturzeitschrift, die landesweit erschien.

»Das musst du unbedingt lesen«, verkündete er atemlos und reichte ihr das Heft, wobei er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen bestimmten Artikel tippte. Die Narbe auf dem Handrücken war inzwischen gut verheilt. Nur ein roter Strich, der mit der Zeit verblassen würde, erinnerte noch an den Vorfall in Lasses Küche.

Marianne beugte sich vor und hörte das deutlich vernehmbare Räuspern ihres Vaters als Ausdruck seines Ärgers und bemerkte den schmalen Schatten ihrer Mutter, die aus dem Wohnzimmer getreten war und sie beide abweisend musterte.

Möglichweise war es die offen zur Schau gestellte Ablehnung der Eltern, die Marianne bewog, den Text nicht nur stumm zu überfliegen, sondern laut vorzulesen. »Der Artikel ist von Kjov Egeland, einem der angesehensten Literaturkritiker Norwegens«, begann sie. »Kein norwegischer Jungautor seit Knut Hamsun ist mit größerer Entschlossenheit und Bedeutung des Werkes aufgefallen wie Axel Jensen mit seiner Geschichte vom Ikaros, einem jungen Mann in der Sahara. Das Buch ist ein Geniestreich. Es ist ohne Frage einer der sensationellsten Romane des Jahres. Üppig, inspirierend, talentiert und faszinierend.«

Mariannes Herz klopfte bis zum Hals. Für einen Moment verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen.

Sie hörte Axels Atem neben sich, fühlte seine vibrierende Nähe. Unbeirrt hatte er an sein Talent geglaubt. Er, der im Gegensatz zu den meisten Intellektuellen aus bescheidenen Verhältnissen stammte, der die Fleischerlehre im Betrieb seines Vaters abgebrochen hatte. Axel Jensen, der seinen ersten Roman im Eigenverlag herausbrachte und die meisten Exemplare auf dem Hof verbrannte, nachdem sie sich nicht hatten verkaufen lassen.

Axel, der nie aufgab, sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug und jeden Tag ein paar Seiten schrieb, getrieben von der Hoffnung und dem Wissen, dass sich sein Traum erfüllen würde.

Und nun war es geschehen.

Marianne gab ihm die Zeitschrift zurück. »Axel, das ist großartig. Das ist dein Durchbruch. Du hast es endlich geschafft!«

Er nickte begeistert. »Nicht wahr! Ein Geniestreich haben sie das Buch genannt.« Auf seinem Gesicht lag eine Zufriedenheit, die sie noch nicht an ihm gesehen hatte.

Sie lächelte glücklich. »Du hast es dir verdient.«

»Das denke ich auch!« Er machte einen schnellen Schritt auf sie zu und gab ihr einen kurzen, aber festen Kuss auf die Lippen. »Du kannst schon anfangen zu packen. Jetzt steht unserer großen Reise nichts mehr im Wege.«

Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte hinaus, an Mariannes Eltern vorbei, auf der Treppe immer zwei Stufen mit einmal nehmend.

Als die Schritte verhallten, schloss der Vater die Tür. Er verharrte einen Moment. Sein Atem ging rasselnd.

»Was für eine Reise?«, fragte er.

»Das ist doch alles Unsinn«, fuhr ihn die Mutter giftig an. Sie machte aus ihrer Abneigung kein Hehl. »Ihr seid nicht einmal verheiratet! Was sollen die Nachbarn denken? Dass unsere Tochter eine Schlampe ist, die mit dem erstbesten Kerl wegläuft? Mit so einem wie diesem? Der ist kein Umgang für unsere Familie. Sieh ihn dir doch nur mal richtig an. Ein Schriftsteller! Einer von diesen Spinnern, die gegen alles sind, was für unsereinen von Wert und Ansehen ist.«

»Aber …« Marianne versuchte, einen Einwand anzubringen, ballte die Fäuste und richtet sich trotzig auf, doch die Mutter stemmte die Hände in die Seiten.

»Ein Scharlatan ist das, schlag ihn dir am besten gleich aus dem Kopf.«

Sie wandte sich zum Gehen, aber da schien ihr noch etwas einzufallen. »Meine Cousine hat heute angerufen. Du wirst die nächsten zwei Wochen auf ihre Kinder aufpassen. Du willst verreisen? Nimm den Bus dorthin.«

Dann schickte sie Marianne in ihr Zimmer und ging in die Küche.

Marianne blieb stehen und blickte zu ihrem Vater.

Er hatte nicht ein Wort gesagt. Man hörte nur das zischende Geräusch der Heizkörper und seinen Atem.

Silbriges Licht, das durch die braunen Rollos drang, warf einen schwachen Schein in den Flur und die Bilder aus der Vergangenheit blitzten hinter dem Glas auf. Sie wusste, dass eines der Fotos ihren Vater zeigte, wie er in einem dunkelblauen Pullover auf Skiern einen Hügel hinuntersauste. Das war, bevor ihm der größte Teil seiner Lunge entfernt worden war, weil er genauso wie ihr Bruder Tuberkulose bekam. Der Vater hatte seine Arbeit als Anwalt aufgeben müssen und war zum Pflegefall geworden. Voll Bitterkeit fügte sich die Mutter in die unvermeidlichen Lebensbedingungen und suchte sich Arbeit. Auch Marianne hatte eine Stelle als Sekretärin angenommen. Sie musste mit ansehen, wie die Liebe ihrer Eltern verebbte, bis sie nichts mehr aneinanderband als gleichförmige Gewohnheit.

Die Wände schienen auf Marianne zuzukommen.

Sie fühlte plötzlich Hitze in sich aufsteigen, gereizt nestelte sie am Verschluss ihrer Bluse. Sie schluckte und starrte zur Tür. Am liebsten wollte sie losstürzen, in die Küche laufen und ihrer Mutter ins Gesicht schreien, dass sie Axel, über den sie so impertinent und gemein urteilte, überhaupt nicht kannte. Dass sie sich nur von ihren kleinbürgerlichen Vorurteilen und Ängsten leiten ließ, dass sie sich für ihre Eltern schämte, es nicht wagte, sie ihren Freunden vorzustellen.

Ihre Augenbrauen schoben sich zusammen.

Sie wünschte sich ein anderes Leben!

Ihr Leben sollte von Liebe, Sonne, Erotik und einer Unzahl von Abenteuern bestimmt werden.

Und dafür brauchte sie Axel, sie wusste es.

All das wollte Marianne ihrer Mutter sagen. Doch sie stand nur stumm im Halbdunkel des Korridors, von Liebe und Wut überwältigt, auf der verzweifelten Suche nach etwas, das ihr bis zu ihrer unbestimmten Abreise noch Halt gab, ihr noch irgendwie vertraut vorkam. Etwas, das sie nicht benennen konnte und das ihr trotzdem zunehmend entglitt.

Marianne nahm die Straßenbahn.

Das abendliche Oslo, der blassrote Glanz auf den Fassaden der Stadthäuser, die Menschen, die über den Boulevard schlenderten und vor den ausladenden Schaufenstern der Geschäfte stehen blieben, all das nahm sie nicht wahr.

Ihre Gedanken kreisten um Axels geheimnisvollen Anruf.

Sie malte sich aus, wie er gleich schwungvoll die Bahntickets vor ihr ausbreiten würde, zusammen mit einer Straßenkarte, auf der ihre Route akribisch genau eingezeichnet war. Sie hatten sich darauf geeinigt in Deutschland ein Auto zu erwerben, mit dem sie weiterfahren wollten. Axel meinte, die Fahrzeuge seien dort billiger und außerdem in einem besseren Zustand. Immerhin mussten sie mit dem Wagen beinahe ganz Europa durchqueren, um ihr Ziel zu erreichen: Griechenland.

Marianne stieg an der Station aus.

Allein das Wort zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Noch hatten sie sich nicht auf eine der zahlreichen Inseln geeinigt. Axel war sich sicher, dass sie den richtigen Ort rasch finden würden. Die einzige Bedingung war, dass er sich gut zum Schreiben eignete.

Schließlich wurde von Axel ein zweiter Roman mit ähnlicher Brisanz und Öffentlichkeitswirkung erwartet.

An diesem Abend hatten sie sich vor dem Kino verabredet.

Marianne ging näher an die beleuchteten Schaukästen heran, in denen auf Plakaten die aktuellen Filme beworben wurden. Sie fragte sich, welchen Axel mit ihr besuchen wollte, und sah auf die Uhr.

Es war bereits mehr als eine Viertelstunde verstrichen. Die Zeit für den letzten Einlass rückte näher.

Was könnte ihn aufgehalten haben?

Marianne schaute sich um.

Sie war beinahe allein auf dem Vorplatz.

Plötzlich bekam sie Angst.

Wieder sah sie nervös auf die Uhr.

Was, wenn Axel es sich anders überlegt hatte?

Auf einmal kam es ihr so vor, als würden die grellen Plakate sie verhöhnen. Als würden sie ihr das Abbild einer Traumwelt zeigen, zu der sie nie gehören würde.

Ihre Augen verengten sich.

Axel hatte ihr viele Briefe geschrieben. In ihren Antworten bemühte sie sich, seinen Tonfall zu imitieren, härter, mutiger und klüger zu erscheinen, als sie war.

Aber in Wirklichkeit kam sie sich wie ein Vogel vor, der immer nur mit einem Flügel schlug, weil der andere nutzlos herunterbaumelte.

Wie gern wollte sie fliegen, aber ihre Furcht hinderte sie daran. Allein loszugehen, sich den Herausforderungen zu stellen, das wagte sie nicht.

Sie bemerkte, wie der Portier die Eingänge zum Kino verschloss.

Inzwischen war mehr als eine halbe Stunde vergangen.

Axel war immer noch nicht da.

Panik stieg in ihr auf. Unbewusst ließ sie die vergangenen Tage an sich vorüberziehen, dann noch einmal, und jedes Mal brannten ihr gewisse Sätze, bestimmte Augenblicke, die sie in ihrer Angst bestätigten, wie Feuermale in der Seele.

Plötzlich befürchtete sie, dass alles aus war.

Dass sie wieder allein war und dass sich ihr eigenes Leben in Zukunft in nichts von dem der Mutter unterscheiden würde. Sie würde für den Rest ihres Daseins als Sekretärin arbeiten und ihren Traum, Norwegen zu verlassen, konnte sie gleich hier und jetzt begraben.

Marianne schluchzte auf und spürte eine tiefe Verzweiflung in sich aufsteigen. In diesem Moment bemerkte sie die Hand.

Jemand drehte sie an der Schulter herum.

Es war Axel.

»Mir ist was dazwischengekommen«, sagte er knapp und schob sie zum Straßenrand in ein wartendes Taxi. Er nannte dem Fahrer eine Adresse, die sie nicht kannte.

Dann fuhren sie los.

Schweigen erfüllte den Wagen.

»Was hast du?«, fragte Axel und legte seinen Arm um sie.

Marianne spürte, wie der Druck auf ihrer Brust nachließ.

»Wenn du nicht gekommen wärst, ich hätte nicht gewusst …« Sie brach ab.

Doch statt sie auszulachen, beugte er sich zu ihr. »Erinnerst du dich noch, wie ich dir von all den winzigen Schildkröten erzählt habe? Wie sie schlüpften und zum Ufer hinunterliefen?«

Marianne nickte stumm.

»Unterwegs wurden viele von Vögeln aufgefressen. Nicht alle überlebten und schafften es bis ins Meer. Aber auch dort waren sie noch nicht in Sicherheit. Einige wurden von Fischen gefressen. Am Ende schafften es nur wenige, das auszuführen, wofür sie geboren wurden. Die anderen zerfielen in den Mägen von Vögeln oder Fischen, wurden zum Schlagen der Flügel oder zu den sanften Bewegungen der Schwanzflossen.«

Marianne spürte den Bildern nach, stellte sich vor, wie sie selbst sich in der Luft oder im Wasser aufzulösen begann.

Axel räusperte sich.

»Sie haben die ursprüngliche Idee, eine Schildkröte zu werden, nicht realisiert. Das allein kann nur in den großen Tiefen geschehen. Das ist auch im Wesentlichen der Platz des Menschen im Universum. Nur wenige von uns erreichen den Rand des Wassers, den Ort, an dem der Geist genährt werden kann. Nur wenige von uns erreichen das Ziel und werden Mensch. Viel zu viele werden etwas anderes, etwas, das vom Leben verbraucht wird, etwas, das mit dem Leben gleichgesetzt wird. Aber wenn wir in große Tiefen kommen. Dann ist die Welt still und klar …«

Marianne wusste nicht genau, wovon Axel sprach, aber der Klang seiner Stimme hatte etwas Beruhigendes und dankbar schmiegte sie sich an ihn. »Meine wunderbare kleine Schildkröte«, flüsterte er zärtlich. »Ich wünsche dir, dass du die Augen öffnest und den hässlichen Vampir sehen kannst, der auf deinem Rücken sitzt und der sich von deiner Angst nährt. Wenn wir erst im Licht leben, in Griechenland, dann wird er verschwinden.«

Da war es wieder, das Wort. Griechenland.

Marianne drückte den Kopf an seine Schulter. Wie gern wollte sie ihm glauben.

Große gusseiserne Leuchter tauchten die Wartehalle des Bahnhofs in ein milchig weißes Licht. Überhaupt erinnerte das Gebäude mit seinen Arkaden, den halbrunden Fensterfronten und den mit Pilastern verzierten Schmucksäulen eher an einen Palast als an einen Bahnhof. Über breite Treppen gelangte man aus der Schalterhalle zu den Bahnsteigen, wo verschiedene Fernzüge auf ihre Abfahrt warteten.

Marianne bemerkte, dass wohl die gesamte Familie Jensen zu Axels Verabschiedung erschienen war. Während die Frauen ihre Tränen mit kleinen weißen Taschentüchern trockneten, begnügten sich die Männer damit, ihm freundschaftlich auf die Schultern zu schlagen.

Marianne stand ein paar Schritte abseits und beobachtete die Abschiedsszenen. Still und leise hatte sie gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Eltern die Wohnung verlassen. Als sie atemlos und auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer geschlichen war, die Hand fest um den Griff ihres Koffers geklammert, so dass die Knöchel weiß hervortraten, hatte sie ihren Vater bemerkt, der gebeugt im Wohnzimmer in seinem Sessel vor dem Rundfunkgerät saß, während die Mutter zu einem Treffen vom Roten Kreuz gegangen war.

Marianne hatte bereits die Türklinke in der Hand gehalten, als der Vater sich leise stöhnend aufrichtete. »Wenn du etwas brauchst, weißt du, wo ich bin«, hatte er gesagt, ohne den Blick von der blinkenden Senderskala abzuwenden.

Marianne war grußlos gegangen, hatte ihn nicht einmal umarmt, und hier, in diesem geschäftigen Treiben, fühlte es sich plötzlich so an, als hätte sie einen großen Fehler gemacht, den nur sie korrigieren konnte.

Das Gefühl wurde erst schwächer, als Axel sie endlich an die Hand nahm und sie gemeinsam in den Nachtzug stiegen.

Rasch erreichten sie das Abteil, das man ihnen zugewiesen hatte. Noch waren die anderen Liegen leer.

»Alles für uns«, sagte Axel grinsend und begann ihr Gepäck zu verstauen.

»Ja, für uns«, murmelte Marianne und setzte sich ans Fenster.

Ihr Blick glitt über den Bahnsteig, folgte den Gestalten, die am Zug entlanghasteten, und blieb plötzlich an einem Gesicht neben einer der Säulen hängen.

War das möglich?

Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Durch ihren Atem beschlug die Scheibe. Mit einer heftigen Bewegung wischte sie den Nebel weg. Jetzt trat der Mann einen Schritt nach vorn. Deutlich erkannte sie sein Profil.

Es war ihr Vater.

Kurz entschlossen sprang Marianne auf, stürmte aus dem Abteil, den schmalen Gang hinunter, voller Angst, die Möglichkeit könnte verstreichen, ein letztes Mal ihrem Vater gegenüberzutreten.

Sie ignorierte die fragenden Blicke des Schaffners, sprang aus dem Waggon und rannte auf ihn zu.

Er breitete die Arme aus und fing sie auf. Beinahe so wie früher.

Sie hörte, wie sein Atem rasselte. »Ich konnte doch meine einzige Tochter nicht wegfahren lassen, ohne ihr auf Wiedersehen zu sagen.«

Tränen stiegen ihr in die Augen und dankbar drückte sie seine warme Hand.

»Ihr werdet Ersatz beim Bridgespielen brauchen.«

Der Vater sah sie liebevoll an. »Wir werden jemanden finden. Ich kann Ole fragen …«

»Aber Ole ist blind.«

»Ach ja?«

Der Vater blickte sich suchend um.

»Ist deine Mutter nicht gekommen?«

Marianne schüttelte stumm den Kopf und sah, wie ihr Vater nach den richtigen Worten suchte.

»Sie ist …« Er unterbrach sich, seine Stimme bekam einen besonderen Klang. »Marianne, versprich mir, dass du keine Anstrengung unterlässt, das Beste aus deinem Leben zu machen.«

»Ich verspreche es dir.«

Kapitel 3

London, 1959

Die Lösung war ihm in dem Moment eingefallen, als er den Brief des Canada Council in den Händen hielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass ihm ein Stipendium über zweitausend Kanadische Dollar zugesprochen worden war.

Die Lösung war einfach, aber auch dreist.

»Ich werde einen Roman schreiben«, hatte Leonard seiner Mutter Masha verkündet. »Aber nicht in Montreal, ich werde es in London tun.«

Selbst jetzt noch, als er die Hampstead High Street hinunterging, an der sich schmale, zweistöckige Häuser aneinanderreihten, hörte sich die Ankündigung sogar in seinen Ohren absurd an.

Seine Mutter hatte gefragt, warum er das Buch unbedingt in London schreiben wolle. Genauso gut könnte er es hier in seinem Elternhaus tun. Das Haus war gemütlich, dazu geräumig; die Gegend ruhig, nichts würde ihn von seinem Vorhaben ablenken. Das Personal würde sich um ihn sorgen und sollte ihm das Haus doch zu eng werden, könnte er in den großen Garten ausweichen.

Es war ihm schwergefallen, ihr zu erklären, dass er, um diesen Roman schreiben zu können, Abstand zwischen sich und dem benötigte, worüber er schreiben wollte.

Seine Mutter, die sonst einen Hang zur Dramatik aufwies, hatte ihn nur abschätzend angesehen und ihm dann einen Kuss auf die Stirn gegeben. »Dann mach es. Wenn du unbedingt ein Schriftsteller in London sein willst, dann sei einer.«

Leonard blieb stehen, stellte den Koffer ab und warf einen schnellen Blick auf den durchweichten Zettel in seiner Hand. Es war ein kalter, grauer Dezembermorgen, dunkle Wolken zogen über die Stadt und Regen lag in der Luft.

Auf dem Papier hatte er sich die Adresse einer Pension notiert, doch jetzt war die blaue Tinte verlaufen, und die Anschrift ließ sich nur noch erahnen.

Müde stopfte er den Zettel zurück in die Jackentasche, nahm den Koffer auf und ging weiter.

Wenn du ein Schriftsteller sein willst … Ihre Worte klangen immer noch in ihm nach.

Zumindest mit dieser unkonventionellen Ansicht war seine Mutter im Viertel ziemlich allein. In den wohlhabenden Familien der kleinen jüdischen Gemeinde in Westmount herrschte eine unumstößliche wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Klarheit über die Zukunft der Kinder.

Ein künstlerischer Weg war darin meistens nicht vorgesehen.

Masha sieht das Gott sei Dank anders, dachte er und wich einer Wasserlache auf dem Gehsteig aus. Möglicherweise lag es daran, dass sie eine russische Emigrantin war, die ihren Ehemann früh verloren hatte. Sie war eine attraktive Frau mit dunklen Haaren, markanten Gesichtszügen und immer elegant gekleidet. Solange er sich erinnern konnte, sang sie, wenn sie durchs Haus ging; oft auf Russisch und Jiddisch, seltener auf Englisch. Zumeist Volkslieder, die sie in ihrer Kindheit gelernt hatte. Es kam ihm so vor, als sänge sie zum Klang imaginärer Geigen, mal fröhlich, dann wieder schwermütig. Jedoch sprach sie nicht oft über das Land, das sie verlassen hatte.

Er erinnerte sich, dass er in einem Aufsatz für die Schule seine Mutter als eine Figur beschrieb, die einem Stück von Tschechow entsprungen sein musste, denn sie lachte und weinte aus tiefstem Herzen, ebenso konnten sich ihre Gefühle von einem Augenblick zum nächsten wandeln.

Leonard erreichte ein rotes Ziegelhaus, von dem er annahm, dass es sich um die Adresse auf dem Zettel handelte, und verglich die Hausnummern. Hinter den Fenstern schimmerten elektrische Kerzen, und die Dekoration erinnerte ihn daran, dass bald Weihnachten war. Er nahm an, dass dies auch der Grund dafür war, weshalb es in London kein freies Gästebett mehr gab.

Er hatte nur diese eine Chance.

Tief holte er Atem und betätigte die Klingel neben einem Ring aus Tannengrün, der mit silbernen Schleifen verziert war und die dunkelblaue Holztür schmückte.

Schwere Schritte näherten sich, dann wurde geöffnet.

»Ja, bitte?«

Die Stimme der Frau, die im Türspalt erschien, klang energisch, aber nicht unfreundlich. Sie musterte ihn fragend aus einem Paar grüner Augen über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg, die das Auffälligste in dem ansonsten unscheinbaren Gesicht waren. Ihre rotblonden Haare hatte sie zu einem Dutt aufgesteckt.

Leonard räusperte sich. »Guten Tag. Spreche ich mit Mrs Pullman?«

Die Frau nickte.

Er deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Leonard Cohen. Ich bin Teilnehmer des kanadisch-englischen Austauschprogrammes und auf der Suche nach einer Unterkunft. Ihre Pension wurde mir von Nancy Bacal, einer guten Freundin, die vor einiger Zeit bei Ihnen gewohnt hat, empfohlen«, schob er nach.

Ein Windstoß fegte die Straße hinunter. Der Regen nahm weiter an Heftigkeit zu.

Mrs Pullman hielt mit einer Hand die olivgrüne Strickjacke über der Brust zusammen. »Aus Kanada?«

Leonard nickte. »Montreal, Mam.«

»Verstehe. Meine Gästezimmer sind leider vollständig belegt«, erklärte sie, während sie einen kleinen Schritt auf ihn zu tat und rasch den Himmel musterte.

Dann legte sie den Kopf schräg. »Nun gut, bei diesem Wetter kann ich Sie ja schlecht wieder wegschicken.«

Er setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Es wäre großartig, wenn es sich vermeiden ließe.«

Mrs Pullman verzog kein Gesicht. »Natürlich wäre es das«, erwiderte sie und drehte sich abrupt um. »Kommen Sie rein. Aber treten sie sich die Schuhe ordentlich ab«, sagte sie über die Schulter. »Ich will weder Schlamm noch Dreck auf dem Teppich haben. Den Koffer stellen Sie im Korridor ab.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer und deutete auf einen der schweren Stühle am Esstisch. Überhaupt war das gesamte Haus im viktorianischen Stil eingerichtet. Dunkles gebeiztes Holz, wohin man sah. Dazu in schmale Goldrahmen eingefasste englische Landschaften und zwei Regale voll mit in Leder gebundenen Büchern, was Leonard freute.

Es war angenehm warm. Wohlig streckte er die Beine aus.

Mrs Pullman nahm in einem Sessel am Ofen Platz und kam ohne Umschweife zur Sache. »Mich interessiert Ihr Anliegen, Mister Cohen. Warum sind Sie nach London gekommen?«

Leonard stutzte. Die Frage überraschte ihn, er schluckte.

Das Eingeständnis, ein Schriftsteller zu sein, fiel ihm nicht leicht, schon gar nicht gegenüber einer Fremden. Selbst für ihn klang die Bezeichnung noch ungewohnt.

Er hatte in der Vergangenheit bereits erfolgreich Gedichte geschrieben und veröffentlicht, die ihm sogar einen Preis eingebracht hatten. Trotzdem kam ihm die Bezeichnung Schriftsteller irgendwie anmaßend vor.

»Ich bin hier, um einen Roman zu schreiben«, sagte er in die Stille hinein. Als Mrs Pullman nicht reagierte, sah er sich genötigt, eine weitere Erklärung hinzuzufügen. »Im Gegensatz zu Kanada blickt England auf eine lange literarische Tradition zurück. Shakespeare, Milton, Wordsworth, Keats«, zählte Leonard auf. »Sie müssen wissen, es gab für mich eine Zeit, da habe ich Keats regelrecht verschlungen. Ehrlich gesagt, denke ich, es gibt keinen besseren Ort für mich als London, um meinen Roman zu schreiben.«

Stella Pullman ließ sich nicht anmerken, was sie über den jungen Mann dachte, der mit leuchtenden Augen vor ihr saß und sich in Gedanken bereits in den Olymp der bekanntesten englischsprachigen Schriftsteller einreihte. Er erweckte den Eindruck, als wisse er genau, was er tat, als könnte ihn nichts aufhalten. Sie schob ihre Brille auf die Nase zurück. War es nicht das Recht der Jugend, vor allem nach diesem furchtbaren Krieg, wieder nach den Sternen zu greifen?, überlegte sie. Sie legte ihre Hände in den Schoß und musterte ihren Gast. Er sah gut aus. Das herzförmige Gesicht, die dichten gewellten Haare, die tiefen dunklen Augen, deren äußere Winkel sich leicht nach unten neigten. Die kräftige Nase, die geschwungenen Lippen. Augenscheinlich mochte er elegante Anzüge. Er trug einen unter dem Wollmantel, der vor Nässe triefte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.

»Mister Cohen«, sagte sie. »Ich kann Ihnen eine Unterkunft anbieten, aber das ist an Bedingungen geknüpft. Ich werde Ihnen ein Feldbett hier in diesem Zimmer aufstellen. Aber wie Sie unschwer erkennen können, befinden wir uns im Wohnzimmer, das von mir und meinem Mann genutzt wird, und das würde für Sie bedeuten, dass Sie morgens vor allen anderen aufstehen müssen, das Zimmer aufräumen, aus dem Keller Kohlen heraufholen und das Feuer im Ofen entfachen.«

Leonard nickte zustimmend.

»Und was das Schreiben betrifft, mag ich nur so viel dazu sagen: Jeder von uns trägt ein Buch in sich, aber nur wenigen ist das Talent gegeben, es auch ordentlich zu schreiben.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. »Deshalb, junger Mann, erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich hinsetzen und jeden Tag drei Seiten schreiben und mir spätestens in einem Vierteljahr ein fertiges Buch vorlegen.« Sie wischte ein imaginäres Stäubchen von der polierten Sessellehne, und ihre Stimme wurde eine Spur schärfer: »Herumlungern und Nichtstun werde ich in meinem Haus nicht dulden, Mister Cohen. Also, wie entscheiden Sie sich?«

»Ich bin einverstanden«, antwortete Leonard, ohne zu zögern.