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»Das Leben ist zu kurz, um unbemerkt zu bleiben.«
Spanien, 1929: Gala begleitet ihren Mann, den Dichter Paul Éluard, in den Fischerort Cadaqués, wo er einen jungen Künstler namens Salvador treffen will, der bald in Paris ausstellen soll. Als Gala den zehn Jahre jüngeren Künstler kennenlernt, ist sie fasziniert von seinem eigenwilligen Auftreten. Er öffnet ihr immer mehr den Blick für seine Welt – und hat dabei nur Augen für sie, Gala. Die aufkeimende Liebe zwischen den beiden bleibt Paul nicht verborgen, und er stellt Gala vor eine Entscheidung. Schweren Herzens beschließt sie, mit ihm und der gemeinsamen Tochter nach Paris zurückzukehren – doch sie kann Salvador nicht vergessen ...
Die bewegende Liebesgeschichte von Gala und Salvador Dalí – ein ungleiches Paar, das alle Widerstände überwindet und sich für ein gemeinsames Leben für die Kunst entscheidet
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Seitenzahl: 425
1929, Cadaqués: Gala begleitet ihren Ehemann, den Dichter Paul Éluard, nach Spanien. Er braucht die Abgeschiedenheit, um endlich wieder schreiben zu können – und hier wollen die beiden wieder zueinander finden. Denn ihre Gefühle sind erkaltet, zu viele Kränkungen stehen zwischen ihnen. Außerdem will Paul einen jungen Künstler treffen, der bald in Paris ausstellen wird. Als Gala dem zehn Jahre jüngeren Salvador vorgestellt wird, ist sie irritiert von seinem unbeholfenen Auftreten. Je mehr Zeit sie jedoch zusammen verbringen, desto mehr beginnt er sich ihr zu öffnen. Gala spürt mit ihm wieder etwas Leichtigkeit in ihr Leben zurückkehren. Doch die aufkeimende Liebe zwischen den beiden bleibt nicht unbemerkt, und Paul stellt Gala vor eine Entscheidung. Schweren Herzens kehrt sie mit ihm nach Paris zurück. Als Salvador zu seiner Ausstellung nach Frankreich reist, begegnen die beiden einander wieder. Und diesmal wagt Gala es, sie entscheidet sich für ein Leben an der Seite Salvadors – und sie ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass alle Welt seine Kunst sieht.
Sylvia Frank ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellerehepaares, das auf der Insel Rügen lebt. Sylvia Vandermeer, geboren 1968, ist habilitierte Betriebswirtschaftlerin. Sie studierte darüber hinaus Biologie, Psychologie und Bildende Kunst. Heute ist sie freiberuflich als Schriftstellerin und Malerin tätig. Frank Meierewert, geboren 1967, ist promovierter Ethnologe und seit 2016 als freier Autor tätig.
Bei Rütten & Loening ist ihr Roman »Das Haus der Winde« über die große Schauspielerin Asta Nielsen erschienen.
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Sylvia Frank
Gala und Dalí – Die Unzertrennlichen
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Teil 1
Kapitel 1 — Cadaqués, 1929
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12 — Figueres, 1929
Kapitel 13
Kapitel 14 — Cadaqués, 1929
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 2
Kapitel 19 — Paris, 1929
Kapitel 20
Kapitel 21 — Figueres, 1929
Kapitel 22 — Paris, 1929
Kapitel 23 — Carry-le-Rouet, 1930
Kapitel 24 — Cadaqués / Port Lligat, 1930
Kapitel 25
Kapitel 26 — Paris, 1930
Kapitel 27 — Cadaqués / Port Lligat, 1930
Kapitel 28 — Paris, 1930
Kapitel 29 — Cadaqués / Port Lligat 1930
Kapitel 30
Kapitel 31 — Paris, 1930
Kapitel 32
Teil 3
Kapitel 33
Kapitel 34 — Paris, 1931
Kapitel 35 — Cadaqués / Port Lligat, 1931
Kapitel 36
Kapitel 37 — Paris, 1931
Kapitel 38
Epilog — Cadaqués / Port Lligat, 1931
Anmerkungen
Danksagung
Impressum
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Cadaqués, 1929
Es riecht nach Fisch!«
Widerstrebend stieß Gala die Autotür auf, und ihr Blick folgte dabei ihrem rechten Fuß. Er steckte in einem eleganten Samtpumps, dessen Spann mit einem Goldmedaillon verziert war. Es gab ein scharrendes Geräusch auf dem unebenen Pflaster, als sie mit dem Hacken einen sicheren Stand suchte. Dann erhob sie sich vom Polster des Sitzes, zupfte die Jacke ihres eleganten schwarzweißen Reisekostüms zurecht und schaute sich um, das Gesicht von der breiten Krempe ihres Hutes beschattet.
Sie seufzte.
Allein die Fahrt im Automobil war eine einzige Tortur gewesen. Im französischen Teil Kataloniens hatte sie sich wenigstens noch an den prachtvollen Farben der Weinberge und der Pfirsich- und Aprikosenplantagen erfreuen können. Aber nachdem sie die Grenze hinter sich gelassen hatten, schienen sie nicht nur ein anderes Land, sondern auch eine völlig veränderte Landschaft zu durchqueren. Die Ausläufer der Pyrenäen waren in eine endlose, von Hügelketten durchzogene Hochebene übergegangen, die sich ihr schroff, eintönig und auf eine unerklärliche Weise abweisend und herrisch in der glühenden Sonne darbot.
Ihrem Mann Paul, der mit zusammengekniffenen Augen das Lenkrad umklammert hatte, schienen die brütende Hitze und der Motorenlärm nichts auszumachen. Die hochgekrempelten Hemdsärmel gaben seine gebräunten Arme frei. Sie hatte sein ebenmäßiges Profil betrachtet. Seine Augen und die geschwungenen Lippen verliehen ihm trotz seiner vierunddreißig Jahre immer noch etwas Jungenhaftes. Sowieso hatte er sich in seinem Aussehen in den letzten Jahren kaum verändert. Dieselben eng stehenden blauen Augen, die gerade, fast aristokratisch anmutende Nase und der melancholische Zug um den Mund.
Nur der Scheitel, den er vor sechzehn Jahren bei ihrem Kennenlernen in der Lungenheilstätte in Clavadel in der Schweiz noch getragen hatte, war inzwischen einem höheren Haaransatz gewichen.
Gala hatte während der Fahrt das Fenster geöffnet, und mit dem Staub war der schwere Geruch von trockener Erde zu ihr hereingedrungen. An den Berghängen ließen sich Terrassen erkennen, befestigt durch niedrige Steinmauern, an denen kupferfarbenes Moos klebte und auf denen einst Wein angebaut worden war. Doch die Reblaus hatte die Bestände vernichtet, und die Böden verwahrlosten zusehends. Man überließ sie solchen Pflanzen, die darauf überleben konnten: Disteln, Fenchel und knorrigen Olivenbäumen.
Angestrengt hatten sie die ganze Zeit über nach dem Meer Ausschau gehalten, und immer, wenn sie glaubten, es entdeckt zu haben, erwies sich der Fetzen Blau als ein Stückchen Himmel, eingeklemmt zwischen kargen, schuppigen Hügeln.
Manchmal gelang es ihnen, ein Gehöft zu erspähen. Unweit der Straße duckten sich die Natursteinhäuser Schutz suchend in eine Senke, erschöpft von der Glut und vom Bergwind gepeinigt.
Als sie an der Küste den Abstieg mit seinen steilen Kurven hinter sich gebracht hatten und der schmalen Straße zum Meer gefolgt waren, hatte Gala sich eingestehen müssen, dass ihr die Gegend nicht unbedingt besser gefiel.
Nun hob sie die Augen vom Pflaster und sah sich auf dem winzigen Platz um, dessen einziger Reiz aus einem Spalier halb verdorrter Bäume bestand. Daran anschließend gab es einen schmalen zerfurchten Sandweg, der ansatzlos in einen steinigen Strand überging.
Es war heiß, und kein Mensch war auf der Straße. Der Ort schien verlassen. Nur einige Fischerboote lagen auf den rund gewaschenen Kieseln, dahinter in der Bucht, weiträumig eingeschlossen von zwei flachen Landzungen, flimmerte das Mittelmeer.
Gala drehte den Kopf. Sie vermutete, dass dort drüben, wo sich die weiß getünchten Häuser im gleißenden Licht auf einem Felsvorsprung drängten, die Altstadt lag. Sie konnte von hier aus den Glockenturm der Kirche erkennen. Im Vergleich zu Paris wirkten die Gebäude wie ineinander verschachtelte Miniaturbauten. Auf seltsame Weise fremdartig. Gala empfand sie wie Bilder in einem Traum, als wären sie eine Erinnerung, etwas, das längst vergangen war.
Sie presste die Lippen aufeinander. Wie trostlos, dachte sie. Ein wahrhaft gottverlassener Ort. Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg, und sie warf Paul einen gereizten Blick zu.
Warum hatte sie sich von ihm überreden lassen, ausgerechnet in so einem Kaff am Ende der Welt die Ferien zu verbringen? Sie sollte jetzt in Locarno in einem schicken Café sitzen oder am Nordufer des Lago Maggiore die Promenade entlang flanieren.
Gala zog an ihrer Handtasche und ließ die Autotür zufallen. Sie war kurz davor, ihrem Ärger Luft zu machen, doch sie hielt sich zurück.
Selbstverständlich kannte sie die Gründe, die zu dieser Reise geführt hatten. Paul hatte es ihr in ihrer gemeinsamen neuen Wohnung am Montmartre lang und breit auseinandergesetzt. Er hatte erklärt, dass vor allem ihr aufwändiger Lebensstil Schuld an der Misere sei. Er zielte damit auf seine teure Kunstsammlung und ihre luxuriöse Garderobe ab. Ihr beider Unvermögen, sich den neuen Umständen anzupassen, lag aus seiner Sicht darin, dass sie einfach keine sparsamen Menschen waren.
Sie wusste jedoch, dass seine Argumente nur zur Hälfte der Wahrheit entsprachen. Den wesentlichen Anteil daran, dass sein Vermögen so gewaltig geschrumpft war, hatte die Wirtschaftskrise, die den Wert seiner Aktien und Wertpapiere über Nacht halbiert hatte.
Deshalb hatte sie sein Gerede vom ausschweifenden Luxusleben und dem dadurch fehlenden Geld auch als Kränkung empfunden, als regelrechte Ungezogenheit.
Aufgebracht fischte sie den Lippenstift aus der Tasche, öffnete die goldene Fassung und beugte sich zum Seitenspiegel hinab. Die Reise hatte deutliche Spuren hinterlassen. Sie sah müde und verschwitzt aus. Es kam ihr vor, als würden die Bereiche ihres Gesichts, die sie am wenigsten mochte, die hohen Wangenknochen und das energische Kinn, noch deutlicher als sonst hervortreten. Zwei dunkel umschattete Augen schauten sie angestrengt an. Entschlossen konzentrierte sie sich auf ihren Mund, auf die sinnlichen Lippen, zog sie geschwind nach und presste sie fest aufeinander. Dann richtete sie sich wieder auf.
Im Grunde respektierte sie Pauls Entscheidung, nach Cadaqués zu fahren. Aber nach wie vor war ihr unklar, warum Paul ausgerechnet diesen Ort für sein aktuelles schriftstellerisches Unterfangen gewählt hatte. Wieso hoffte er, gerade hier seine Schreibblockade überwinden zu können?
Vielleicht gab er sich der Illusion hin, der fremdartige Geist eines katalanischen Fischerdorfes würde ihn beflügeln.
Gala hob abschätzend eine Augenbraue und betrachtete ihren Mann, der neben dem Wagen den Rücken streckte, während sein Blick über die klassizistische Fassade des Gebäudes glitt, vor dem sie gehalten hatten.
Unmerklich schüttelte sie den Kopf.
Sie wusste, dass es ausschließlich attraktive Frauen und die erotischen Reize einer Affäre waren, die ihn zu neuen lyrischen Meisterwerken inspirierten. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es hier Frauen gab, die dafür infrage kamen.
»Wollen wir …?« Paul deutete auf den Eingang, über dem ein Schild mit der Aufschrift Hotel Fonda Miramar befestigt war.
Die Lobby war winzig. Nur ein paar Stühle waren um einen flachen Holztisch gruppiert. An der gegenüberliegenden Wand stand, unter einem blassen, goldgerahmten Spiegel, ein Sofa mit wuchtigen Seitenlehnen, schweren Kissen und Kordelquasten am gesteppten Plüschsaum.
Paul wandte sich der polierten Holztheke zu, wo ein Mann mittleren Alters überrascht von seiner Zeitung aufblickte.
»Bonjour«, begrüßte Paul ihn.
»Buen Dia.«
»Richtig. So heißt es hier.« Paul lächelte jovial. »Haben Sie geöffnet?«
»Sí.«
»Ich dachte nur …« Paul deutete unbestimmt mit dem Daumen über die Schulter. »Da draußen ist keine Menschenseele.«
»Siesta, Señor.«
»Aha.«
Gala beobachtete, wie der Mann gemächlich die Zeitungsseiten übereinanderlegte, sie faltete und weglegte. Er trug ein weites weißes Hemd mit ausgestellten Ärmeln. Das zurückgekämmte Haar glänzte pomadig.
»Sie machen keine Siesta?«
Der Mann blickte Paul an und zuckte mit den Schultern. »Wir sind ein Hotel«, stellte er fest, ohne die Frage zu beantworten. »Sie sind Gäste?«
»Soeben angereist.« Paul stemmte sich mit beiden Armen auf die Theke. Seine Haltung nahm etwas Gebieterisches an. »Paul Éluard, ich habe bei Ihnen eine Suite reserviert. Für drei Personen.«
Der Mann senkte den Blick auf ein dickes Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. Kurz darauf tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Eintrag. »Sí, Señor Éluard.«
Er hob den Kopf. »Aber hier, im Miramar, gibt es keine Suiten. Nur Zimmer. Das habe ich Ihnen mitgeteilt.«
»Haben Sie?«
Paul wechselte einen schnellen Blick mit Gala. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Der Hotelier schien das zu bemerken.
»Selbstverständlich haben wir für Sie unser schönstes Zimmer reserviert«, beeilte er sich zu versichern. »Mit Blick aufs Meer und den Strand.« Er zögerte kurz. »Ihr Kind wird sogar ein eigenes Zimmer bewohnen. Aber keine Sorge, es befindet sich gleich nebenan.«
Er verstummte, sein Blick wanderte suchend zwischen ihnen hin und her und dann zum Eingang.
Gala verstand. »Unsere Tochter reist später an.«
Der Mann gab sich mit der Antwort zufrieden. Er machte einen Vermerk, dann drehte er sich um, zog einen Schlüssel vom Haken und legte ihn vor sich auf den Tresen.
»Was kann ich noch für Sie tun?«
»Gegen eine Erfrischung wäre nichts einzuwenden«, erklärte Paul.
»Gern. Was möchten Sie?«
»Champagner. Eisgekühlt.«
»Ausgezeichnete Wahl.« Der Mann klingelte und verschwand hinter einer Tür.
Paul zog eine zerknautschte Schachtel Gauloises aus der Hosentasche. »Du magst doch Champagner, Schatz?«, fragte er, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und riss ein Streichholz an.
Gala nickte nur unbestimmt.
Mit einer lässigen Geste führte er die Flamme an den Tabak und setzte ihn knisternd in Brand.
Der Hotelier kam mit einem Sektkübel zurück, öffnete die Flasche und füllte zwei schlanke Kristallgläser. Das bernsteinfarbene Getränk perlte prickelnd.
Paul reichte Gala eines der Gläser und stieß mit ihr an.
Dann wandte er sich wieder dem Hotelier zu.
»Scheint ein nettes Örtchen zu sein.«
»Ja, finden wir auch. Was führt Sie hierher?«
»Die Sommerfrische. Paris ist im August kaum auszuhalten.«
Gala hörte nicht länger zu. Sie blickte zur Tür hinaus, in die flimmernde Hitze, wo unerwartet zwei Frauen in der Ferne am Strand auftauchten. Ihre Schatten fielen auf den roten Sand.
Eine Jüngere und eine Ältere. Sie unterhielten sich.
Die weiten Röcke ihrer derben Kleider falteten sich bei jedem Schritt wie Fächer auseinander, in denen sich das Sonnenlicht fing, und mit hoch erhobenen Händen stützte jede von ihnen eine dunkelgrüne Amphore, die sie, gebettet auf ein kleines Polster, auf dem Kopf trugen.
Als sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, blieb Gala noch eine Weile stehen, als wartete sie darauf, dass die beiden Frauen noch einmal zurückkehrten. Doch der Ausschnitt im Türrahmen bot ihr nun nur noch den ewig gleichen Blick auf den Geröllstrand, den Bug eines Fischerbootes, die Felsen im Hintergrund und darüber einen blassblauen Himmel.
Plötzlich überfiel sie ein Gefühl von Ungeduld.
Noch immer schwatzte Paul mit dem Hotelier und schien sichtlich Gefallen daran zu finden. Der Zigarettenqualm machte ihr indessen das Atmen schwer.
Sie stürzte den Rest des Champagners hinunter und kämpfte gegen den Drang an, sofort zum Auto zu laufen, sich hinter das Lenkrad zu setzen und ohne eine Erklärung abzufahren.
Sie wollte nicht hier sein.
Das war nicht der Ort, an dem sie ihre Ferien verbringen wollte.
Warum konnte Paul das nicht verstehen?
Die Antwort, die sie sich darauf gab, war so überraschend wie einfach: weil es ihn nicht interessierte.
Gala stellte das Glas auf den Tresen zurück.
»Paul!« Sie berührte ihn am Arm und wartete unruhig, bis die beiden Männer das Gespräch unterbrachen und Paul sie endlich ansah. »Ich würde jetzt gern das Zimmer sehen.«
Der Hotelier nickte ihr aufmerksam zu, griff nach dem Glas und rief über die Schulter einen Namen in das Halbdunkel hinter der Rezeption. Wenig später erschien ein Junge von etwa dreizehn Jahren, unverkennbar der Sohn des Mannes. Er begrüßte sie mit einem höflichen Kopfnicken. Anschließend führte er sie zwei Steintreppen, die von einem eisernen Geländer gesäumt waren, hinauf. Sie durchquerten einen langen schattigen Flur, vorbei an drei geschlossenen Türen. Am Ende blieb der Junge vor einer lindgrünen Zimmertür stehen, nahm den Schlüssel und öffnete sie mit Schwung. Er zögerte kurz, als müsste er sich vergewissern, dass sich in der Stille, die ihn erwartete, keine Gefahr verbarg, bevor er mit schnellen Schritten den Raum betrat, die Verriegelung der Balkontüren löste und die Fensterläden aufstieß. Augenblicklich überzog helles Sonnenlicht alle Gegenstände mit einer goldenen Patina, und es hatte den Anschein, als hätte sich das Zimmer von einem Moment auf den anderen komplett verändert.
Das Doppelbett mit dem weißen Leinenbezug und den roten Wolldecken am Fußende beanspruchte den meisten Platz im Zimmer, dicht gefolgt von einem dunkel gebeizten Barockschrank an der gegenüberliegenden Wand.
Zwischen den beiden bodentiefen Glastüren, die auf den Balkon hinausführten, standen zwei blau gemusterte Sessel und ein halbhoher Beistelltisch mit einem vierarmigen Kerzenleuchter darauf. Bunte gewebte Matten schmückten den Steinboden.
Der junge Mann räusperte sich und deutete auf die Ecke rechts von ihnen, wo die Wände mit mehreren Reihen flaschengrüner Kacheln beklebt und zwei Schüsseln in einer Marmorplatte auf dem Waschschrank eingelassen waren.
»Da die Zimmer über kein fließendes Wasser verfügen, wird der Wasserkrug von uns mehrmals am Tag neu befüllt«, erklärte er mit gewichtiger Miene.
»Und was ist, wenn ich ein Bad nehmen möchte?«, fragte Gala gereizt. Ihr waren die Spritzer, Kleckse und Wasserflecken auf den Kacheln nicht entgangen, ebenso wenig wie die Feuchtigkeit am Boden, die von einer hartnäckigen, immer wieder neu entstehenden Wasserlache stammen musste.
Der Sohn des Hoteliers kam pflichtbewusst einige Schritte auf sie zu. »Das ist jederzeit möglich, Señora. In unserem Hotel gibt es ein separates Badezimmer für die Gäste. Sie müssen sich nur vorher an der Rezeption melden, damit wir es für Sie reservieren und rechtzeitig den Badeofen anheizen können.«
Er verstummte und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.
Noch bevor Gala etwas erwidern konnte, kam Paul ihr zuvor. Er nestelte einen Geldschein aus der Hosentasche und gab ihn dem Jungen. »Wenn Sie sich bitte um unser Gepäck kümmern könnten«, sagte er und dirigierte ihn sanft aus dem Zimmer.
»Zu Ihren Diensten, Señor.«
Nachdem Paul die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blieb er unschlüssig im Raum stehen.
Wortlos warf Gala ihre Tasche aufs Bett, packte einen der Sessel, der vor dem Balkon stand, bei der Lehne und schob ihn geräuschvoll neben das Bett.
»Was machst du da?«
Sie hob kurz den Kopf. »Du willst schreiben, und in der Mauernische neben der Tür ist es zu dunkel dafür.«
Paul nickte. Noch immer wusste sie viel besser als er, was gut für ihn war. Kurz entschlossen stellte er den Kerzenständer auf den Boden, griff nach dem Beistelltisch, hob ihn auf die Sitzfläche des zweiten Sessels und schob beides zur Seite.
Danach trugen sie gemeinsam den massiven Schreibtisch vor das Fenster.
Es klopfte, und Paul ging zur Tür, um von Vater und Sohn das Gepäck in Empfang zu nehmen.
Indessen hatte sich Gala auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gesetzt und betrachtete die Arbeitsplatte. Die Politur glänzte matt. Der Tisch wirkte unbenutzt, fast neu, und als sie sich vorbeugte, um nacheinander die drei Schubladen zu öffnen, glaubte sie, den unverkennbaren Geruch von frisch verleimtem Holz wahrzunehmen.
In den Fächern fand sie nur einige Bögen Briefpapier mit dem Namen des Hotels, eine Bibel und einen länglichen Karton mit Kerzen. Sie leerte die beiden oberen Laden – sie würden einzig Pauls Gedichtentwürfen vorbehalten bleiben – und deponierte alles in der unteren. Dann richtete sie sich wieder auf und blickte zu Paul.
Er stand etwas verloren neben einem Haufen Gepäck, der sich mitten im Zimmer auftürmte. Darunter ein Reisekoffer mit genieteten Ecken, zwei große Reisetaschen sowie Kartons und Schachteln, von denen Gala wusste, dass sie neben Hüten und modischen Accessoires auch seine Schreibmaschine und Papier enthielten.
Das alles zu verstauen, würde einige Zeit in Anspruch nehmen, und er machte sich schon daran, den großen Koffer zu öffnen.
Galas ganze Aufmerksamkeit hingegen galt vorerst allein Pauls Wirkungsbereich während des Aufenthaltes. Sie trat an das Gepäck heran, überflog die Aufschriften der Schachteln, zog eine heraus, trug sie zum Tisch und öffnete sie. Vorsichtig hob sie die Schreibmaschine heraus und platzierte sie mitten auf dem Tisch. Zwischen ihr und dem Stapel weißen Papiers ließ sie einen Zwischenraum für Pauls Notizbuch, das er stets bei sich trug und dem er seine spontanen Eingebungen anvertraute.
Sie erhob sich und dachte zum ersten Mal daran, dass er es vielleicht nicht schaffen könnte, sich von den Fesseln seiner Sprachlosigkeit zu befreien. Sie befürchtete, seine Kraft und die Neugier, das Schicksal noch einmal herauszufordern, könnten dafür nicht mehr reichen.
Gala rückte den Stuhl zurecht und gestand sich ein, dass sie diesen Gedanken ebenso wenig ertrug wie jenen, dass ihr Opfer, sich in den Dienst seiner Dichtung zu stellen, umsonst gewesen sein könnte.
Morgenlicht drang durch die Ritzen der Fensterläden.
Gala stand vor dem Spiegel und setzte sich den schwarzen Hut mit dem weißen Band auf. Paul öffnete verschlafen die Augen und gähnte.
»Du bist schon auf?«, fragte er überrascht.
»Guten Morgen«, antwortete sie. »Ich wollte dich nicht wecken, du hast noch so fest geschlafen.«
»Es ist gestern spät geworden. Ich war unten in der Bar und habe dann noch lange gelesen.«
Sie ließ die Hände sinken. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Dann war es ein gutes Buch?«
»Ja. Na ja, vielleicht.«
»Hat es dich inspiriert?«
Er sah sie an und lächelte breit. »Ich habe meine Inspiration.«
Gala drehte sich zu ihm um und hob die Augenbrauen. »Und warum sind wir dann hier?«
Paul stöhnte auf. »Bitte fang keinen Streit an, Gala. Nicht vor dem Frühstück.«
Sie nahm ihre Handtasche. Der Seidenstoff ihres weißen Kleides knisterte leise, als wäre es mit Elektrizität aufgeladen.
»Ich mache einen Spaziergang, sehe mir den Ort an. Möglicherweise kaufe ich auch gleich etwas ein. Wenn du willst, bin ich zum Mittagessen wieder da.«
Paul fuhr sich mit einer Hand über den Bartschatten am Kinn.
»Lass dir Zeit. Ich hole mir einen Kaffee und setze mich an den Schreibtisch. Ich komme zurecht.«
»Es würde mich freuen, was Neues von dir zu lesen.«
Paul sprang aus dem Bett und kam auf sie zu.
»Ich weiß, Chérie. Ich kann schreiben.« Er umarmte sie. »Ich bin ein guter Dichter.«
»Das bist du, Paul. Ich liebe deine Texte, wie du weißt.«
Er berührte ihr Haar im Nacken. Seine Hand war groß und wirkte unsicher. Sie ließ ihn noch einen Moment gewähren, dann löste sie sich sanft von ihm.
»Ich gehe jetzt, und du versuchst heute mal, irgendetwas zu schreiben.«
Paul nickte zustimmend. Unwillkürlich bewunderte er die furchtlose Haltung seiner Frau, ihre unerschütterliche Sicherheit, die strenge Eleganz ihrer Erscheinung. Sie brachte es fertig, selbst nach all den Jahren die Dinge unbestechlich beim Namen zu nennen. Er ergriff ihre Hand, und seine Miene drückte Anerkennung und Mitgefühl zugleich aus. Immer fand sie die richtigen Worte, dachte er, egal, ob sie ihn wegen seiner Affären und des schlechten Benehmens wegen tadelte oder ihm zur literarischen Meisterschaft verhalf.
»Du bist eine gute Frau«, stellte er unumwunden fest.
Gala atmete scharf aus.
»Großer Gott, so langweilig bin ich also schon?« Sie zog ihre Hand zurück, öffnete die Tür und trat in den Korridor hinaus. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Ich kann nur hoffen, dass deine Verse gefühlvoller sind.«
*
Obwohl es zeitig am Vormittag war, stand die Sonne bereits hoch am Horizont. Hitze flimmerte über dem Sand und ließ die Konturen der Bucht verschwimmen.
Gala überquerte die Plaza vor der Giebelseite des Hotels und folgte dem Verlauf der Bucht. Sie wollte in die Altstadt.
Raoul, der Sohn des Hoteliers, hatte sie in der Lobby begrüßt und ihr einen Stadtplan von Cadaqués mitgegeben, wo er vorsorglich den Standort des Hotels und den eines Lebensmittelladens, nach dem sie ihn fragte, eingezeichnet hatte. Er hatte ihr geraten, am Beginn der Calle del Call nach einem Geschäft mit einer roten Fassade Ausschau zu halten. Über dem Laden sollte sich ein Schild mit der Aufschrift COLMADO befinden, und davor reihten sich unübersehbar Kisten mit Obst und Gemüse.
»Er ist nicht zu verfehlen«, hatte er zuversichtlich hinzugefügt.
Zu ihrer Überraschung konnte er ihr auch eine Pâtisserie nennen. Sie mochte Torten, und tatsächlich gab es eine Konditorei nur einige Meter vom Hotel entfernt, links die Straße den Hügel hinauf. Sie beschloss, ihr am Nachmittag einen Besuch abzustatten.
Gala blieb stehen und beschattete die Augen mit der Hand. Der Weg ins Ortszentrum war brüchig und unbefestigt, und nachdem sie in ihren schicken Schuhen schon zweimal fast umgeknickt war, mündete er auf halber Höhe einer Häuserzeile in einen Durchgang. Seitlich, im Schatten der Felsen, erblickte sie eine Gruppe Männer, die, ihre Hände tief in den Taschen vergraben, rauchend in der Nähe standen und sie mit einer gewissen Zurückhaltung betrachteten.
Vor dem Torbogen zog sie noch einmal den Ortsplan zu Rate.
Wieder stellte sie fest, dass die Bucht von Cadaqués von oben wie eine auf der Seite liegende Drei aussah. Der erste Bogen, der im Radius deutlich breiter war, was ihm wohl den Namen Platja Gran eingetragen hatte und an dem sich auch ihr Hotel befand, wandelte sich oberhalb des Ortes in eine schroffe Landzunge, die sich weit ins Meer erstreckte.
Gala schaute geradeaus. Genau vor ihr erhob sich eine mächtige Felsnase, die eine natürliche Grenze zwischen den beiden Lagunen bildete und sich etliche Meter in die See schob, dicht bedeckt von eng stehenden Häusern.
Gala senkte ihren Blick wieder auf den Stadtplan. Hinter dem Durchgang erwartete sie ein Gewirr von schmalen Gassen, die kreuz und quer die Altstadt durchzogen. Würde sie diese durchqueren, fände sie auf der anderen Seite des Felsens eine kleinere Bucht vor, eingezwängt von Häusern, die allesamt dicht am Ufer standen und sich am Port d’Alguer im Wasser spiegelten. Hier landeten hauptsächlich die Fischer an, löschten ihren Fang und zogen die Boote auf den Strand, wo sie dicht gedrängt lagen.
Auch dort lief das Gelände in eine Landzunge aus, die diese Seite der Bucht wie eine schützende Mole vom restlichen Meer abschirmte. Doch im Gegensatz zu der felsigen Landmasse gegenüber führte hier ein sandiger Pfad von Port d’Alguer bis ans Ende der lang gestreckten Erhebung, wo einige wenige, verstreut stehende Villen den dritten und einsamsten Strandabschnitt Cadaqués säumten: die Platja des Llané Gran.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie kein gesteigertes Interesse an dem, was jenseits des Felsens lag. Was sollte sie auch am anderen Ende dieser Bucht? Sie würde dort nur das vorfinden, was sie von dieser Seite bereits kannte.
Wieder beschlich sie das Gefühl, dass es ein fataler Fehler gewesen war hierherzukommen.
Sie zögerte, dann glitt ihr Blick zurück auf die Markierung in die Mitte des Papiers. Soweit sie das erkennen konnte, lag die Calle del Call nur zwei Querstraßen von hier entfernt.
Sie faltete den Plan zusammen, stopfte ihn in die Handtasche und tauchte in das Halbdunkel des Torbogens ein. Ich bin Pariserin, dachte sie genervt. Da werde ich mich doch wohl in einem Kaff wie diesem zurechtfinden.
In der Altstadt erwartete sie eine unliebsame Überraschung. War der teils unbefestigte Weg bis hierher schon eine Herausforderung gewesen, so traf sie jetzt auf enge, steil ansteigende Gassen, die mit grob behauenen unregelmäßigen Steinplatten belegt waren. Sie schimmerten gräulich, und zwischen ihnen klafften unangenehm breite Furchen auf.
Gala schaute hinab auf ihre Füße. Ihre schwarzweißen Pumps wirkten adrett, kündeten von Geschmack und Wohlstand, doch sie musste zugeben, sie waren hier völlig fehl am Platz.
Sie presste die Lippen aufeinander und setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen.
Wenigstens, was den Lebensmittelladen betraf, behielt der Sohn des Hoteliers mit seiner Beschreibung recht. Das Geschäft war wirklich leicht zu finden. Es lag an einer Weggabelung, und sein roter Anstrich hob sich deutlich von der weißen Fassade des restlichen Hauses ab.
Die Ladentür, die von Stiegen mit Kohlköpfen, saftigen Tomaten und grün-weißen Lauchstangen eingerahmt wurde, stand weit offen.
Gala betrat den Laden. Gleich rechts hinter der Tür saßen eine junge Frau und ihre halbwüchsige Tochter an einem kleinen Tischchen, auf dem eine silberne Registrierkasse stand, und unterhielten sich leise.
»Buen Dia!«, wurde sie begrüßt, und das Mädchen reichte ihr einen Bastbeutel, in dem sie ihre Einkäufe verstauen konnte.
Gala bedankte sich und schritt langsam den schmalen Gang zwischen den Regalen entlang, die bis an die Decke reichten. Ein eigentümlicher Geruch umfing sie, würzig, herb, mit einer Spur Süße, nicht unangenehm, aber ihr völlig unbekannt. Dazu lag ein Schweigen auf den Dingen, das nur hin und wieder von einem leisen Wispern neben der Tür unterbrochen wurde.
Gala sah sich um. In Paris ging sie selten Lebensmittel einkaufen, umso erstaunter war sie, als sie feststellte, wie vielfältig hier das Angebot war. Sie hatte die Schalen mit in Öl und Gewürzen eingelegten Oliven, süßen Datteln und Feigen nicht erwartet. Ebenso wenig die gelblichen Käsestücke, die in kleinen Fässern in einer milchigen Lauge schwammen. Über ihrem Kopf hingen Fleischteile in unterschiedlicher Größe, und gleich nebenan lagen geräucherte Schinken und Würste bereit für den Anschnitt. Um sie herum stapelten sich in den Regalen unzählige Konserven mit jedwedem Inhalt, und bauchige Gläser funkelten verheißungsvoll, angefüllt mit Eiern, Zwiebeln oder in buntem Papier eingewickelten Bonbons. In einer Ecke lagerte stark duftende Seife in Eimern, und im Fach darüber stapelten sich Hosen und Jacken aus derbem Stoff. Gala erkannte Eisennägel, Werkzeug, Nähgarn und Nadeln.
Am Ende kaufte sie eine Handvoll Oliven, ein Stückchen Käse, einen Laib Brot und zwei Flaschen Vino Tinto, der im Regal neben der Kasse stand.
Als sie mit ihrem Einkauf wieder vor dem Laden stand, spürte sie trotz der Hitze, die sich zwischen den Häusern staute, so etwas wie Behaglichkeit. Paul erwartete sie erst zum Mittag, und kurzerhand beschloss sie, dem Verlauf des Sträßchens noch ein Stück zu folgen. Vielleicht bewahrt es ein Geheimnis, dachte Gala übermütig, das ich ihm an diesem Vormittag noch entlocken kann.
Ein Geheimnis im eigentlichen Sinne fand sie nicht. Nur eine einsame Gasse und weitere mit Kalk verputzte Häuser, schmiedeeiserne Balkons und einen kleinen Jungen, der unter einem Baldachin aus rosafarbenen Bougainvillea-Blüten hockte, welcher sich von Wand zu Wand über die schmale Gasse spannte. Der Junge spielte hingebungsvoll mit seinen bunten Glasmurmeln.
Es geschah unversehens. Gala wollte sich gerade abwenden, den Rückweg antreten, als über ihr ein Fenster aufklappte und kurz darauf ein Schwall schmutzigen Spülwassers vom Himmel herabprasselte und sie nur um Haaresbreite verpasste.
Sie erschrak und machte einen Satz zur Seite, wobei sich der Hacken ihres rechten Schuhs zwischen zwei Steinplatten verkeilte und mit einem lauten Knacken abbrach.
Gala geriet ins Straucheln und drohte hinzufallen, doch sie fing sich und die Basttasche mit den Einkäufen auf, bevor die Flaschen auf dem Boden zerschellen konnten. Nur mit Mühe gelang es ihr, bei dem starken Gefälle und dem unebenen Untergrund einen sicheren Stand zu bekommen.
Taumelnd kam sie zur Ruhe und lehnte sich nach Atem ringend gegen eine Hauswand.
Der kleine Junge sah sie erschrocken aus großen Augen an.
»Nichts passiert!«, murmelte sie in seine Richtung und versuchte ein Lächeln.
Gleichzeitig verfluchte sie im Stillen diese Gasse mit ihren mittelalterlichen Steinplatten und den Absatz, der zwischen ihnen eingeklemmt war.
Sie hockte sich hin und versuchte, ihn herauszuziehen. Dabei bemerkte sie, dass der seidige Stoff, der einst den Absatz geziert hatte, an vielen Stellen beschädigt und eingerissen war. Sie begann daran zu ziehen, aber er bewegte sich nicht. Dann versuchte sie, mit dem Zeigefinger von der Seite darunter zu gelangen, um ihn herauszudrücken. Aber auch das gelang ihr nicht, stattdessen brach sie sich zwei Fingernägel ab, doch inzwischen war ihr das egal. Sie wollte den Absatz zurück, um jeden Preis. Es kam ihr einfach nicht in den Sinn, ihn in diesem Spalt stecken zu lassen.
Wieder drückte sie mit den Fingern dagegen, und endlich waren ihre Bemühungen erfolgreich. Der Schuhabsatz bewegte sich einige Millimeter, und da er sich nach unten stetig verjüngte, war es ihr am Ende dann doch ein Leichtes, ihn zu bergen.
Erleichtert schloss sich ihre Hand um das Ding.
Unvermittelt fing sie an zu weinen. Sie hatte nicht damit gerechnet. Es begann ganz leise, war zunächst nur ein feuchtes Brennen, doch als sie das treuherzige Gesicht des kleinen Jungen sah, der jetzt neben ihr stand und sie mit einer seiner Murmeln trösten wollte, ging es in einen Weinkrampf über, nicht laut, aber tief von innen.
Sie ließ den Tränen freien Lauf. Sie war traurig und erleichtert zugleich, so als wäre sie einer bösen Laune des Schicksals entronnen. Sie erhob sich und streichelte dem Jungen übers Haar.
Wenig später betrat sie zum zweiten Mal an diesem Tag den Laden am Anfang der Calle del Call.
Stumm zeigte sie Mutter und Tochter den abgebrochenen Absatz.
»Oh Dios mío!« Die beiden beugten sich über den Tisch.
»Ella necesita un zapatero!«, sagte die Frau.
Das Mädchen nickte eifrig. Dann drehte die Frau ihren Kopf und sah sie an.
»Zapatero!«, wiederholte sie eindringlich, und Gala nahm an, dass sie einen Schuster meinte.
»Merci«, antwortete sie.
»Buena Suerte.«
Das Mädchen tippte Gala am Arm an und bedeutete ihr, ihr zu folgen.
Der Schuster, ein älterer Mann mit Baskenmütze und gutmütigen Augen, der zu ihrer Freude ein paar Worte Französisch sprach, hatte die Schuhe zur Reparatur entgegengenommen. Da sie aber nicht barfuß ins Hotel zurückgehen konnte, hatte er ihr ein Paar Espadrilles verkauft.
Schwarz, mit Überfuß- und Fersenriemen und einer geflochtenen Sohle aus Jute. Sie passten zwar nicht zu ihrer restlichen Kleidung, aber dafür waren sie für die hiesigen Straßen ideal und darüber hinaus sehr bequem.
Als sie im Hotel den Korridor hinunter ging, bemerkte sie am Ende Paul, der sich an der Zimmertür angeregt mit dem Hotelier unterhielt. Als sie auf Hörweite heran war, vernahm sie, wie ihr Ehemann sagte: »Dann machen wir es wie vereinbart.«
»Sí!«, erwiderte der Besitzer, drehte sich um und nickte ihr im Davongehen freundlich zu. »Señora Éluard.«
Gala ging an ihrem Mann vorbei ins Zimmer und begann den Einkauf auszupacken. Sie stellte Wein, Brot, Käse und die Oliven auf dem Beistelltischchen ab. Den Bastbeutel hängte sie in den Schrank.
Als sie die Tür wieder schloss, glitt ihr Blick über den Schreibtisch. Alles war unverändert.
Die Schreibmaschine unberührt, der Platz für das Notizbuch leer. Nirgends, nicht einmal im Papierkorb, fand sie ein zerknülltes Blatt, beschrieben mit einem Wortfetzen oder mit einer Idee, die er als unausgegoren erachtet und deshalb weggeworfen hatte.
Sie trat näher heran und hörte, wie in ihrem Rücken die Tür ins Schloss fiel.
»Was macht ihr wie vereinbart?«, fragte Gala, und in ihrer Stimme schwang ein gereizter Unterton mit.
»Überraschung«, entgegnete Paul und breitete die Arme aus.
»Du weißt, ich mag keine Überraschungen.«
»Wir werden nicht allein bleiben.«
»Nicht allein?«, fragte sie argwöhnisch. »Ach, du meinst Cécile.« Sie entspannte sich. »Sie kommt doch erst nächste Woche. Du weißt doch, deine Mutter wird sie zu uns bringen. Bis dahin bleibt dir noch Zeit …«
»Ich meine nicht unsere Tochter«, sagte er langsam. »Camille Goemans hat mich vorhin angerufen. Er und die Magrittes wollen für ein paar Tage kommen.«
»Ein paar Tage? Paul, du hast ihnen hoffentlich gesagt, dass das nicht infrage kommt.«
Paul lehnte sich zurück. »Gala, du übertreibst. Natürlich habe ich gesagt, dass wir uns auf ihren Besuch freuen. Schließlich war es Camille, der mir den Tipp mit Cadaqués gab. Du hast doch nichts dagegen, unsere Freunde zu treffen?«
»Oh, doch Paul. Ich habe sehr wohl etwas dagegen. Schließlich sind wir nur aus einem ganz bestimmten Grund hier, und ich wage zu behaupten, dass du während ihrer Anwesenheit nicht eine einzige Zeile schreiben wirst. Ihr werdet wie immer herumsitzen, Pastis trinken und stundenlang über die ach so bedeutenden Inhalte eurer Surrealistengruppe diskutieren.«
Gala schüttelte den Kopf und lehnte sich an den Schreibtisch. »Es war gedankenlos von dir, sie einzuladen.« Dann sah sie ihn an und versuchte, ihm seine Motive vom Gesicht abzulesen. »Oder hast du es absichtlich getan, um mich zu kränken? Du hast doch nicht ernsthaft angenommen, ich hätte nichts dagegen?« Sie stieß verärgert den Atem aus. »Wie dem auch sei. Ich verstehe dich nicht, ich verstehe das alles nicht.«
Paul schwieg eine Weile, dann zuckte er achtlos mit den Schultern. Er hatte nicht die Absicht gehabt, sie zu kränken. Möglicherweise war es die Erleichterung gewesen, die er bei dem Anruf empfunden hatte, kombiniert mit einem Anflug unbewusster Revolte, dass er gegen ihren fürsorglichen Druck, der stumm und erbarmungslos auf ihm lastete, aufbegehrte, wohl wissend, dass nur er den Zustand ändern konnte. Es war ein hoffnungsloser Zwiespalt, in dem er steckte und weswegen er sich ihr gegenüber schuldig fühlte, aber auch nicht nachgeben wollte.
»Außerdem kommen Camille und René nicht nur unseretwegen hierher. Sie hatten es ohnehin vor. Ich weiß, dass sie einen jungen Maler besuchen wollen, der im Herbst bei Goemans in der Galerie ausstellen wird.«
»Das ist mir egal, Paul. Wir hatten eine Abmachung, nämlich die, dass wir unter uns bleiben und du zu schreiben versuchst. Du hast sie gebrochen. Du bist egoistisch und rücksichtslos.«
Paul schwieg und erwiderte ihren Blick mit harten Augen.
Aber Gala ließ sich nicht einschüchtern.
»Also gut. Wie du willst. Wenn die Goemans und Magrittes hier auftauchen, reise ich ab.«
»Mein Gott, Gala, jetzt ist es aber gut!«
»Nichts ist gut! Du jammerst mir doch ständig mit deinen Befindlichkeiten die Ohren voll, schleppst mich unter dem Vorwand, hier schreiben zu wollen, in diese Einöde. Und ich mache das mit, weil ich annahm, dass es dir damit besser geht. Aber weit gefehlt. Kaum drehe ich dir den Rücken zu und lasse dich allein, damit du arbeiten kannst, lädst du diese Leute ein.« Sie stützte die Arme hinter sich auf die Tischplatte und spürte das harte Holz, als sie die Kante mit ihren Fingern fest umklammerte. »Wenn du etwas tust, von dem du genau weißt, dass es mich verletzt, dann ist die Sache doch ganz eindeutig, oder etwa nicht? Dann heißt es doch, dass du dir nichts mehr aus mir machst. Dass ich dir gleichgültig bin.«
Gala stieß sich vom Schreibtisch ab.
»Du brauchst mich nicht so spöttisch anzuschauen, Paul, ich meine es ernst. Ich bin diese ewigen Grabenkämpfe leid, wo jeder von uns versucht, die Oberhand zu erlangen, um seine Interessen durchzusetzen.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Zugegeben, wir haben unsere Fehler, sind beide eitel und haben den Drang zu dominieren. Aber ich für meinen Teil habe das Interesse an diesem Spiel verloren. Ich nehme an, du bist erleichtert, mich endlich loszuwerden.«
Paul lachte auf. »Was für ein Auftritt, mein Schätzchen. Wie immer das ganz große Theater. Aber es wird Zeit, dass du dich endlich daran gewöhnst, dass ich nicht mehr dein kleiner Junge bin, den du herumschubsen kannst.«
Sie spürte, wie sich ihr vor Wut der Bauch verkrampfte.
»Du kannst dir deine Überheblichkeit sparen, oder besser: Heb sie dir für deine Surrealisten-Freunde auf. Vielleicht kannst du ja bei denen damit Eindruck schinden. Ich für meinen Teil verstehe sowieso nicht, warum wir Paris überhaupt verlassen haben. Alles, was du tust, vermittelt den Eindruck, als wäre ein Vakuum um uns entstanden, als würden wir in einer Blase leben, so als ob du nur noch Gast in deinem eigenen Leben wärst.«
Paul schluckte. »Bist du endlich fertig?«, fragte er heiser.
»Ja, denn mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Sie drehte sich wortlos um, ging von ihm weg und trat durch die geöffnete Tür auf den Balkon hinaus.
Salvador fuhr mit dem Fahrrad den Trampelpfad an der Küste entlang, um keine der bizarren Steinskulpturen zu verpassen, welche die Tramuntana-Winde in ihrer Heftigkeit aus Quarzit und Schiefer modelliert hatten. Hinter Port Lligat, einer kleinen Ansammlung von Fischerhütten, war er nach Osten abgebogen, um auf das Cap de Creus zuzusteuern.
Er beugte sich mit dem Oberkörper weit über den Lenker, den er fest umklammert hielt, weil das Rad unentwegt über abgewetzte Steinbuckel und rotbraune Grasbüschel holperte. Obwohl ihm der Schweiß in die Augen rann, trat er kräftig in die Pedale.
Er musste zu diesem Ort.
Tudela.
Dem Lieblingsplatz der Mutter.
Nicht in den nächsten Tagen. Nicht morgen. Heute.
Darum hatte er sich gleich nach dem Frühstück aufs Rad gesetzt und war losgefahren.
Der Schweiß brannte jetzt in seinen Augen, und er wischte sich mit dem Hemdsärmel über Stirn und Augenbrauen. Dabei schielte er nach unten und sah sein frisch gebügeltes weißes Hosenbein. Der Saum war immer noch aufgekrempelt, damit er nicht in die Kette geriet. Nichts war verrutscht, und so konzentrierte er sich wieder auf den Weg, der jetzt zwischen Olivenbäumen hindurch und an verfallenen Steinhäusern vorbeiführte. Manchmal säumten dicke fleischige Kakteen den Pfad, und Kugeldisteln, deren runde, blaugraue Blüten wie Bälle einen halben Meter über der rotbraunen Erde schwebten.
Salvador zog es dorthin, auch wenn er dafür fünf Kilometer über Stock und Stein strampeln musste. Denn nur dort, zwischen den Felsen und in den einsamen Sandbuchten, würde er sich ausreichend sammeln können, um für das große Vorhaben, seine erste Einzelausstellung in Paris, Kraft zu tanken.
Er hob den Kopf und sog den Geruch ein. In der warmen Sommerluft schwang der Duft von wildem Thymian und Lavendel mit, und er schmeckte das Salz auf den Lippen.
Die Aufbauten eines Liniendampfers draußen auf dem Meer, der regelmäßig zwischen Marseille und Barcelona verkehrte, ermahnten ihn zu Eile.
Der feste Sandweg führte nun an einem Hochufer entlang, das auf einer Seite zum Meer hin steil abfiel, und besorgt blickte er über seine Schulter, um zu sehen, ob die Ledertasche mit dem Skizzenblock, den Rötelstiften und der Wasserflasche noch fest auf dem Gepäckträger saß.
Beinahe hatte er sein Ziel erreicht.
Die abgelegene Landschaft um ihn herum mutete inzwischen noch urtümlicher an. Die wenigen Bäume und Sträucher waren endgültig gezackten Steinbarrieren, Klüften und ungewöhnlich gebildeten Felsformationen gewichen.
Das Rad rollte aus, bis der letzte Schwung verebbt war, und Salvador wischte sich die dichten feuchten Haare von einem fast bläulichen Schwarz aus dem braun gebrannten Gesicht. Dann stieg er ab, und bevor er das Rad behutsam auf den Boden legte, zog er die Tasche herunter und hängte sich den breiten Riemen über die Schulter.
Er folgte einer nur für ihn sichtbaren Fährte, die ihn auf verschlungenen Pfaden über das unwirtlich anmutende Cap an geheimnisvolle Plätze führte, welche er seit seiner Kindheit kannte und an denen er auf vertraute Freunde traf.
Er lächelte bei dem Gedanken, denn es erwarteten ihn dort keine Menschen, sondern Tiere. Genau genommen waren es Tierskulpturen aus Stein, entstanden durch die stetige Erosion. Er erkannte das Kamel, den Adler und dort drüben den mächtigen Gorilla. Hier am Cap de Creus waren die Gestalten aus dem Fels getreten, um sich zu offenbaren und die Phantasie anzuregen, als wären sie Abbilder früher Götter einer eigenen Mythologie, als hätten Wind und Regen sie nur von überflüssigem Stein befreien müssen.
Salvador mochte diesen Ort, an dem Jahrtausende Erdgeschichte widerhallten, wo die Enden der Pyrenäen ins Meer fielen und der göttliche Schöpfungsakt nie abgeschlossen werden würde. Was waren seine aktuellen Sorgen angesichts solcher Zeitspannen?
Er kletterte geschickt durch die Felsen, sprang von Stein zu Stein, landetet jedes Mal sicher, bis er die kleine Bucht erreicht hatte. Der schmale Sandstreifen war mit feucht glänzenden Muscheln übersät.
Er schlüpfte aus den Sandalen und legte die Kleidung ab, dann seine Halskette aus falschen Perlen und das Armband aus Metallbrokat.
Nackt watete er ins Meer. Das Wasser, weich wie die Seide seiner Hemden, schmiegte sich kühl an die Haut. Er wusste, dass die See in der Lagune bei allen Witterungslagen vollkommen ruhig war, und sollte es doch einmal zu einem Unwetter kommen, bot die kleine Grotte in der Mitte des Strandes ausreichend Schutz.
Salvador atmete tief ein und tauchte unter. Breit fächerte die Sonne durch die oberen Schichten hellen Blaus, als wollte sie den sandigen Meeresgrund zum Erglühen bringen.
Er tat einige Schwimmstöße, genoss es, in dem ruhigen, beinahe schwerelosen Raum dahinzugleiten, umgeben von einem blassen Flaschengrün, bis die Luft in seinen Lungen zur Neige ging und er gezwungen war aufzutauchen.
Er strebte zurück an die Oberfläche und ließ sich treiben, flach mit dem Rücken auf dem Wasser. Eine angenehme Stille umgab ihn. Er hatte hier manchmal das Gefühl, der einzige Mensch auf Erden zu sein, umgeben von einer Welt, die ihre Schönheit nach einem geheimen Plan hervorbrachte, der eher zufällig war; eine Schönheit, die einfach da war, während sie sich wandelte, eine Welt, die in erster Linie lautlos und unbewohnt daherkam und deren einziges Zeitmaß die Geologie war.
Er blickte hinauf in die Wolken, die zerzupft dort oben hafteten, als hätte jemand Flocken loser Wolle aus einem weißen Schafspelz gekämmt. Einen Moment verlor er sich in den himmlischen Linien, befand, dass sie ausgebreiteten Engelsflügeln glichen, und ruderte dabei behutsam mit den Armen, um nicht abgetrieben zu werden.
Eine kleine Welle schwappte über ihn hinweg und holte ihn in die Gegenwart zurück.
Am Morgen hatte sein Vater ihm mitgeteilt, dass er nach dem Abendessen mit ihm sprechen wolle. Salvador kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich ging es wieder um die Ausstellung. Für den Don gab es seit Wochen kein anderes Thema. Seitdem er den Vertrag mit Goemans für ihn ausgehandelt hatte, war sein alter Herr anscheinend zu der Überzeugung gelangt, dass sein Sohn einen Manager benötigte. Und wer wäre besser dafür geeignet als er selbst, ein erfahrener Notar.
Salvador spürte, wie die Unruhe zurückkehrte, wie sich seine Muskeln im Nacken verspannten, wie er begann, wütend zu werden.
Er hatte es gründlich satt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich der Don in seine persönlichen Angelegenheiten einmischte. Immerhin war er Mitte zwanzig.
Er legte die Stirn in Falten.
Aber während andere junge Männer bereits eine eigene Familie ernährten, wohnte er immer noch im Haus des Vaters, wo er ein eigenes Atelier besaß. Für alle seine finanziellen Auslagen kam der Don auf. Er spürte immer mehr, wie ihn das lähmte.
Ich muss eine Entscheidung treffen und den Zustand ändern, dachte er. Aber nicht heute.
Missmutig warf er sich herum und schwamm zum Strand zurück.
Bei der Rückfahrt hatte er völlig vergessen, dass am nächsten Tag der Markt in Cadaqués stattfinden würde, und nun wartete er an der Kreuzung, bis die beiden Eselskarren, voll beladen mit Wassermelonen, an ihm vorüberzogen und er endlich weiterfahren konnte.
»Salvador!«
Er glaubte eine Stimme zu vernehmen, die nach ihm rief, welche jedoch vom Ächzen der Karren sowie dem Schnauben der Tiere übertönt wurde.
»Salvador! Salvador Dalí!«
Da, wieder! Aufmerksam blickte er sich um und entdeckte im aufgewirbelten Staub das vertraute Gesicht El Betis, der nun direkt auf ihn zukam. Der Fischer kümmerte sich um das Boot der Familie und hatte mit ihnen, als sie noch Kinder waren, viele Ausflüge unternommen. Er war es auch, der ihm zum ersten Mal die in Stein erstarrten Figuren am Cap de Creus gezeigt und ihn später, wann immer er wollte, dorthin gerudert hatte.
Der Fischer hustete und war außer Atem, als er neben Salvador anhielt. Wie immer roch er ein wenig nach Fisch und hatte die erkaltete Zigarette in den Mundwinkel geklemmt. »Gut, dass ich dich hier treffe«, schnaufte er und rückte den Bund seiner Hose zurecht. »Sei so gut und richte dem Don von mir aus, dass euer Boot fertig ist. Jede Ritze neu verfugt und frisch geteert. Er findet es am gewohnten Platz. Na, du weißt ja, wo …«
Salvador nickte abwesend, den Blick auf etwas hinter El Betis Rücken gerichtet. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt.
Im ersten Stock des Hotels trat eine zierliche Frau auf den Balkon. Gebannt hielt er den Atem an. Sein Blick blieb an ihr haften und folgte jeder ihrer geschmeidigen Bewegungen, bis sie regungslos dastand, die Hände anmutig vor sich auf der Steinbrüstung gefaltet, das Kinn stolz erhoben.
Die Sonne durchwebte ihr gelocktes dunkles Haar mit goldenem Glanz, und Licht umfloss ihren Körper.
Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Unverwandt starrte er sie an.
»Wohin schaust du denn, Junge?«, fragte der Fischer verunsichert und folgte Salvadors Blick. »Ach, die Pariserin«, brummte er und schob die verbeulte Mütze aus der Stirn. »Sind gestern angekommen. Franzosen, ein reiches Ehepaar.«
Er betonte das letzte Wort.
Aber Salvador vernahm die Stimme El Betis nur als entferntes Rauschen. Jedes Nervenende in seinem Körper war auf die unbekannte Frau ausgerichtet.
Und dann!
Wandte sie ihm ihr Gesicht zu, ein kurzer, fester Blick, ehe sie wieder nach vorne sah.
Der Fischer spuckte in den Sand. »Die kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen, Salvador. In der Liga spielst du nicht mit. Die ist gleich mehrere Nummern zu groß für dich.«
Salvador äußerte sich dazu nicht. Unbeirrt hielt er seine Augen auf die Frau gerichtet, auf ihre einsame Erscheinung dort oben auf dem Balkon vor der Giebelseite des Hotels, bis sie erneut und diesmal, zumindest kam es ihm so vor, einen Moment länger auf ihn herabsah.
Doch jetzt trat unvermittelt ein Herr in dunklem Anzug hinter sie auf den Balkon, und Salvador beobachtete, wie er unentwegt auf sie einredete. Dann griff er nach ihrem Arm, um sie ins Zimmer hineinzuziehen. Sie entwand sich ihm, doch er redete weiter auf sie ein. Es entspann sich ein heftiger Wortwechsel, der schließlich damit endete, dass er sie wiederum am Arm packte und brutal hinter sich her ins Zimmer zerrte.
»Dieser Schuft! Ich muss sofort zu ihr und sehen, ob es ihr gut geht«, stieß Salvador impulsiv aus und schickte sich an, sein Fahrrad herumzureißen.
Die Hände des Fischers legten sich schwer auf den Lenker. Das Rad blockierte.
»Und dann, Salvador?«, fragte er. Seine dunklen Augen unter den dichten weißen Brauen fixierten ihn. »Was willst du dann tun? Die beiden fragen, warum sie sich gestritten haben? Dich vielleicht mit dem Kerl schlagen?«
El Beti sah den Ausdruck von jungenhafter Verzweiflung auf Salvadors Gesicht. »Glaub einem alten Mann, der etwas von der Welt gesehen hat. Sie ist keine Frau für dich, keine Katalanin. Sie ist eine Fremde und dazu auch noch verheiratet. Wahrscheinlich ist sie es nicht gewöhnt, den ganzen Tag mit ihrem Mann zu verbringen. Schon gar nicht, wenn sie aus Paris kommen. Bei diesen Leuten, da gibt es schnell Krach.«
El Beti schaute Dalí prüfend an, dann zog er die schwieligen Hände zurück und gab den Lenker frei. »Fahr nach Hause, Salvador. Schon morgen hast du sie vergessen. Und richte deinem Vater die Grüße von mir aus.«
Ach, Salvador, du bist es«, sagte seine Schwester Ana María erfreut, während sie mit den Fingern ihre halblangen Haare hinters Ohr strich. »Gut, dass du da bist. Das Abendessen steht schon auf dem Tisch. Es gibt Kotelett und Garnelen.«
Salvador wusch sich die Hände, dann trat er ins Esszimmer, wo Ana, sein Vater und Catalina bereits auf ihn warteten. Catalina war die Schwester seiner Mutter und lebte seit jeher mit im Haushalt der Dalís. Als sie noch Kinder waren, wurde sie von ihnen liebevoll Tieta genannt, Tante. Ein Jahr nachdem die Mutter gestorben war, hatte sein Vater Catalina geheiratet.
Salvador begrüßte seine Familie und stellte sich hinter seinen Stuhl rechts von der Stirnseite, wo der Vater seinen angestammten Platz hatte. Die Stiefmutter saß ihm genau gegenüber, Ana María rechts neben ihm.
Der Don sprach mit der ihm eigenen Würde das Tischgebet, dann zogen die Männer die Stühle für die Frauen zurück, bevor sie selbst am Tisch Platz nahmen. Das Küchenmädchen begann, die Speisen vorzulegen.
Salvador faltete die gestärkte Stoffserviette auseinander.
»Und, Junge, wie war dein Tag?«, fragte der Vater und sah ihn prüfend über den Rand des Stoffes an, den er sorgfältig in den Hemdkragen steckte und vor der Brust ausbreitete. »Du bist spät nach Hause gekommen.«
»Ja, bin ich«, antwortete Salvador. »Ich war am Cap de Creus.«
Wie es schien, wollte der Vater mit dem Gespräch nicht bis nach dem Essen warten.
»Am Cap also.«
Kurz wurde der Vater abgelenkt, weil das Küchenmädchen von ihm wissen wollte, ob er einen oder zwei Löffel Kartoffeln auf den Teller haben wollte, dann wandte er sich wieder an seinen Sohn. »Was hast du da gemacht?«
Salvador zeigte dem Mädchen genau die Stelle auf dem Teller, wo er seine Kartoffeln hinhaben wollte. Er hasste es, wenn sich die Bestandteile eines Mahles unkontrolliert vermischten. Dann hob er den Kopf und sah, dass der Vater noch immer auf eine Antwort wartete.
»Ich war dort, um zu skizzieren.«
»Und hast du?«
»Nein.« Salvador lachte auf. »Es war viel zu heiß. Da bin ich lieber geschwommen. Das Meer war wunderbar erfrischend.«
Der Don zerdrückte mit der Gabel die Kartoffeln. »Erfrischend. So, so.« Dann schnitt er sich ein Stück vom Kotelett ab.
»Und wann gedenkst du, an den Bildern für die Ausstellung zu arbeiten? Glaubst du, die malen sich von allein?«
Mit einer harten Bewegung schob er sich das Stück Fleisch in den Mund, die kleinen, eng stehenden Augen halb geschlossen.