9,99 €
Gwenda Reed glaubt nicht an Geister. Doch in dem Haus, das sie gerade mit ihrem neuen Ehemann bezogen hat, spielen sich ungeheure Dinge ab. Die Gemäuer scheinen ein Eigenleben zu führen, Türen und Treppen sind plötzlich nicht mehr da. Zur Ablenkung flüchtet Gwenda sich zu Freunden, wo sie auf die neugierige Miss Marple trifft. Die alte Dame erkennt bald, dass hinter dem Spuk in der alten Villa eine tragische Familiengeschichte steht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 286
Agatha Christie
Ruhe unsanft
Miss Marples letzter Fall
Aus dem Englischen von Eva Schönfeld
Atlantik
Gwenda Reed stand fröstelnd auf dem Ankunftskai. Der Hafen, das Zollgebäude und alles Übrige, was sie von England sehen konnte, schwankte noch sacht vor ihren Augen auf und ab.
In diesen Minuten fasste sie den Entschluss, der zu so folgenschweren Ereignissen führen sollte. Nein, sie würde nicht, wie sie beabsichtigt hatte, mit dem Anschlusszug nach London weiterfahren.
Wozu auch? Niemand holte sie ab, niemand erwartete sie. Eben erst war sie glücklich von den knarrenden Schiffsplanken herunter – die letzten drei Tage durch die Biscaya nach Plymouth waren besonders strapaziös gewesen –, und das Letzte, was sie sich wünschte, war das Einsteigen in einen ratternden, wackelnden Zug. Lieber ging sie in ein Hotel, ein nettes, solides Hotel, das auf festem, solidem Boden stand. Und dort würde sie sich in ein schönes, solides Bett legen, das nicht wie eine schaukelnde Wiege hin und her schwang. Sie würde sich richtig ausschlafen, und am nächsten Morgen … Ja, natürlich, was für eine großartige Idee! Da konnte sie sich einen Wagen mieten und ohne Eile durch Südengland fahren, um sich nach einem Haus umzusehen, einem hübschen Haus, in dem sie und Giles künftig miteinander leben würden. Wirklich, ein glänzender Gedanke!
Auf diese Art würde sie gleich etwas von England sehen, das sie bisher nur aus Giles’ Erzählungen, nicht aus eigener Anschauung kannte, obgleich sie es wie alle Neuseeländer »die alte Heimat« nannte. Im Moment machte England allerdings keinen sehr anziehenden Eindruck. Der Tag war grau, nasskalt und windig. Vermutlich, dachte Gwenda, während sie folgsam in der Passagierschlange zur Pass- und Zollabfertigung weiterrückte, war Plymouth nicht gerade das beste Schaufenster Englands.
Am folgenden Morgen wurden ihre ersten Eindrücke jedoch gründlich umgeworfen. Die Sonne schien. Der Blick aus ihrem Fenster war reizvoll, und die Welt im Allgemeinen wogte und wankte nicht mehr, sondern hatte sich beruhigt.
Dies war endlich England, und dies war sie, Gwenda Reed, frischgebackene junge Ehefrau auf Reisen. Wann Giles nach England nachkommen würde, war noch etwas unsicher. Vielleicht folgte er ihr in ein paar Wochen, aber es konnte auch noch bis zu einem halben Jahr dauern. Darum hatte er Gwenda vorgeschlagen, allein nach England vorauszufahren und ein passendes Haus ausfindig zu machen. Beide malten es sich als erstrebenswert aus, irgendwo ein ruhiges Plätzchen auf Dauer zu haben. Zwar würde Giles weiterhin beruflich oft verreisen müssen, und Gwenda würde ihn gelegentlich begleiten, aber es war doch ein schöner Gedanke, dann immer wieder wirklich nach Hause in die eigenen vier Wände zu kommen. Da Giles von einer verstorbenen Tante kürzlich einige schöne alte Möbel geerbt hatte, war es das Vernünftigste und Praktischste, damit ein eigenes Heim zu gründen.
Da sie beide ziemlich vermögend waren, machte auch die finanzielle Seite ihres Planes keine Schwierigkeiten.
Gwenda hatte zunächst Bedenken geäußert, das Haus ganz allein auszusuchen. »So was sollte man doch zusammen machen«, meinte sie. Aber Giles hatte lachend erwidert: »Ich habe von Häusern nicht viel Ahnung. Wenn dir eins gefällt, wird es mir recht sein. Ein Garten gehört wohl dazu, und überhaupt – natürlich keiner von diesen neuen Betonklötzen, und nicht zu groß. Irgendwo an der Südküste, das wär mein Traum. Jedenfalls nicht zu weit im Binnenland.«
»Denkst du an einen bestimmten Ort?«, hatte Gwenda sich erkundigt.
Giles verneinte. Er hatte seine Eltern früh verloren – sie waren beide Waisen – und war in den Schulferien so viel bei verschiedenen Verwandten herumgereicht worden, dass ihn nichts mit einer besonderen Gegend verband. Es sollte Gwendas Haus werden – und warum so lange warten, bis sie es gemeinsam aussuchen konnten? Gesetzt den Fall, er wurde noch monatelang aufgehalten – was sollte sie dann in der Zwischenzeit mit sich anfangen? Immer nur in Hotels herumhängen? Nein, da suchte sie sich doch lieber ein Haus aus und begann mit dem Einrichten.
»Mit anderen Worten«, sagte Gwenda lachend, »ich soll dir alle Schwierigkeiten abnehmen!«
Aber der Gedanke, Giles bei seiner Ankunft ein fertiges, gemütlich eingerichtetes Heim zu präsentieren, reizte sie. Sie waren erst ein Vierteljahr verheiratet, und sie liebte ihn sehr. Nachdem sie im Bett gefrühstückt hatte, plante sie ihre nächsten Schritte. Sie verbrachte einen Tag mit der Besichtigung von Plymouth, das ihr jetzt ganz gut gefiel, und am nächsten Vormittag mietete sie sich einen Daimler und startete zu ihrer Küstentour.
Das Wetter war schön, und sie genoss die Fahrt. Von den verfügbaren Wohnsitzen, die sie sich in Devonshire ansah, entsprach zwar keiner ganz ihren Vorstellungen, aber sie hatte keine Eile und suchte unverdrossen weiter. Da sie rasch lernte, zwischen den Zeilen der enthusiastischen Maklerprospekte zu lesen, ersparte sie sich eine ganze Reihe nutzloser Abstecher.
Es war an einem Dienstagabend, ungefähr eine Woche später, als sie den Wagen langsam um die letzte Kurve der Hügelstraße nach Dillmouth steuerte. Am Rande dieses noch immer bezaubernden Badeortes stand ein Schild »Zu verkaufen« vor einem Grundstück, durch dessen Bäume eine kleine weiße viktorianische Villa schimmerte.
Es gab Gwenda einen freudigen Ruck, sie hatte fast das Gefühl, sie zu kennen. Das war ihr Haus! Sie wusste es mit absoluter Sicherheit. Obwohl sie nichts Genaues sah, konnte sie sich den Garten, die hohen Fenster und Glastüren deutlich ausmalen. Dies war das Haus, das sie gesucht hatte.
Wegen der vorgerückten Stunde logierte sie sich vorerst im »Royal Clarence« ein und holte sich am nächsten Morgen eine Besichtigungserlaubnis von der Maklerfirma, deren Adresse sie auf dem Schild gelesen hatte.
Mit diesem Zettel und einigen Hinweisen ausgerüstet, stand sie bald in einem altmodischen Salon mit zwei Fenstertüren, die auf eine plattenbelegte Terrasse hinausführten. Um die Terrasse zog sich eine Art Steingarten, von Ziersträuchern unterbrochen, der ziemlich steil zum anschließenden Rasenstreifen hin abfiel. Durch die Bäume am Ende des Gartens glitzerte hier und da das Meer.
Das ist mein Haus, dachte Gwenda wieder. Hier bin ich daheim. Mir ist, als würde ich jede Ecke genau kennen.
Eine Tür ging auf, und eine große, melancholisch aussehende und offenbar erkältete Dame begrüßte Gwenda, die ihren Namen nannte und hinzufügte: »Mrs Hengrave, nicht wahr? Ich komme von Galbraith & Penderley. Entschuldigen Sie mein frühes Erscheinen …«
Mrs Hengrave putzte sich die Nase und erwiderte gramvoll, das mache ihr nichts aus. Der Rundgang durch das Haus konnte beginnen.
Ja, alles stimmte. Nicht zu groß. Ein wenig altmodisch, aber dies und das konnten sie und Giles ja nach eigenem Ermessen modernisieren, zum Beispiel die Küche. Ein Boiler war zum Glück schon vorhanden. Mit einer neuen Spüle und anderen zeitgemäßen technischen Errungenschaften …
Mrs Hengraves monotone Stimme untermalte Gwendas vorausplanende Gedanken und berichtete mit großer Ausführlichkeit von der letzten Krankheit ihres verstorbenen Mannes. Gwenda nahm sich zusammen, um an den passenden Stellen mitfühlende und verständnisvolle Laute von sich zu geben. Mrs Hengraves Familie wohnte in Kent und bestürmte sie, möglichst rasch wieder in ihre Nähe zu ziehen. Ihr Mann hatte sehr an Dillmouth gehangen und war viele Jahre hindurch Vorstandsmitglied des Golfclubs gewesen, aber da sie nun Witwe war …
»Ja, natürlich … Wie traurig für Sie … Ich verstehe … Krankenhäuser sind nun mal so … Natürlich … Gewiss, Sie sollten …«
Neben solch pflichtschuldigem Gemurmel beschäftigte sich Gwendas Hirn fieberhaft mit praktischen Erwägungen: Wäscheschrank hierhin oder …? Ja. Das wird unser Schlafzimmer. Blick aufs Meer, das wird Giles freuen. Nützlicher kleiner Nebenraum, Ankleidezimmer oder so. Nun kommt das Badezimmer … Vermutlich noch eine Wanne aus Queen Victorias Zeiten mit Mahagonirand … tatsächlich! Wie hübsch – sie steht mitten im Raum! Das ändern wir nicht, das ist ja ein Museumsstück, und so riesig! Man kann eine Obstschale auf dem Rand abstellen, und Schwimmenten … Das heißt, zum täglichen Gebrauch bauen wir eins der ziemlich dunklen Hinterzimmer um, hellgrüne Kacheln und mit moderner Installation. Das dürfte kein Problem sein, die Leitungen werden einfach von der Küche heraufgeführt … Und dieses Bad lassen wir, wie es ist …
»Rippenfellentzündung«, wiederholte Mrs Hengrave. »Am dritten Tag wurde doppelseitige Lungenentzündung daraus …«
»Schrecklich«, sagte Gwenda. »Ist am Ende vom Flur nicht noch ein Schlafzimmer?«
So war es, und zwar haargenau so, wie Gwenda es sich vorgestellt hatte: fast rund, mit einem großen Erkerfenster. Auch hier musste natürlich einiges renoviert werden. Das Zimmer war in ganz gutem Zustand, aber warum hatten Leute wie Mrs Hengrave nur so eine Vorliebe für senfgelbe Wände?
Sie gingen den Korridor entlang und zur Treppe zurück. »Sechs Schlafzimmer«, murmelte Gwenda vor sich hin, »nein, sieben, wenn man das mit dem Erker mitzählt.«
Einige Dielen knarrten leise unter ihren Schritten. Schon war ihr zumute, als gehöre sie hierher und nicht Mrs Hengrave. Die war ein Eindringling – eine Frau, die Zimmer senfgleich streichen ließ und den Glyzinienfries im Salon sicher sehr schön fand! Gwenda sah verstohlen auf den getippten Merkzettel in ihrer Hand, auf dem auch der Schätzpreis des Grundstücks angegeben war.
Innerhalb weniger Tage hatte sie sich mit Häuserpreisen so vertraut gemacht, dass sie die verlangte Summe richtig beurteilen konnte. Sie war nicht hoch, selbst wenn sie die notwendigen Modernisierungskosten dazurechnete.
Obendrein stand neben dem Preis »Verhandlungsbasis«, sie konnte also noch etwas herunterhandeln. Mrs Hengrave musste außerordentlich erpicht darauf sein, nach Kent zu ihren Verwandten zurückzukehren.
Sie schickten sich eben an, die Treppe hinabzusteigen, als Gwenda sich von einer plötzlichen Woge irrationalen Grauens überflutet fühlte. Es war schwindelerregend, schwand aber fast so rasch, wie es gekommen war. Dennoch blieb ein ganz abwegiger Gedanke haften.
»Sagen Sie – spukt es in diesem Haus?«, fragte sie unwillkürlich.
Mrs Hengrave, die schon ein paar Stufen tiefer war und gerade Major Hengraves Agonie schilderte, drehte sich um und sah verletzt zu Gwenda auf.
»Nicht dass ich wüsste, Mrs Reed. Warum? Hat irgendjemand so etwas behauptet?«
»Sie haben nie etwas gemerkt oder gesehen? Ist denn in diesem Haus nie jemand gestorben?«
Wie dumm und taktlos von mir, dachte sie einen Sekundenbruchteil zu spät, vermutlich ist ja Major Hengrave hier …
»Mein Mann ist im ›Saint-Monica-Krankenhaus‹ verschieden«, sagte Mrs Hengrave steif.
»Ja, richtig, Sie haben es mir schon erzählt.«
»In einem Haus, das etwa 100 Jahre alt ist«, fuhr Mrs Hengrave merklich beleidigt fort, »dürften im Laufe der Zeit normalerweise mehrere Personen gestorben sein. Ich weiß da nicht Bescheid. Miss Elworth, von der mein lieber Mann dieses Haus vor sieben Jahren erwarb, befand sich bei bester Gesundheit und beabsichtigte, als Missionarin ins Ausland zu gehen. Auch sie hat keine Todesfälle in ihrer Familie erwähnt.«
Gwenda beeilte sich, die melancholische Witwe zu besänftigen, und sie kehrten in den geräumigen Salon im Erdgeschoss zurück. Dieser Raum hatte die friedliche, anheimelnde Atmosphäre, die ganz nach Gwendas Sinn war. Hier verstand sie den kurzen Moment der Panik selbst nicht mehr. Was war bloß über sie gekommen? An diesem Haus war nichts Unheimliches.
Sie bat Mrs Hengrave, ihr nun auch den Garten zu zeigen, und ging mit ihr durch eine der Glastüren auf die Terrasse. Hier müssten ein paar Steinstufen zum Rasen hinunterführen, dachte Gwenda an einer bestimmten Stelle, wo ein Forsythienbusch unmäßig in die Höhe und Breite geschossen war und den Blick aufs Meer versperrte. Nun, das würde sie ändern.
Die vermissten Stufen zum Rasen fanden sich am anderen Ende der Terrasse. Gwenda bemerkte, dass der Steingarten ungepflegt und verunkrautet war und die meisten Ziersträucher gestutzt werden mussten.
Mrs Hengrave murmelte entschuldigend, dass alles ziemlich verwahrlost sei. Sie konnte sich nur zweimal wöchentlich einen Gärtner leisten, und meistens erschien er nicht einmal. Nach Besichtigung des kleinen, aber ausreichenden Küchengartens gingen sie wieder ins Haus. Gwenda erklärte, sie müsse sich noch ein paar andere Objekte ansehen, ehe sie sich entscheiden könne, obwohl ihr »Hillside« – was für ein nichtssagender Name! – sehr gefiele. Mrs Hengrave ließ diesen Vorbehalt gelten und trennte sich von Gwenda mit vergrämtem Blick und einem letzten hoffnungslosen Schnüffeln.
Gwenda kehrte zum Maklerbüro zurück, machte ein festes Angebot und verbrachte den Rest des Vormittags mit einem Spaziergang durch Dillmouth. Es war ein hübsches, altmodisches Küstenstädtchen. Am entgegengesetzten modernen Ende standen ein paar neuere Hotels und Bungalowrohbauten; eine weitere Ausdehnung wurde durch die Art der Küste und das hügelig ansteigende Hinterland eingeschränkt.
Nach dem Mittagessen erfuhr Gwenda telefonisch vom Makler, Mrs Hengrave habe ihr Angebot angenommen. Mit einem Lächeln auf den Lippen begab sie sich zum Postamt, um Giles folgendes Telegramm zu schicken:
HAUS GEKAUFT STOPP IN LIEBE GWENDA
Das wird ihn munter machen, dachte sie. Jedenfalls sieht er, dass ich nichts auf die lange Bank schiebe!
Ein Monat verging. Gwenda hatte »Hillside« bezogen, Giles’ ererbte Möbel aus dem Lagerspeicher kommen lassen und sie aufgestellt. Es war altmodisches, gediegenes Mobiliar. Zwei übergroße Schränke hatte sie verkauft, alles Übrige passte harmonisch zum Gesamtstil des Hauses. In den Salon kamen ein paar hübsche, mit Perlmutter eingelegte Pappmascheetischchen, bemalt mit Burgen und Rosen, und ein zierlicher Handarbeitsständer mit einem Beutel aus flohfarbener Seide unter der Arbeitsplatte. Das große Chesterfield-Sofa stand zwischen den Terrassentüren, die Polstersessel thronten zu beiden Seiten des Kamins. Dazu ein Sekretär aus Rosenholz und ein Mahagoni-Sofatisch. Für die Vorhänge hatte sie Chintz gewählt, aus einem blassen Eierschalenblau, mit feinen Rosenvasen und gelben Vögeln darauf. So war es genau richtig, fand sie.
Allerdings wohnte sie noch etwas provisorisch, da die Handwerker noch nicht aus dem Hause waren. Bis Gwenda durch ihren energischen Einzug Druck dahintersetzte, hatten sie getrödelt. Nun war wenigstens die Küche fertig und das neue Badezimmer auch.
Mit einigen anderen Veränderungen ließ sie sich bewusst Zeit, um das Vergnügen des Dekorierens auszukosten und genau die Farben und Muster für die Schlaf- und Gästezimmer zu wählen, die ihr vorschwebten. Das Haus war so weit in Ordnung, dass sie wirklich nicht alles auf einmal zu tun brauchte.
In der Küche schaltete und waltete jetzt Mrs Cocker, eine Frau von herablassender Würde, die dazu neigte, Gwendas demokratische Freundlichkeit in ihre Schranken zu weisen. Aber nachdem Gwenda begriffen hatte, wo ihr Platz war, zeigte Mrs Cocker sich durchaus willens, einige Zugeständnisse zu machen.
An dem Morgen, von dem hier die Rede sein soll, stellte sie ein Frühstückstablett auf Gwendas Knie, als diese sich kaum im Bett aufgesetzt hatte. Es war ihre unumstößliche Meinung, dass Damen im Bett zu frühstücken hatten, wenn der Herr nicht zu Hause war, und Gwenda hatte sich dieser Vorschrift gefügt. Offenbar wusste Mrs Cocker mehr von feiner englischer Lebensart als sie.
»Heute gibt’s Rührei«, bemerkte Mrs Cocker. »Sie sagten etwas von geräuchertem Schellfisch, aber das ist kein Gericht fürs Schlafzimmer. Es riecht. Zum Abendessen werde ich Ihnen den Fisch mit holländischer Sauce auf Toast servieren.«
»Klingt herrlich, Mrs Cocker, danke!«
Mrs Cocker lächelte gnädig und wandte sich zur Tür. Gwenda bewohnte noch nicht das Eheschlafzimmer; das schob sie bis zu Giles’ Ankunft auf. Stattdessen hatte sie das Zimmer am Ende des Korridors für sich genommen, das mit den abgerundeten Wänden und dem Erkerfenster, in dem sie sich ganz besonders wohl und zu Hause fühlte. Auch heute sah sie sich zufrieden um und sagte impulsiv: »Ich mag dieses Zimmer.«
Mrs Cocker, die Klinke schon in der Hand, nickte ihr nachsichtig zu.
»Gewiss, es ist ein nettes Zimmer, Madam, nur ein bisschen klein. Nach dem Fenstergitter zu schließen, ist es wohl früher das Kinderzimmer gewesen.«
»Ach ja, vielleicht. Darauf bin ich noch gar nicht gekommen.«
»Eignen tut sich’s jedenfalls dafür«, meinte Mrs Cocker in etwas anzüglichem Ton und zog sich würdevoll zurück. Es war, als hätte sie gesagt: Sobald wir einen Herrn im Haus haben, wird ein Kinderzimmer vielleicht wieder benötigt, wer weiß?
Gwenda war leicht errötet und sah sich daraufhin noch einmal genauer um. Ja, der Raum war wie geschaffen für ein Kinderzimmer. In Gedanken fing sie sofort an, es einzurichten. Ein großes Puppenhaus drüben an der Wand. Niedrige Spielzeugregale. Ein lustig prasselndes Feuer im Kamin, davor ein hohes Schutzgitter, auf dem Kleinigkeiten trockneten. Nur dieser abscheuliche senfgelbe Anstrich musste weg! Dafür eine helle fröhliche Tapete: kleine Mohn- und Kornblumensträuße … Ja, das würde reizend aussehen. Sie musste unbedingt versuchen, so ein Muster aufzutreiben. Irgendwo, das wusste sie bestimmt, hatte sie es schon einmal gesehen.
Sonst waren nicht viele Möbel nötig. Zwei Einbauschränke gab es schon; allerdings war der eine abgeschlossen und mit der hässlichen Farbe übermalt, er musste seit Jahren nicht benützt worden sein. Die Handwerker sollten ihn wieder öffnen, bevor sie das Haus endgültig räumten. Sie hatte nicht genug Platz für ihre Sachen.
Mit jedem Tag fühlte sie sich in »Hillside« heimischer. Während sie frühstückte, hörte sie durch das offene Fenster ein ausgiebiges Räuspern und dann kurzes, trockenes Husten. Foster, der launenhafte Gelegenheitsgärtner, auf dessen Versprechen nicht immer Verlass war, hatte sich also eingefunden.
Gwenda brachte rasch ihre Morgentoilette hinter sich und ging in den Garten hinunter. Foster arbeitete im Steingarten bei der Terrassentür. Gwendas erste Anordnung war gewesen, an dieser Stelle einen Weg zwischen Rasen und Terrasse anzulegen. Foster hatte zunächst eingewendet, dass dann einige Forsythien, Weigelien und Fliedersträucher weichen müssten, aber Gwenda hatte auf ihrem Wunsch beharrt, und nun fand er ihn beinahe so richtig wie sie.
Er begrüßte sie mit einem Kichern.
»Sieht aus, als wollten Sie’s wieder haben wie in der guten alten Zeit, Miss.« Auch dass er Gwenda hartnäckig »Miss« nannte, gehörte zu seinen Eigenheiten.
»Wie in der guten alten Zeit? Wieso?«
Foster klopfte mit seinem Spaten auf die Erde. »Da waren früher schon mal Stufen, sehen Sie? Ganz wie Sie’s jetzt haben wollen. Irgendwer hat die Platten abgetragen und alles zugepflanzt.«
»Wie dumm«, sagte Gwenda. »Dadurch ist die ganze Aussicht aus dem Salon verdorben worden.«
Mr Foster, der mit einem solchen Gedanken nicht viel anfangen konnte, stimmte vorsichtig zu.
»Ich habe ja nicht bestritten, dass es eine Verbesserung sein könnte, Miss. Sicher, so hat man wieder einen freieren Blick. Die Büsche da haben den Salon dunkel gemacht. Bloß um die Forsythie ist es schade, die wuchs wie verrückt – hab nie so eine gesunde Forsythie gesehen. Mit dem Flieder ist nicht viel los, aber die Weigelien haben allerhand gekostet, Miss, und zum Umpflanzen sind sie jetzt zu alt, vergessen Sie das nicht.«
»Ich weiß. Aber so wird es viel, viel hübscher.«
»Na ja.« Foster kratzte sich am Kopf. »Kann sein.«
»Es ist so«, bekräftigte Gwenda. Dann fragte sie plötzlich: »Wer hat eigentlich früher hier gewohnt? Die Hengraves besaßen das Haus doch nicht sehr lange?«
»Nein, höchstens sechs, sieben Jahre. Passten beide nicht her. Und vorher? Die Damen Elworth. Sehr kirchenfromm, hatten’s immer mit der Heidenmission. Einmal kam sogar ein schwarzer Prediger zu Besuch. Drei Schwestern waren es und ein Bruder – aber der hatte bei den Frauen nicht viel zu melden. Und vorher – vorher – da wohnte Mrs Findeyson in ›Hillside‹. Ach ja, die gehörte nach Dillmouth, eine richtige feine Herrschaft. Wohnte schon im Haus, als ich noch nicht auf der Welt war.«
»Dann ist die alte Dame wohl auch hier gestorben?«
»Gestorben ist sie in Ägypten oder irgendwo in der Fremde. Aber ihr Sarg wurde heimgebracht und auf unserem Friedhof begraben. Die Magnolie und den Goldregen hat sie noch pflanzen lassen. War immer ganz verrückt auf Ziersträucher.« Foster widmete ihr ein paar Schweigesekunden, ehe er fortfuhr: »Damals gab’s die neuen Häuser am Hang noch nicht, und keine Andenkenläden und keine Strandpromenade.« Seine Miene verriet die Missbilligung des Alteingesessenen. »Veränderungen«, knurrte er. »Nichts als Veränderungen.«
»Ich glaube, das ist nicht zu vermeiden«, sagte Gwenda. »Und schließlich bedeuten Veränderungen manchmal auch Verbesserungen, nicht wahr?«
»Ja, alles redet vom Fortschritt. Ich merke nichts davon. Fortschritt, ha!« Er gestikulierte in Richtung eines von einer hohen Hecke umgebenen Nachbargrundstücks zur Linken. »Das war mal unser städtisches Krankenhaus, jawohl. Nett und gemütlich für jeden zu erreichen. Und dann gehen sie hin und bauen einen Riesenkasten vor der Stadt. Zwanzig Minuten Fußmarsch, wenn man am Besuchstag mal hin muss, oder teures Fahrgeld für den Bus.« Wieder deutete er grimmig auf die Hecke. »Ist jetzt ne Mädchenschule. Vor zehn Jahren sind sie eingezogen. Nichts wie Veränderungen. Heutzutage kaufen die Leute ein Haus, wohnen zehn oder zwölf Jahre drin, und plötzlich sind sie wieder auf und davon. Ruhelos … Wozu soll das gut sein? Hat doch gar keinen Zweck, etwas zu pflanzen, wenn’s nicht auf lange Sicht ist.«
Gwenda sah liebevoll auf die Magnolie. »Wie Mrs Findeyson es tat«, sagte sie.
»Ja, die war noch vom alten Schlag. Kam als junge Frau her, zog ihre Kinder auf und verheiratete die Töchter, begrub ihren Mann, kriegte im Sommer Besuch von ihren Enkeln und starb, als sie beinahe achtzig war.«
Diesmal drückte Fosters Ton warme Anerkennung aus, und Gwenda kehrte mit einem Lächeln ins Haus zurück. Nachdem sie ein paar Dinge mit den Handwerkern besprochen hatte, setzte sie sich an den Rosenholzsekretär, um ein paar liegen gebliebene Briefe zu beantworten. Darunter war die Einladung eines jungen Ehepaars aus London, Verwandte von Giles. Sie schrieben sehr nett, wenn sie Lust habe, würde sie ihnen in ihrem Haus in Chelsea jederzeit willkommen sein.
Raymond West war ein namhafter, wenn auch nicht besonders populärer Schriftsteller, wie Gwenda wusste, und seine Frau Joan war Malerin. Es war verlockend, ihrer Einladung zu folgen, obwohl sie sie wahrscheinlich für eine schreckliche Spießerin halten würden. Giles und ich, dachte Gwenda, sind wirklich keine Intellektuellen.
Feierliche Gongschläge dröhnten durch die Halle. Auch dieser Gong, der in einem geschnitzten Ebenholzrahmen hing, war eine von Giles’ ererbten Raritäten. Mrs Cocker bereitete es großes Vergnügen, ausgiebig darauf zu schlagen. Gwenda hielt sich die Ohren zu, stand auf und durchquerte rasch den Salon, um sich ins Speisezimmer zu begeben.
Erst dicht vor der Wand blieb sie abrupt mit einem ärgerlichen Ausruf stehen. Nun passierte es ihr schon zum dritten Mal, dass sie direkt durch die Wand nach nebenan wollte! Stattdessen musste sie nun zurück in die Halle, den Flur entlang und um die Ecke des Salons ins Esszimmer gehen. Es war ein Umweg und würde besonders im Winter eine unangenehme Zugabe sein, denn in der Halle zog es, und Zentralheizung gab es nur in den Wohnräumen.
Eigentlich, dachte Gwenda, als sie sich an den anmutigen Sheraton-Esstisch setzte, könnte ich noch schnell eine Tür vom Salon ins Speisezimmer durchbrechen lassen. Ich werde heute Nachmittag mit Mr Sims reden.
Mr Sims, der Innenarchitekt, war ein liebenswürdiger Mittvierziger mit gedämpfter Stimme und stets gezücktem Notizbuch, in das er die teuren Sonderwünsche seiner Klienten einzutragen pflegte. Als Gwenda ihm den ihren vortrug, stimmte er sofort lebhaft zu.
»Nichts einfacher als das, Mrs Reed – und meines Erachtens eine entschiedene Verbesserung.«
»Wird es sehr kostspielig?« Gwenda war dem stets begeisterten Mr Sims gegenüber inzwischen etwas vorsichtiger geworden. Sie hatte schon ein paar unerfreuliche Überraschungen erlebt, die nicht in seinem Kostenvoranschlag gestanden hatten.
»Eine Kleinigkeit«, versicherte Mr Sims mit seiner sanften, verschleierten Stimme, und Gwenda beschlichen mehr Zweifel denn je. Gerade Mr Sims’ »Kleinigkeiten« hatte sie zu misstrauen gelernt. »Wissen Sie was?«, fuhr er überredend fort, »ich werde Taylor beauftragen, sich die Sache nachher mal anzusehen, damit Sie Bescheid wissen. Hängt davon ab, wie das Mauerwerk ist.«
Gwenda willigte ein und kehrte zu ihrer Korrespondenz zurück. Sie dankte Joan West für die Einladung, erklärte aber, dass sie vorläufig nicht von Dillmouth wegkönne, solange die Handwerker im Haus seien und sie die Arbeiten beaufsichtigen müsse. Dann ging sie aus, warf die Briefe ein, machte einen längeren Spaziergang auf der Seepromenade und genoss die salzige Brise. Als sie eine Weile später den Salon betrat, richtete sich Taylor, Mrs Sims’ Vorarbeiter, an der Wand aus einer Kniebeuge auf und begrüßte sie mit freundlichem Grinsen.
»Macht gar keine Schwierigkeiten, Mrs Reed«, sagte er. »Hier war nämlich früher schon mal eine Tür. Irgendjemand hat sie nicht gepasst, und der hat sie einfach zumauern lassen.«
Gwenda war angenehm überrascht. Wie merkwürdig, dachte sie, dass ich von Anfang an das Gefühl hatte, dort müsse eine Tür sein. Sie erinnerte sich an die Selbstverständlichkeit, mit der sie schon dreimal darauf losgegangen war. Gleichzeitig überflog sie ein winziger, unbehaglicher Schauer. Genau genommen war es doch sehr merkwürdig. Warum hatte sie so todsicher angenommen, dass dort eine Tür hingehörte? Weder an der Salon- noch an der Esszimmerwand war eine Spur davon zu sehen. Wieso hatte sie geahnt – gewusst –, wie es früher gewesen war? Natürlich war es sinnvoll, sich der Bequemlichkeit halber einen direkten Durchgang zu wünschen, aber warum war sie immer blindlings auf diese eine Stelle losgegangen? Bei der Breite der Wand hätte es mehrere Möglichkeiten gegeben, aber nein, sie war jedes Mal automatisch, in Gedanken bei ganz anderen Dingen, genau auf die eine Stelle zugesteuert, wo die Tür sich früher tatsächlich befunden hatte.
Hoffentlich bin ich keine Hellseherin oder so etwas Ähnliches, dachte Gwenda beunruhigt. Soviel sie wusste, war sie immer vollkommen normal gewesen. Sie gehörte nicht zu den Übersensiblen. Oder etwa doch? Wie war das mit den Steinstufen, die von der Terrasse zum Rasen führten, vielmehr geführt hatten? Hatte sie auch da etwas geahnt, weil sie so sehr auf einer Wiederherstellung bestand?
Vielleicht bin ich doch für übersinnliche Einflüsse empfänglich, überlegte sie unbehaglich. Oder lag es am Haus?
Warum hatte sie Mrs Hengrave bei der Besichtigung die Frage gestellt, ob es hier spuke?
Es spukte nicht, es war ein wunderschönes Haus! Mrs Hengrave hatte mit Recht über so eine Idee gestaunt. Oder war in ihrer Reaktion nicht doch eine Spur von Reserve und Vorsicht gewesen?
Mein Gott, ich fange noch an, mir Dinge einzubilden, dachte Gwenda und zwang sich, sachlich mit Taylor zu reden, was ihr auch gelang.
»Ach, noch was«, fügte sie am Schluss hinzu. »Oben in dem kleinen Erkerzimmer ist ein Einbauschrank abgeschlossen und übermalt. Können Sie den wieder öffnen?«
Der Mann ging mit ihr hinauf und nahm die Sache in Augenschein.
»Die Tür ist sogar mehrmals übermalt worden«, erklärte er. »Ich besorge jemand, der ihn morgen aufmacht, wenn Ihnen das passt.«
Gwenda sagte, es passe ihr sehr gut, und Taylor verabschiedete sich.
An diesem Abend war sie schreckhaft und nervös. Während sie im Salon saß und zu lesen versuchte, hörte sie jedes Knacken der alten Möbel überdeutlich. Manchmal überlief sie ein Schauder, und sie blickte unruhig über die Schulter. Immer wieder sagte sie sich, dass an den Vorfällen mit der Tür und den Gartenstufen nichts Übersinnliches sei. Beides ließ sich mit gesundem Menschenverstand ganz einfach erklären.
Obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, graute ihr etwas vor dem Zubettgehen, und als sie sich endlich überwand, die Leselampe auszuknipsen und in die Halle hinauszutreten, fürchtete sie sich noch mehr vor der Treppe. Sie rannte beinahe die Stufen hinauf, hastete den Flur entlang und stürzte atemlos in ihr Zimmer. Kaum war sie dort, verflog ihre Angst. Aufatmend sah sie sich um: ja, hier fühlte sie sich geborgen und glücklich, hier war sie sicher. (Sicher wovor, du Dummkopf? fragte sie sich sofort.) Sie griff nach ihrem Pyjama und schlüpfte in die Pantoffeln.
Wirklich, schalt sie sich, du benimmst dich wie ein kleines Kind! Du solltest dir Hausschuhe mit Hasenmuster kaufen, wie für eine Sechsjährige. Mit einem Gefühl der Erleichterung ging sie zu Bett und war bald eingeschlafen.
Am nächsten Morgen hatte sie in der Stadt einiges zu erledigen und kam erst zur Mittagszeit nach Hause.
»Die Leute haben den Schrank aufgemacht«, berichtete Mrs Cocker, als sie die gebackene Seezunge mit Kartoffelbrei und Karottengemüse hereinbrachte.
»Sehr gut«, sagte Gwenda und machte sich mit Appetit über das Mittagessen her. Nach dem Kaffee im Salon ging sie in das kleine Schlafzimmer hinauf, trat zur Wand und öffnete die Schranktür.
Dann entfuhr ihr ein leiser Schreckensschrei, und sie starrte wie versteinert ins Innere.
An der Rückseite war die ursprüngliche Tapete des Zimmers erhalten geblieben, die überall sonst mit der senfgelben Wandfarbe übermalt worden war. Kein Zweifel: Früher war das ganze Zimmer hell und farbenfroh tapeziert gewesen. Das Muster zeigte Mohn- und Kornblumensträußchen.
Gwenda brauchte lange, bis sie sich von dem Anblick losreißen, mit weichen Knien zum Bett wanken und sich auf die Kante setzen konnte.
Was war los? Hier saß sie in einem kleinen Haus, das sie bis vor ein paar Wochen noch nicht gekannt hatte, in einem Land, in dem sie nie zuvor gewesen war, und doch hatte sie sich erst gestern früh im Bett ausgemalt, wie sie dieses Zimmer dekorieren wollte – mit einer Tapete, die schon frühere Bewohner an der Wand gehabt hatten.
Bruchstückhafte Erklärungen wirbelten ihr durch den Kopf. Dunne fiel ihr ein und seine Zeitexperimente … In die Zukunft sehen, nicht in die Vergangenheit …
Die Sache mit den Stufen im Garten und der Verbindungstür konnte man noch als Zufälle gelten lassen, aber hier hörten sie auf. Man konnte sich nicht eine Tapete mit einem so auffallenden Muster ausdenken und sie dann prompt hinter einer jahrelang verschlossenen Schranktür finden. Nein, dafür musste es eine Erklärung geben, die sie nicht kannte und die sie erschreckte. Jeden Augenblick entdeckte sie womöglich noch mehr Dinge, von denen sie gar nichts wissen wollte. Das Haus ängstigte sie. Aber war es wirklich das Haus, war es nicht sie selbst? Sie wollte nicht zu den Leuten gehören, die das Zweite Gesicht hatten. Gwenda holte tief Atem, zog einen leichten Mantel über und schlüpfte aus dem Haus. Auf der Post gab sie folgendes Telegramm (mit bezahlter Rückantwort) auf:
WEST,19ADDWAY SQUARE CHELSEA LONDON MEINUNG GEÄNDERT STOPP MÖCHTE MORGEN KOMMEN STOPP GWENDA
Raymond und Joan West taten ihr Möglichstes, damit die junge Frau ihres Vetters Giles sich bei ihnen wohlfühlte. Es war nicht ihre Schuld, dass Gwenda sie insgeheim ziemlich beunruhigend fand. Raymond sah sehr herrisch aus, wie eine angriffslustige Krähe. Seine Haarmähne und seine seltsame Unterhaltung, bei der er mitunter sehr laut wurde, verblüfften sie und machten sie nervös. Er und Joan schienen eine eigene Sprache zu sprechen. Gwenda war noch nie bei Intellektuellen zu Gast gewesen, und die ganze Art zu reden war ihr fremd.
»Wir wollen ein paarmal mit dir ins Theater gehen«, sagte Raymond beim Begrüßungsschluck. Obwohl Gwenda nach der Fahrt lieber eine Tasse Tee als den angebotenen Gin getrunken hätte, heiterte sich ihre Miene bei dieser Aussicht auf. Raymond fuhr fort:
»Heute Abend haben wir Karten für das ›Sadler’s Wells-Ballett‹, und morgen geben wir eine Geburtstagsfeier für meine ziemlich unglaubliche Tante Jane. Ihr zu Ehren sehen wir uns alle den klassischen Thriller Die Herzogin von Amalfi an, mit Gielgud in der Hauptrolle. Und am Freitag musst du unbedingt den Marsch ohne Füße sehen, aus dem Russischen übersetzt und mit Abstand das bedeutendste Stück seit zwanzig Jahren. Es läuft im ›Witmore Theatre‹.«
Gwenda bedankte sich, dass man sich so rührend um ihre Unterhaltung kümmere. Wenn Giles kam, dachte sie im Stillen, konnte sie mit ihm noch genug Musicals besuchen. Sich Marsch ohne Füße ansehen zu müssen, erschreckte sie ein wenig, aber vielleicht gefiel es ihr sogar. Nur hatte man an »bedeutenden« Stücken meist nicht viel Freude.
»Tante Jane wird dir gefallen«, sagte Raymond. »Ein herrliches Prachtstück aus einer vergangenen Zeit. Konservativ bis ins Herz. Sie wohnt in einem Dorf, wo nie etwas passiert, still wie ein Waldsee.«
»Einmal ist dort aber doch etwas passiert!«, sagte Joan trocken.
»Nur ein Eifersuchtsdrama, plump und ohne psychologische Feinheiten.«
»Na, damals warst du fasziniert«, erinnerte Joan und zwinkerte ihm zu.
»Manchmal spiele ich auch gern Kricket«, gab Raymond würdevoll zurück.
»Wie dem auch sei, Tante Jane hat sich bei der Aufklärung des Falles mit Ruhm bedeckt.«
»Ja – sie ist kein Dummkopf. Sie schwärmt für Denksportaufgaben.«
»Auch rechnerische?«, fragte Gwenda, weil ihr sofort Dreisatzrechnungen einfielen.
Raymond winkte ab. »Alles Mögliche. Zum Beispiel: Warum hat die Lebensmittelhändlersfrau an einem klaren Frühlingsabend ihren Regenschirm zum Gemeindetreffen mitgenommen? Wie kamen die Reste einer Dosenkrabbe aufs Fensterbrett? Was geschah mit dem Chorhemd des Vikars? All das ist Wasser auf Tante Janes Mühle. Also, falls du irgendein Problem hast, Gwenda, vertrau es ihr an! Sie wird es unverzüglich lösen.«
Er lachte, und Gwenda lachte auch, obwohl nicht so unbefangen wie er. Und am nächsten Tag lernte sie Tante Jane, Miss Marple, persönlich kennen. Miss Marple war eine reizende alte Dame, groß und dünn, mit rosigen Wangen, blauen Augen, die oft humorvoll funkelten, und von freundlichem, etwas umständlichem Wesen.
Nach einem frühen Abendessen, bei dem auf Tante Janes Gesundheit angestoßen wurde, fuhren sie ins Theater. Zwei Bekannte, ein älterer Kunstmaler und ein junger Rechtsanwalt, waren mit von der Partie. Der Maler widmete sich Gwenda, und der Jurist teilte seine Aufmerksamkeiten zwischen Joan und Miss Marple, deren Bemerkungen ihm offenbar großen Spaß machten. Im Theater wurde die Sitzordnung allerdings geändert. Gwenda saß nun mitten in der Reihe zwischen Raymond und dem Rechtsanwalt. Die Lichter im Zuschauerraum erloschen. Der Vorhang ging hoch. Es wurde großartig gespielt, und Gwenda war begeistert. Sie hatte noch nicht viele gute Aufführungen gesehen.
Gegen Ende des Stücks kam der schaurige Höhepunkt. Die Stimme des Schauspielers tönte tragisch über die Rampe: »Bedeckt ihr Antlitz! Vor meinen Augen flimmert es, sie starb so jung …« Gwenda schrie, sprang von ihrem Sitz auf, ohne sich um die Unruhe, die im Publikum entstand, zu kümmern, drängte sich durch die Reihe und stürzte blindlings ins Foyer und auf die Straße hinaus. Erst am Piccadilly kam sie auf die Idee, ein Taxi zu nehmen. In Chelsea bezahlte sie mit zitternden Fingern den Fahrer und klingelte am Haus ihres Vetters. Das Dienstmädchen, das öffnete, sah sie erstaunt an.
»Sie kommen früh zurück, Ma’am. Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch … Nein … Es sind nur Kopfschmerzen …«
»Soll ich Ihnen etwas bringen, Ma’am? Vielleicht einen Brandy?«
»Nein, danke. Ich gehe lieber gleich zu Bett.« Gwenda eilte die Treppe hinauf, um weiteren Fragen auszuweichen.
Sie zog sich aus und ließ die Kleider unordentlich auf dem Boden liegen. Bald lag sie zitternd, mit klopfendem Herzen, da und starrte an die Zimmerdecke.
Sie hörte nicht, wie Joan, Raymond und Miss Marple nach Hause kamen, aber fünf Minuten darauf öffnete sich die Tür, und die alte Dame trat mit einer Wärmflasche und einer Tasse Tee ein.
Gwenda setzte sich im Bett auf und bemühte sich, ihr Zittern zu unterdrücken.
»Ach, Miss Marple – ich weiß nicht, wie ich mich entschuldigen soll. Ich habe mich idiotisch aufgeführt. Sind Joan und Raymond sehr wütend auf mich?«
»Keine Angst, mein liebes Kind!«, antwortete Miss Marple. »Legen Sie sich nur schön die Wärmflasche ins Bett.«
»Ich brauche eigentlich keine.«
»Heute schon. So ist’s gut. Und jetzt trinken Sie den Tee.« Der Tee war heiß, stark und viel zu süß, aber Gwenda trank ihn gehorsam aus. Das Zittern ließ fast sofort nach.
»Nun legen Sie sich brav hin und schlafen«, sagte Miss Marple. »Über Ihren kleinen Schock unterhalten wir uns morgen. Grübeln Sie nicht unnötig darüber nach! Schlafen Sie!«
Sie zog die Decke hoch, tätschelte Gwenda sanft die Wange und ging hinaus.
Unten fragte Raymond seine Frau gerade in gereiztem Ton: »Was, in aller Welt, war bloß in Gwenda gefahren? Ist sie krank, oder was?«