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Melli wohnt im Deutschland der nahen Zukunft und trägt ein Stigma, das sie zunehmend vom gesellschaftlichen Leben ausschließt. Als die Einschränkungen immer größer werden und sie Angst um ihr Leben bekommt, flüchtet sie nach Schweden in die Einsamkeit eines abgelegenen Waldes. Von dort aus schreibt sie Emails an ihre Freundin Charlotte, die in der Heimat zurückgeblieben ist. Sie bekommt nie eine Antwort, Charlotte scheint spurlos verschwunden. Stigma - Eine Geschichte über bunte Menschen in grünen Wäldern, einen schwarzen Hund und den leisen Kampf für Freiheit und Vielfalt.
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Seitenzahl: 395
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Für Matthias Göke.
Eiris sazun idisi
Sazun hera duoder
Suma hapt heptidun
Suma heri lezidun
Suma clubodun
Umbi cuoniouuidi
Insprinc haptbandun
Inuar uigandun. H.
(1. Merseburgischer Zauberspruch)
Einst saßen Idisi
saßen auf den Kriegerscharen
Einige fesselten einen Gefangenen
einige hemmten die Heere
Einige zertrennten scharfe Fesseln
Entspringe den Fesseln
entfahre den Feinden
(Freie Übersetzung nach Wolfgang Beck, Würzburg)
BUCH I MELLI
Kapitel I Ankunft
Kapitel II Sorgen
Kapitel III Förberedelser (Vorbereitungen)
Kapitel IV Nachrichten
Kapitel V Allein
Kapitel VI Status Vermisst
Kapitel VII Johannsson
Kapitel VIII Kycklingar och Örter (Hühner und Kräuter)
Kapitel IX Jag hoppas att vi överlever det (Ich hoffe, wir überleben das)
Kapitel X Snowbound (Eingeschneit)
Kapitel XI BROKIGAST
Kapitel XII Fat Cats
Kapitel XIII Punkt untan återvändo (Point of No Return)
Kapitel XIV Bondeoffer (Bauernopfer)
Kapitel XV Vit Riddare (Weißer Ritter)
Kapitel XVI Ljummen Bris (Laue Brise)
Kapitel XVII Håll käften! (Klappe halten!)
Kapitel XVIII Flyktingsgrupp (Flüchtlingsgruppe)
Kapitel XIX Camouflage
BUCH II KIRA
Kapitel I Ingen Aning (Keine Ahnung)
Kapitel II Överlämnande (Übergabe)
Kapitel III Sokol
Kapitel IV Jamie
Kapitel V Bläck (Tinte)
Kapitel VI Amygdala
Kapitel VII Indisk Sommar
Kapitel VIII Woodstock
Kapitel IX Die Rede
Kapitel X Lech Walesa
Kapitel XI Babypopo
Kapitel XII Shinrin Yoku
Kapitel XIII Klick
Kapitel XIV Na Zdrowie!
Kapitel XV Schilf
Kapitel XVI Falsche Fährten
Kapitel XVII Der dreibeinige Dieter
Kapitel XVIII Dueoddes Dünen
Kapitel XIX Kanonstilling G3
Kapitel XX Paradiesbakkerne
Kapitel XXI Enigma
Kapitel XXII Das Rügenwalder Ende
BUCH III CHARLOTTE
Kapitel I Rausch
Kapitel II Das Café
Kapitel III Connections
Kapitel IV Alarm!
Kapitel V Underground
Kapitel VI Ozean
Kapitel VII D-Tunnel
Kapitel VIII Das Geräusch
Kapitel IX Dididit Dahdahdah Dididit
Kapitel X Dysfunktion
Kapitel XI Taschenlampe
Kapitel XII Schlüsselbund
Kapitel XIII Licht!
Kapitel XIV Chico
Kapitel XV Kaffee
Kapitel XVI Wildhüter Daniel
Kapitel XVII Prepper
Kapitel XVIII Sorge
Kapitel XIX Schacht
Kapitel XX Lausitzer Neiße
BUCH IV LARS
Kapitel I Traust
Kapitel II Keine Heilung
Kapitel III The fucking Idiots
Kapitel V Tränen
Kapitel VI Pizza
Kapitel VII Das Raunen der Feinde
Kapitel VIII Mantrailing
Kapitel IV Schwarzer Hund
Kapitel IX Die Karte
Kapitel X Tiger!
Kapitel XI Die Hütte
Kapitel XII Die Grube
Kapitel XIII Was für ein Scheiß!
Kapitel XIV Begräbnis
Kapitel XV Tiny-House
Kapitel XVI Halsband
Kapitel XVII Elchkuh
Kapitel XVIII Wohlleben
Kapitel XIX Wolf!
Kapitel XX Verbandswechsel
Kapitel XXI Das Snowdonia-Gefühl
Kapitel XXII Rue
Kapitel XXIII Der See
BUCH V VIC
Kapitel I Hafen
Kapitel II Hanne
Kapitel III Frontfrau
Kapitel IV Check!
Kapitel V Teamgeist
Kapitel VI Lufthansa
Kapitel VII Faust
Kapitel VIII Einfrieren
Kapitel IX Störfelder
Kapitel X Apothekerschrank
Kapitel XI Kiepe
Kapitel XII Nicken
Kapitel XIII Johannsson’s Kafé LP
Kapitel XIV Brotkrumen
Kapitel XV Hans och Greta
Kapitel XVI Åskväder
Kapitel XVII Friends
Kapitel XVIII Fistel
Kapitel XIX Odyssee ohne Göttin
Kapitel XX Keine Gefahr!
Kapitel XXI Kurische Nehrung
Kapitel XXII Riesenrad
Kapitel XXIII Das Ende der Welt
Kapitel XIV Sicherer Ort
Kapitel XXV Bodenschätze
Kapitel XXVI Bovje
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 11.09.2026 9:43
Betreff: Erstes Lebenszeichen
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Donnerstag, 10.09.2026
Meine liebe Charlotte.
Inständig hoffend, diese Zeilen mögen dich auch tatsächlich erreichen, beginne ich nun mit meiner ersten Mail. Auf dass noch viele folgen werden und Du mir antworten wirst, sobald es Dir möglich ist, die virtuellen Kontrollinstanzen zu umgehen. Und so will ich Dir berichten, wie es mir ergangen ist, seit wir voneinander Abschied genommen haben und wie es mir gerade geht, so beinahe ganz allein mit mir selbst in diesem ach, so ungewohnt friedlichen Land. Vor vier Wochen erst bin ich hier angekommen und die Zeit dehnt sich erstaunlich. Ich bin einsam.
Vorab: Luna geht es gut. Sie hat die Reise gut überstanden und hier in der Wildnis kann sie den lieben langen Tag herumstreunen. Wenn sie unterwegs ist, sehe ich sie wie einen schwarzen Blitz zwischen den Bäumen umherhuschen, mit ihren langen Beinen springt sie mühelos durchs Dickicht. Der Wald ist ein Paradies, sie kann Mäuse und Fliegen fangen, im Schatten der Veranda liegen und mehrmals täglich im See baden, auf dessen langem Steg ich oft sitze, wie gerade jetzt, meinen Laptop vor mir und ein, zwei Blicken über den Bildschirm hinaus in den weiten Wald. Und jener tiefgrüne See gehört zum Haus, zu dem ich nun gehöre, weit und breit gibt es kein zweites und niemand ist hier. Wirklich niemand ist hier und das ist beruhigend und beunruhigend zugleich.
Die Einheimischen sind, wenn ich sie denn treffe, was nur passiert, wenn ich in den Ort fahren muss, stets freundlich, aber zurückhaltend und das ganz sicher aus gutem Grund.
Dank der Klimaerwärmung hält sich das Wetter ziemlich gut. Und so mache Dir bitte um Deine Luna keine Gedanken. Ich weiß, Du vermisst sie, aber glaub mir, es ist besser so.
Mein alter Eddi findet die Veränderung unerträglich. Er lungert ständig am Ofen herum und fragt so immer wieder an, ich solle ihn doch bitte, bitte den ganzen Tag und nicht nur abends beheizen, obwohl es draußen noch beinahe sommerlich ist. Wenn er mal muss, geht er nur kurz ums Eck an den nächsten Baum oder ins Gebüsch. Der Wald ist ihm vollkommen egal. Das Laufen fällt ihm schwer, das war auch schon vorher so, wie Du ja weißt. Er fiept jetzt auch viel mehr, ich mache mir Sorgen um ihn und muss unbedingt herausfinden, wo hier der nächste Tierarzt ist, den ich wohl aufsuchen muss, mit einem Wörterbuch bewaffnet, das ich aber noch kaufen muss.
Rue und Finn hocken stoisch auf dem Kriechboden, zwischen all dem Gerümpel sind sie kaum zu entdecken. Sie benötigen Zeit, um die Tage in ihren Transportboxen zu verwinden und sich hinauszutrauen in die neue Umgebung. Katzen sind so. Auch sie werden sich mit der Situation, wie sie ist, abfinden müssen. Genau wie Du und ich. Wahrscheinlich werden sie es sogar besser schaffen. Wir hadern doch alle sehr damit, nicht wahr, Charlotte?
Liebste Freundin, ich hoffe so sehr, dass es Dir gut geht. Ich hoffe so sehr, dass Du den heimatlichen Widrigkeiten trotzen und Deine stolze Haltung bewahren kannst und selbst immer wieder Halt in unserer Organisation findest, auch wenn es doch so schwierig ist. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen Kraft und Durchhaltevermögen, am Mangel von Allem bin ich wohl gescheitert und darum nun hier. So sitze ich in der endlosen schwedischen Abenddämmerung, eingedreht in eine warme Decke und kämpfe mit Citronellakerzen gegen Mücken und mit Rotwein und mitgebrachter Musik gegen meine Angst vor der Einsamkeit an. Meine Nächte hier sind lang, die Stille ist sehr laut.
Am Abend meiner Abreise hatte ich kein Ende gefunden, Abschied hie, Heulen da, Ralf hatte mich immer wieder als feige Sau und Verräterin beschimpft. Mein Kleiner hatte mir pragmatisch beim Verstauen der unzähligen Gepäckstücke auf dem Anhänger geholfen, während seine Frau die Kinder ins Bett brachte.
„Mama“, hat er gemeint, „ich werde gut auf Papa aufpassen. Er kommt sicher bald nach, wenn es ihm besser geht.“
Kein Wort hatte der gute Junge darüber verloren, dass das sicher nie passieren wird und auch wir beide uns wahrscheinlich nicht wiedersehen werden. Diese Dinge waren schon längst geklärt.
Ich habe von Kira die Skizze bekommen. Sie gab sie mir, nachdem sie am Tag meiner Ankunft kurz nach dem Rechten geschaut hatte. Ob es mir gutginge, hatte sie gefragt, und wir die Reise gut überstanden hätten. Ja sicher, das hatten wir. Und dann aßen wir gemeinsam zu Abend, ich erzählte und erzählte und Kira sprach nicht sehr viel. Na, Du kennst sie ja.
Die Skizze befindet sich auf einfachem kariertem Papier. Kira hatte mit Kugelschreiber ein kunstvolles Gemälde von ihrem Grundstück geschaffen. In der heutigen Zeit ist Papier ja beinahe überflüssig geworden, jedenfalls bei Euch da unten, aber hier oben ist es für mich überlebensnotwendig. Ich verdanke meiner Großen so viel, obwohl es mich doch unendlich schmerzt, nicht zu wissen, wo sie sich gerade in der Weltgeschichte herumtreibt. Aber wer kann schon darüber entscheiden, was der richtige Weg ist, wenn nicht jeder für sich selbst? Eine Rückkehr in die Heimat ist für meine Tochter – so wie jetzt auch für mich – keine Option mehr, dafür haben die verfluchten Heimatlichen gesorgt.
Die Skizze verwahre ich an einem speziellen Ort und nutze sie nur, wenn ich sie auch wirklich benötige. Das Leben hier ist teuer genug. Deshalb muss ich meinen Finanzplan einhalten, denn ich weiß nicht, ob und wann Kira das nächste Mal hier auftauchen wird.
Sie verschwand noch in der ersten Nacht und hinterließ einen Stapel schwedischer Kronenscheine, den ich sofort versteckte, wie alles Wertvolle hier. Man weiß ja nie, meinte sie und ich halte mich an ihre Anweisungen.
Der Wein ist mir zu Kopf gestiegen, es tut mir leid, mit meinem Bericht noch nicht so weit gekommen zu sein, ich muss bald schlafen. Morgen in aller Früh fahre ich in eines der nächsten Dörfer. Ich passe wirklich auf, Charlotte, dass man mich nicht so häufig sieht, um mich dann vielleicht wiederzuerkennen. Das auserkorene Dorf hat ein Ungetüm von Internetcafé. So oft gibt‘s die ja heutzutage nicht mehr, es erscheint mir auch sehr schlecht besucht, die Plätze sind kaum besetzt und der Angestellte wirkt recht unaufmerksam. Das ist gut. Von dort werde ich diese Mail losschicken, nachdem ich sie direkt nach dem Schreiben verschlüsselt, unser spezielles Sicherheitsprogramm genutzt und auf zwei verschiedenen Sticks gesichert und an zwei verschiedenen Orten am Haus versteckt habe. Auf den Sticks werde ich auch Deine Antwort speichern, wenn sie denn kommt, was ich inständig hoffe, und alle weiteren Mails und Antworten. Denn ich lösche alle Konversationen gleich nach dem Schreiben und Lesen sofort vom Server. Gleich nachdem sie irgendein XY-VPN-Mist erneut verschlüsselt und auf kryptischen Wegen des www.‘s verschickt und empfangen, empfangen und wieder verschickt hat. Was danke ich Ralf für die damalige Nachhilfe! Er hatte so viel Geduld mit mir und ich habe es trotzdem nie wirklich verstanden.
Fünf Mückenstiche später ende ich nun und umarme Dich in Gedanken ganz fest.
In Vorfreude auf eine Antwort von Dir.
Deine Melli
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 21.09.2026 9:11
Betreff: Gedanken zur Heimat
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Sonntag, 20.09.2026
Ich habe keine Mail von Dir bekommen. Charlotte!
Ich weiß, ich muss geduldig sein, aber ich bin in permanenter Sorge, was bei euch da unten los ist. Die schwedischen Medien berichten nur sporadisch und ich kann mich nicht auf alle Informationen verlassen, die über die virtuellen, geschweige denn über die realen Grenzen gehen. So bleibt mir nur meine verdammte Hoffnung, wie immer! In schwachen Momenten bereue ich meinen Entschluss zur Flucht zutiefst.
Doch andererseits war es wohl genau der richtige Zeitpunkt. Die Grenzkontrollen und Ausreisebestimmungen wurden weiter verschärft, jetzt wäre ich wahrscheinlich nicht mehr rausgekommen. An dieser Stelle noch mal innigsten Dank für Deine Unterstützung, Liebste!
Inzwischen hörte ich von Auseinandersetzungen am Fährhafen von Sassnitz. Einmal habe ich im Internetcafé die Nachrichten gesehen, wie die Uniformierten der verfluchten Heimatlichen mehrere Familien aus dem Autotross geholt und weggebracht haben. So eine verdammt alte Geschichte, hat denn niemand etwas gelernt? Es ist, als hätten sich nur die Statisten dieses Dramas geändert, äußerlich und wie rein zufällig in der öden, ewig gleichen Geschichte der Menschheit.
Und was ist mit Ralf? Weißt Du etwas? Wenn ich an ihn denke, ergreift mich die Ohnmacht über sein stures Wesen, seinem Mangel an Selbstbeherrschung. Was hat er sich bloß dabei gedacht? Ich weiß, Du kannst es sicher nicht mehr hören, zu oft haben wir die Geschehnisse hin und her diskutiert. Ich begreife es bis heute nicht, warum er nicht einfach seine Klappe halten konnte.
Ja, natürlich begreife ich, warum er seine Klappe nicht halten konnte, und bewundere ihn noch heute für seine Zivilcourage. Wie oft hätte ich die Meine gerne aufgemacht, stattdessen habe ich meine Siebensachen und die Tiere eingepackt und bin von dannen gezogen. Doch was hat Ralf nun davon? Die Hirnblutung hat ihm seine rechte Seite genommen. Die Ärzte durften nicht einmal ein MRT machen, die neuen Vorschriften machen es möglich!
Die neuen Gesetze machen diese Vorschriften möglich. Man nehme sich ein beliebiges Stigma und schließe es vom System aus. Unser Stigma ist klar.
Charlotte! Bitte melde Dich kurz, ich vergehe vor Sorge!
In inniger Umarmung,
Melli
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 11.10.2026 11:03
Betreff: Förberedelser
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Samstag, 10.Oktober 2026
Min kära Charlotte.
Keine Antwort. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und vermeide immer noch konsequent jede telefonische Kontaktaufnahme. So versuche ich es wieder mit einer Mail. Ich schicke übrigens eine weitere Mail an die Organisation, mit der Bitte um genauere Information, obwohl das natürlich ein Risiko für mich bedeutet. Aber ich muss einfach wissen, was los ist.
Eddi ist von mir gegangen, Liebste. Er ist in den Wald gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Das war letzte Woche. Gemeinsam mit Luna habe ich ihn am Abend gesucht und schließlich gefunden, unter einem toten Baum lag er und sah unglaublich friedlich aus. Mit dem Handkarren schaffte ich ihn zum Haus zurück und vergrub ihn auf der kleinen Lichtung hinterm Schuppen. Das Leben ist traurig. Einen Tierarzt hatte ich nicht gefunden.
Gleichzeitig sind hier einige Dinge passiert, Charlotte. Kira war da. Am Abend, bevor Eddi starb, kam sie, wir aßen und tranken eine Kleinigkeit und sie verließ mich noch in der Nacht, als ich schlief. Wieder hat sie mir Geld dagelassen, meine liebste Tochter, diesmal waren es dänische Kronen.
Ja und der Herbst kommt mit langen Schritten, ich musste altes Holz sammeln und neues Holz schlagen. Mit meinen schmerzenden Händen fällt mir das sehr schwer und ich mühte mich tagelang damit ab. An einem Morgen hörte ich mitten im Wald plötzlich im Hintergrund ein Motorgeräusch.
Aber selbstverständlich habe ich mich versteckt!
Es war ein vollbärtiger Mann auf einem Quad. Er sah meinen Handkarren auf dem schmalen Weg stehen, stoppte und rief etwas auf Schwedisch. Als ich nicht reagierte, wechselte er in unsere Sprache. Akzentfrei.
„Wenn Du Holz brauchst, ich hab welches!“
Später half er mir beim Stapeln und reparierte sogar meinen Unterstand. Seinen Namen schreibe ich Dir aus Sicherheitsgründen lieber nicht, so nenne ich ihn für Dich nur den Holz-Heini.
Holz-Heini ist ein netter Deutsch-Schwede, sein Häuschen soll ungefähr zehn, fünfzehn Kilometer von meinem entfernt stehen. Er erzählte viel von sich und vom Wetter und von langen schwedischen Wintern und ich erzählte aus wichtigen Gründen wenig von mir. Holz-Heini war offensichtlich froh, mal wieder mit jemandem sprechen zu können und gab mir wertvolle Tipps, wie ich mich wann mit welchen Vorräten eindecken müsste und woher ich sie bekäme, in allerlei Dörfern rundherum und weiter weg. Schließlich gab er mir noch eine zerknitterte topographische Landkarte, auf der er mein Häuschen und seines mit je einem Kreuzchen kennzeichnete. Außerdem machte er noch ein Dutzend weitere Kreuze und brummte halblaut etwas von „andere wie wir“ in seinen speckigen Bart.
Holz-Heini sieht merkwürdig alterslos aus, Charlotte. Er ist etwa so groß wie Ralf, was ja nur mäßig groß ist, aber er ist deutlich sehniger. Gegen mich als eher zierliche Person wirkt er ziemlich wuchtig. Von ihm geht ein stetig würziger Testosterongeruch aus, wie bei Männern, die schwere Arbeit und Schwitzen gewohnt sind. Sein Kleidungsstil – Holzfällerhemd und Cargo Hose – ließ Pragmatismus und Nachlässigkeit erkennen. Beim Arbeiten trug er nur ein schmuddeliges T-Shirt, das seine Stigmata erkennen ließ. Holz-Heinis Tatkraft steckte mich irgendwann an, ich war also beinahe gut gelaunt in seiner Gegenwart. Wenige Tage später brachte er mir mit meinem Anhänger eine große Fuhre abgelagertes Holz und ich gab ihm einen Korb Eingemachtes. Die Gläser stammen nicht von mir, ich fand sie im Erdkeller und erkannte Kiras geschwungene Schrift auf den Etiketten.
In den kommenden Tagen habe ich dann immer früh morgens die Supermärkte der Dörfer abgeklappert und meine Einkaufsliste abgearbeitet. Ich bin geizig mit dem Geld, manches aber muss ich einfach für die kommenden Tage und Wochen ausgeben. Mir fehlen zwar noch einige Dinge, aber immerhin ist ja noch kein Schnee gefallen. Kostbarer Diesel für den Generator habe ich jede Menge, an jeder Tankstelle habe ich über mehrere Tage je einen Kanister geholt. Die Solarpanele, die Kira damals aus weisem Grund ans Hausdach angebracht hatte, sind Gold wert. Trotzdem bin ich mit dem bisschen Strom sparsam, wie mit allem.
Inzwischen regnet es viel und die Temperaturen sinken. Mich fröstelt es permanent und Luna tut so, als sei nichts. Nach wie vor badet sie im See, neulich brachte sie einen Fasan aus dem Wald heim, merkwürdigerweise wollte sie ihn nicht fressen. Und so gab es für mich ideologische Vegetarierin Fasanbraten. Die Innereien bekamen die Katzen, die inzwischen wie selbstverständlich im Gelände herumstromern und vorm Ofen liegen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Die Tiere retten mich über das gröbste Einsamkeitsgefühl hinweg.
Vielleicht sollte ich mal die „Anderen wie wir“ kontaktieren?
Charlotte, meine liebe Freundin, bitte, bitte melde Dich!
Puss och Kram!*
Melli
P.S.: *Kuss und Umarmung. Ich lerne nun Schwedisch. Deshalb.
Von: Melanie <[email protected]>
An: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
Datum: 11.10.2026 11:05
Betreff: Dringende Bitte um aktuelle Infos! Code blau
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Genossen!
Im Ausland befindlich erbitte ich dringend genauere Informationen über die aktuelle politische Lage und eine Zusammenfassung über den Stand unsrer Aktivitäten.
Obacht bei jeder Datenübermittlung, ich habe mich geschützt!
Es lebe die Buntheit!
M.
Von: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
An: Melanie <[email protected]>
Datum: 12.10.2026 13:14
Betreff: AW: Dringende Bitte um aktuelle Infos! Code
blau
Gesendet von: bov.eur
Signiert von: bov.eur
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Verehrte Genossin M.,
anbei übersende ich Dir als Anlage die Kopie der letzten Abschrift unsres Sitzungsprotokoll vom 1.10.2026 und wünsche Dir aus der Ferne weiterhin Kraft und Stärke für den Widerstand. Wir halten die Stellung für eine buntere Welt.
Auch von außen kannst Du aktiv sein! Ebenfalls im Anhang findest Du Kontaktadressen in der ganzen Welt, selbstverständlich verschlüsselt in Code Blau.
Es lebe die Buntheit!
L.K. (Vereinssekretärin in Vertretung)
2 Anhänge
Von: Melanie <[email protected]>
An: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
Datum: 14.10.2026 16:01
Betreff: AW: AW: Dringende Bitte um aktuelle Infos!
Code blau
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Sehr geehrte Genossin L.
Vielen Dank für die ausführliche Antwort und die hilfreichen Informationen zur aktuellen Lage unsres Kampfes gegen die Unterdrückung. Viele Genossinnen und Genossen mussten wahrscheinlich ihr Leben lassen, wie ich in ohnmächtiger Wut las, die Vermisstenliste ist lang, unter ihnen werde übrigens auch ich geführt, das lässt hoffen.
Ich habe noch ein wichtiges Anliegen: Eine gute Freundin, ebenfalls Genossin und Euch bekannt, antwortet seit geraumer Zeit nicht mehr auf meine Mails. Ich mache mir große Sorgen um ihr Wohlergehen. Ich bitte Euch daher aus vollem Herzen: Könntet Ihr Nachforschungen anstellen, vielleicht sogar Kontakt zu ihr aufnehmen und ihr von meiner Not berichten? Im Anhang findest Du ihre doppelt verschlüsselten Personendaten auf Code blau-grün.
Eine Antwort von Dir würde mir mein Leben hier sehr erleichtern. Vielen Dank schon einmal im Voraus.
Es lebe die Buntheit!
M.
1 Anhang
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 31.10.2026 14:03
Betreff: Uppdatering
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Freitag, 30. Oktober 2026
Meine liebe Charlotte.
Hat sich die Organisation schon bei Dir gemeldet? Ich vergehe hier vor Sorge! Bitte melde Dich, Freundin!
(Ich tue jetzt einfach so, als könnten wir uns unterhalten!)
Ja, das Leben hier wird zunehmend öde und zermürbend. Die Kälte kriecht in jeden Winkel der Hütte, ich verheize viel zu viel Holz, ich habe gar nicht so viel Kleidung, wie ich übereinander ziehen könnte! Meine Gelenke schmerzen, nur die künstliche Hüfte nicht und das ist immerhin etwas. Die Waldgeräusche beruhigen mich. Ich habe keine Angst vor ihnen, das hatte ich doch vorher so befürchtet.
Inzwischen rede ich pausenlos. Nicht nur mit den Tieren, ich meine, ich rede ununterbrochen mit mir selbst. Hier draußen könnte es ja sowieso keiner merkwürdig finden, weil hier EINFACH KEINER ist!
Wie bitte?
Naja, mein Äußeres. *augenverdreh*, weißt Du, es gibt hier nur einen Spiegel und der ist alt und seine Fläche ist stumpf und viel zu klein. Meine Schminke habe ich schon lange eingelagert. Wozu auch sollte ich mich bloß schminken?
Es gibt hier eine Außendusche, den Waschzuber und den See und so wasche ich mich natürlich lieber drinnen am Waschbecken mit angewärmtem Wasser. Trinkwasser? Nein, Grundwasser, das gibt es hier genug. Ich pumpe es aus dem Brunnen in den Tank und lasse es von einem Gerät reinigen. Dank Kira kann ich Wasser für Essen und Trinken aufbereiten. Das Gerät arbeitet wie von selbst, allerdings kostet es mich Strom, den ich aus meinem Solarspeicher nehme. Ich esse Vorräte aus dem Erdkeller und davon wenig, meine Hosen werden immer größer. Ich schaue ungern in den viel zu kleinen Spiegel, vielleicht mache ich ihn irgendwann kaputt.
Ja, Freundin, ich nehme meine Vitamine!
Wie bitte?
Nein, Holz-Heini war nicht nochmal hier. Manchmal höre ich Geräusche. Irgendwo, irgendwann. Manche kann ich nicht zuordnen, einige schon. Neulich hörte ich ein oder zwei Quads irgendwo im Wald. Aber schon bald wurde es wieder ruhig und dann war ich erleichtert. Der Kontakt zu Menschen birgt immer eine Gefahr. Irgendwie.
In diesen fürchterlich langen, zeitlosen Tagen und Nächten lese ich viel. Mein Stapel ungelesener Bücher schrumpft gefährlich. Ich sortiere immer wieder die Regale im Erdkeller, räume die Werkstatt im Schuppen auf, obwohl ich noch nie etwas reparieren musste. Kira hat alles in feinster Ordnung für mich vorbereitet. Ich putze die Hütte und spalte das Holz, also ist hier alles wunderbar organisiert.
Nur in mir drin, so habe ich das Gefühl, ist es wenig aufgeräumt. Wenn das Chaos zu groß wird, Charlotte, dann verschwinde ich in meinen Erinnerungen. Ich erinnere mich immer öfter an kleine Begebenheiten, an Nebensächlichkeiten aus meiner Vergangenheit. Fast so, als dichte ich sie mir im Nachhinein dazu. So wenig sicher bin ich mir inzwischen mit mir selbst.
Plötzlich erinnere ich mich an die Farbe der Kleidung mancher Menschen, die ich früher getroffen habe. Fremde und vertraute Menschen. Sie alle haben nun immer öfter keine Gesichter mehr, mein Gehirn hat sie irgendwie ausradiert. Stattdessen kann ich mich an glitzernde Ohrringe, an fehlende Jackenknöpfe, an überschießende Gesten erinnern, an Gefühle, die vom anderen zu mir herübergewachsen kamen und die ich früher nie bemerkt habe. Vielleicht, weil ich zu viel mit mir selbst beschäftigt war? Sag, Charlotte, wie war ich denn überhaupt? Früher. Als alles noch so einfach war. Ich weiß es nicht mehr! Und auf mich zurückgeworfen, frage ich mich viel zu oft am Tag, was ich jetzt eigentlich bin. Eine schrullige stigmatisierte Frau, eine Waldschrätin, unfähig zur sozialen Interaktion, panisch in jedem Kontakt. Ich dümpele hier in meinem eigenen Sud herum und möchte niemanden mehr sehen. Menschen jagen mir Angst ein.
Heute ist kein guter Tag. Irre Gedanken drängen sich mir auf, sie flößen mir eine riesengroße Angst ein. Ich habe Angst vor der Selbstauflösung. Ich könnte einfach von innen heraus verschwinden, hier im einsamen Wald, das liegt plötzlich so nahe. Und wenn ich in den See gehe und nicht mehr herauskäme, mein Fehlen würden nur die Tiere bemerken, kein Mensch würde mich vermissen. Kira würde mich irgendwann erfolglos suchen. Aber hey, wahrscheinlich werde ich sowieso schon von den Heimatlichen gesucht, oder etwa nicht? Ach, wahrscheinlich bin ich denen inzwischen völlig egal, weit weg von ihrem kranken System!
Nein, Charlotte, ich bin nicht selbstmordgefährdet, nein. Es sind nur theoretische Überlegungen, mehr nicht.
Und wieder einmal habe ich zu viel Rotwein getrunken, der macht mich müde, dann kann ich besser schlafen und ich werde mich endlich gleich ins Bett legen, das ich beinahe direkt neben den Ofen geschoben habe, der Tag und Nacht vor sich hin glüht. Zwei Katzen und ein Hund warten schon auf mich. Wir lieben Rituale.
Zum Schluss, liebste Freundin:
Morgen – so habe ich besoffen und mutig beschlossen – werde ich nach dem Internetcafé den Holz-Heini besuchen. Die olle Karte weist mir ja den Weg und vielleicht, wenn mein Mut größer als meine Sorge ist, werde ich auch ein anderes Kreuzchen auf der Karte besuchen. Vielleicht.
Ich umarme Dich.
God natt, Charlotte.
31.10.2026
Guten Morgen.
Schneller Nachtrag. Heute Nacht habe ich zum ersten Mal Wölfe gehört. Luna ist vom Geheul schier verrückt geworden. Ihr Bellen hat sie schließlich verstummen lassen. Jetzt finde ich den Wald plötzlich doch gruselig. Gleich fahre ich ins Dorf. Küsschen.
Von: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
An: Melanie B. <[email protected]>
Datum: 03.11.2026 10:17
Betreff: AW: AW: AW: Dringende Bitte um aktuelle
Infos! Code blau
Gesendet von: bov.eur
Signiert von: bov.eur
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Verehrte Genossin M.,
bei unsren Nachforschungen sind wir leider zu keinem guten Ergebnis gekommen. Deine Freundin, sie ist uns selbstverständlich wohlbekannt und hochgeschätzt, scheint ähnlich wie so viele andere Bunte wie vom Erdboden verschluckt. Bösen Gerüchten zufolge wurde sie vom neuen Heimatlichen Kommando kontrolliert, ihr Haus ist durchsucht und anschließend versiegelt worden. Mehr wissen wir nicht. Unsre aktiven Genossen arbeiten weiterhin an diesem Fall, trotzdem müssen wir sie nun auf die sehr lang gewordene Liste mit dem Status Vermisst setzen.
Wir bedauern zutiefst, Dir keine besseren Nachrichten übersenden zu können. Vielleicht könntest Du von Deinem geografischen Ausgangspunkt noch aktiver werden? Im Anhang findest Du weitere verschlüsselte Kontaktadressen, auch aus Übersee, falls Du sie benötigst.
Wir hier im Zentrum geraten nun zunehmend unter Druck und werden in unsren Freiheitskämpfen mehr und mehr beschränkt. Auch sind wir nun per Gesetz komplett vom staatlichen Gesundheitssystem ausgeschlossen und noch mehr auf die medizinischen Fähigkeiten interner Mitglieder zurückgeworfen. Auch banalen Krankheiten können wir inzwischen nicht mehr angemessen begegnen, sie schwächen unsre Organisation und reduzieren die Zahl der Aktiven. Es wird für uns immer schwieriger, an wichtige Informationen zu kommen. Befreiungsaktionen finden kaum noch statt. Unsre Genossen werden stark reglementiert.
In diesen schweren Zeiten wünschen wir dir weiterhin Kraft, Gesundheit und Geradlinigkeit für unsre ehrenvolle Sache!
Ich bitte meinerseits um Nachricht, falls Du neue wichtige Informationen bekommst!
MfG, L.K.
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 28.11.2026 10:23
Betreff: Fjärde Uppdatering
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
27.11.2026
Min kära Charlotte.
Ich glaube daran: Du hast Dich nur versteckt. Trotzdem mache ich mir Sorgen um Dich und werde Dir weiterhin meine Mails schicken, irgendwann wirst Du sie lesen und ja, vielleicht liest Du sie auch die ganze Zeit und kannst nur nicht antworten. Aus Sicherheitsgründen, ja! Und irgendwann wirst Du antworten und das ist gut, dieser Gedanke ist gibt mir Sicherheit und nein, Du bist nicht deportiert und totgeschlagen worden, wie Holz-Heini letztens mutmaßte und ich habe ihn deshalb angeschrien, er soll sofort sein bärtiges Maul halten und das tat er dann auch.
So bleibt mir nur, Dich über mein jetziges Leben auf dem Laufenden zu halten. Gerade ist es alles andere als eintönig, für meinen Geschmack etwas zu viel los. Wie Du weißt, bin ich nicht gut in Chronologie, aber ich versuche trotzdem, Dir alles zu berichten.
An jenem Morgen nach meiner letzten Mail bin ich wie gewohnt ins Dorf gefahren. Ich habe Luna mitgenommen, weil sie wegen der Wölfe immer noch verrückt gespielt hat. So sind wir gemeinsam ins Internet-Café und danach noch kurz bei Johannsson’s frühstücken. Johannsson ist ein großer, etwas griesgrämiger und unglaublich fetter Hüne, der fürchterlich leckere Pannkakor – Pfannkuchen – macht und mich nicht wie eine Aussätzige behandelt. Luna lag beim Essen unterm Tisch und knabberte gerade an einem Stück Geweih, das ihr Johannsson, der wohl auch Jäger ist, geschenkt hatte, als sich die Türe des Bistros öffnete und zwei Uniformierte eintraten.
Charlotte, selbstverständlich habe ich mir blitzschnell meinen Hoodie übergezogen und ja, selbstverständlich alle Stigmata bedeckt. Was mich aber irritiert hat, war, dass ich die merkwürdigen Uniformen gar nicht kannte, sie sahen irgendwie selbstgeschneidert aus. Die Halbstarken, die in den Uniformen steckten, waren beinahe noch Kinder und an Johannsson’s Gesicht konnte ich erkennen, wie er ähnliches dachte und Luna begann zu knurren. Zwei Tische weiter saßen zwei junge Mädels und die eine trug eine Bluse mit transparenten Ärmeln und ich sah im Augenwinkel ein klitzekleines Stigma auf dem rechten Oberarm und ehe ich mich versah, setzten sich die Uniformierten unaufgefordert an den Tisch der beiden und raunten etwas auf Schwedisch. Meine Schwedisch-Kenntnisse werden ja langsam besser, ich verstand die Worte ta bort (was sowas wie entfernen heißt) und einige andere bedrohlich wirkende Worte.
Johannsson schoss wie ein Berserker hinter seiner Theke hervor und baute sich vor den Besuchern auf. Er sprach ein paar deutliche schwedische Worte, schlug mit seiner riesigen Faust auf den Tisch und die uniformierten Kinder traten bleichgesichtig den Rückzug an. Johannsson brachte den kleinlauten Mädels Kaffee und Luna wurde wieder still. Mein Pfannkuchen schmeckte mir plötzlich nicht mehr.
Später fragte ich ihn in radebrechendem Schwedisch, was das sollte, doch Johannsson zuckte nur mit den Schultern. Er ließ mich nicht bezahlen, stattdessen schob er mir ohne ein Wort einen Zettel über den Tresen.
Gleich danach bin ich zum Holz-Heini gefahren. Der Lack meines Autos hatte ziemlich gelitten, der Weg zu Heinis Hütte war schmal und zu beiden Seiten dicht bewuchert. Heini hatte – neben meiner Wenigkeit – Besuch von einer ziemlich durchgeknallten Kleinwüchsigen. Sie war in schreiend bunten Klamotten gekleidet, mit allerlei Schmuck behängt und sprach in einem dreifarbigen Mix aus Schwedisch, Deutsch und Englisch. Ich nenne sie für Dich Galen, was auf Schwedisch so viel heißt wie durchgeknallt.
Holz-Heini wohnt in einem perfekt gebauten Blockhaus, dessen Einraum-Innenleben unglaublich gut sortiert ist. Dicht an dicht reihen sich gefüllte Lagerregale an den Wänden und in der Mitte des Raumes stand nur ein schlichter Holztisch mit ein paar Stühlen und um den saßen wir und tranken Muckefuck. Holz-Heinis Schlafplatz befindet sich auf einem niedrigen Alkoven. Das Blockhaus steht in unsrem dichten Waldgebiet nördlich von meiner Hütte. Die Bäume hier muteten seltsam knorrig an, ihre Äste hängen tief und wirken wie die Arme unzähliger Hexen, die seltsame Zaubersprüche senden und so die Hütte vor schlimmen Einflüssen schützen. Die Hecken am engen Schotterweg haben mir den Lack an meinem Auto zerkratzt. Aber was ist schon ein bisschen Lack gegen ein bisschen Sozialkontakt?
Galen faselte in einem fort etwas von innerer Ruhe und spiritueller Energie. Während sie sprach, fasste sie mich ständig an, etwas, das für mich ja sehr schwer auszuhalten ist, aber meine Andeutungen ignorierte sie auf eine bestechend freundliche Art. Sie versprach mir, ohne dass ich sie darum gebeten habe, allerlei Tees und Kräuter und Tinkturen, wenn ich sie dafür besuchen käme und das würde hier sein: Sie zeigte auf das dritte Kreuzchen nordwestlich von Holz-Heinis Kreuzchen auf meiner ollen Karte. Also sicher etwa drei Stunden Autofahrt über provisorische Huckelpisten und enge Pfade von meinem eigenen Kreuzchen aus. Aber ich freute mich über die Einladung und deshalb versprach mir Galen auch gleich noch ein halbes Dutzend Hühner, denn ihre produzierten ja ständig neue.
Mit dröhnenden Ohren, einem Rucksack voller schwedischer Konserven und einer erschöpften Luna kam ich schließlich am Abend wieder in meiner Hütte an. So einen sozialen Tag habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt!
Und nun sitze ich bei einem Tee (ja, denn die Rotwein-Vorräte habe ich inzwischen rationiert!) am Kamin und wundere mich darüber, dass schon fast ein Monat seit meiner letzten Mail vergangen ist und ich Dir noch lange nicht alles habe berichten können, was in der Zwischenzeit passiert ist. Ich bin wieder einmal hundemüde und muss ins Bett. Aber wenigstens diese Mail schicke ich morgen los und verspreche Dir weitere Berichte in naher Zukunft.
Stor kyss, min Charlotte!
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 30.11.2026 10:23
Betreff: Upp-Uppdatering
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
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Montag, 30.11.2026
Min Kära!
Mitten in der Nacht. Es ist zwei Uhr und ich bin schlaflos. Alles ist still, Luna schnauft leise im Schlaf, die Katzen sind unterwegs. Der Ofen bollert und von draußen höre ich beinahe nichts. Offensichtlich sind die Wölfe nicht zurückgekehrt, wir haben Glück. Ikea-Kerzen flackern, ein Käuzchen ruft, Mäuse krabbeln in den Wänden und Charlotte: ich bin glücklich.
Du denkst, Du liest wohl nicht recht, aber dieses Gefühl ist plötzlich da. Wie ein erlösender Sommerregen nach ewiger Dürre bricht es über meine innere Landschaft herein. Ich will dir so viel erzählen, damit Du weißt, warum ich so fühle.
Nach dem unglaublich sozialen Tag mit Johannsson, Holz-Heini und Galen brauchten Luna und ich vier Tage zur Erholung. Hier im Haus räumte ich von Heini inspiriert meine Vorräte im Erdkeller auf. Ich listete sie neu und machte einen aktuellen Zeitplan. Demnach würde ich hier im Wald, Kiras Restvorräte miteinberechnet, bis etwa April ´27 ohne großen Nährstoffmangel über die Runden kommen, selbst wenn ich eingeschneit oder krank wäre oder das Auto den Geist aufgeben würde. Aber ich stellte auch fest, dass das Essen nach diesem Plan nicht wirklich abwechslungsreich sein würde und beschloss den Hühnerplan. So renovierte ich meinen wunderbaren Hühnerstall und fuhr am fünften Tage nach dem unglaublich sozialen Tag zu Galen.
Ich suchte mich zunächst im dichten Wald dumm und dämlich. Mein Auto ließ ich an einem gut markierten Punkt stehen und ging zu Fuß weiter. Es regnete ohne Unterlass und beinahe wäre ich umgekehrt, da sah ich endlich zwischen den Bäumen eine bunte Gestalt. Es war Galen und sie tanzte. Ja, Charlotte, Galen ist wirklich durchgeknallt, sie meinte in lupenreinem Deutsch zu mir, als ich bei ihr angekommen war:
„Ein Regentanz ist stets hilfreich für die Heilung einer geschundenen Seele!“
Ich stand neben ihr, in meinem schweren superdichten Wachsmantel und den wasserfesten Wanderstiefeln, in drei Grad kaltem strömenden Regen und konnte es nicht fassen. Galens Kleidung war bis auf die Haut durchnässt, aber es schien ihr nichts auszumachen.
Später in ihrem Häuschen, das viel zu klein war und auf Rädern im Wald herumstand, zog sie sich nackt aus, feuerte, bar wie sie war, den Ofen an und machte Aufwärmübungen. Sie hatte großflächige Stigmata, die meisten davon auf dem Rücken und auf ihren ungewöhnlich kurzen Beinen. Sie bestanden neben fremdartigen mehrfarbigen Mustern und Zeichen auch aus einigen schlicht aneinander gereihten Strichen, wie bei vielen von uns Bunten. Insgesamt war die nackte Galen genauso bunt wie ihre nasse Kleidung. Sie sah also so oder so ziemlich angezogen aus.
Galens kleiner Hof lag gut geschützt in einer Tannennische, er war von fern kaum auszumachen. Alles hier war klein, immerhin war ja auch Galen sehr klein, ich fühlte mich wie eine Riesin. Eingerahmt vom Schuppen, Stall und einem sehr schmalen Wohnhaus, die allesamt auf Rädern standen, gab es im Zentrum des Hofes einen kleinen Feuerplatz. Trotz des Regens hatte das Ambiente etwas bestechend Idyllisches. Etwa Zweidrittel von dem, was Galen mir, während wir ins Häuschen gingen, erzählte, habe ich nicht wirklich verstanden. Drinnen zeigte sie immer wieder auf irgendetwas, es war überfüllt mit kleineren und größeren Gegenständen, Skizzen, Fotos, Tüchern, Töpfchen, Tiegel und Tinnef. Über dem Herd hingen massenhaft getrocknete Kräuter und in klitzekleinen Regälchen standen zarte Phiolen und Gläschen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. Schließlich saßen wir auf dicken Sitzkissen vor einem niedrigen Tischchen, tranken Tee und besprachen die Sache mit den Hühnern.
Sieben Hühner, ein Hahn. Selma, Fenja, Birte und Urte sind schon erwachsen, Elin, Lykke und My sind der Nachwuchs, Frieder ist ein stolzer Hahn mit stattlichem Schweif. Der Handel kam nur zustande, weil ich Galen Hilfe bei ihrem Geburtstagsfest am 27. des Monats versprach. Das Wort Geburtstagsfest sprach sie düster und ernst aus, immerhin würde sie schon dreißig werden. Ich fand den Preis fair und ihr Gehabe angesichts meines Alters albern. Aber was solls, ich wollte die anderen Waldfreaks auch endlich kennenlernen und da bot sich die Feier geradezu an.
Mit jeder Menge Kräutern, Tinkturen und meinen neuen MitbewohnerInnen zurückgekehrt, begann das Elend der Eingewöhnung. Besonders Rue empfand die Hühner als scheußliche Zumutung. Finn ignorierte und Luna hütete sie. Die Hühner liefen immer wieder zu weit weg, als dass sie allein zurückfanden, Frieder war mit dieser Aufgabe völlig überfordert, Luna tat, was sie konnte. Am dritten Morgen nach ihrer Ankunft hatte es zu allem Überfluss auch noch geschneit und die Bagage wurde schneeblind. Das Einsammeln kostete mich einen weiteren Tag und meine gesamten Nerven. Danach blieben sie im Stall, während ich mit dem Einzäunen des Außenstalls beschäftigt war. Das kostete mich einen weiteren Tag und am darauffolgenden Tag lag ich krank im Bett. Dank der passenden Kräutertinktur von Galen ging es mir schnell besser.
Immerhin: Es gab Eier. Wieder gesundet, backte ich. Zunächst Kuchen, Kekse und Dauergebäck. Dann gabs Pfannkuchen und Omelette, dicht gefolgt von diversen Aufläufen. Es schneite fünf lange Tage, ich fraß und schlief und schließlich taute der weiße Mist dank Klimaerwärmung wieder weg. Beim ersten Geburtstagsvorbereitungstreffen mit Galen waren es frühlingshafte 9 Grad, was hierzulande im November wohl höchst ungewöhnlich ist. Aktuell sinken die Temperaturen wieder, der Regen fällt und fällt, es ist Matschwetter. Überall Matsch und Nässe, alles ist klamm.
Ich habe zu tun. Unaufhörlich. Und weil ich gerade jetzt durch meine ungeputzten Butzenfenstern schon das Morgengrauen erahnen kann, ende ich nun, noch ehe ich Dir vom spontanen Besuch Kiras und von der alles verändernden Geburtstagsfeier erzähle. Denn ich muss dringend schlafen, morgen passiert schon wieder etwas. Aber alles in Chronologie, bittschön!
Charlotte, Du bist mir schon sehr fern geworden, Dein Gesicht verblasst mehr und mehr in meinen Erinnerungen, ich habe große Sorge, Dich zu vergessen!
Jag hoppas att du har överlevat!
(Ich hoffe, Du hast überlebt!), Melli
Von: Melanie <[email protected]>
An: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
Datum: 30.11.2026 10:25
Betreff: AW: AW: AW: AW: Dringende Bitte um
aktuelle Infos! Code blau
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Signiert von: melbibella.hfa
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Sehr geehrte Genossin L.
Ich erbitte neue Infos, da ich hier fernab von unsrer Heimat weiterhin wenig verlässliche Informationen bekomme. Vielleicht gibt es neue Sitzungsprotokolle?
Ich freue mich über Nachricht!
Es lebe die Buntheit!
M.
Von: ORKABUTO Organisation Kampf für Buntheit
und Toleranz <[email protected]>
An: Melanie <[email protected]>
Datum: 02.12.2026 7:30
Betreff: AW: AW: AW: AW: AW: Dringende Bitte um
aktuelle Infos! Code blau
Gesendet von: bov.eur
Signiert von: bov.eur
Sicherheit: spezielle Verschlüsselung (PGP/MIME)
Genossin M.
Es tut mir leid, wenn Dir diese Antwort vielleicht ungenügend erscheinen wird, unsre Büro-PCs wurden gehackt und ich muss Dir nun über andere Sicherungswege antworten.
Die politische Lage hier spitzt sich dramatisch zu. Unsre Genossen (und viele andere bunte Menschen mehr) sind nun weitestgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, wir sind gezwungen, uns im Untergrund oder nur in bestimmten Gebieten aufzuhalten und ständig benötigen wir neue Bewegungserlaubnisbescheinigungen, die Formulare ändern sich andauernd. Diese bekommt man nur in Bürgerbüros und die Sachbearbeiterstellen dort sind inzwischen flächendeckend durch Neue Heimatliche besetzt. Wessen Stigma entdeckt wird, hat Pech gehabt und er/sie erhält eine Vorladung zur sogenannten Zwangsreinigung. Erst mit dem Nachweis der erfolgreichen Reinigung bekommen wir die Bewegungserlaubnisbescheinigung. Und selbst dann ist noch die Frage, ob wir wieder gesund und unversehrt heimkommen. Es ist ein eklatantes Attentat auf die Persönlichkeitsrechte aller und Menschenrechte werden hier auch noch in tausendfacher anderer Hinsicht verletzt! Was hatte es doch die Bevölkerung vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten!
Anbei übersende ich Dir das Sitzungsprotokoll vom November. Ab Dezember wird es keine offizielle Sitzung mehr für uns geben. Immer mehr Genossen setzen auf Flucht als einzige Möglichkeit. Der massive Flüchtlingsstrom erreicht nun alle Grenzen, die Medien der Welt berichten wenig bis nichts.
Wir hoffen, Du bist sicher aufgehoben und kannst Dich ausreichend schützen. Wir werden Deine E-Mail-Adresse listen und Dich von sichereren Orten kontaktieren.
Es lebe die Buntheit.
L.
Anlage
Von: Melanie <[email protected]>
An: Charlotte <[email protected]>
Datum: 28.12.2026 17:41
Betreff: Snowbound
Gesendet von: melbibella.hfa
Signiert von: melbibella.hfa
Sicherheit: Standardverschlüsselung (TLS)
Dienstag, 8.Dezember 2026
Meine liebe Charlotte.
Seit einer Woche schneit‘s. Begonnen hat es mit einem plötzlichen Schneesturm in der Nacht zum zweiten Dezember. Zwischendurch gab‘s einen halben Tag Pause, ansonsten fallen die Flocken unaufhörlich. Seit Tagen dringt ein stetes Mosern der Hühner vom Stall zu mir in die beheizte Stube. Ich bin eingeschneit, nichts geht mehr, mein Auto kann die Massen nicht mehr meistern, ich schippe pro Tag etwa zwei Stunden, damit ich zum Klo, zum Stall und zum Erdkeller komme, dann habe ich die Schnauze voll und trinke Tee oder Rotwein. Tagein, tagaus. Scheiß auf den Rationierungsplan, was alle ist, ist alle!
Doch das Wetter hat auch was Gutes. So kann ich Dir nun in Ruhe, ohne Zeitdruck und Schlafentzug von all dem berichten, was wichtig für mich ist. Ich schreibe Dir, ohne zu wissen, wann ich die Mail wegschicken kann, denn ich stecke hier fest wie am Ende der Welt. Aber ich weiß ja sowieso nichts mehr von Dir und das flößt mir Angst ein. Dein Gesicht wird zum blinden Fleck, wie sämtliche Gesichter meiner Vergangenheit.
Übrigens: Ich stehe im immer loser werdenden Kontakt zum Orga-Büro und die mir übersendeten Informationen machen mir große Sorgen, auch weil sie sie völlig veraltet sind. Zu Ralf und Lars habe ich keinen Kontakt mehr, ich mache mir große Sorgen, Lars antwortet nicht.
Ach Charlotte, die Beschränkungen hatten wir beide doch schon zu spüren bekommen, als ich noch da war. Da ist doch gruselig, wenn die Orga-Sekretärin es so formuliert, als seien sie brandaktuell! Wer manipuliert da herum, Charlotte? Wer liest hier mit? Ja und natürlich hatte ich vorher ein wenig Kontakt zu meiner Familie, bis auf den kranken Ralf ging es allen wohl gut. Nur über Dich gibt es keine Informationen und ich bin zunehmend in Versuchung, erstmalig mein Handy zu benutzen, um Dich anzurufen oder Dir eine Nachricht zu schicken. Nur um zu sehen, ob Du online bist oder wann Du das letzte Mal online warst. Aber selbst dann weiß ich ja nicht, ob Du es bist, die das Handy nutzt. Meins liegt mit entferntem Akku und wasserdicht verpackt an einem speziellen, sicheren Ort auf dem Hof, ich habe es gleich nach meiner Ankunft dort versteckt und auf Kiras Karte markiert. Ja, ich weiß, Freundin, die Gefahr ist groß, aber vielleicht kann ich Dich ja doch mobil erreichen?
Charlotte!
Es gibt Themen, die mich depressiv machen. Wie das gerade Geschriebene. Und es gibt Ereignisse in meinem Leben, die mich glücklich gemacht haben, so schrieb ich ja in meiner letzten Mail, ohne Dir genau davon zu berichten. So muss ich gerade in diesen Zeiten auf mich aufpassen, damit ich nicht verrückt werde und deshalb wäge ich genau ab, was ich Dir schreibe.
Galens Geburtstagsfeier war ein wunderbares Ereignis. Die Waldfreaks sind allesamt unglaubliche Menschen. Es gab tiefsinnige Gespräche, einstimmiges Wettern auf die Entwicklungen der Weltgeschichte, skurrile Tanzeinlagen und wir tranken sehr viel von der sogenannten Brokig-Bål, übersetzt heißt sie Bunt-Bowle, deren Rezeptur von Galen entwickelt und streng geheim gehalten wurde. Der Klimawandel machte sogar ein Lagerfeuerchen mit Stockbrot möglich und Smilla (N.v.d.R.g., haha!) spielte dazu auf ihrer Gitarre Hippielieder aus dem vorherigen Jahrhundert. Jemand hatte Kiffzeug dabei, naja, da führte eins zum anderen. Die Feier fand auf dem Hof statt, in Galens Häuschen wäre es sowieso viel zu eng gewesen.
Wie ich mich verständigt habe?
Ja, Charlotte, wie Galen. Mit Händen und Füßen und einer Mixtur aus einer Handvoll Sprachen. Die meisten Freaks sind wie ich. Geflüchtete, Gerettete, Gestrandete, Stigmatisierte. Sie kommen wie Du und ich aus einer Heimat, in der sie nicht nur nicht mehr willkommen sind, sondern in der sie verfolgt, reglementiert und drangsaliert wurden und werden würden, wären sie noch dort. Allesamt haben sie ihre Namen geändert, Vorsichtsmaßnahmen wie ich ergriffen und geben sich Mühe, wie Schweden zu wirken. Aber manche sind sogar gebürtige Schweden, besonders aus dem Süden, denn dort schwappt bereits die Welle der Diskriminierung heran wie ein Tsunami.
Unser gemeinsames Schicksal machte diese Feier exzessiv. Sie dauerte nach einer durchzechten Nacht noch fast den ganzen darauffolgenden Tag an. Kein Regen, warme zehn Grad. Irgendwann verabschiedete sich auch der letzte und Galen war zu müde zum Aufräumen, sie ging einfach in ihren Wagen und schloss die Türe hinter sich. So blieb ich zurück, habe noch stundenlang aufgeräumt und bin dann in der Abenddämmerung restalkoholisiert und im Schritttempo die vielen verschlungenen Waldwege zurück zu meinem Haus gefahren, um dort die verzweifelten Hühner, die weniger verzweifelten Katzen zu versorgen und die Hütte wieder warm zu bekommen.
Luna hatte mitgefeiert. Sie saß mal hier, mal da neben einem Waldfreak, ließ sich ab und an streicheln und mit vegetarischen Grillwürstchen füttern. Deshalb war sie mit unsrer kleinen Welt in etwa so zufrieden wie ich es war.
Ich wollte mich gerade zum wohlverdienten Schlaf hinlegen, da schlug Luna an. Sie bellte inzwischen öfter. So fand ich es zunächst nicht ungewöhnlich, bis es schließlich an der Türe klopfte. Das Klopfen traf mich völlig unvorbereitet. Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, was ich tun könnte, würde mich jemand aufspüren, um mich abzuholen. Ich geriet in Panik und versteckte mich mit den Katzen auf dem Kriechboden, während Lunas Bellen durch die Nacht hallte. Kiras Rufe erlösten mich schließlich vom Schock und wenig später lag ich meiner Tochter heulend im Arm. Kira, liebe Charlotte, sah so kraftstrotzend, so schön und bunt und gesund aus und so ging es ihr auch. Sie hatte mir jede Menge Vorräte mitgebracht, meine wunderbare Tochter! Ich wunderte mich kurz, wie sie wohl all die Dinge transportieren konnte. Aber Müdigkeit und Freude nahmen viel mehr Raum ein und so kochte ich Tee und erzählte von meinem Glück der neuen Menschen in meinem Leben, sie erzählte mir von ihren Reisen und Kontakten in so vielen Ländern und der letzte Teil ihres Berichtes stammte aus den USA, in deren Großstädten sie für ihre Kunst gefeiert wurde. Kira verdient ein Schweinegeld mit dem, wofür wir in unsrer Heimat geächtet und verfolgt werden.
Sie war es gewohnt, bis spät in die Nacht hinein wach zu sein, also versuchte ich mitzuziehen, fiel aber nach fast drei wachen Tagen irgendwann in tiefen Schlaf. Als ich am frühen Vormittag erwachte, war sie schon wieder fort. Auf dem Tisch lagen tausend Dollar. Kein Brief, kein Hinweis, ob sie nur kurz oder länger weg sein würde. Ich heulte erneut und das den ganzen verdammten Tag vor dem matschigen Tag, an dem ich Dir meine letzte Mail geschrieben hatte.
So schließt sich der Kreis bis heute. Und das was ich gerade geschrieben habe, greift mich gerade total an, ich brauche eine Pause!
Mittwoch, 9.12.2026
No way out!
Oder wie der Schwede sagt: Ingen väg härifrån!
Charlotte!
Ich trinke dünnen Tee, mein Rotwein ist alle. Kira hatte viele gute Vorräte herbeigeschafft, aber Rotwein war nicht dabei. Wahrscheinlich hat sie sich was dabei gedacht.