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Cornelius, ein ehemaliger Mönch, stirbt auf mysteriöse Weise auf den Gleisen nahe dem Trierer Hauptbahnhof. Das Opfer hatte einem Rachefeldzug gegen sein einstiges Kloster Kyllmünster gestartet. Dort hüllt man sich in Schweigen, selbst als sich herausstellt, dass Cornelius brisante Dokumente besaß, die zur Schließung des Klosters hätten führen können und ein dringend Tatverdächtiger hinter Gittern landet. Und welche Rolle spielt Cornelius’ frühere Geliebte Mona, wegen der er seinen Orden verließ, und was verheimlicht sein Freund Felix, der sich als katholischer Priester zur Vaterschaft von Monas Kind bekennt?
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Seitenzahl: 254
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, mitunter unvermeidlich.
Impressum
© Verlag Michael Weyand GmbH, Friedlandstr. 4, 54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]
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Dank für Lektorat und wertvolle Hinweise:
Gabriele Belker, Christian Kraler, Ludwig Neukirch
Satz: Verlag Michael Weyand GmbH, Trier
Titel: Bob, Trier
ISBN 978-3-942 429-49-8
Streben wir über das Maß unserer Fähigkeiten
hinaus nach Vollkommenheit,
steigt der Schatten in die Hölle hinab
und wird zum Teufel.
C. G. Jung
In Erinnerung an Dr. Hans Joachim Kann †
Personen
Karl Schmitt, Siebdrucker
Robert Burakowski, Lokführer
E.T. Schwarzenberg, Justitiar im Bischöflichen Generalvikariat
Felix Jung, Jugendseelsorger
Cornelius, Goldschmied, ehemaliger Mönch, weltlicher Name: Konrad Zettler
Mona Duhr, ehemalige Freundin von Cornelius
Lukas, kleiner Sohn von Mona Duhr
Haupenberg, Rechtsanwalt, beauftragt vom Kloster Kyllmünster
Peter (Tatsuo), Gast aus dem japanischen Kloster Tonogaoka
Paul (Pauro), Gast aus dem japanischen Kloster Tonogaoka
Ermittler
Walde, Waldemar Bock, Kriminalhauptkommissar
Grabbe, Kriminaloberkommissar
Gabi Wagner, Kriminaloberkommissar
Sattler, Leiter der Kriminaltechnik
Meyer, Leiter Dezernat KK3 Einbruchsdelikte/Diebstahl
Dr. Hoffmann, Gerichtsmediziner
Stiermann, Polizeipräsident
Roth, Staatsanwalt
Doris, Waldes Lebensgefährtin
Annika, Waldes Tochter
Mathilda, Waldes Tochter
Jo, Kommissar für Reblausbekämpfung und Waldes Freund
Uli, Wirt in der Gerüchteküche und Waldes Freund
Montag
Bevor er aus der Werkstatt auf die dunkle Rampe hinaustrat, versuchte Karl, sich in der offenen Tür die Zigarette anzuzünden. Eine nebelnasse Brise verhinderte dies. Mit dem Rücken zum Wind, den Kragen des grauen Arbeitskittels hochgeschlagen, beugte er sich mit der zwischen den Lippen klemmenden Zigarette tief hinunter zum Funken schlagenden Feuerzeug. Er war bereits drauf und dran, das Ding hinaus auf die Gleise zu werfen, als die Flamme kurz stabil blieb. Karl lehnte sich an den bröckelnden Putz der Außenwand und schloss die Augen, während er den Rauch tief inhalierte.
Hinter ihm stand die Tür zum Siebdruckraum offen, um wenigstens einen Teil der Farbdämpfe entweichen zu lassen. Der beigemischte Duft von Apfelsinen konnte nicht über die anderen Stoffe in den Druckfarben hinwegtäuschen, die Bauch- und Kopfschmerzen auslösten, wenn er sich ihnen zu lange aussetzte. Dieses Mal kam noch obendrein der Zeitdruck hinzu. Seit fast dreißig Stunden rotierten die T-Shirts durch das Sieb.
Karl beäugte die hastig selbst gedrehte Zigarette, ob womöglich Farbe von seinen Händen aufs Zigarettenpapier gelangt war. Egal, er hatte schon so viel Dreck in seine Lungen gezogen, da kam es auf ein bisschen Chemie auch nicht mehr an. Er schaute dem Rauch nach, wie er sich mit dem Nebel vermischte, der alles in Watte gepackt zu haben schien. Sogar die Geräusche der Stadt und des nahen Hauptbahnhofs hatte er geschluckt. Nur das nebenan in gemäßigtem Tempo laufende Handdruckkarussell, das er längst in Hamsterrad umgetauft hatte, klapperte in Endlosschleife von Station zu Station. Eine Kollegin aus der Tagesschicht war geblieben. Vielleicht schafften sie es noch, den für morgen Früh versprochenen Liefertermin von über 800 T-Shirts einzuhalten.
Im Blister in seiner Brusttasche steckten nur noch zwei Captagon. So hießen die aufputschenden Pillen schon seit vielen Jahren nicht mehr, aber solange auch der Lieferant sie noch so nannte, brauchte er sich an den neuen Namen nicht zu gewöhnen. Karl hatte gelernt, sie auch ohne Getränk hinunterzuwürgen. Hoffentlich wirkten sie bald, er war total fertig und drohte im Stehen einzuschlafen. Vor ihm raschelte Laub im Gleisbett. Eigentlich konnte das nicht sein. Denn selbst der Betonbelag auf der überdachten Rampe war nass.
Es war kein Laub, sondern Schritte im Schotter. Er riss die Augen auf. Sie hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Links von ihm bewegten sich zwei Gestalten in dunkler Kleidung über die Gleise. Einer schleppte ein Fahrrad über der Schulter, der andere war in einen weiten Umhang gehüllt.
»Kalle?«
Statt dem Druckkarussell war nun ein noch nicht sichtbarer herannahender Zug zu hören.
»Ich komme!« Karl schnippte die Zigarette ins Gleisbett. Die beiden Gestalten waren näher gekommen. Der mit dem Rad schaute kurz zu ihm hoch und nickte ihm zu. Auch der andere winkte. Karl hob ebenfalls die Hand, bevor er zurück in die Druckerei ging.
An der Untermosel war es sehr neblig gewesen. Hinter dem Cochemer Tunnel wurde die Sicht auf die Schienen in Richtung Wittlich wieder klar. Im Führerhaus drückte Robert Burakowski den Rücken durch und schenkte sich aus der Thermoskanne nach. Ganz ohne Kaffee, auch wenn er ihn seit Jahren koffeinfrei trank, waren diese Fahrten allein durch die Nacht undenkbar. Seit der Zug bei Schweich wieder das Moseltal erreicht hatte, durchpflügte er erneut den von den Scheinwerfern angestrahlten Nebel.
‚Die Verträge sind gemacht und es wurde viel gelacht’ sang die vom Lautsprecher des Handys verzerrte Stimme von Marius Müller-Westernhagen. Obwohl ‚Zu Hause’ auf dem Display stand, meldete er sich förmlich. »Burakowski?«
»Papa?« Es war die Stimme seines Sohnes.
»Hallo, Marko.« Ab und zu rief ihn sein Sohn im Dienst an. Früher war es öfter gewesen. Umso mehr freute sich der Lokführer, wenn es noch vorkam. »Was gibt es?«
»Nichts«, kam die schnelle Antwort und nach einer Pause. »Doch, eigentlich schon.«
»Was denn?« Bald würde der Zug den Meulenwaldtunnel bei Trier-Quint erreichen.
»Ich bin … also die anderen machen sich total über mich lustig … wegen dem Onkel … deinem Onkel.«
»Welcher Onkel, ich verstehe nicht.«
»Onkel Rigo, von dem du immer erzählt hast, der schon tot ist, lange schon … gab es den überhaupt in echt?«
»Was soll das denn heißen?« Burakowski lachte. »Natürlich gab es den Onkel Rigo, falls du den meinst.«
Die Verbindung brach ab. Die Lok war vom Tunnel geschluckt worden. Was wollte Marko denn nun wirklich? Wegen dieser Geschichte, einer von vielen, die Onkel Rigo von sich gab, wenn er paar Pils intus hatte, die Zigarre nach zigmaligem Anzünden aufgeraucht war. Dann hatte er eine Pfeife aus der Tasche genommen und den Stumpen darin zu Ende geraucht. Genau betrachtet war es gar nicht sein Onkel, sondern der Großonkel, der Bruder seines Großvaters mütterlicherseits. Seine Eltern waren Ende des 19. Jahrhunderts aus Ostpreußen nach Gelsenkirchen eingewandert, weil es Arbeit in der Grube gab.
Kaum war die Lok wenige Sekunden später aus dem Tunnel aufgetaucht – die 42 Waggons dahinter mit einer Gesamtlänge von etwas über 700 Metern würden noch eine Zeitlang darin unterwegs sein – klingelte sein Handy erneut.
»Ich komme gerade aus dem Tunnel.«
»Hab ich mir gedacht. Welche Strecke fährst du?« Robert Burakowski fragte sich, wann sich sein Sohn zum letzten Mal danach erkundigt hatte, welche Strecke er fuhr oder wie es ihm ging. Fragen kamen in den letzten Monaten meist nur noch von seiner Seite und wurden, wenn überhaupt, in der Regel nur einsilbig beantwortet.
»Mit dem Erzzug von Rotterdam nach Dillingen … und gerate nun in eine ziemlich dicke Suppe im Moseltal.«
»Hier haben wir sternenklaren Himmel.«
»Was ist denn mit Onkel Rigo?«
»Der soll doch bei Schalke gespielt haben?«
»Das hat er erzählt, aber wenn ich darüber nachdenke … Onkel Rigobert hatte ein steifes Bein.«
»Das kann er sich doch später im Krieg geholt haben«, wandte sein Sohn ein.
»Nee, ich glaube, das hatte er seit Kindertagen oder sogar von Geburt an.«
»Also hat er nie Fußball gespielt?«
»Das will ich nicht behaupten. Onkel Rigo war ein flinker Typ. Vielleicht war er im Tor und später Trainer, natürlich bei einer der Jugendmannschaften oder bei den Altherren oder so.«
»Dann hatte er also auch nichts mit dem Schalker Kreisel zu tun, wie er immer behauptet hat?«
Der Zug raste durch Ehrang über die Kyllbrücke und durch das Gleisgewirr des Güterbahnhofs in Richtung des Haltepunktes Pfalzel. Die letzten Hektometer an der Strecke waren kaum mehr zu erkennen gewesen. Burakowski schaute zur Sicherheit auf den elektronischen Fahrplan. Auch in dieser Suppe behielt er stets die Orientierung.
»Was?« Nur beim Telefonat hatte er den Faden verloren.
»Dann war er nie und nimmer in der ersten Mannschaft … ach, vergiss es.«
»Besser weiß ich es auch nicht. Die alten Fotos und Erinnerungen der Familie sind beim Bombenangriff an Weihnachten 1944 verloren gegangen.«
»Warum hast du mir den Quatsch erzählt? Weißt du, wie blöd ich jetzt da stehe?«
»Der Rigobert hat eine Menge Geschichten zum Besten gegeben. Die aus dem Krieg hättest du hören sollen.«
»Mit dem steifen Bein konnte er doch gar kein Soldat werden.«
»Vielleicht nicht an der Front, aber sicher in einer Schreibstube in der Etappe.«
»Ist ja auch egal. Du hättest mich warnen sollen.«
Das Vorsignal an der Pfalzeler Brücke war im dichten Nebel kaum zu sehen. Burakowski kannte die Strecke in und auswendig. Schon auf der Moselbrücke drosselte er die Geschwindigkeit. Bei der Metternichstraße durfte sie nur noch maximal 80 Stundenkilometer betragen.
»Warum?«
»Wie blöd stehe ich jetzt vor den anderen da, denen ich das von Rigo und dem Schalker Kreisel erzählt habe? Die ganze Scheiße, dass er den erfunden hat und so. Über deren Homepage und Google kann man schnell herausfinden, ob es jemals einen Rigo Burakowski bei Schalke gab.«
Der Lokführer bremste weiter. »Erstens hieß er Rigobert und zweitens nicht Burakowski. Er stammte aus der Familie mütterlicherseits.« Nach dem Rollgeräusch fuhr der Zug wieder über Land.
»Und wie hieß die?«
»Warte mal …« Der Lokführer schaute plötzlich einem Mann in die Augen, der aus dem Nichts vor ihm auf den Schienen stand.
Das Handy glitt ihm aus der Hand. Burakowski schrie auf, presste die Augen zusammen. Eisen schleifte auf Eisen, während die Lok von 5.000 Tonnen erbarmungslos weitergeschoben wurde. Die Schnellbremsung hatte längst noch nicht den letzten der vierzig Waggons erreicht, als die Lok den Mann mit Wucht erfasste.
Als der Zug nach endlos erscheinenden Hunderten von Metern zum Stehen kam, setzte der Lokführer einen Notruf ab. Er ließ den Kopf in die Hände sinken und schloss die Augen. Die Gestalt war noch da, als habe sie sich in die Lider eingebrannt. Sie trug einen weiten Umhang und wirkte gespenstisch. War da noch ein zweiter Mann gewesen? Einer davon hatte es nicht mehr rechtzeitig von den Gleisen geschafft. Daran ließen die ins Führerhaus eindringenden Schwelgase der überhitzten Bremsen und der Geruch nach verbranntem Fleisch keinen Zweifel.
Grabbe las bereits zum wiederholten Mal die Mail mit der Einladung zum Vorstellungsgespräch. Nun ging es schon auf Mitternacht zu und er hatte sich noch zu keiner Antwort durchgerungen. Wer konnte wissen, wie lange die holländische Bank, die eine lukrative Stelle im Sicherheitsbereich ausgeschrieben hatte, noch in Luxemburg blieb, wo das Bankgeheimnis als wichtigster Standortvorteil nicht mehr bestand. Er fragte sich, wie viele Jahre ihm noch zum Wechsel aus dem Polizeidienst in die freie Wirtschaft blieben. Hinter dem Fenster seines Büros im Präsidium war der Nebel so dicht geworden, dass er sich für einen Moment in einem einsamen Gebäude in einer verlassenen Stadt wähnte.
Sein Telefon läutete.
»Ich komme gleich …«
»Herr Grabbe?«
Grabbe stutzte, es war nicht wie erwartet seine Frau, die Stimme gehörte einer Kollegin an der Pforte. »Ja, Grabbe.«
»Jemand von der Bundespolizei, ich hab’ den Namen leider nicht verstanden, ich verbinde.«
Die Geräuschkulisse, aus der er nur das mehrfach wiederholte Wort Amtshilfe verstand, mutete ihn nach einer Kneipenschlägerei mit vielen Akteuren oder einer ausufernden Demonstration an.
»Da sind Sie bei mir falsch …«
»Einen Moment!« Der Mann brüllte so laut, dass Grabbe den Hörer weg vom Ohr hielt.
Kurz darauf kam in normaler Lautstärke: »Wir haben hier alle Hände voll mit randalierenden Fußballfans zu tun und benötigen Ihre Amtshilfe bei einem Zugunfall mit Personenschaden.«
»Was für ein Schaden?«
»Ein Mensch soll ums Leben gekommen sein, mindestens einer.«
»Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen, Sie sind hier bei der Mordkommission gelandet.«
»Der Lokführer meint, dass dort eine zweite Person war. Möglicherweise liegt Fremdverschulden vor.«
»Wo?«
»Da, wo der Unfall … also die Kollision geschehen ist.«
»Und das ist?«
»Kurz vor dem Hauptbahnhof aus Richtung Pfalzeler Brücke, etwa zum Ende der Metternichstraße.«
»Und warum wissen Sie nicht, um wie viele Personen es sich bei den Toten handelt?«
»Das werden Sie sehen, wenn Sie am Hauptbahnhof sind.«
Das werde ich ganz sicher nicht, dachte Grabbe, als er die Spurensicherung informierte und anschließend in der Gerichtsmedizin anrief. Sein Kollege Burkhard meldete sich nicht, kein Wunder, der hatte ja noch Urlaub und war wohl verreist. Auch bei Walde gab es keine Reaktion. Grabbe wusste, was er bei Gabi zu erwarten hatte, wenn er sie zu dieser späten Stunde und aus diesem konkreten Anlass anrufen würde. Die Häme blieb ihm erspart, denn auch bei ihr meldete sich nur die Mailbox.
Fünf Minuten später versuchte Grabbe es nochmals. Wieder war keiner seiner Kollegen zu erreichen. Was sollte er tun? Plötzlich krank werden, auf der Treppe stürzen, die kam er heil hinunter. Auf dem Weg zum Bahnhof einen Unfall bauen? Da war kaum mehr jemand unterwegs und er selbst fuhr zu langsam, um die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren zu können. Unterwegs verwarf er den Gedanken, bei seinem Kollegen Walde, der in der Innenstadt nahe der Porta Nigra wohnte, zu klingeln.
Als er auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof die Ansammlung von Einsatzfahrzeugen sah, ließ er es bleiben, in einer der Kneipen ringsum wenigstens noch einen Schnaps zu trinken. Bevor er ausstieg, lockerte er den eben erst zugezogenen Knoten seiner Krawatte, die er auf einem hellbraunen Hemd im V-Ausschnitt eines Pullovers trug.
Beim Herannahen an das Bahnhofsgebäude waren Grölen und Geschrei zu vernehmen. An der Treppe zum Haupteingang stand eine Truppe äußerst bedrohlich wirkender Polizisten in dunkler Schutzkleidung mit Beinschonern, Schutzwesten und Helmen.
Erst als Grabbes Dienstausweis mit grimmigen Blicken inspiziert worden war, gelangte er in die menschenleere Bahnhofshalle. Auf der anderen Seite hatten hinter den Türen zum Bahnsteig weitere Polizisten Stellung bezogen. Der Lärm war deutlich lauter geworden und schallte aus den angrenzenden Räumen, wo vermutlich die Randalierer festgehalten wurden.
»Wo …« Grabbe musste sich räuspern. »Wo ist es?«
»Sie kommen wegen des Unglücks mit …«
Grabbe wurde während seines zustimmenden Nickens bewusst, nun tatsächlich hier anwesend zu sein. Dort, wohin der junge Kollege mit seinem Schlagstock wies, würde ihn etwas erwarten, dem er absolut nicht gewachsen war. Noch sah er am östlichen Ende der überdachten Bahnsteige nur die sich in Nebel und Dunkelheit verlaufenden Schienen. Der letzte Therapeut, bei dem er wegen seiner Probleme gewesen war, hatte mal gesagt: »Nichts ist so schlimm wie die Angst davor.«
Als er am Ende des Bahnsteigs hinunter zu den Schienen kletterte, trieb der Wind ihm den Nieselregen entgegen. Mit jedem Schritt, den er vorsichtig einen vor den anderen setzte, wurde es heller, die Scheinwerfer waren viel näher als er erwartet hatte. Zuerst schien es, als strahlte die Lampe den Nebel an. Grabbe konnte den Aufschrei nicht unterdrücken, als sein Fuß auf etwas Weiches trat, das zwischen den Schwellen lag. Im Schein seiner Taschenlampe erkannte er die Flügel einer Taube, deren Kopf zu fehlen schien.
Schritte knirschten im Schotter. Zuerst sah er die Reflektorstreifen auf der orangefarbenen Jacke der ihm entgegenkommenden Person. Ein verstört wirkender Mann, von dem er durch den nach vorn gerutschten gelben Helm nur die untere Hälfte des Gesichts sehen konnte, stolperte, den Blick starr nach unten gerichtet, dicht an ihm vorbei.
»Achtung!«, rief Grabbe und wurde nur, weil er dem Mann im letzten Moment auswich, nicht angerempelt.
Zwischen den Gleisen stand ein Stativ mit einem Scheinwerfer, der die davor stehende Lok anstrahlte.
»Wo bleibst du denn?« Sattler, in Schutzkleidung mit Kapuze, die auch den Regen abhielt, trat ihm entgegen. So blieb Grabbe der Anblick auf das erspart, was wahrscheinlich vorne an der Lok klebte und wohl auch durch die nassen Gläser seiner Brille erkennbar gewesen wäre.
»Ich hab’ … also die anderen waren nicht zu erreichen.« Grabbe blickte hoch zu der Lampe, auf deren Scheibe der Nieselregen dampfte. »Ist Dr. Hoffmann schon da?«
»Ich hab’ ihn noch nicht gesehen.«
Als Grabbe wieder zu dem Leiter der Kriminaltechnik blickte, leuchtete die Lok im Blitzlicht eines Fotografen auf. In dem Sekundenbruchteil war für ihn nicht genau zu erkennen, was sich am linken Puffer der Lok befand. Es schien sich um Kleidung zu handeln, wahrscheinlich ein Ärmel, der herunterbaumelte, eine Hand war nicht zu sehen.
»Der Lokführer, Herr Buraundsoweiter, mir ist gerade der Name entfallen, hat die ganze Zeit gewartet«, fuhr Sattler fort. »Ich denke, er benötigt selbst Hilfe. Könntest du ihn zuerst befragen?«
Während Grabbe überlegte, ob es noch einen zweiten Zeugen gab, winkte Sattler einen Mann herbei.
Der Lokführer war nicht größer als einen Meter siebzig. Seine noch vollen Haare waren an den Seiten ergraut. Er trug ein helles Hemd, eine rote Krawatte mit gelöstem Knoten, darüber eine ärmellose Jacke mit Schulterstücken, auf denen im Licht der Scheinwerfer drei rote Streifen zu erkennen waren. Im Bereich der über dem Bauch spannenden Knopfleiste war die Weste schmutzig. Er schien sich darüber erbrochen zu haben.
»Burakowski«, stellte sich der Lokführer vor.
»Oberkommissar Grabbe.« Er unterdrückte den Reflex, sich nach dem Händedruck die Hand an der Hose abzuwischen. »Sie haben eine zweite Person gesehen?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, es ging alles so schnell.«
»Das ist für uns sehr wichtig«, drängte Grabbe. »Von Ihrer Beobachtung hängt ab, ob wir von einem Verbrechen ausgehen müssen.«
»Das hat nicht länger als eine Sekunde gedauert. Der Nebel war sehr dicht … und dann hab ich … die Augen zugekniffen.« Er ließ das Kinn bis auf die Krawatte sinken. »Da war schon alles zu spät.«
»Was haben Sie von der zweiten Person wahrgenommen?« Während Grabbe diese Frage stellte, hatte er das Gefühl, sich selbst von außen zuzuhören. Der Lokführer schüttelte den Kopf. »Ich will ja nicht alles noch schlimmer machen, ich weiß ja auch nicht … er hatte eine Kapuze über, so wie … ich weiß auch nicht.«
»Sagen Sie einfach, was Sie denken.«
»Er sah aus, wie soll ich es sagen … die Kapuze, kein Gesicht, so einen Umhang … er sah aus … wie …«
»Ja?«
»Gespenstisch …«
»Das werden Sie uns bitte morgen im Präsidium zu Protokoll geben.«
Ein leichter Wind wehte Grabbe nun den feinen Regen ins Gesicht. Und mit ihm den Geruch nach verbranntem Kunststoff, Blut, Eingeweiden, geschmortem Fleisch und Kotze, diese stammte von ihm selbst. Er hatte sich vorgebeugt und auf seine Schuhe erbrochen.
Vorne an der Lok, die Dr. Hoffmann als Erstes in Augenschein nahm, hafteten noch Hautfetzen und winzige Knochenteile. Der Rest war vermutlich zwischen der Unfallstelle und dem Haltepunkt zu finden. Mit einer langen Pinzette legte er ein, wie er vermutete, aus dem Ellenbereich stammendes Teil in den Aluminiumsarg, der neben den Schienen stand. Der Gerichtsmediziner war gespannt, aus wie vielen Teilen das Puzzle letztlich bestehen würde.
»N’Abend, Herr Dr. Hoffmann«, begrüßte ihn Sattler, der auf Augenhöhe einen undefinierbaren Brocken zwischen Daumen und Zeigefinger seiner blauen Handschuhe hielt. »Besser guten Morgen«, korrigierte er sich.
»Guten Morgen.« Der Rechtsmediziner nickte.
»Der Notarzt hat sich nicht auf einen Suizid festlegen wollen, nachdem der Zugführer noch eine zweite Person gesehen haben will«, berichtete Sattler. »Grabbe leitet die Ermittlungen.«
Fast hätte Hoffmann gefragt, wer denn auf die Idee gekommen sei, Grabbe mit einer derart unappetitlichen Aufgabe zu betrauen. Einen Mann, der es bei weit weniger brisanten Fällen kaum schaffte, sich am Tatort einem Mordopfer zu nähern, ganz zu schweigen davon, eine hundsgewöhnliche Obduktion durchzustehen.
Aber Dr. Hoffmann besann sich. »Wie viele Waggons hat der Zug und wissen Sie, wie schnell er war und welchen Bremsweg er benötigt hat?«
»42 Waggons, zusammen mit den beiden Loks ist er über siebenhundert Meter lang. Der Lokführer meint, er habe ein paar hundert Meter gebraucht, bis er den Zug gestoppt …«
»Viel habt ihr ja noch nicht gefunden.« Dr. Hoffmann schlug nochmal kurz die Plane von dem Transportsarg zurück, in dem die Leichenteile lagen.
Der Gerichtsmediziner ging zu Grabbe, der immer noch nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien, von eruptiven Würgeschüben geplagt wurde. Dr. Hoffmann stellte seinen Aluminiumkoffer ab, nahm eine flache Metalldose aus der Tasche seines Regenmantels und tippte Grabbe auf die Schulter. »Kommen Sie hoch, Herr Grabbe, das könnte helfen.«
Als Grabbe sich aufrichtete, stützte er ihn und gab ihm zwei weiße Pillen.
»Was ist das?« Der Kripomann schaute fragend auf die zwei Kügelchen in seiner Handfläche.
»Tut gut und hat praktisch keine Nebenwirkungen. Nicht schlucken, nur lutschen.«
»Schmeckt wie Pfefferminz!«, wunderte sich Grabbe.
»Und nun reiben Sie sich davon was unter die Nase.« Hoffmann hielt ihm eine runde Dose mit einer hellen Creme hin. »Nicht zu viel und anschließend nicht mit dem Finger in die Augen reiben! Und nun möglichst nur durch den Mund atmen.«
Grabbe befolgte die Anweisungen des Arztes. Es hatte wohl dieser Geschichte hier bedurft, um ihn endlich zu einer Entscheidung bezüglich seiner weiteren Karriere kommen zu lassen. Morgen früh würde er den Vorstellungstermin bei der Bank bestätigen. »Seit der Sache, Sie wissen, damals, mit dem brennenden Auto, kann ich manche Gerüche nur schwer ertragen.« Grabbe schaute dem Lokführer nach, der nun eine Decke um die Schulter trug und von einem Sanitäter in Richtung des Bahnhofs begleitet wurde.
»Gehört das Ihnen?« Der Gerichtsmediziner hob ein Mobiltelefon auf.
»So ein Mist.« Grabbe stellte fest, dass seine Brusttasche leer war. Das Handy musste ihm vorhin herausgerutscht sein. Das Glas des Displays war gesplittert.
»Wollen wir mal die Stelle suchen, wo der Unfall passiert ist?« Hoffmann sprach in einem Tonfall, als lade er zu einem kleinen Spaziergang ein. »Kennen Sie den schon? Sagt ein Beamter zum anderen: ‚Ich weiß gar nicht, was die Leute gegen uns haben. Wir tun doch nix.’«
»Die Unfallstelle wird sicher nicht leicht zu finden sein«, erwiderte Grabbe, dem überhaupt nicht nach Witzen zumute war und diesen obendrein nicht lustig fand.
»Lassen Sie das mal meine Sorge sein.« Hoffmann reichte ihm einen Schutzanzug, den sich Grabbe überstreifte, nachdem er sich die Schuhe am nassen Kraut auf dem Weg zwischen den Gleisen abgewischt hatte. Dann zog er blaue Überschuhe darüber. Von dem tieferen Standpunkt aus betrachtet, wirkten die Waggons wie stählerne Ungetüme, denen nicht zu trauen war. Noch immer dünsteten die Bremsen widerwärtige Gerüche aus. Wenn Hoffmann hin und wieder näher heranging, um einen Radbereich oder etwas im Gleisbett zu inspizieren, blieb Grabbe auf dem schmalen Pfad zwischen den Gleisanlagen zurück.
Sie gelangten zu einem Waggon, hinter dessen Vorderachsen eine Lampe so tief aufgestellt war, dass sie von der anderen Seite darunter hindurchleuchtete.
»Der 22. Wagen, das sind, falls ich mich nicht verzählt habe, etwa 400 Meter Bremsweg.« Der Gerichtsmediziner bot Grabbe weitere Pfefferminzkügelchen an.
Kaum hatte er sie sich in den Mund geschoben, klingelte Grabbes Telefon. Er wunderte sich, dass es noch funktionierte. Jemand von der Bahnverwaltung fragte, wann mit der Freigabe der Strecke zu rechnen sei. Grabbes Panik war einer Mischung aus Interesse und leichter Abenteuerlust gewichen. Zu dieser gesellte sich nun ein Anflug von Euphorie, als er antwortete, es sei noch nicht abzusehen, bis wann sie fertig würden.
Grabbe konnte nicht beurteilen, wie viel der Regen bereits weggespült hatte. Aber das, was hier an Blut und anderen Körperflüssigkeiten zu sehen war, verriet eindeutig die Kollisionsstelle.
»Das meiste muss auf der anderen Seite zu finden sein.« Der Gerichtsmediziner richtete sich auf. »Wollen Sie mitkommen?«
Erst beim Ausatmen wurde Grabbe bewusst, wie tief er eingeatmet hatte, aber er war entschlossen, egal welche schrecklichen Bilder ihm in den Sinn kamen, sich der Situation zu stellen.
Sie schlüpften unter den Puffern am Ende des Waggons hindurch und erreichten die Stelle, an der mehrere Techniker im Schein von Lampen arbeiteten. Neben dem Schotter war etwas mit einer Plane abgedeckt. Nur ein Stück Stoff lugte heraus.
»Er dürfte in einer aufrechten und dem Zug zugewandten Position erfasst worden sein.« Hoffmann kniete neben dem Bündel und hob die Plane in einem Winkel, der Grabbe den Blick auf das, was darunter lag, verbarg.
»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«
»Der Puffer scheint den unteren Teil des Körpers abgetrennt zu haben.«
Die Ähnlichkeit zu dem Stofffetzen am Puffer der Lok wurde Grabbe bewusst. »Das könnte von einem Regenmantel oder Poncho stammen.«
»Auch das liegt noch so da, wie wir es gefunden haben.« Ein Techniker richtete seine Lampe auf die Schienen nebenan. Grabbe hielt den Atem an. Doch es war nur ein in die Jahre gekommenes Damenrad.
»Es hat wahrscheinlich dem Opfer gehört«, fuhr der Techniker fort.
»Warum?«, fragte Grabbe.
»Dieses Gleis ist erst kurz nach der Kollision gesperrt worden. Bis dahin sind hier ständig Züge durchgekommen.«
Unter der Lenkstange war nur noch eine verbogene Gabel vorhanden, das Vorderrad fehlte.
»War das schon so ausgeklappt?« Grabbe wies auf den Doppelständer, mit dem das Rad wie ein Moped aufgebockt werden konnte.
»Wir haben nichts daran verändert.«
»Seltsam.« Grabbe ging neben dem Rad in die Hocke. Als er die eingravierte Nummer auf der Stange unter dem Sattel entdeckte, nahm er sein Mobiltelefon heraus. Immerhin funktionierte der Blitz noch, als er ein Foto schoss. Als er es anschauen wollte, erschien kein Bild auf dem defekten Display. Kurze Zeit später klingelte es erneut. Der Fahrdienstleiter des Hauptbahnhofs wollte wissen, wann voraussichtlich die Arbeit der Kripo beendet sein würde. Er wurde vertröstet.
Grabbe widerstand auch in der Folge beharrlich allen Versuchen der Bahn, angesichts der enormen Probleme mit Umleitungen infolge der Sperrung der Hauptstrecke und des bald einsetzenden Berufsverkehrs, Druck auf ihn auszuüben. Etliche Stunden später, als die Kriminaltechniker im Anschluss die Strecke noch ein letztes Mal abgegangen waren, wurde die Strecke freigegeben.
Dienstag
Spätestens gegen Mittag würde er nach Hause fahren und sich endlich ins Bett legen. Grabbe fühlte sich nach zwei Tassen Kaffee etwas weniger müde als im Morgengrauen. Er hatte sich zu Hause kurz geduscht und umgezogen. Seine Frau war erst wach geworden, als er bereits wieder das Haus verließ.
Nun saß er in seinem Büro und versuchte, sich auf den vorläufigen Bericht zu konzentrieren, den er so ausführlich schrieb, wie es ohne die Ergebnisse der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin möglich war. Sein Telefon klingelte. Es erschien eine hausinterne Nummer.
»Das soll jetzt ein anderer machen«, grummelte er, den Apparat ignorierend, während er das zuletzt Notierte überflog, in dem er überraschend viele Tippfehler entdeckte.
»Morgen!« Gabi kam in einer für sie ungewöhnlich zurückhaltenden Art zur Tür herein. Statt wie üblich die Tasche auf den Tisch zu werfen, auf den Stuhl zu plumpsen und mit den flachen Händen auf die Tischplatte links und rechts der Tastatur zu klatschen, lief alles ganz behutsam ab.
»Ben zahnt!« Sie dehnte das A wie einen Schmerzenslaut in die Länge. »Frag mich nicht, wie ich geschlafen habe. Muss ich mehr sagen …«, sie stutzte, nachdem sie sich zu ihm umgedreht hatte. »Du siehst heute Morgen aber auch nicht besonders gut aus.«
»Das liegt wohl am ungünstigen Licht.« Grabbe schob die schwenkbare Schreibtischlampe ein Stück von sich weg.
Das Telefon klingelte hoffnungsvoll weiter.
»Ich muss gleich weiter zum Gericht«, eröffnete Walde, der Leiter der Mordkommission, die Frühbesprechung, nachdem er auf dem Besucherstuhl in Gabi und Grabbes Büro Platz genommen hatte. Ein Blick zu Grabbe ließ ihn fragen: »Hab’ ich was verpasst?«
»Die Bahn nennt es Personenschaden«, sagte Grabbe. »Ich musste den Fall aufnehmen, weil die Todesursache nicht eindeutig geklärt werden konnte«, schloss er seinen Bericht darüber, was sich zugetragen hatte.
»Personenschaden wurde früher im Sprachgebrauch der Bahn verwendet, bevor sie aufs Englische umgestiegen sind. Das wäre dann doch Sache der Bahnpolizei«, sagte Gabi.
»Korrekt, aber die hatten gestern alle Hände voll mit Hooligans zu tun, die Randale in einem Zug veranstaltet haben. Dafür musste sogar der komplette Bahnhof gesperrt werden. Es heißt, dass über 30 Saarbrücker Fans festgenommen worden sind. Sie sollen von einem Spiel in Koblenz gekommen sein.«
»Das sie wohl verloren haben«, ergänzte Gabi.
»Gewonnen oder verloren, ich glaube, das spielt bei denen kaum eine Rolle. Denen geht es um was anderes.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Walde.
»Bis die Bahn-, also die Bundespolizei wieder übernimmt, ermitteln wir«, sagte Grabbe.
Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt, dann erst wurde angeklopft, wobei die Klinke heruntergedrückt blieb. Sie schnellte hoch, als Sattler beim Aufdrücken der Tür die Kiste, die er auf der Klinke abgestützt hatte, um eine Hand frei zu bekommen, wieder mit beiden Händen umfasste.
»Guten Morgen!« Die Schultern als Gegengewicht weit nach hinten gereckt, durchquerte der Kriminaltechniker den Raum und stellte die Kiste auf dem Rollcontainer neben Grabbes Schreibtisch ab.
Gabi war aufgestanden und schaute in die Kiste. Sie hatte deutlich mehr Inhalt darin erwartet.
»Oh Gott!« Zwischen Daumen und Mittelfinger hob sie einen Beutel mit einem blutigen, ehemals wahrscheinlich blauen Stofffetzen heraus.
»Wir haben Abdrücke von drei Fingern der rechten Hand nehmen können und keine Übereinstimmung mit unseren Daten gefunden.« Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf und schob sich die Brille hoch zur Nasenwurzel. »Keinerlei Papiere, Ausweis oder Führerschein wurden gefunden, nur diese Schlüssel.« Er hob eine Tüte mit einem schweren Schlüsselbund aus der Kiste. »Einer gehört zu einem normalen Sicherheitsschloss, ein weiterer scheint zu einem Safe zu gehören, ein kleiner passt vielleicht auf das Fahrradschloss des Rads, das wir sichergestellt haben.«
»Was ist das?« Walde hatte sich über die Asservatenkiste gebeugt und wies auf ein Bündel Papiere.
»Ein Kollege meint, es handele sich um ein Perikopenbuch. Da sind Zitate aus der Bibel drin, die in der Messe bei Lesungen verwendet werden.«
»Aha, es sieht ziemlich benutzt aus.« Gabi tauschte den Beutel mit dem Stofffetzen gegen den mit dem Buch. »Sowas hat doch … ich meine, ein normal Sterblicher schleppt doch so ein Buch nicht mit sich herum.« Sie hielt es hoch. »Gibt es ein Mobiltelefon?«
»Auch Fehlanzeige«, antwortete Sattler. »Dr. Hoffmann hat angerufen, er ist mit der Autopsie so weit durch.«
»Da kann ich …«
»Ich fahre hin«, unterbrach Grabbe seine Kollegin. Es war sein Fall.
»Okay«, sagte Gabi und warf Walde und Sattler einen vieldeutigen Blick zu. »Dann halte ich hier die Stellung.«
»Hier ist die Anschrift des Besitzers des registrierten Damenrads, das wir auf den Schienen gefunden haben.«
»Da kümmern wir uns im Anschluss drum.« Walde nahm von Sattler die Notiz entgegen.
»Und was ist mit deiner Zeugenaussage?«, fragte Grabbe.
»Ich rufe im Gericht an, dass sie mich benachrichtigen sollen, wenn es so weit ist.« Walde hatte bereits den gestrigen Nachmittag im Zeugenzimmer verbracht. Der Prozess und die Zeugenvernehmungen liefen zäh und wurden immer wieder von Anträgen der Anwälte des Beklagten, denen der Nebenkläger und der Staatsanwälte unterbrochen. Burkhard hatte Urlaub und Gabi arbeitete, auch nachdem ihr Sohn nun den Kindergarten besuchte, weiter Teilzeit. Grabbe hatte sich bisher, falls er überhaupt in der Lage war, dorthin zu gehen, in der Gerichtsmedizin alles andere als stabil erwiesen.