Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben - Mary Oliver - E-Book

Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben E-Book

Mary Oliver

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Beschreibung

Mit ihrem Hund streifte Mary Oliver durch die Landschaft New Englands und verfasste die wohl bekanntesten zeitgenössischen Gedichte über die zarten Erscheinungen der Natur. In ihren klaren, scheinbar schlichten Beschreibungen fühlen wir uns aufs Tiefste mit der physischen Welt verbunden. ›Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben‹ ist das von Oliver selbst zusammengestellte Best-of ihres Schaffens. »Aufmerksam zu sein«, schrieb sie, »ist unsere unendliche und zweckmäßige Aufgabe.«

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Seitenzahl: 198

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Mary Oliver

Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben

Gesammelte Gedichte

Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan

Mit einem Vorwort von Doris Dörrie

Diogenes

Für Anne Taylor

Vorwort

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich ihre Gedichte entdeckt habe. Sie gefielen mir gut, zogen aber auch wieder weiter wie Wolken, ohne dass sie sich mir eingeprägt hätten. Ich erinnere mich jedoch genau, wie ich zum ersten Mal ihre Stimme in dem Podcast On Being hörte, wo sie sachlich, fast kühl erzählte, wie ihr Schönheit, Poesie und vor allem das Gehen das Leben gerettet haben, das einfache Gehen durch die Natur. Wie sie seit Jahrzehnten Tag für Tag die Landschaft mit Heft und Stift in der Hand durchstreift, schaut und horcht und stehen bleibt, um sich Notizen zu machen. Das ist ihre Arbeit, der sie wie ein Handwerker Tag für Tag nachgeht. Um zu überleben, sich zu retten. Schon als Kind flüchtete sie vor Gewalt und Streit in den Wald, wo sie beobachtete und lauschte und etwas begriff, was sie später in dem Gedicht »De rerum natura« des Dichters und Philosophen Lukrez, ihres Helden und Vorbilds, wiederfand: »Es gibt nicht das Nichts. Woraus wir bestehen, wird etwas Anderes werden.« Diesem Anderen täglich größte Aufmerksamkeit zu schenken und so einen Schritt vor den anderen zu setzen wurde ihre Praxis. Auch eine Flucht vor der eigenen Dunkelheit, wie sie offen zugab. Durch das Notieren von Natur die eigene Natur begreifen. Sehr direkt fragt sie, ob man wirklich Augen hat, zu schauen, Ohren, zu hören, und ein Gehirn, um zu begreifen. Stopp!, ruft sie. Was soll die ganze Geschäftigkeit? Schau dich um! Hör zu! Ich habe drei Lieblingsgedichte, die zu meinem festen Gepäck durch den Alltag gehören. Ihr berühmtestes ist »The Summer Day« – »Der Sommertag« und nicht »Ein Sommertag« –, denn es geht um den Tag heute, hier, jetzt:

The Summer Day

Who made the world?

Who made the swan, and the black bear?

Who made the grasshopper?

This grasshopper, I mean –

the one who has f‌lung herself out of the grass,

the one who is eating sugar out of my hand,

who is moving her jaws back and forth instead of up and down –

who is gazing around with her enormous and complicated eyes.

Now she lifts her pale forearms and thoroughly washes her face.

Now she snaps her wings open, and floats away.

I don’t know exactly what a prayer is.

I do know how to pay attention, how to fall down

into the grass, how to kneel down in the grass,

how to be idle and blessed, how to stroll through the fields,

which is what I have been doing all day.

Tell me, what else should I have done?

Doesn’t everything die at last, and too soon?

Tell me, what is it you plan to do

with your one wild and precious life?

Der Sommertag

Wer machte die Welt?

Wer machte den Schwan und die Schwarzbärin?

Wer machte die Heuschrecke?

Diese Heuschrecke hier meine ich –

die sich selbst aus dem Gras katapultiert hat,

die jetzt Zucker aus meiner Hand frisst,

die ihre Kiefer vor- und zurückschiebt statt auf- und abwärts –,

die ringsumher starrt mit ihren riesigen, komplexen Augen.

Jetzt hebt sie die Vorderbeine und wäscht ihr Gesicht.

Jetzt klappt sie die Fügel auf und gleitet davon.

Ich weiß nicht genau, wie ein Gebet aussieht.

Ich weiß, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man

ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet,

wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,

denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.

Sag, was hätte ich sonst machen sollen?

Stirbt nicht alles am Ende und viel zu schnell?

Sag mir, was hast du vor

mit deinem wilden, kostbaren Leben?

 

Besonders die letzten zwei Zeilen sind unendlich oft zitiert, zur Erinnerung auf Zettel geschrieben, auf Kissen gestickt und als lebensrettend bezeichnet worden. Die Frage zielt mitten ins Herz und lässt uns nach Luft schnappen: Haben wir einen Plan für unser Leben? Ist er groß und wichtig und relevant und bedeutsam genug? Das Gedicht beantwortet die Frage selbst:

I do know how to pay attention, how to fall down

into the grass, how to kneel down in the grass,

how to be idle and blessed, how to stroll through the fields,

which is what I have been doing all day.

Tell me, what else should I have done?

Ich weiß, wie man Aufmerksamkeit schenkt, wie man

ins Gras fällt, wie man sich ins Gras kniet,

wie man müßig und gesegnet ist, wie man durch die Felder streunt,

denn das ist es, was ich den ganzen Tag machte.

Sag, was hätte ich sonst machen sollen?

 

Diese Sätze sind eine Provokation. Sie könnten eine Revolution anzetteln. Unsere Grundfeste erschüttern. Es soll genügen, einfach nur aufmerksam zu sein? In ihrer unnachahmlich lakonischen und gleichzeitig zarten Art fragt Mary Oliver, ob dieser Tag heute wirklich ein produktiver Tag war, wenn wir keinen Grashüpfer wahrgenommen haben, sondern vielleicht nur auf unsere multiplen Screens gestarrt, uns in Diskussionen, Streitereien verloren, innere Monologe geführt haben, tausend Dinge erledigt, absolviert, abgearbeitet haben, blind und taub für den Grashüpfer waren. Um was sonst geht es im Leben, wenn wir uns nicht ins Gras fallen lassen? In dem Podcast-Gespräch für On Being legte Mary Oliver großen Wert darauf, dass der beschriebene Grashüpfer tatsächlich existiert hat, tatsächlich auf ihrer Hand saß und vom Zucker eines Geburtstagskuchens einer Freundin naschte. Sie hat seine Existenz nicht nur bemerkt, sondern ihm durch das Aufschreiben ein zweites Leben gegeben, mit dem er und sie uns im Gedicht nun gemeinsam an unser eigenes Leben erinnern. Das hat viel mit Gefühl und Mitgefühl zu tun, Mitgefühl mit der Kreatur, aber auch mit uns selbst. Aufmerksamkeit ohne Gefühl ist nur ein Bericht, wie Oliver sagte, aber Aufmerksamkeit mit Gefühl der Beginn von Hingabe. Devotion. Oft fühlen sich die Wörter auf Englisch luftiger, leichter an, die Sprache von Songs. Der Gedichtsammlung A Thousand Mornings (2012) steht ein Zitat von Bob Dylan voran: Anything worth thinking about is worth singing about. Und viele dieser Gedichte möchte man glatt vom Blatt singen:

I Go Down to the Shore

I go down to the shore in the morning

and depending on the hour the waves

are rolling in or moving out,

and I say, oh, I am miserable,

what shall –

what should I do? And the sea says

in its lovely voice:

Excuse me, I have work to do.

Ich gehe zum Strand hinunter

Ich gehe am Morgen zum Strand hinunter,

und je nach Uhrzeit branden die Wellen

herein oder rollen hinaus,

und ich sage: Oh, ich Arme,

was werde –

was soll ich nur tun? Und das Meer spricht

mit seiner reizenden Stimme:

Entschuldige, ich hab was zu erledigen.

 

Dieses Gedicht kam 2012 nach dem Tod ihrer Partnerin Molly Malone Cook heraus, mit der Mary Oliver über vierzig Jahre zusammenlebte. Das Leichte bekommt eine unverhoff‌te Schwere, der Teppich wird einem mit einem einzigen, lakonischen Satz unter den Füßen weggezogen. Die Natur hat zu tun, sie beachtet mich und meine Nöte nicht. Sie ist da, um wahrgenommen zu werden, nichts weiter. Umso dringlicher Mary Olivers Auf‌forderung, unsere Aufmerksamkeit der Einzigartigkeit unseres Lebens zuzuwenden, unserer Fähigkeit des Wahrnehmens, des Staunens und der Freude. Und damit aufzuhören, uns zu sorgen:

I Worried

I worried a lot. Will the garden grow, will the rivers

flow in the right direction, will the earth turn

as it was taught, and if not how shall

I correct it?

Was I right, was I wrong, will I be forgiven,

can I do better?

Will I ever be able to sing, even the sparrows

can do it and I am, well,

hopeless.

Is my eyesight fading or am I just imagining it,

am I going to get rheumatism,

lockjaw, dementia?

Finally I saw that worrying had come to nothing.

And gave it up. And took my old body

and went out into the morning,

and sang.

Ich sorgte mich

Ich sorgte mich um vieles. Wächst der Garten, fließen

die Flüsse in die richtige Richtung, dreht die Erde

sich, wie man sie lehrte, und wenn nicht, wie

soll ich es korrigieren?

Hatte ich recht, lag ich falsch, wird man mir vergeben,

kann ich etwas besser machen?

Werde ich je fähig sein zu singen? Selbst die Spatzen

sind dazu in der Lage, und ich, nun ja,

bin hoffnungslos.

Schwindet mein Augenlicht oder bilde ich mir das nur ein,

bekomme ich Wundstarrkrampf,

Rheuma oder Demenz?

Am Ende erkannte ich, dass Sorgen nichts bringen.

Und ich gab sie auf. Und nahm meinen

alten Körper, ging hinaus in den

Morgen und sang.

Dieses Gedicht habe ich auswendig gelernt, um es immer dabeizuhaben, und ja, sogar auf ein Hemd gestickt, und jedes Mal, wenn ich mich sorge, versuche ich, es vor mich hin zu murmeln. Manchmal muss ich sehr viel murmeln, bis ich wieder singen kann. Aber genau das ist der wundersame Effekt der Gedichte von Mary Oliver: Irgendwann fängt man an, zu singen. Und den Blick von sich selbst abzuwenden auf den Morgen, das Gras, das Licht. Und dann taucht ziemlich sicher auch ein Grashüpfer auf.

 

Doris Dörrie

AUSFelicity

Glücksgefühl

2015

Ich erwache gegen Morgen

Warum wollen die Menschen noch immer

   Gottes Ausweispapiere sehen,

wo die Dunkelheit, die sich in den Morgen öffnet,

   doch mehr als genug ist?

Sicherlich, jeder Gott könnte sich abwenden vor Ekel.

Denkt an die Königin von Saba,

   die ins Reich des Salomo kommt.

Meint ihr, sie hätte fragen müssen:

   »Bin ich hier richtig?«

Heute Morgen

Heute Morgen sind die Eier des Kardinals

ausgebrütet, und sofort tschilpen

die Küken nach Nahrung. Sie wissen

nicht, woher sie kommt, sie rufen

einfach nur immer: »Mehr! Mehr!«

Für irgendetwas anderes hatten sie

keinen einzigen Gedanken. Ihre Augen

sind noch nicht geöffnet, der Himmel,

der wartet, ist ihnen völlig unbekannt. Oder

die Tausend, die Millionen Bäume.

Sie wissen nicht mal, dass sie Flügel haben.

Und genau so, wie ein schlichtes

Ereignis in der Nachbarschaft, geschieht

ein Wunder.

Die Welt, in der ich lebe

Ich habe mich geweigert,

eingeschlossen im aufgeräumten Haus von

 Gründen und Beweisen zu leben.

Die Welt, in der ich lebe und an die ich glaube,

ist viel größer als dies. Und überhaupt,

 was ist falsch am Vielleicht?

Ihr würdet nicht glauben, was ich ein- oder

zweimal gesehen habe. Ich sage

 euch bloß so viel:

Nur wenn Engel in eurem Kopf sind, dann

 seht ihr, vielleicht, einen einzigen.

Pfeif‌ende Schwäne

Beugt ihr eure Köpfe, wenn ihr betet, oder seht ihr

hinauf in den blauen Himmel?

Versucht euer Glück, Gebete fliegen aus allen Richtungen.

Und seid unbesorgt, in welcher Sprache ihr redet,

Gott versteht sie zweifellos allesamt.

Sogar wenn die Schwäne nordwärts fliegen und solch

einen lärmenden Krawall machen, hört Gott

gewiss zu und versteht.

Rumi sagte: Es gibt keinen Beweis für die Seele.

Aber ist nicht die Rückkehr des Frühlings und die Art, wie er

in unseren Herzen aufblüht, ein ziemlich guter Hinweis?

Ja, ich weiß, dass Gottes Stille niemals endet, aber

ist das wirklich das Problem?

Es gibt schließlich Tausende von Stimmen.

Außerdem, denkt ihr denn nicht (es ist nur ein Vorschlag),

dass die Schwäne ebenso wenig von der ganzen Sache

verstehen wie wir selbst?

Also hört zu und beobachtet, wie sie im Flug singen.

Macht das Beste aus der Sache.

Lager

Als ich von einem Haus in ein anderes zog,

gab es viele Dinge, für die ich keinen

Platz hatte. Was tun? Ich mietete einen Lager-

raum. Und stopf‌te ihn voll. Die Jahre vergingen.

Gelegentlich schaute ich vorbei und sah rein,

doch nichts geschah, kein einziger

Stich ins Herz.

Mit zunehmendem Alter wurden die Dinge,

die mich interessierten, weniger, aber

umso wichtiger. Also schloss ich eines Tages auf

und holte den Entrümpler. Er nahm

alles mit.

Ich fühlte mich wie ein Esel, dem man

endlich die Last abnimmt. Dinge!

Verbrennt sie, verbrennt sie! Macht ein hübsches

Feuer daraus! Mehr Platz in eurem Herzen

für die Liebe, für Bäume! Für die Vögel,

die nichts besitzen – und darum fliegen können.

Für Tom Shaw vom Anglikanischen Orden (1945–2014)

Woher ist diese Kälte gekommen?

»Sie kommt vom Tod deines Freundes.«

Wird mir von heute an immer so kalt sein?

»Nein, es wird nachlassen. Aber immer

      bei dir sein.«      

Welchen Grund hat das?

»War deine Freundschaft nicht immer herrlich

 wie eine Flamme?«

Ich kenne jemanden

Ich kenne jemanden, der so küsst, wie sich

eine Blume öffnet, nur etwas schneller.

Blumen sind sanft. Ihr Leben ist

kurz und selig. Sie bereiten

viel Freude. Es gibt

nichts auf Erden, das man gegen sie

einwenden kann.

Schade allerdings, dass sie nur die Luft

küssen können, sonst nichts.

O ja! Wir sind die Glücklichen.

Dieses kleine Biest

Dieses hübsche kleine Biest, das Gedicht,

 es hat seinen eigenen Kopf.

Mal will ich, dass es nach Äpfeln giert,

 es möchte aber rotes Fleisch.

Mal will ich friedlich dahinwandern

 an einem Strand,

doch es will alle Kleider ausziehen

 und in die Wellen tauchen.

Mal will ich schlichte Worte benutzen

 und ihnen Bedeutung geben,

aber es ruft sofort nach dem Wörterbuch,

 den Möglichkeiten.

Mal will ich resümieren und Danke sagen,

 um Dinge in Ordnung zu bringen,

und es fängt an, im Zimmer umherzutanzen

 auf allen vier Pelzbeinen, es lacht

 und nennt mich unverschämt.

Doch manchmal, wenn ich an dich denke

 und dabei zweifellos lächele,

sitzt es ruhig da, eine Pfote unterm Kinn,

 und hört einfach nur zu.

Der Teich

August eines weiteren Sommers und wieder

schlürfe ich die Sonne

und wieder breiten sich die Seerosen übers Wasser.

Ich weiß inzwischen, dass sie einander berühren wollen.

Viele Jahre bin ich nicht hier gewesen,

in dieser Zeit habe ich mein Leben gelebt.

Wie der Reiher, der nur krächzen kann und sich wünscht,

er könnte singen,

so wünsche auch ich, dass ich singen könnte.

Ein wenig Dank aus allen Kehlen wäre angemessen.

Doch es war so und es ist so:

Mein ganzes Leben lang konnte ich das Glück spüren,

abgesehen von dem, das kein Glück gewesen ist,

an das ich mich ebenfalls erinnere.

Wir alle ‌tragen einen Schatten.

Doch jetzt ist es wieder Sommer

und ich betrachte die Seerosen, die sich einander zuwenden,

dann auf dem Wind und dem Sehnen dahingleiten,

nah, ganz nah zueinander.

Bald kehre ich um und breche heimwärts auf.

Wer weiß, vielleicht singe ich dabei.

Gerade sagte ich

Gerade sagte ich

 irgendwas

Lächerliches zu dir,

 und deine Antwort

war ein herrliches Lachen.

 Jetzt sind sie Tage,

in denen die Sonne

 zurück nach Osten

schwimmt

 und Licht auf dem Wasser

glitzert

 wie vielleicht nie zuvor.

Ich kann mich nicht an

 jeden Frühling erinnern,

ich kann mich nicht an

 alles erinnern –

so viele Jahre!

 Sind Morgenküsse

die sanftesten

 oder jene am Abend

oder die dazwischen?

 Ich weiß nur,

dass »Danke« irgendwo

 dabei sein sollte.

Einfach nur für den Fall,

 dass ich den perfekten Ort

nicht finden kann –

 »Danke, vielen Dank«.

Das Geschenk

Sei still, meine Seele, und standhaft.

Noch immer sehen Erde und Himmel zu,

obwohl die Zeit aus der Uhr rinnt

und dein Gang, der zuversichtlich und schnell war,

langsam geworden ist.

Sei also langsam, wenn du’s musst, aber lass

dein Herz weiterhin seine wahre Rolle spielen.

Liebe noch immer, wie du einst geliebt hast, tief

und ohne Geduld. Lass es Gott und die Welt wissen,

dass du von Dank erfüllt bist.

Dass das Geschenk überreicht wurde.

AUSBlue Horses

Blaue Pferde

2014

Nach der Lektüre von Lukrez gehe ich zum Teich

Der glitschig grüne Frosch,

der seinen Tod fand im

rosa Schlund des Reihers,

war mein kleiner Bruder,

und der Reiher

mit den weißen Federn,

die sein Haupt bekrönen –

er wäscht jetzt den Dolchschnabel

im leuchtenden Teich –,

ist mein großer dünner Bruder.

Mein Herz kleidet sich schwarz

und tanzt.

Ich will nicht sittsam sein oder anständig

Ich will nicht sittsam sein oder anständig.

Im Schlaf war ich das jahrelang.

Auf diese Weise vergisst man zu viele wichtige Dinge.

Wie die kleinen Steine singen, selbst wenn du sie

 nicht hören kannst.

Wie es der Fluss nicht erwarten kann, zum Meer und

 zum Himmel zu kommen, wo er früher war.

Welch eine Reise ist das!

Eine Freude, sich diese Entfernungen vorzustellen.

Ich könnte die nächsten hundert Jahre auf Schlaf verzichten.

In meinen Wimpern brennt ein Feuer.

Es spielt keine Rolle, wo ich bin, sogar in einer Kammer.

Den Goldschimmer, den Böhme im Kochtopf sah,

 erkannte niemand sonst im Haus.

Vielleicht ist das Feuer in meinen Wimpern ein Abglanz davon.

Warum kommen mir so viele Gedanken? Sie machen

 mich irre.

Warum gehe ich jedesmal überallhin statt irgendwohin?

Ob ihr mir zuhört oder nicht, läuft beinahe aufs selbe raus.

Ich versuche nicht, weise zu sein, das wäre dumm.

Ich schwatze nur so dahin.

Stebbins Schlucht

Auf dem Weg

des Zufalls,

den schon vor Äonen

die Felsen rollten,

strömt das Wasser,

strömt

und strömt

an der Schräge

des Gefälles entlang,

drückt silberne Daumen

gegen die Felsen

oder verweilt, um abrupt

eine krause Stelle zu meißeln,

wo die flitzenden Fische

planschen oder dösen,

während der Eisvogel darüber

rüttelt und starrt –

und so läuft er meilenweit,

dieser Lichtblitz,

bloß bemüht,

hinabzuschießen

und herrlich zu sein

in seinem Tun;

ein Ziel

gibt es nicht,

er ist bloß

eines jener grandiosen Dinge,

die erschaffen wurden,

zu tun, was er perfekt tut,

und, wie fast nichts,

fast unendlich

anzudauern.

Franz Marcs blaue Pferde

Ich betrete das Gemälde mit den vier blauen Pferden.

Ich bin nicht mal überrascht, dass ich das kann.

Eines der Pferde kommt auf mich zu.

Die blaue Nase beschnuppert mich leicht. Ich lege meinen Arm

über seine blaue Mähne, halte nicht fest, verbinde mich nur.

Es gestattet mir mein Vergnügen.

Franz Marc starb als junger Mann, ein Schrapnell im Kopf.

Ich würde eher sterben, als den blauen Pferden zu erklären

 versuchen, was Krieg bedeutet.

Sie würden vor Schrecken ohnmächtig werden, oder es wäre

 ihnen einfach nicht möglich, es zu glauben.

Franz Marc, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.

Vielleicht wird unsere Welt irgendwann humaner werden.

Vielleicht ist das Verlangen, etwas Schönes zu erschaffen,

 ein Teil Gottes, das in jedem von uns steckt.

Nun sind alle vier Pferde nähergekommen,

 sie beugen ihre Gesichter herunter,

   als hätten sie mir Geheimnisse zu erzählen.

Ich erwarte nicht, dass sie sprechen, und sie tun es nicht.

Wenn es nicht ausreicht, so schön zu sein, was

 könnten sie dann wohl sagen?

Über das Meditieren, mehr oder weniger

Wie ich hörte, gelingt das Meditieren am besten,

wenn man eine bestimmte feste Position einnimmt.

Ich ziehe es vor, unter einem Baum zu lungern.

Warum also sollte es mir jemals gelingen?

An manchen Tagen schlafe ich ein – oder lande

an einem besseren Ort, im Halbschlaf, wo die Welt,

mit Frühling, Sommer, Herbst, Winter –

durch meinen Geist fliegt in ihrem

kühnen Aufstieg und ihrem kompromisslosen Abstieg.

Ich liege bloß da, während Raum und Zeit

ihre wahren Eigenschaften enthüllen: sie haben nie

von mir gehört, sie werden es und brauchen es auch nicht.

Natürlich wache ich am Ende auf

und denke, wie wunderbar ist es, ich zu sein,

aus Erde und Wasser erschaffen,

meine eigenen Gedanken, meine Fingerabdrücke –

all dies herrliche, vergängliche Zeugs.

Einsamkeit

Auch ich habe Einsamkeit gekannt.

Auch ich habe gewusst, wie es sich anfühlt,

 missverstanden zu sein,

 abgelehnt und ganz plötzlich

kein bisschen schön.

O Mutter Erde,

 dein Trost ist groß, deine Arme verweigern sich nie.

Das zu wissen hat mir das Leben gerettet.

Deine Flüsse strömen, deine Rosen öffnen sich morgens.

O ihr Regungen der Zärtlichkeit!

Fühlen Steine?

Fühlen Steine?

Lieben sie ihr Leben?

Oder übertönt ihre Geduld alles andere?

Wenn ich am Strand spaziere, sammle ich einige

 weiße, einige dunkle, die verschiedenen Farben.

Ich sage, keine Sorge, ich werde euch zurückbringen,

 und das tue ich auch.

Ist der wachsende Baum erfreut über seine vielen Zweige,

ein jeder ähnelt einem Gedicht?

Sind die Wolken froh, ihre Regenpakete abzuwerfen?

Fast alle Welt sagt, nein, nein, das ist unmöglich.

Ich weigere mich, so weit zu denken.

Es wäre allzu schrecklich, sich zu irren.

Treiben

Ich habe mich an allem erfreut: dem Regen, dem Weg,

 wohin er mich auch führte, den Wurzeln in der

 Erde, die begannen, sich zu rühren.

Ich hatte nie die Absicht, über Gott nachzudenken,

 es geschah einfach so.

Warum Gott oder die Götter unsichtbar sind:

 vollkommen verständlich.

Aber das Heilige ist sichtbar, ganz und gar.

Es ist wundervoll, auf diese Weise dahinzuwandern,

 das Denken ohne die übliche Absicht, eine Antwort

 zu erhalten, einfach nur treibend.

Wie die Wolken, die gewichtlos scheinen,

 es aber natürlich nicht sind.

Sie sind wirklich wichtig.

Ich meine, furchtbar wichtig.

Auf keinen Fall irgendein Ornament.

Spätestens nächste Woche blühen die Veilchen.

Nun, dies war mein köstlicher Regenspaziergang.

Worum ging es noch mal?

Denk nach, was die Musik zu sagen versucht.

Es war so etwas in dieser Art.

Heidelbeeren

Ich lebe jetzt an einem warmen Ort, an dem

man das ganze Jahr über frische Heidelbeeren

kaufen kann. Ohne zu arbeiten. Aus etlichen

Ländern in Südamerika. Sie sind ebenso

süß wie alle anderen, und verglichen mit den

Beeren, die ich immer auf den Feldern in der

Umgebung von Provincetown pflückte, sind

sie riesig. Aber Beeren sind Beeren. Sie

sprechen keine Sprache, die ich nicht

verstünde. Auch finde ich weder Zecken

noch kleine Spinnen zwischen ihnen. Somit

bin ich, alles in allem, sehr zufrieden.

Doch es gibt Grenzen. Was ihnen

fehlt, ist das Feld. Ein Feld, zu dem sie

gehörten und zu dem ich gehörte, wie ich

im Laufe der Jahre allmählich fühlte. Nun ja,

es gibt das Leben und dann ein Zuspät.

Vielleicht bin ich es, die ich verpasse. Das

Feld und die Spatzen, die am Waldrand

sangen. Und das Reh, das eines Morgens

unerwartet auf mich stieß, angespannt

und prachtvoll. Es stampf‌te mit dem Huf,

wie jedem Eindringling gegenüber. Dann

blickte es mich lange an, als wollte es sagen:

Okay, bleib du in deinem Revier, ich bleib

in meinem. Das taten wir. Versuch mal,

das einzupacken, Südamerika.

Geierschwingen

Die Schwingen

des Geiers haben

eine todschwarze

Farbe, aber wenn

Sonnenlicht in

die Federn strömt,

leuchten seine

Unterflügel,

sind durchtränkt

von Licht.

Ganz leicht

erklärlich durch

den Winkel der

Sonne, doch

ich schaue

weiter, ich

staune weiter,

stehe so tief

unter diesen

hoch oben

schwebenden Vögeln:

Könnte uns dies,

wie die meisten

Dinge, etwas

zeigen, über das

wir ernsthaft

nachdenken sollten?

Was für großartige Dinge

Ich weiß nicht, was für großartige Dinge

 der Hüttensänger immer erzählt,

wenn seine Stimme die Kehle, den Schnabel,

 den Körper verlässt, hinaus in frühe

rosa Morgenluft. Mir gefällt es,

 was immer es auch ist. Manchmal

scheint er der Einzige auf Erden zu sein,

 der keine düsteren Gedanken hat.

Manchmal scheint er der Einzige auf Erden

 zu sein, der keine Fragen stellt,

die nicht zu beantworten sind und wohl

 niemals beantwortet werden, der

Einzige, der vollkommen zufrieden ist

 mit dem rosa, dann hellweißen

Morgen und seine Dankbarkeit ausdrückt.

AUSDog Songs

Hundelieder

2013

Der Sturm

Jetzt tollt mein kleiner Hund durch den weißen

 Obstgarten, zerfetzt den Neuschnee

 mit wilden Pfoten.

Er rennt hierhin, rennt dorthin, aufgeregt,

 kaum zu bremsen, er springt, er dreht sich,

bis der weiße Schnee beschrieben ist

 mit großen, geschwungenen Buchstaben,

ein langer Satz, der die Freuden

 des Körpers in dieser Welt ausdrückt.

Oh, ich hätte es selbst nicht besser sagen

 können.

Percy (eins)

Unser neuer Hund, benannt nach dem geliebten Dichter,

fraß ein Buch, das wir unglücklicherweise

 unbeaufsichtigt gelassen hatten.

Glücklicherweise war es die Bhagavad Gita,

von der es sehr viele Exemplare gibt.

Jeden Tag, an dem Percy nun

in die Schönheit seines Lebens wächst, streicheln wir

sein wildes Lockenköpfchen und sagen:

»O du klügster aller kleinen Hunde.«

Nächtliche Rhapsodie des kleinen Hundes (Percy drei)

Er drückt seine Wange gegen meine

und gibt leise, prägnante Laute von sich.

Und wenn ich wach bin, einigermaßen wach,

rollt er sich herum und streckt alle vier Pfoten

 in die Luft,