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Madeleine liebt ihre Kinder abgöttisch. Aber am 10. Geburtstag der Zwillinge wird ihre Mutterliebe auf eine grausame Probe gestellt: Ein maskierter Mann steht vor der Tür und fordert sie mit gezogener Waffe zu einer unmenschlichen Entscheidung auf. Ein Kind muss sterben. "Welches wählst du?" "Mit starken Charakteren, tiefenpsychologischen Einblicken und schaurigen Momenten wirbelt Samantha King durch eine Geschichte, die in ein Kaum-zu-glauben-Finale mündet." Kölner Stadt-Anzeiger "Nervenkitzel pur." Jolie
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Seitenzahl: 482
Zum Buch
Alles, was Madeleine sich je gewünscht hat, ist, Mutter zu sein. Als sie mit ihrem Mann Zwillinge bekommt, könnte sie nicht glücklicher sein. Der Zusammenhalt ihrer kleinen Familie und das Wohl der Kinder Aidan und Annabel stehen für sie an oberster Stelle. Aber am 10. Geburtstag der Zwillinge wird Madeleines Mutterliebe auf eine grausame Probe gestellt. Ein Kind muss sterben, eines darf leben. Sie hat die Wahl – und sie zögert nicht.
Drei Monate später: Nur mühsam dringt die Erinnerung in Madeleines Bewusstsein. Wie war sie zu dieser unmenschlichen Entscheidung imstande? Hat sie schon immer ein Kind dem anderen vorgezogen? Ihre perfekte Familie ist für immer zerstört, und sie allein trägt die Schuld daran. Oder war ihr Leben gar nicht so harmonisch, wie Madeleine es erinnert?
Zur Autorin
Samantha King ist eine frühere Lektorin und Psychotherapeutin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden kleinen Kindern, die sie zu diesem Roman inspirierten, in London. Sag, wer stirbt ist ihr Debüt.
HarperCollins®
Copyright © 2017 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der englischen Originalausgabe: The Choice Copyright © 2017 by Samantha King erschienen bei: Piatkus, an imprint of Little, Brown Book Group
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung: Gencho Petkov, exopixel, Koraysa / Shutterstock Redaktion: Anna Hoffmann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677257
www.harpercollins.de
Für Paul, Hani und Rafi – ihr seid mein Ein und Alles.
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen
WILLIAM SHAKESPEAREHamlet, 3. Aufzug, 1. Szene
PROLOG
Meine Tochter hat rotgoldene Locken. Sie schimmern in der Morgensonne, als die feinen seidigen Ringel von meinen suchenden Händen wegschwirren und ich entgeistert zusehe, wie sie als glühende Wolke aufwärts driften. Ich wollte gar nicht nach ihren Haaren greifen – sondern nach ihrem rückwärts fliegenden Körper, eine Szene in Zeitlupe, die sich in mein Gehirn einbrennt –, aber ich rudere sinnlos mit den Armen, drücke mir nur die trockene Sommerluft an die Brust, als ich sie vor dem Fall retten will und stattdessen nur die fliegenden Strähnen ihrer kupfernen Ringellocken erwische, die sie unbedingt schneiden lassen wollte, um sie zu zähmen und dadurch weniger niedlich und erwachsener auszusehen.
Sie wird nie erwachsener aussehen als jetzt. Sie wird nie erwachsen werden.
Dieser Gedanke erschüttert mich in meinem tiefsten Inneren, ein Echo des dumpfen Aufpralls ihres Körpers. Ich lasse mich auf den Boden fallen, achte nicht darauf, dass mir der betonierte Weg im Garten die Kniescheiben zu zermalmen scheint, während ich mich auf allen vieren mit den Händen zu ihr unter die Rosensträucher ziehe. Ich kralle die zitternden Finger in die steinige Erde, meine Haut reißt auf, während ich fieberhaft versuche, weiter voranzukommen. Übelkeit steigt in mir auf und brennt mir in der Kehle, als ich den ekelhaften Blutgeruch auf meinen Händen und Handgelenken rieche. Eine Unmenge Blut. Ich renke mir beinahe die Schultern aus, während ich die Arme überdehne, während ich die Hände in Annabels Haarkranz vergrabe, mir die sanften Ringel um die Fingerspitzen wickle, als würde sie das an mich binden. Ich lege die Wange auf den feuchtkalten Boden und hoffe, dass auch ich sterbe.
Ich werde nicht erlöst, stattdessen bin ich in einer Schleife des Grauens und der Erinnerung gefangen …
Annabel ist klein für ihr Alter. Sie ist zierlich, ihre Beine sind ungewöhnlich lang für ein Mädchen, das gerade einmal einen Meter zwanzig groß ist, und sie hat dürre Arme. „Meine Stäbchen“, sagt sie immer dazu. Ihre Haare sind das Größte an ihr – ein Zuckerwattegespinst aus ungebärdigen rotbraunen Locken. Ich war immer der Ansicht, dass Annabels Charakter sich zunehmend ihren Haaren anpasste: ätherisch, ruhelos, unmöglich anzuschauen, ohne dabei voller Freude zu lächeln.
Aidans Haare wären genauso, hätte Dom mich nicht dazu gebracht, sie vor neun Monaten kurz schneiden zu lassen. Ich kam mir vor wie eine Kriminelle, als ich mit ihm zum Friseur an der Hauptstraße gegangen bin, an dem Samstag vor ihrem ersten Tag auf der neuen Schule. Ich erinnere mich noch an die Tränen, die er hinter seinem Lexikon zu verstecken versuchte, und dann an meine Tränen später, als Annabel mich am Schultor ungeduldig wegscheuchte und ihren zwei Minuten jüngeren Bruder über den üppigen Rasen in Richtung des prachtvollen Backsteingebäudes hinter sich herzog. Ich betrachtete die schicken violetten Blazer, und mein Herz krampfte sich zusammen, als Aidan sich verlegen über seine geschorenen Haare strich.
Dom hatte recht gehabt, sich zu beschweren: Der Friseur hatte kein Ende gefunden, und ich hätte ihn aufhalten müssen, aber ich hatte zu lange gezögert, als er darauf beharrte, dass wirklich alle Jungs die Haare so kurz trugen. Ich tröstete mich damit, dass es Aidan eher zugutekommen würde, wenn er sich anpasste, statt herauszustechen. Das ärmste Kind in der noblen Schule: Ich mochte gar nicht daran denken, was für Sticheleien sie womöglich ertragen mussten, ganz egal, wie klein die Klassen waren und wie beeindruckend die Ausstattung. Aber was die Schule betraf, hatte Dom unrecht gehabt: Die Zwillinge waren in ihrer alten staatlichen Grundschule viel glücklicher gewesen, mit ihren alten Freunden, Kindern, die keine iPhones und Privatskikurse in ihren Geschenktüten erwarteten. Aber diesen Streit hatte ich verloren, so wie viele andere in diesem Jahr, insbesondere, wenn es um die Zwillinge ging.
„Sie sehen sich ja wirklich unglaublich ähnlich“, schwärmten die Kindermädchen in ihren Sportsachen immer, bevor sie in ihre Pilates-Kurse abrauschten.
Ja schon, nur sind sie es nicht. Mein Sohn hat sich stets an mich geklammert, wollte so lange wie möglich meine Hand halten, aber meine Tochter schüttelte mich immer ab, wollte hoch hinaus, in Richtung Freiheit.
Hast du deshalb ihn ausgewählt? Weil er dich mehr brauchte – dich mehr liebte?
Meine Kinder brauchten mich beide! Sie liebten mich beide. Und ich liebte sie beide gleich.
Die grobkörnige Erde reibt sich tiefer in meine Wange, während sich der Wortwechsel endlos, ziellos in meinem Kopf weiterdreht: Annabel wird mich nie mehr wieder brauchen, und Aidan wird es nicht zugeben, selbst wenn er es doch tut. Das ist die Strafe dafür, dass ich einen Mörder in mein Heim eingelassen habe, dass ich meinen schüchternen, lieben, übervorsichtigen Sohn geschützt und zugelassen habe, dass meine aufgeweckte, gern im Rampenlicht stehende Tochter, die dem Leben immer so furchtlos entgegengetreten ist, mit dem Kopf voran in den Tod geht.
„Ich mach auf, Mum. Mach weiter, das wird toll.“ Als die Klingel ertönte, schlenderte Aidan Richtung Haustür, aber ich hob eine Hand, um ihn aufzuhalten.
„Warte, Schatz. Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du Fremden die Tür aufmachst.“
„Wer sagt denn, dass es ein Fremder ist?“ Annabel sprang vom Sofa auf. „Vielleicht ist es ja Onkel Max. Er hat gesagt, er hat eine ganz besondere Extraüberraschung für uns.“
„Soso.“ Ich verdrehte die Augen. „Gib mir noch eine Sekunde.“
Fertig. Perfekt. Ohne zu wissen, dass gleich um die Ecke eine Tragödie lauerte, ein heimtückischer Spion, der unsere behütete, gewöhnliche Familie beobachtete, lächelte ich sogar, als ich die letzten Kerzen in die blaue Glasur ihrer mächtigen Geburtstagstorte in Gestalt eines Swimmingpools steckte – zehn lila Kerzen für Annabel, zehn rote für Aidan. Sie würde eine tolle Hauptattraktion auf ihrer Poolparty am Nachmittag abgeben.
„Ich bin gleich da!“, rief ich und schleckte mir noch ein bisschen Glasur von den Fingern, während ich zur Tür eilte.
Aber Annabel war zuerst dort. „Wetten, es ist der Postbote – schau doch mal den riesigen Schatten durch die Scheibe an. Der muss einen gigantischen Berg Geschenke dabeihaben!“
„Hoffentlich ist eine neue Xbox dabei“, fügte mein von Spielekonsolen besessener Sohn hinzu und ging zu seiner Schwester.
„Du weißt doch, dass dein Vater nicht sonderlich begeistert von Videospielen ist.“ Ich bemühte mich nach Kräften, nicht schnippisch zu klingen.
„Bloß weil er immer gewinnen will und nicht gerne erschossen wird“, sagte Aidan weise. Er verdrehte die Augen genau wie ich, und ich musste wieder lachen.
Aber es war unheimlich, denn in den nächsten Sekunden schienen wir genau in eines von Aidans Ballerspielen geraten zu sein. Ich sah zu, wie meine Tochter, zwei Schritte vor mir, die Haustür öffnete und zu dem riesigen Schatten aufblickte, der Armeetarnanzug und Sturmmütze trug, aber keine Geschenke, und dessen Gestalt den perfekten Sommermorgen auslöschte und der noch bedrohlicher wurde, als er sich beide Kinder schnappte und sie seitlich am Haus entlang in den Garten zerrte, mit seiner behandschuhten Hand eine Pistole auf ihre beinahe identischen glänzenden Geburtstagsgesichter richtete und dann auf mich, als ich sie panisch einholte.
„Welches wählst du, Schlampe?“
Jetzt ist alles dunkel.
Drei Monate später
Mein Sohn muss sich die Haare schneiden lassen. Sie hängen ihm über die Augen, und er guckt hindurch wie ein nervöser Schauspieler, der durch einen Spalt im Vorhang das Publikum begutachtet, bevor er sich auf die Bühne wagt. Aber er versteckt sich nur vor mir. Er wendet den Kopf ab, wenn ich den Raum betrete, entwindet mir seinen schmalen Körper, wenn ich ihn in den Arm nehmen will. Meine Fingerspitzen kribbeln vor Sehnsucht nach der fast vergessenen Berührung von Aidans milchig-zarten Wangen, und ich schlinge die Arme um mich selbst, damit sie nicht mehr wehtun, weil ich kein Kind habe, das ich drücken kann, sondern nur noch Leere.
Sechsunddreißig Wochen lang habe ich die Zwillinge in mir getragen, die Schläge unserer Herzen waren ein dreifaches Echo voneinander, erst von innen und dann an meiner Brust, als ich ihre winzigen Körper gehegt und gepflegt habe, physisch und emotional, Haut an Haut. Ein unsichtbarer Knoten aus gegenseitigem Bedürfnis und Liebe verband uns. Wir waren wie eine Einheit, und während der ersten zehn Jahre ihres Lebens wurde der Knoten immer fester. Jetzt wurde er auseinandergerissen, und mein schönes Mädchen ist fort.
Sie zu vermissen hält Annabels Gegenwart irgendwie lebendig, und daran halte ich mich verzweifelt fest. Ich habe meine Tochter in diesem einen schrecklichen Augenblick verlassen, in allen Augenblicken, die noch kommen, werde ich sie niemals mehr loslassen. Aber der Schmerz über den Verlust ist lähmend – er lähmt mich, meinen Mann Dom und meinen Sohn, der nicht weiß, wie er ohne seine Zwillingsschwester auf dieser Welt existieren soll.
Aidan, in eine Sofaecke gedrückt, den Blick auf den Nintendo DS in seinen Händen fixiert, sieht aus, als würde er in seiner Umgebung verschwinden wollen. Mir fällt auf, dass er wieder die Jeans und das Shirt trägt, die ich ihm für die Feier zu ihrem zehnten Geburtstag gekauft habe, und ich frage mich, wie er das ertragen kann – und ob nicht allein der Stoff auf der Haut eine zu schmerzhafte Erinnerung ist. Vielleicht geht es aber auch genau darum: Zieh dieselben Sachen an, erinnere Mum daran, was sie getan hat. Es funktioniert, und ich weiß, ich habe es verdient, trotzdem fühlt es sich irgendwie … unerwartet an.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, nur einfach nicht diese … diese Leere, diese schweigende Schuldzuweisung. Aidan war noch nie grausam, er ist feinfühlig und fürsorglich. Ich weiß noch, wie ich ihn stundenlang in den Armen hielt, als unsere Katze Disco überfahren wurde, ich strich ihm über die Haare, und sein dreijähriger Körper bebte unter meinen Händen, während Annabel ihm neugierig die Hand tätschelte und mich unsicher ansah, voller Fragen, die sie nicht zu stellen wusste. Schließlich versiegten seine Tränen, er kuschelte sich an sie, und sie lächelte wieder.
Aidan war der Einzige von uns, der Annabel zum Lächeln bringen konnte, wenn sie nach einem Vortanzen nicht für die Hauptrolle ausgewählt worden war oder wenn sie wegen einer Erkältung nicht an einem Schwimmwettbewerb teilnehmen konnte. Er himmelte sie so sehr an, wie er mich jetzt eindeutig hasst. Nein, „hassen“ ist zu stark, zu aktiv. Ich existiere einfach nicht mehr für ihn, und er existiert selbst kaum noch. Er war immer Annabels Schatten, aber jetzt ist er ein Schatten seiner selbst, haltlos ohne die Zwillingsschwester, mit der er in der Gebärmutter verschlungen war, die ihn als Baby umarmt und ihn den Rest ihres zu kurzen Lebens festgehalten hat.
Meine kostbaren besonderen Zwillinge.
Sie waren immer unzertrennlich, und jedes Mal, wenn ich Aidans Gesicht betrachte, sehe ich das von Annabel. Ich würde ja mit ihm reden – ich sehne mich danach –, aber es kommen keine Worte, und ich weiß, er wird mir sowieso nicht antworten. Aidan, es tut mir so leid, mein Lieber. Die – völlig inadäquate – Entschuldigung nimmt meinen ganzen Kopf in Anspruch und vibriert durch alle Nervenbahnen bis zum Ende. Es scheint das Einzige zu sein, was ich zurzeit überhaupt sage, und ich sage es auch nur innerlich, die Worte kommen mir nie wirklich über die Lippen.
Ich brauche keinen Arzt, der mir sagt, dass mir der posttraumatische Schock die Stimme gestohlen hat. Selektiver Mutismus – dieser Begriff geistert mir aus den Psychologievorlesungen an der Universität entgegen, die ich vor vielen Jahren besucht habe. Ich weiß, dass sich mein Schweigen dadurch erklärt, und mir ist klar, dass das Trauma eine Angststörung ausgelöst hat, die meine Erinnerung unterdrückt – zusammen mit meinem Appetit, körperlichen Empfindungen, dem Energielevel …
Ich weiß das alles, aber ich kann es nicht ändern. Jeden Tag habe ich das Gefühl, durch Wolken zu laufen, alles ist nebulös, gedämpft. Alles außer meinen Emotionen, sie waren noch nie so stark. Im Geiste schreibe ich sie auf das imaginäre Whiteboard in meinem Kopf – alles, um die Realität nicht ganz aus den Augen zu verlieren, um noch ein Gefühl für mich zu bewahren. Es kommt mir schon vor, als wäre ich nur noch halb vorhanden.
Dieses Whiteboard. Es geht mir jetzt an den meisten Tagen im Kopf herum, mit allen möglichen Notizen, Diagrammen und Kommentaren, die auf der glänzenden Oberfläche stehen. Mein eigenes persönliches Handbuch. Meine Augen sind angestrengt, kurzsichtig, aber ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mir mein altes Whiteboard an der Uni vorzustellen, mitsamt dem gut aussehenden Seamus Jackson – der zum Dozenten gewordene gescheiterte Schauspieler –, der sich davor in Pose bringt. Wahrscheinlich ist das nicht verwunderlich, ich habe viele Stunden damit zugebracht, sie beide zu betrachten.
Seamus Jackson. Ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht, aber jetzt ist sein wohlklingender schottischer Akzent die Stimme in meinem Kopf geworden. In der heutigen imaginären Vorlesung hat mein Gedächtnis das Bild von Sagt-ruhig-Shay-zu-mir-Leute-Seamus in seiner üblichen breitbeinigen Haltung zutage gefördert, wie er mit theatralischen Schnörkeln ein Gehirn nach einem schweren Trauma aufmalt – überall versprengte Neurotransmitter. Die Hände auf den Hüften, spinnt Shay eine dramatische Geschichte aus einer trockenen Erklärung, wie eine überreizte Amygdala nach einem Trauma „im Fight-or-Flight-Modus stecken bleiben kann, Leute, deshalb kommt es oft dazu, dass die Sprechfähigkeit völlig eingefroren wird“. Nach einer dramatischen Pause fährt er fort: „Extreme Angst oder ein Trauma können der Amygdala ein derartig übersteigertes Gefühl von Gefahr signalisieren, dass sie, quasi wie bei einem Kurzschluss, eine permanente Wahrnehmung von Gefahr erzeugt, die letztlich bewirkt, dass der Kranke einfach dichtmacht!“
Ja, ich verstehe mein Schweigen, aber ich hasse es. Ich hasse es, dass ich mich an Vorlesungen erinnern kann, die ich besucht habe, als ich gerade aus dem Teenageralter heraus war, aber nicht mehr weiß, was am Morgen des zehnten Geburtstags der Zwillinge in meinem eigenen Garten passiert ist, ein Tag, der das Leben von uns allen komplett und für immer verändert hat. Ich erinnere mich an Shays stechend blaue Augen, doch die genauen Einzelheiten des Mords an meiner Tochter – die letzten Augenblicke ihres kostbaren Lebens – sind komplett leer. Das ist das Paradoxe an der Psyche, und trotzdem denken die Leute immer, es sei das Herz, das so kompliziert ist.
Mir war nicht einmal klar gewesen, dass ich Shay so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Wir hatten nur eine unerlaubte Woche zusammen verbracht. (Durch ein Verhältnis mit einer Studentin setzt sich jeder Dozent sofort selbst schachmatt.) Und doch weiß ich noch jedes Wort, das er mir beigebracht hat. Erst jetzt erinnere ich mich daran: am tiefsten Punkt meines Lebens. Ich habe meine geliebte Tochter verloren – schlimmer noch, ich habe sie aufgegeben, und das ist völlig unfassbar.
Welches wählst du, Schlampe?
Warum zwingt mich jemand zu einer solchen Entscheidung? Das könnte aus dem alten Film mit Meryl Streep sein, bei dem meine Mitbewohnerin und ich an verregneten Sonntagnachmittagen Rotz und Wasser geheult haben. Sophies Entscheidung – so hieß er. Aber das hier ist kein Film, das ist mein Leben. Wie kann es jemand wagen, mir – meiner Tochter – das anzutun?
Wut. Da kommt sie wieder. Ich habe gelernt, ihr nicht zu widerstehen. Stattdessen notiere ich sie bewusst auf meinem geistigen Whiteboard und lasse zu, dass Shays Klugheit ein weiteres Mal an die Oberfläche gelangt: „Zorn kann viele packen, die einen Verlust erlitten haben. Begeht bloß nicht den Fehler anzunehmen, Verlust wäre eine passive Erfahrung, Leute.“
Instinktiv weiß ich, dass sich mein Gehirn absichert, indem es alles ausblendet, was mir die Polizei über den Schützen erzählt haben muss. Das traumatische Erlebnis, Annabel zu verlieren, hat bei mir einen Rollladen heruntergelassen, und ganz egal, wie oft ich versuche, mir diesen fürchterlichen Tag zurückzurufen, diese entsetzlichen Momente, es kommt nur ein Durcheinander bruchstückhafter Erinnerungen dabei heraus. In Wahrheit aber ist es nicht das qualvolle Nachdenken darüber, wer das getan hat oder gar warum, das mir die Stimme und auch die Fähigkeit zu schlafen, zu denken oder mich über eine weitere Strecke zu bewegen, geraubt hat. Meine Schockstarre rührt nicht von seiner Schuld, sondern von meiner.
Zum tausendsten Mal versuche ich, es zu verstehen. Bedeutete es, dass ich Aidan mehr liebe, weil ich ihn gerettet habe? Oder dass ich Annabel mehr liebte, weil ich sie ausgewählt habe? Sie waren Zwillinge, ich habe mir immer geschworen, sie gleichermaßen zu lieben, kein Kind zu bevorzugen. Was habe ich mir also dabei gedacht? Habe ich Annabel um ihres Bruders willen geopfert? Oder habe ich sie vor der Qual gerettet, an diesem dunklen Ort zu existieren, in dem wir drei wie Schatten dahintreiben, auf Zehenspitzen um das klaffende Loch in unserem Leben herumschleichen, zusammen, aber ohne noch eine Familie zu sein?
Es kommt keine Antwort, mein Kopf ist ein zugeklapptes Buch.
Dom war ein Gletscher, teilnahmslos und ruhig, und ich weiß, dass ich es ihm überlassen habe, mit der Polizei, den Anwälten, den Journalisten, den Nachbarn zu sprechen … Er hat mir nie einen Vorwurf gemacht – und er hat nie, zumindest habe ich es nicht gehört, zu Aidan gesagt, dass ich die Schuld trage. Ich weiß, er wird unseren Sohn nicht gegen mich aufbringen, er wird ihn nicht zwingen, sich zwischen seinen Eltern zu entscheiden, so wie ich gezwungen war, mich zwischen meinen Kindern zu entscheiden. Wir waren völlig unterschiedlicher Meinung, was die Schule der Zwillinge betraf, aber diese Diskussionen sind längst vergessen.
Das Leben geht einfach weiter – es ist dasselbe und dennoch völlig verändert. Wir wohnen in demselben behaglichen Zuhause, in derselben ruhigen Straße in Hampton. Die übliche häusliche Routine hat Hoch- und Tiefpunkte: Schule, Vereine, Hausaufgaben, Verabredungen zum Spielen mit Aidans Freund Jasper. Aber ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ich verbringe meine Zeit jetzt damit zuzusehen, wie mein Sohn und mein Mann rastlos durch jedes Zimmer streifen, ohne Ruhe zu finden. Sie starren durch mich hindurch, tun so, als wären sie damit beschäftigt, einfach die täglichen Aufgaben zu erledigen, während ich wie ein Geist auf der Peripherie ihres Lebens dahinschwebe. Ich kann nicht sprechen, ich schlafe kaum und weiß nicht, wie ich nach vorne blicken soll. Offenbar kann ich nur zurückschauen und mich fragen: Wie bin ich hier gelandet? Warum ist diese schreckliche Sache geschehen?
Dom hat nicht von seinem Laptop aufgeblickt, und Aidan fixiert immer noch seinen DS. Meine Anwesenheit nehmen sie gar nicht wahr. Also sehe ich Dom an, sehe ihn ganz genau an, den Mann, den ich so sehr geliebt habe, der es aber nicht über sich bringt, mich anzusehen. Er hat die Stirn gerunzelt. War er früher fester? Hat er abgenommen? Diese letzten Wochen und Monate haben von ihm sicherlich genauso ihren Tribut gefordert wie von mir, das weiß ich. Sein Gesicht ist schmaler, und er sieht unglaublich müde aus, seine blauen Augen sind glasig.
Und dann bemerke ich das kleine Fältchen an seinen Augenwinkeln, und das führt mich zurück, weit zurück in die Zeit damals, als ich ihm zum allerersten Mal begegnet bin.
„Wenn du die Augen noch weiter aufreißt, springen sie dir noch aus dem Kopf.“
„Verzeihung?“ Ich wurde rot, als ich den großen, gut aussehenden Typen bemerkte, der an dem A-C-Bücherregal der Abteilung „Serienmörder“ lehnte und mich mit seinen blauen Augen fixierte. Ich hatte das Gefühl, er würde mich schon eine ganze Weile beobachten.
„Du hast mindestens drei Minuten nicht geblinzelt. Willst du irgendeinen Rekord brechen? Vielleicht bist du aber auch nur eine schöne Laune der Natur. Ich heiße übrigens Dom. Dominic Castle. Und du bist …?“
„Zutiefst gekränkt. Eine Laune? Na, danke.“ Ich blickte demonstrativ auf meine Armbanduhr, obwohl an der Wand direkt vor uns eine Uhr hing. „Die Bibliothek schließt bald. Ich sollte zusehen, dass ich weiterkomme.“
„Ohne mir auch nur deinen Namen zu sagen? Wie soll ich dann von deinem außergewöhnlichen Talent erzählen, wenn ich gar nicht weiß, wer du bist? Und ich sagte ‚schön‘, falls dir das nicht aufgefallen ist. Also lauf nicht weg. Ich beiße nicht. Außer du bittest mich darum.“
Er marschierte auf den Tisch zu, an dem ich mich die letzten zwei Stunden niedergelassen und meine Psychologiebücher angestarrt, aber eigentlich Shay hinterherspioniert hatte. Dann zog er einen Stuhl heran, setzte sich neben mich und legte sich lachend die Arme hinter den Kopf. Sein schwarzes T-Shirt spannte über seiner breiten Brust, und ich empfand einen wohligen Schauer.
„Wie bitte?“, fragte ich, obwohl ich ihn durchaus verstanden hatte.
„Ich habe gesagt, es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Madeleine Hartley.“ Er streckte mir eine große Hand entgegen.
Wärme durchflutete meinen Körper, der bereits von dem lauen Abend erhitzt war. Ganz London schmorte in der drückenden Schwüle einer spätsommerlichen Hitzewelle, und ich sehnte mich nach den kühlen frischen Herbsttagen, die sicherlich vor uns lagen. Ich wollte meine strassbesetzten Flipflops gegen weiche Wildlederstiefel austauschen, ärmellose Spitzentops gegen kuschelige Strickjacken. Ich wollte, dass der Sommer endlich zu Ende ging und meine Studienzeit vorüber war.
„Woher …? Oh.“
Er zog seine mir dargebotene Hand, die ich ignoriert hatte, zurück und hielt meine Kinderpsychologiemappe hoch. Langsam fuhr er mit dem Daumen über das Namensschild. Seine Finger waren schlank und braun gebrannt. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, von ihnen berührt zu werden.
„Bist du denn eine Madeleine, eine Maddie, oder bist du einfach nur Mad?“ Er grinste wieder, während er sich so herumdrehte, dass seine Beine rechts und links von mir standen und mich auf meinem Stuhl gefangen hielten.
„Das kommt darauf an.“
Abgelenkt von einer plötzlichen Bewegung, die ich am Rande wahrnahm, warf ich einen kurzen Blick zu Shay hinüber. Er hatte jetzt seit drei ganzen Tagen nicht mit mir gesprochen, und die Vorbereitungskurse für die Wiederholungsprüfungen begannen am Montag. Es würde furchtbar unangenehm sein, nur mit ihm und zwei weiteren Kommilitonen, die wie ich unsere letzte Arbeit noch einmal wiederholen mussten, in dem kleinen Hörsaal zu sein. Zum hundertsten Mal wünschte ich mir, ich hätte weniger Zeit mit Tagträumen über meinen Dozenten verbracht, statt mich konzentriert auf das Examen vorzubereiten, dann hätte ich den Abschluss in der Tasche und könnte mit der Ausbildung zur Lehrerin beginnen und …
„Kommt worauf an?“, fragte Dom und streckte die Hand aus, um mich mit heißen rauen Fingerspitzen ganz leicht am Kinn zu fassen und meinen Kopf zu sich hinzudrehen.
Ich schloss absichtlich die Augen, leistete seinem Befehl, ihn anzusehen, Widerstand, aber das Bild seiner dunklen Augenbrauen und kantigen Wangenknochen blieb hinter meinen Augenlidern haften. Er war viel zu selbstsicher, wahrscheinlich lachte er über meine unbeholfene Schüchternheit. Mist. Angestrengt zwang ich mich, die Augen zu öffnen. Ich wollte ihn nicht sehen lassen, dass seine Nähe mich verwirrte.
„Na ja, meine Mum hat mich immer Madeleine genannt. Meistens, wenn sie mit mir geschimpft hat. Meine Mitbewohnerin nennt mich Mads. Ansonsten bin ich schlicht und einfach Maddie.“
„An dir ist gar nichts schlicht und einfach, Maddie.“
„Ich war jetzt nicht auf Komplimente aus.“ Tapfer hielt ich den Augenkontakt mit ihm, obwohl ich merkte, wie ich errötete.
„Und wie nennt er dich? Dein Freund dort?“ Er nickte abrupt zu Shay hin.
„Das ist nicht mein Freund. Er ist mein Psychologiedozent, wenn du es so genau wissen musst. Nicht dass es dich etwas angehen würde.“
„Ah, verstehe.“ Seine tiefe Stimme wurde weich, und seine großen Hände waren überraschend sanft, als er meine Hände nahm und sie drückte.
„Was verstehst du?“
„Ach, nichts Besonderes. Nur dass es für ihn ein Verlust ist. Und für mich auf jeden Fall ein Gewinn.“
Um seine blauen Augen bildeten sich ganz kleine, sehr sexy Fältchen, wenn er lachte. Mich ärgerte das irgendwie, ich wollte mich nicht von diesem großen, arroganten Mann betören lassen, der ungebeten in meine Privatsphäre eingedrungen war. Ich zog die Hände zurück.
„Mich kann man nicht verlieren. Oder gewinnen. Ich bin kein Gegenstand, den man einfach von einem zum nächsten weiterreicht. Falls du es übrigens nicht bemerkt haben solltest, das hier ist eine Universitätsbibliothek. Du weißt schon, wo man sich Bücher ausleiht? Nicht, ähm, Freundinnen.“
Ich war etwas pikiert, aber hauptsächlich, weil ich mich darüber ärgerte, dass ich dieses etwas Vereinnahmende an ihm auf eine perverse Art aufregend fand. Den größten Teil des Ehelebens meiner Eltern hatte mein Vater den Ton angegeben, und nach seinem Tod war meine Mutter hilflos durchs Leben gestolpert, ohne den Ehemann, der sie definiert hatte. Mich reizte gar nichts an herrischen dominanten Männern, und Dom schien mir genau der Typ zu sein, der gerne das Sagen hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum ich von seiner Arroganz Schmetterlinge im Bauch bekam, das machte mich ungewöhnlich kratzbürstig.
„Nicht mal zur Kurzausleihe? Schade. Dann suche ich mir stattdessen wohl lieber ein paar Lehrbücher. Die sind allerdings lange nicht so faszinierend oder hübsch anzuschauen.“ Er neigte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch.
„Mach das. Da du ja ganz offensichtlich zum Lernen hier bist.“ Demonstrativ warf ich einen Blick auf den leeren Schreibtisch vor ihm, dann zu meinen eigenen Büchern hin.
„Du hast übrigens fantastische Haare.“ Er nahm eine Strähne hoch und strich darüber.
Ich wich abrupt zurück. „Hat dir niemand beigebracht, erst mal nett zu fragen, bevor du jemanden anfasst?“
„Bist du von Natur aus rothaarig?“ Er ignorierte meine Widerspenstigkeit.
„Eigentlich erdbeerblond. Ich überlege gerade, ob ich sie mir schneiden lassen soll.“ Ich wickelte mir eine Strähne um den Finger und redete mir ein, dass ich nicht flirtete, sondern einfach nur freundlich war. Höflich. Nicht mehr.
„Tu es nicht. Die langen Haare stehen dir.“
„Ich frage dich nicht um Erlaubnis.“ Ich hob das Kinn. „Zufällig gehe ich viel laufen, und da stören sie. Und sie sind zu dick. Da wird mir immer heiß. Das ist alles.“
„Du hältst dich in Form. Das sehe ich. Das bedeutet, wir haben sogar mehr gemeinsam als den Ort, an dem wir einen Freitagabend verbringen.“
Meine Wangen brannten heiß, als sein Blick dreist über meinen weißen weiten Rock und die ärmellose türkise Bluse wanderte. Ich wollte am liebsten meine bleichen Arme verbergen, die nie braun zu werden schienen, ganz egal, wie viele Stunden meine Freundin Gabrielle und ich auf dem winzigen Balkon unserer Mietwohnung im ersten Stock in Kew lagen, so verkrümmt, dass wir auch noch den letzten Sonnenstrahl erwischten, weil wir unbedingt wollten, dass unsere helle Haut sich goldbraun färbte. Ihre langen dünnen Beine hatten jedenfalls schon eine etwas Richtung Karamell gehende Bräune angenommen. Aber nachdem ich fast meine gesamten Sommerferien mit Sonnenbaden verbracht hatte, während ich vorgab, Texte zu überarbeiten, hatte ich lediglich Sommersprossen auf der Nase und wunde rosa Knie bekommen. Zumindest hielt mich das Joggen einigermaßen schlank, dachte ich und zog verlegen an meinem Rocksaum, als ich sah, dass Dom meine Beine begutachtete.
„Hast du nicht irgendetwas Sinnvolles zu tun? Vielleicht ein paar Sit-ups machen oder deine Bauchmuskeln im Spiegel überprüfen?“ Ich schnaubte und verdrehte die Augen.
„Na ja, ich muss noch mit der Arbeit über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung fertig werden. Damit könnte ich wohl weitermachen.“ Er lehnte sich zurück und genoss meine Reaktion sichtlich.
„Oh.“
„Lass mich raten. Du dachtest, ich wäre ein angehender Sportlehrer, stimmt’s?“
„Nein, ich dachte nur … Ich hatte nicht erwartet …“ Ich suchte nach Ausreden, aber mir fiel nichts ein.
„Zurzeit arbeite ich an meinem MBA, den ich nach meinem ersten Abschluss in Business Studies noch machen will. Die oberste Regel für ein Date mit Dominic Castle? Erwarte das Unerwartete.“
Ich konnte es nicht fassen, dass er das gerade gesagt hatte. Ich hätte ihm ins Gesicht lachen sollen. Aber ich tat es nicht. Ich war jung, ich war leicht zu beeindrucken. Ich schluckte jedes Wort.
„Ähm, wer hat hier was von einem Date gesagt?“ Ich war so durcheinander, dass ich es gar nicht verbergen konnte.
„Na, das ist doch unser erstes Date. Ich kann Menschen ziemlich gut lesen. Besonders kurvige Erdbeerblonde mit riesigen blauen Augen und süßen Sommersprossen auf der Nase. Normalerweise interpretiere ich die Zeichen nicht verkehrt.“
„Kurvig!“ Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. „Und ich gebe dir ganz sicher keine Zeichen.“
„Oh doch, Maddie. Dein Körper sendet alle möglichen aufregenden Signale aus. Dein Gehirn ist nur noch nicht hinterhergekommen. Aber ich.“ Er beugte sich zu mir, und ich stellte mir unwillkürlich vor, wie er mich mit seinen starken Armen vom Stuhl hochhob, mich über die Schulter warf und in den Sonnenuntergang trug.
Shay kam auf dem Weg hinaus an uns vorbei. Ich blickte nicht einmal auf.
Nach dieser ersten Begegnung in der Bibliothek verbrachten Dom und ich fast jede wache Stunde – und auch die meisten, in denen wir schliefen – gemeinsam in der winzigen Dachstube des eleganten, vierstöckigen georgianischen Gebäudes am Richmond Hill, wo er wohnte, nachdem er den Vermieter beschwatzt hatte, ihm einen Nachlass auf den üblichen Mietpreis zu geben. Wir vergeudeten fröhlich die Zeit damit, auf seinem schmalen Einzelbett zu liegen, bis spät in die Nacht zu reden, seine Lehrbücher ordentlich gestapelt auf dem einen Nachttisch, Kerzen und Wein auf dem anderen. Er war der erste Mensch, den ich je kennenlernte, der wie ich beide Eltern verloren hatte. Ich sprach normalerweise nicht viel darüber, aber es war leicht, sich Dom gegenüber zu öffnen. Er wusste genau, was ich meinte, als ich mein Leben mit einem Drahtseilakt verglich, ohne das Netz der Eltern, die mich auffangen würden, wenn ich hinunterfiel. Er war der erste Mensch, der mir richtig zuhörte, und dieses Gefühl war berauschend.
Obwohl Dom nur ein Jahr älter war als ich, wirkte er viel erwachsener, und das war genauso verführerisch wie sein muskulöser Körper und die durchdringenden blauen Augen, die er nie von meinem Gesicht abwandte, während ich erzählte. Davon, wie ich angefangen hatte zu joggen, als meine Mitbewohnerin mich herausforderte, einen Halbmarathon mitzulaufen, wie das Studium der Kinderpsychologie in mir den Wunsch weckte, Lehrerin zu werden, und dass meine Eltern so distanziert und karriereorientiert gewesen waren, dass ich selbst eines Tages eine glücklichere Familie haben wollte. Ich hatte damit gerechnet, dass er selbst einen Halbmarathon laufen würde – und zwar weg von mir –, sobald er das gehört hatte. Ich hatte ihn zunächst als routinierten Frauenhelden eingeschätzt, der sofort die Flucht ergriff, wenn das Wort „Verpflichtung“ fiel. Es überraschte mich, wie sehnsüchtig auch er davon sprach, dass er eine Familie haben wollte, bis er mir von seiner eigenen Kindheit erzählte.
„Das Einzige, was ich wirklich bedauere, ist, dass meine Eltern nie mitbekommen haben, dass ich den Abschluss an der Uni gemacht habe. Krebs hat keinen Sinn für Timing. Sie sind gestorben, bevor sie sehen konnten, dass ich etwas aus mir gemacht habe. Nicht viele Kinder aus unserem alten Viertel studieren. Viele machen nicht einmal die Schule fertig. Mein Bruder jedenfalls nicht.“
„Deine Eltern waren ganz bestimmt trotzdem wahnsinnig stolz auf dich.“
„Hier geht es nicht um Stolz. Es geht um Rehabilitation.“
„Wie bitte?“ Seine Wortwahl überraschte mich, es war eine Mischung aus Leidenschaft und Wut.
„Ich habe ihnen immer gesagt, ich würde es schaffen, aber für sie war Max der kluge Kopf. Das ist er ja auch, das bestreite ich gar nicht. Erstklassiger Denker. Alles an der Schule ist ihm leichtgefallen, er hat sich bloß nie angestrengt. Den Großteil seiner Schulzeit hat er damit verbracht, den Lehrern zu sagen, was für Idioten sie sind, dann hat er mit fünfzehn alles stehen und liegen lassen und ein falsches Alter angegeben, um bei der Londoner U-Bahn arbeiten zu dürfen.“
„Das klingt sehr danach, als hätte er sein Potenzial vergeudet. Schade.“
„Findest du? Na ja, meine Eltern waren begeistert. Ein Sohn mit einem richtigen Job, der ein echtes Gehalt nach Hause bringt und nicht als Student herumfaulenzt.“
„Kein Mensch bekommt durch Herumfaulenzen die Bestnote“, entrüstete ich mich für ihn. „Ich wollte immer einen Bruder oder eine Schwester. Vielleicht hatte ich doch noch einmal Glück. Ich musste jedenfalls keine Rivalitäten unter Geschwistern ausfechten. Man sollte Eltern auf der Entbindungsstation wirklich ein Lehrbuch mitgeben. Kapitel eins: ‚Bevorzuge keines deiner Kinder.‘“ Ich verdrehte die Augen.
„Man kann es nicht immer den Eltern vorwerfen. Vom Tag meiner Geburt an war Max entschlossen, das Kommando zu übernehmen. Gerechterweise muss man ihm zugestehen, dass es wahrscheinlich auch nicht seine Schuld war. Ich kam zehn Jahre nach ihm, wahrscheinlich hatten die drei schon ihren kleinen Club gegründet. Ich habe einfach nicht hineingepasst. Ich war das Nesthäkchen, das nicht bei der Bahn arbeiten wollte wie sein Dad. Mein Bruder ist kein schlechter Mensch. Nur … er ist schlichtweg selbstvergessen. Er ist bei vielen Leuten angeeckt, nicht nur bei mir. Ich habe versucht, mich für ihn einzusetzen. Ich habe auch Narben davongetragen, die von dem Kampf zeugen.“
„Narben?“, sagte ich leise, in der Hoffnung, er würde mich niemals in seine alte Siedlung einladen. „Wann lerne ich denn deinen faszinierend komplexen großen Bruder kennen?“ Ich steckte die Finger zwischen die Knöpfe von Doms Hemd, genoss das sanfte Kitzeln seiner Brusthaare.
„Wir sehen uns mittlerweile nicht mehr oft.“ Er setzte sich plötzlich aufrecht und krümmte sich nach vorn.
„Wieso nicht? Er wohnt doch noch hier in der Gegend, oder?“
„Ja. Nach dem Tod unserer Eltern hat er ihre Sozialwohnung übernommen.“
„Aha. Das muss ja ein bisschen komisch für dich gewesen sein.“ Er knirschte mit den Zähnen, und sein Körper war starr von der Anspannung.
„Allerdings. Er hatte sein ganzes Leben lang ihre gesamte Aufmerksamkeit allein für sich, und dann bekommt er auch noch ihre Wohnung. Unsere Wohnung, sollte ich besser sagen. Ich war nicht gerade ein Kuckucksei. Aber ich weiß, wann ich unerwünscht bin. Trotzdem hat Dad mir seine Ersparnisse hinterlassen. Das ist doch immerhin etwas. Max lebt jetzt einfach sein Leben, und ich lebe meines. Und genauso mag ich es.“
„Na ja, egal, wie deine Eltern das gehalten haben, ich bin jedenfalls unglaublich stolz auf dich. Es ist Wahnsinn, was du erreicht hast. Mein Vater war Richter, meine Mutter Anwältin. Ich hatte ein eigenes Pony. Und einen Treuhandfonds. Aber trotzdem schaffe ich das Examen nur mit Ach und Krach. Ich frage mich, wie viele Typen, die sich in der City um einen Job bewerben, so einen harten Start im Leben hatten wie du.“
„Die meisten haben sicherlich mehr mit dir gemeinsam. Es ist immer noch nicht zu spät, um dir einen feinen Schnösel aus Surrey zu suchen.“ Schließlich entspannte er sich und legte sich wieder aufs Bett, umschlang mich mit seinen starken Armen und zog mich eng zu sich, überzeugt, wie ich darauf antworten würde. Aber unter seinen Sticheleien hörte ich durch, dass unsere ungleichen Hintergründe doch ein wunder Punkt waren.
„Als ob!“
Er lachte als Antwort und schob einen Finger durch einen Spalt vorn in meinem Kleid im Stil der Vierzigerjahre, das ich mir eigens für unser erstes offizielles Date gekauft hatte, und kitzelte mich, bis ich mich wand und vor Lachen krümmte, dann arbeitete er sich weiter nach unten vor und öffnete weitere der kleinen Perlmuttknöpfe. Seine großen Hände waren erstaunlich geschickt.
„Ah, da ist ja der Dom, den ich kenne und …“ Ich unterbrach mich und biss mir auf die Lippen.
„Was wolltest du sagen?“
Er hielt die Finger still und zog mich auf sich, sodass ich ganz auf seinem viel größeren Körper lag. Ich legte die Wange an seine Brust und lauschte seinem regelmäßigen Herzschlag, während ich darauf wartete, dass meine Röte wieder verflog. So intim und vertraut wir auch wurden, ich hatte ihm nie gesagt, dass ich ihn liebte. Ich hatte meinem Vater nie sehr nahegestanden, bis er an einem Herzinfarkt starb, als ich sechzehn war. Im Lauf der beiden darauffolgenden Jahre wurde meine Mutter zunehmend distanziert, sie war mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt, bis sie das Leben einfach aufzugeben schien. Sie waren gesellschaftlich gut vernetzte, aber emotional distanzierte Menschen, und daher war ich es nicht gewöhnt, Zuneigung offen zu zeigen. Ich war froh, dass Doms entspannte, unbefangene Leidenschaft meine angeborene Zurückhaltung ausglich.
Ich drückte mich enger an ihn, hoffte, er könnte meine Gedanken genauso lesen wie meinen Körper. „Du weißt es doch. Muss ich es noch buchstabieren?“
„Vielleicht kannst du es pantomimisch darstellen. Das wäre doch lustig.“ Er zwinkerte und küsste mich auf die Nasenspitze, als ich lächelnd zu ihm hochblickte. „Und ich bin auch stolz auf dich, Schatz. Du wirst eine fantastische Lehrerin. Solange du nicht mit einem aufdringlichen Schönling von Sportlehrer durchbrennst.“
„Nur wenn er groß und dunkelhaarig ist, gut aussieht und überraschenderweise seinen MBA macht.“
Dom grinste. „Ich wüsste da vielleicht jemanden, der deinen Anforderungen entspricht.“
Wie sich herausstellte, mussten sowohl Doms MBA als auch meine Ausbildung zur Lehrerin auf Eis gelegt werden. Ich schaffte schließlich das Examen, obwohl Shay nie an die Fakultät für Psychologie zurückkehrte, um uns Nachzügler auf die Wiederholungsprüfungen vorzubereiten. Er zog stattdessen nach Brighton, wo er in einem Dinner-Theater auftrat. Wahrscheinlich hatte er seine wahre Berufung nie aufgegeben.
Neun Monate später entdeckte ich meine: Ich wurde Mutter.
Dom hat immer geschworen, der Tag, an dem wir feststellten, dass ich mit den Zwillingen schwanger war, war der glücklichste seines Lebens. Es machte nichts, dass wir erst seit ein paar Wochen zusammen waren. Er sagte, er habe sich an dem allerersten Abend in der Bibliothek verliebt, und er wolle nur für mich sorgen und unseren gemeinsamen Traum von einem Heim für eine glückliche Familie wahr werden lassen. Zwölf Wochen nachdem wir uns kennengelernt hatten, lieh Dom sich einen Anzug von seinem stets hilfsbereiten, offensichtlich in ihn vernarrten Vermieter, kratzte jeden Penny zusammen, den er auftreiben konnte, und reservierte uns beiden einen Tisch im Oxo Tower Restaurant. Mit der herrlichen, beinahe surreal schönen Londoner Skyline im Hintergrund machte er mir mit dem alten Verlobungsring seiner Mutter einen Heiratsantrag.
„Das hier ist das Leben, das ich dir und unseren Babys schenken will“, sagte er mit weit ausgebreiteten Armen, mit denen er unsere vornehme Umgebung umfing. Ich betrachtete die Tische mit den weißen Tischdecken, die chromglänzenden Sektkübel und die vornehm gekleideten Gäste, bevor ich wehmütig zur St. Paul’s Cathedral hinübersah, die so majestätisch vor dem indigoblauen Nachthimmel leuchtete. Das war eine andere Welt als Doms kleines möbliertes Zimmer.
„Es ist schön. Aber sehr teuer“, mahnte ich ihn.
„Na und? Es ist doch nur Geld.“
„Das kann man leicht sagen, wenn man genug hat. Was bei uns nicht der Fall ist“, entgegnete ich.
„Es ist mir egal, ob ich vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten muss, ich gebe dir von allem nur das Beste, mein Schatz. Wir wohnen nicht mehr in Wohngemeinschaften oder engen Dachstuben. Und auf gar keinen Fall kaufst du dir deine Kleider im Secondhand.“
„Mir gefällt mein Kleid“, protestierte ich lachend. Dom war eine etwas vornehme, sportliche Eleganz lieber, während ich einen extravaganteren Vintage-Look bevorzugte. „Aber was ist mit deinem MBA? Du kannst unmöglich Vollzeit arbeiten und dabei weiterhin so viel lernen. Ich setze meine Lehrerausbildung fort, sobald es mit den Babys geht, aber bis dahin …“
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und du hast einen Mann mit einem Plan vor dir. Noch ein Meeting mit dem Filialleiter der Bank nächste Woche, dann wird Castle Consulting geboren. Noch vor unseren Babys.“ Er strahlte.
„Consulting?“
„Ja. Das war schon immer mein Ziel. Den Businessplan habe ich schon seit einer Ewigkeit fertig. Es bedeutet nur, dass ich eher früher als später loslegen muss, was aber kein Problem darstellt. Es ist viel angenehmer, als mich durch die Rekrutierungsmühle in der City zu quälen. Ich mache mich selbstständig. Bin mein eigener Chef. Langfristig gesehen ist das auch noch lukrativer.“
„Bei dir hört sich das so einfach an …“
„Das ist es ja auch. Du musst dich um überhaupt nichts weiter kümmern als um das hier.“ Er legte seine große Hand auf die Wölbung meines Bauchs, der gegen mein ärmelloses schwarzes Etuikleid aus Chiffon drückte, das ich mir für die Abschlussfeier geleistet hatte, ohne zu ahnen, dass die großzügige A-Linie ganz praktisch für einen rasch anwachsenden Bauchumfang sein würde. Ich konnte es kaum glauben, wie schnell sich mein Körper veränderte.
„Ich mache mir aber trotzdem Sorgen. Und ich habe nicht die Absicht, mich aushalten zu lassen.“ Ich versuchte zu lächeln, denn ich wollte nicht zanken, besonders nicht in so einer vornehmen Umgebung. Besonders nicht, nachdem Dom mir gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte.
„Du willst doch für die Kinder zu Hause sein, oder? Davon hast du doch immer geträumt – von einer richtigen Familie?“
„Ja. Ja schon“, gab ich zu und erinnerte mich, wie oft ich nach der Schule in ein leeres Haus gekommen war, an die Einsamkeit, die von den Wänden widerhallte. Ich wollte für meine Kinder da sein, ich wollte nur nicht, dass Dom darauf bestand.
„Na gut. Dann ist das ja abgemacht. Wie lautet also deine Antwort? Willst du meine Frau werden, Maddie?“ Er lehnte sich zurück und bedeutete dem Kellner, noch Champagner nachzuschenken, ohne je an meiner Antwort zu zweifeln.
Alles passierte so schnell. Ich stand immer noch unter Schock von dem Schwangerschaftstest, den Gabrielle für mich gekauft hatte, nachdem ich zum dritten Mal mein Frühstück von mir gegeben hatte. In einer verschlossenen Toilettenkabine oben im Bentall Centre in Kingston hatte ich mich dann zur Krönung noch ein weiteres Mal übergeben. Danach war Gabrielle gekommen, um sich mit mir zu treffen. Gertenschlank, groß und mit ihren kurz geschorenen schwarzen Haaren war sie eine eindrucksvolle Erscheinung, die sich flott zwischen den anderen Besuchern des Einkaufszentrums hindurchschlängelte. In den Armen hatte sie prall gefüllte Tüten mit Babysachen, Lätzchen und Plüschtieren: Sie hatte nie daran gezweifelt, dass der Test positiv ausfallen würde. Ich weinte an ihrer Schulter, während Hormone und gemischte Gefühle in mir Amok liefen. Ich war wahnsinnig traurig, dass Gabrielle nach Paris zurückgehen würde, nachdem sie das Auslandsjahr für ihr Sprachstudium abgeschlossen hatte, und ich war ein Nervenbündel in Anbetracht der Tatsache, dass ich Dom von der Schwangerschaft erzählen musste. Seine Reaktion und sein Heiratsantrag hatten mich erstaunt, gefreut und auch ein kleines bisschen verängstigt.
„Ja. Ja, ich will.“ Ich war ganz aufgeregt bei der Vorstellung, dass die Babys in mir wuchsen. Sie waren alles, was mir jetzt wichtig war, alles, was ich wollte, Dom war alles, was ich wollte. „Aber vergiss nicht, das Lehramtsstudium liegt nur auf Eis. Sobald die Kinder alt genug sind, mache ich damit weiter.“
„Eins nach dem anderen. Das sehen wir schon, oder? Du bist die schönste Frau, die ich je kennengelernt habe, Maddie, und ich werde dich nie, niemals loslassen. Ich will, dass du zu Hause bleibst.“ Dann langte er über den Tisch, um nach meinen zitternden Fingern zu greifen, und drückte dabei auf den Saphirring an meiner linken Hand, der sich noch merkwürdig anfühlte.
„Kinder, Küche, Kirche, meinst du wohl“, neckte ich ihn.
„Ich kann mir wirklich nichts vorstellen, was sexyer wäre.“
Ein lang gezogenes, langsames Seufzen reißt mich aus meinen Erinnerungen, aber als ich aufblicke, lümmelt Aidan immer noch gemütlich auf dem Sofa, während Dom über seinem Laptop sitzt, den Kopf in die Hände gestützt. Es scheint fast, als wäre auch er in Gedanken versunken, und ich frage mich, ob er jemals an diese erste Zeit denkt. Ich erinnere mich so deutlich daran, als wäre es letzte Woche gewesen. Ich erinnere mich an den Heiratsantrag, und ich erinnere mich an die Geburt der Zwillinge, an ihre ersten Schritte, ihre letzten Worte – ich erinnere mich an jede Sekunde dieser Dinge, aber nicht an einen einzigen Moment anderer Geschehnisse, die das Leben verändert haben.
Ich erinnere mich nicht an meine Hochzeitsnacht oder an die Flitterwochen. Ich weiß nicht mehr, wer laut Polizei am Morgen des Geburtstags der Zwillinge vor der Haustür stand, das Gesicht unter der schwarzen Sturmhaube verborgen … Und ich habe absolut keine Ahnung, warum ich mich zwischen meinen beiden Kindern entscheiden sollte. Ich weiß nur, dass er meiner Tochter das Leben genommen und meine Familie zerstört hat und dass ich mir nicht verzeihen kann, das zugelassen zu haben. Darüber hinaus scheint es nichts zu geben, was wichtig wäre. Meine Schuld, mein Kummer: Nichts kann das eine oder das andere schlimmer machen – oder besser.
Wenn ich mich zwinge, mich den Details zu stellen, vielleicht finde ich dann heraus, wie ich wieder anfangen soll, zu leben und nach vorn zu schauen statt stets nur zurück. Ich werfe einen kurzen Blick zu Dom hinüber, und ich bekomme Herzklopfen, als ich mich dafür rüste, ihn alles zu fragen, was ich vergessen habe. Ich muss es versuchen, ich muss aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken, aber noch während ich auf ihn zugehe, bekomme ich einen trockenen Mund, und die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich versuche, sie mit Gewalt herauszupressen, sodass mir Tränen in die Augen treten, Panik drückt mir auf die Brust.
Bevor ich mich zusammenreißen kann, ertönt ein metallisches Summen, ein langer schriller Befehl, und ich brauche eine Sekunde, um zu begreifen, dass wohl jemand an der Haustür geklingelt hat. Ich wirble herum, frage mich, ob ich aufmachen soll, und als ich mich dahin umdrehe, wo Aidan und Dom noch Augenblicke zuvor saßen, sind sie verschwunden.
Minuten, Stunden später – ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist – sitze ich plötzlich auf der Treppe, atme tief durch und versuche, mein pochendes Herz und meine rasenden Gedanken zu beruhigen. Ich muss mich konzentrieren, langsamer zu denken.
Aidan und Dom waren direkt neben mir, jetzt sind sie weg. Wo sind sie nur hin – ins Schwimmbad, in den Park? Warum haben sie sich nicht verabschiedet? Und hatte ich nicht gerade jemanden an der Tür gehört? Aber es drückt kein Finger ein zweites Mal auf die Klingel. Keine verzerrte Silhouette verdunkelt unsere Diele, man sieht nur verschwommene Gestalten auf der Straße, die ihrem Alltagsgeschäft nachgehen. Das Tageslicht dringt ungestört durch die Milchglasscheibe unserer Haustür und tanzt in Sprenkeln über den Parkettboden.
Sollte es nicht bald dunkel werden?
Ich verliere das Zeitgefühl, das Gefühl für das Leben um mich herum, und mir kommt der Verdacht, dass ich womöglich Blackouts habe. Vielleicht ist es auch nichts Körperliches, nichts so Dramatisches wie Ohnmachtsanfälle oder bewusstlos zu werden. Vielleicht bin ich zurzeit einfach so in Gedanken versunken, dass ich zu tief in meine Innenwelt hineingesogen wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob das auch ein Symptom von posttraumatischem Stress ist oder ob ich absichtlich in diesem vagen gedämpften Zustand verharre, weil das viel, viel weniger wehtut, als mich der Realität zu stellen. Es ist nur einfach verwirrend. Permanent gehen große Zeitabschnitte verloren, von meinem Sohn und meinem Mann mal abgesehen.
Dann erklingt Aidans Blockflöte– die klaren hohen Töne, die nach oben steigen, bis das Lied mit einem quietschenden Piepsen aufhört; und gleich darauf schlendert Aidan an mir vorbei und geht wieder ins Wohnzimmer. Mein kleiner Liebling. Er mochte es, wenn ich das zu ihm sagte, und seine Nase zog Fältchen, wenn er schüchtern lächelte. Annabel hat immer gelacht und mich in den Arm geboxt. Sei nicht so ein Weichei, Mum! Sie hat am Schultor nie auf einen Abschiedskuss gewartet, Aidan wollte mich nie ohne eine letzte Umarmung gehen lassen. Zumindest durfte ich diese Momente mit den Zwillingen verbringen – Plaudereien auf dem Weg zur Schule, danach heiße Schokolade und Toast, wenn wir am Küchentisch saßen und jeder von seinem Tag erzählte …
Ich habe meine Entscheidung, bei den Zwillingen zu Hause zu bleiben, nie bereut. Ein Lehrergehalt wäre hilfreich gewesen, besonders zu Beginn, und manchmal bedaure ich es, dass ich den Abschluss, um den ich so hart gekämpft habe, nicht einsetze. Aber während ich vielleicht keine Schulklasse unterrichte, so hat es mich doch unglaublich erfüllt, den Zwillingen dabei zu helfen, sich zu entwickeln, zu so klugen kleinen Menschen zu werden. Irgendwann in der Zukunft hätte ich vielleicht mein Lehramtsstudium fortgesetzt. Vielleicht früher, aber jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich den Gedanken nicht ertragen, Aidan jemals wieder alleinzulassen.
Jedes Mal, wenn ich jetzt meinen Sohn betrachte, habe ich das Gefühl, ich würde ihn nach einer langen Abwesenheit wiedersehen. Als wäre ich nach einer Reise gerade aus dem Zug ausgestiegen und liefe über den Bahnsteig auf ihn zu, mit Tränen in den Augen und Herzklopfen vor Aufregung und Sehnsucht, ihn in den Armen zu halten. Es ist wie das permanente Gefühl eines freudigen Wiedersehens – allerdings einseitig, denn er weigert sich immer noch, mich wahrzunehmen. Er sieht so bleich aus. Er hat diesen Sommer kaum das Haus verlassen. Er braucht etwas Sonne auf der Haut und frische Luft in der Lunge. Er muss rennen und spielen, seine Freunde sehen und den ganzen Unsinn anstellen, den zehnjährige Jungs so sehr lieben. Aber es war Annabel, der der Schalk im Nacken saß. Sie baute zahllose Verstecke im Bushy Park, kleine Schlupfwinkel und geheime Lager. Ich weiß gar nicht, ob Aidan ohne sie überhaupt noch einmal im Park war, er erzählt mir zurzeit gar nichts.
Und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, um ihn zu fragen, bringt mich der Schmerz in seinen Augen zum Schweigen, und ich ziehe mich in meine zerbrochene innere Welt zurück, die Schuld lastet mir schwer auf der Brust und lähmt mich. Deshalb bleibe ich im Schatten versteckt, eine schuldige Beobachterin, höre zu und habe Sehnsucht.
„Du hast doch gesagt, du gehst mit mir in den Bushy Park, Dad.“
Mein Herz springt vor Freude, es ist, als hätte Aidan meine Gedanken gelesen.
„Es wird bald dunkel“, fährt er nach einer langen Pause fort.
Aidans ungewöhnlich schroffer Tonfall schärft meine Aufmerksamkeit, und ich folge ihm. Er war bisher nie schnippisch, sondern immer völlig gelassen, wenn Annabel da war. Mir kommen die Tränen, als ich sehe, wie sehr er sich bemüht, den starken Mann zu spielen. In seinen Augen erkenne ich, dass er hin- und hergerissen ist, denn er weiß nicht, ob es angemessen ist, im Park Fußball zu spielen, während seine Schwester tot unter der Erde liegt.
Ich möchte so gern die Arme nach ihm ausstrecken, aber er hat sich von mir abgewandt. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, mit einem Turnschuh stößt er gegen den anderen, die Hände stecken tief in den Hosentaschen. Ich versuche zu sprechen, aber ich bringe noch immer kein Wort heraus, und Aidan hat seine traurigen Augen auf Dom gerichtet und weicht mir aus. Ich versuche, Aidan nicht sehen zu lassen, dass es mir wehtut, wenn er mich ignoriert und nicht einmal den Vorschlag macht, dass ich mit ihm spielen gehen könnte. Er weiß, ich habe mittlerweile Angst vor der Welt dort draußen, aber dass er das so einfach akzeptiert, verletzt mich irgendwie mehr, als wenn er mich anschreien, mir offen Vorwürfe machen würde. Er lässt mich nicht vom Haken, er lässt zu, dass ich unter dem Gewicht meiner eigenen Schuld versinke. Er ist böse auf mich, und er hat allen Grund dazu. Ich habe seine Schwester sterben lassen.
„Klar. Lass mich nur noch diese E-Mail schreiben, dann schießen wir ein paar Elfer.“
Aidans Gesicht verspannt sich ein klein wenig bei den unglücklich gewählten Worten, der unbedachten Anspielung auf eine Waffe, die seine Schwester durch unseren halben Garten hat fliegen lassen. Aber dann zuckt er mit den Achseln. „Ich hole meine Schuhe. Sie sind im Gartenhaus, oder?“
Aidan schaut unsicher. Er weiß nicht genau, ob sein Vater eine Ahnung hat, wo Fußballschuhe und Roller und Fahrräder aufbewahrt werden, aber er will ihn nicht verärgern, indem er ihn darauf aufmerksam macht. Er will nicht darauf hinweisen, dass Mum immer diese Sachen verstaut. Er will mich nicht fragen müssen – will mich nicht brauchen müssen –, und er zeigt seinem Dad, dass er es nicht tut.
Ich verstehe meinen Sohn trotzdem.
Ich lasse mich von dieser Erkenntnis durchdringen, erinnere mich daran, dass Aidan immer noch mein Kind ist, und auch wenn wir beide trauern und nicht wissen, wie wir miteinander reden sollen, so sind wir trotzdem noch verbunden. Er ist immer noch ein Teil von mir, und ganz egal, wie sehr er sich bemüht, mich abzutrennen, ich bin noch ein Teil von ihm. Ich weiß, dass er auf dem Bauch schläft, mit der rechten Hand unter dem Kinn, das rechte Bein angezogen, als würde er eine Leiter hochsteigen; ich weiß, dass er lieber weiße als dunkle Schokolade mag; ich weiß, dass er Angst hat und unsere Vertrautheit vermisst und dass er denkt, wenn er das irgendwie zeigt, verhält er sich seinem Dad gegenüber illoyal.
Schuldbeladene Erleichterung raubt mir den Atem: Ich verdiene diesen Trost nicht, halte mich aber trotzdem daran fest. Aidan mag versuchen, mich aus seinem Leben zu verbannen, aber ich bin immer noch da. Ich bin immer noch seine Mum. Das kann mir niemand nehmen.
Oder doch?
Ich werfe einen ängstlichen Blick zum Korridor, zur Haustür, dann wende ich der bedrohlichen unbekannten Welt dort draußen den Rücken zu. Dom macht seine Aktentasche zu und stellt sie auf den Sofatisch. Mit einem breiten Lächeln blickt er zu Aidan auf, sein schmaler Mund umrahmt von Falten unter den kantigen Wangenknochen, an die ich mich nicht erinnere. Ich frage mich wieder, ob er wohl abgenommen hat, versuche auszumachen, was sich geändert hat. Seine Haare sind dick und stachelig wie sonst auch, ordentlich geschnitten und immer noch kräftig dunkelbraun. Äußerlich ist er nicht gealtert, er wirkt einfach nur … anders.
„Weißt du was? Wir fahren rüber nach Kingston, und ich kauf dir diese Fußballschuhe“, sagt Dom. Er schlägt sich auf die Knie, bevor er aufsteht und Aidan die Hände auf die Schultern legt.
„Die kosten über hundert Pfund. Mum sagt, Designerfußballschuhe sind Luxus“, sagt Aidan pflichtschuldig, aber er nimmt die Beine herunter und tappt mit einem Fuß aufgeregt auf den Boden.
„Ein Luxus. Sind sie aber gar nicht. Für meinen Jungen ist das Beste gerade gut genug. Mach dir keine Sorgen, du hörst dich schon an wie deine Mutter.“ Er grinst und zieht Aidan grob zu sich.
Eine Erinnerung regt sich, aber ich kann sie nicht festmachen. Stattdessen denke ich plötzlich verärgert: Aha, rede du nur über mich, als wäre ich nicht da.
„Mum macht sich viele Sorgen.“
„Dafür sind Mütter da, mein Sohn. Aber wir wissen trotzdem, wie wir uns eine Freude machen können, stimmt’s?“
Da strahlt Aidan, die Sonne bricht durch die Wolken, und ich möchte sein trauriges Gesicht küssen, das sich gerade, nur für einen kurzen Augenblick, daran erinnert hat, wie man glücklich aussieht. Ich möchte ihn umarmen und ihm sagen, dass er recht hat, dass ich mir zu viele Sorgen mache, aber nur, weil er mir wichtig ist – weil ich nicht möchte, dass alles noch schlimmer wird, viel schlimmer …
Ich grüble darüber nach, was das bedeutet: eine weitere Erinnerung knapp außer Reichweite. Ich habe plötzlich das Gefühl, ich möchte nicht, dass alles ganz genauso wird, wie es zuvor war – aber wie war es denn zuvor?
Ich sehe mich im Wohnzimmer um und suche nach Hinweisen, die mir helfen, die rätselhafte Kluft zwischen dem Leben vor und dem Leben nach Annabel zu entschlüsseln. Ich sehe das braune Chesterfieldsofa aus Leder, das links ein wenig tiefer ist als rechts, denn dort haben es sich Annabel und Aidan immer zusammen gemütlich gemacht, damit sie gleichzeitig in dasselbe Buch oder denselben Comic schauen konnten, während sie synchron in eine Schüssel mit Knabbereien langten, die sie sich teilten. Ich sehe das Klavier und die verschnörkelte Standuhr aus Walnussholz, die Dom auf einem Antiquitätenmarkt gekauft hat, beides unpassend stattlich in unserer bescheidenen Doppelhaushälfte aus den Dreißigerjahren.
Ich wuchs in einem großzügigen frei stehenden edwardianischen Haus voller schmuckloser Antiquitäten auf. Mir wäre ein behaglicherer Landhausstil lieber gewesen, aber Dom versuchte immer, das Haus in eine verkleinerte Version eines englischen Herrenhauses zu verwandeln. Es ist uns nie gelungen, einen Kompromiss zu finden, denke ich, das Haus ist ein Flickwerk aus unterschiedlichen, nicht zusammenpassenden Stilen. Und während ich den Blick auf jedem der vertrauten Gegenstände ruhen lasse, wenden sich meine Gedanken wieder nach innen, und ich erinnere mich an den Tag unseres Einzugs – an den ersten Abend als Mr. und Mrs. Castle.
Ich erinnere mich, wie Dom herumalberte, als er mich über die Schwelle trug und so tat, als würde er unter meinem Gewicht zusammenbrechen.
„Lass mich runter!“, forderte ich kichernd.
„Na gut, wenn es sein muss. Du wirst langsam etwas pummelig, Mrs. Castle.“ Sein Lachen war ansteckend, ich konnte nicht genug davon bekommen.
„Du Idiot! Ich bin schwanger, nicht dick.“ Trotzdem warf ich einen Blick auf die Bluse, die sich über meinen Bauch spannte. Ich hatte längst aufgehört, abends noch laufen zu gehen, und meine natürlichen Rundungen waren üppiger als gewöhnlich.
Mit eins siebzig war ich nicht gerade klein, aber in letzter Zeit hatte ich den Eindruck, ich wäre fast so breit wie hoch.
„Und wie viele Stücke von der Hochzeitstorte hast du heute Morgen noch mal gegessen?“ Dom setzte mich auf dem Küchenboden ab wie einen Sack Kartoffeln.
„Nicht so viele wie dein Bruder, so viel steht fest.“
„Ha. Das ist dir also aufgefallen. Er hat auch das meiste von dem Kontingent getrunken, das ich für die Bar freigegeben habe. Gut, dass wir uns für einen Empfang im Pub entschieden haben statt für das Petersham Hotel. Mit Max ist es immer das Gleiche. Sobald ich einmal im Rampenlicht stehe, muss er reingrätschen und mir die Show stehlen, mit einer weitschweifigen Rede gespickt mit grotesk langatmigen Witzen, ohne dass eine Pointe in Sicht wäre. Es ist meine Hochzeitstorte – aber er verdrückt den Löwenanteil.“