Salamandra - Helene Luise Köppel - E-Book

Salamandra E-Book

Helene Luise Köppel

0,0

Beschreibung

Die Klugheit tut nie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen ... Bernadette Molander verlässt ihren sicheren Job im Archäologischen Museum in München, um sich in Südfrankreich auf die Suche nach ihrer exzentrischen Kollegin Jenna zu machen, die nach einem Treffen mit einem Informanten spurlos verschwunden ist. Die Archäologin ist einfach nicht mehr da! Auch Kommissar Claret aus Toulouse steht vor einem Rätsel und geht bei seinen Ermittlungen zunächst in die Irre. Ohnehin ist in den Pyrenäen nichts so wie es scheint - nicht einmal die Liebe! Nervenkitzel pur ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 370

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mit der vorliegenden Geschichte sollen Leserinnen und Leser unterhalten werden. Die Romanhandlung ist frei erfunden; nichts Entsprechendes hat im wahren Leben stattgefunden – davon unbenommen bleiben jedoch Fakten, die man im Anhang, in der Presse oder im Internet nachlesen kann.

Siehe, der Salamander geht durch die Flammen hindurch.

Unverletzt bleibt immer auch die Reinheit.

Joachim Camerarius der Jüngere, Nürnberg, 16. Jh.

Absalom aber hatte sich eine Säule aufgerichtet,

als er noch lebte; die steht im Königsgrund.

Und er nannte die Säule nach seinem Namen,

und sie heißt auch bis auf diesen Tag

»Absaloms Mal«.

2. Samuel 18, 18

Absalom-Grabmahl, Kidrontal, Jerusalem

Inhaltsverzeichnis

Prolog

KAPITEL 1

Bernadette

KAPITEL 2

Bernadette

KAPITEL 3

Bernadette

KAPITEL 4

Bernadette

Pau

Bernadette

Pau

Bernadette

KAPITEL 5

Bernadette

KAPITEL 6

Bernadette

Pau

KAPITEL 7

Bernadette

KAPITEL 8

Bernadette

Mic

Bernadette

KAPITEL 9

Bernadette

Mic

Bernadette

Mic

KAPITEL 10

Bernadette

Mic

KAPITEL 11

Maurice Claret, Kommissar

Mic

Maurice Claret, Kommissar

KAPITEL 12

Bernadette

Maurice Claret, Kommissar

Hyacinthe Chantelouve

KAPITEL 13

Bernadette

Jenna Marx

Bernadette

Jenna Marx

Bernadette

Jenna Marx

Bernadette

Jenna Marx

Bernadette

KAPITEL 14

Maurice Claret, Kommissar

Bernadette

KAPITEL 15

Bernadette

Jenna Marx

Bernadette

Jenna Marx

KAPITEL 16

Bernadette

Mic

Bernadette

KAPITEL 17

Maurice Claret, Kommissar

Mic

Bernadette

Zac

KAPITEL 18

Bernadette

Maurice Claret, Kommissar

Bernadette

KAPITEL 19

Bernadette

Maurice Claret, Kommissar

Pau

KAPITEL 20

Bernadette

Maurice Claret, Kommissar

Pau

KAPITEL 21

Bernadette

KAPITEL 22

Jenna

Bernadette

Jenna

KAPITEL 23

Maurice Claret, Kommissar

Bernadette

Maurice Claret, Kommissar

Bernadette

KAPITEL 24

Maurice Claret, Kommissar

KAPITEL 25

Maurice Claret, Kommissar

DIE BANCO ROZAS

DAS TRIBUNAL

TODESANZEIGE

NACHRUF

Maurice Claret, Kommissar

KAPITEL 26

Maurice Claret, Kommissar

Bernadette

KAPITEL 27

Bernadette

KAPITEL 28

Pilars Tagebuch

Maurice Claret, Kommissar

ENZO MOLANDER

KAPITEL 29

Bernadette

Bernadette

ANHANG

Quellen & Zitate

Prolog

»Call me Ishmael, ihr Schweine!», hat er den Hamas-Leuten entgegengeschleudert, als sie ihm einreden wollten, er sei ein jüdischer Spion. Danach schlugen sie ihn nahezu krankenhausreif und beförderten ihn in das Erdloch zurück, in dem er nun seit vier Tagen haust: Eine Pritsche, eine Wolldecke, ein Loch zum Scheißen, eine von der Decke baumelnde Glühbirne – deren Licht es gerade noch zulässt, in dem zerfledderten Roman zu lesen, den er hier unten vorfand: Moby Dick von Melville. Dessen Matrose Ishmael und die Wut halten ihn am Leben.

Auch draußen feiert der Irrsinn wieder fröhliche Urständ: Wie der einbeinige Käpt’n Ahab, also mit blindem Hass, hat Israel erneut zwei Terrorziele der Hamas attackiert. »Genaue Treffer«, hieß es in der Jedi’ot Acharonot.

Die Palästinenser hingegen behaupten, es seien drei Ziele in unbewohntem Gebiet angegriffen worden.

Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte – so wie Tausende Palästinenser inmitten ihrer zerstörten Häuser hocken, im wohl größten Gefängnis der Welt, dem Gazastreifen. Ohne Hoffnung, ohne Zukunft. Wird das Elend je ein Ende nehmen?

Bewegt er seine Nase vorsichtig hin und her, knirscht da was. Sie schmerzt, ist dick geschwollen, vermutlich gebrochen. Er stöhnt leise. Hoffentlich tauscht man ihn bald aus, denn ob er hier unten vor Luftschlägen sicher ist, bezweifelt er.

Im Bauch des Wals kann man nämlich auch ertrinken …

KAPITEL 1

Bernadette

Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln stand auf dem Poster im Eingangsbereich der Abteilung Vorgeschichte. Bernadette Molander, die jeden Tag daran vorbeiging, war noch immer richtig stolz auf ihren neuen Job. Nach den fesselnden, aber aufreibenden Jahren, die sie mit Spitzkelle und Winkelkratzer bei Ausgrabungen in Jordanien, Israel und Italien zugebracht hatte, sah sie diese halbe Stelle im Archäologischen Museum als Glücksfall an. Es ging ihr nicht um Geld, sie war von Haus aus finanziell abgesichert. Doch sie wünschte sich inzwischen etwas Dauerhaftes, Festes. Vielleicht sogar ein Kind, wenn es sich ergeben sollte. Aber erst einmal wollte sie hier in München sesshaft werden. Zeitgleich mit der Aufnahme ihrer neuen Tätigkeit hatte sie sich eine Eigentumswohnung gekauft, ganz in der Nähe ihrer Arbeitsstelle. Hier genoss sie die Zweisamkeit mit ihrem neuen Freund Yohann, der beruflich ähnlich stark engagiert war, wie zuvor sie.

Am 18. August 2010, um die Mittagszeit, als sich Bernadette gerade mit der Nachbearbeitung einer Ausstellung befasste, flog die Tür zu ihrem Arbeitszimmer auf, und ihre Freundin Jenna trat ein. Groß, schlank, die hochgesteckten kupferroten Haare in Auflösung begriffen, die grünbraunen Augen wie stets dick mit Kajal umrahmt.

»Shalom!« Jenna strahlte.

»Jen? Was machst du denn hier!«, rief Bernadette. Sie sprang auf und schloss die Freundin in die Arme. Sie kannten sich seit dem Studium und hatten einige Jahre in Jerusalem nebeneinander gegraben.

»Geht’s dir gut, Darling?«, fragte Jenna, legte aber selbst sofort los: »Ich bin einer heißen Sache auf der Spur!« Sie schien ziemlich nervös zu sein, griff sich ungeschickt ins Haar, wobei sich weitere Strähnen lösten. »Hat vermutlich mit dem Absalomgrab zu tun. Du weißt schon …«

Natürlich wusste Bernadette: Das Felsengrab des Absalom, in dessen Umgebung auch sie gearbeitet hatte, lag im Kidrontal, unterhalb der Altstadt Jerusalems. Mit seinem kegelförmigen Dach war es eines der eindrucksvollsten Grabmäler im Heiligen Land, auch weil es eine unterirdische Kammer besaß. »Sag bloß, ihr habt dort eine weitere Inschrift entdeckt? Setz dich doch! Gab es wieder Ärger mit Enzo?«

Enzo Molander, Bernadettes älterer Bruder, gehörte ebenfalls der Grabungsmannschaft an. Er und John Snyder, der Grabungsleiter, betrachteten sich jedoch als Konkurrenten. Beide waren zutiefst davon überzeugt, niemand auf Erden würde ihnen sachkundig das Wasser reichen können.

Jenna verdrehte die Augen. »O Dio mio, dein Bruder ist ein Fall für sich, du kennst ihn ja! Er ist auch noch immer sauer, weil du dich hinter seinem Rücken nach München beworben hast. Ich hab ihm übrigens nicht erzählt, dass ich dich besuche …«

»Du weißt, ich hatte meine Gründe … Obwohl ich, ehrlich gesagt, gern wieder in Jerusalem angeheuert hätte. Das war meine Welt. Aber nach dem letzten Streit … Nein, danke, diesen Stress muss ich mir nicht länger antun. Oder bist du inzwischen wieder mit Enzo … zusammen?«

Jenna schüttelte den Kopf. »Ehrlich, ich hätte nichts dagegen, aber Enzo will wohl nicht. Er trauert seiner … verlorenen Liebe nach. Es geht ihm lausig, sagt er.«

»Ach, Gottchen«, sagte Bernadette, »mir kommen gleich die Tränen. Weiß er überhaupt, was Liebe ist? Vergessen wir’s. Ich freu mich, dass du da bist. Aber du bist ja vermutlich nicht gekommen, um dich bei mir auszuheulen …«

»Natürlich nicht. Ich komme zur Sache: Wir haben in der Absalom-Kammer eine Urne ausgegraben, in der ein vielversprechender Papyrus steckte.«

Sofort war Bernadette gedanklich wieder in Jerusalem: »Hebräisch oder Aramäisch? Setz dich doch. Magst was trinken?«

»Ein Glas Wasser, ja!« Jenna nahm auf dem Besucherstuhl Platz. »Hebräisch«, beantwortete sie Bernadettes Frage, »doch dieser Papyrus – halt dich fest, Bernadette, er hat im weitesten Sinne mit dem Necronomicon von Lovecraft zu tun.«

Verblüfft stellte Bernadette die Flasche ab, die sie aus dem Kühlfach geholt hatte. »Mit einem fiktiven Buch aus dem 20. Jahrhundert? Wie soll das denn gehen?«

»Tricky, nicht wahr? Das ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt! Nun, H.P. Lovecraft hat ja immer behauptet, dass die Vorlage für sein Buch real existiert hätte. Als Quelle gab er Lord Dunsany an, seinen Förderer. Erinnerst du dich, wir hatten mal eine heiße Diskussion darüber, am Lagerfeuer.«

Bernadette lachte spöttisch auf, während sie Jenna einschenkte. »Lord Dunsany, klar! Der in Wahrheit Edward Plunkett hieß und seine Horror-Romane mit der Gänsefeder schrieb. Lächerlich. Hast du eine Abschrift von eurem Fund dabei?«

Jenna nickte. Sie öffnete ihre honiggelbe Lederaktentasche und zog einen mit Pappe verstärkten Umschlag hervor. »Der Papyrus war in einem miserablen Zustand, wir konnten leider nur Bruchstücke davon retten.«

Bernadette knipste die starke Arbeitsleuchte an und zog den Schirm zu sich herüber. Die Kopie war tatsächlich eine einzige Enttäuschung. »Tut mir leid«, sagte sie, »das müsste man am Original studieren.«

»Enzo hat sofort gesehen, dass der Text Ähnlichkeit mit dem Fragment 15 von Lovecraft hat«, versetzte Jenna.

»Hm … Und John? Was sagt er dazu?«

»Nun, inzwischen gibt er Enzo recht. Er musste ihm recht geben! Denn der Papyrus ist überschrieben mit Ein Abbild des Gesetzes der Toten.«

»Mit Lovecrafts Titel?« Bernadette blies die Backen auf. »Der ihm angeblich im Traum erschienen ist? Dann stimmt das also nicht?«

»Nada de nada«, sagte Jenna ungerührt. »Lovecraft war definitiv nicht der Schöpfer des Necronomicons. Vielleicht steckt tatsächlich dieser ›verrückte Araber‹ dahinter, wie es heißt. Oder dem windigen Lord Dunsany-Plunkett lag eine griechische Abschrift vor, die auf diejenige zurückgeht, die wir jetzt im Absalomgrab entdeckt haben. Man wird sehen … Bevor ich es vergesse: Ich bin auf dem Weg nach Frankreich. Kannst du mir den Ausstellungskatalog von 1989 besorgen? Spätantike zwischen Heidentum und Christentum?«

»Klar!« Bernadette griff zum Telefon und bestellte das gewünschte Exemplar. »Was hast du vor, in Frankreich?«, fragte sie neugierig, nachdem sie wieder aufgelegt hatte.

»Ich will einige Orte aufsuchen, die Lord Dunsany seinerzeit bereist hat. Also bevor er sich mit jenen Dingen beschäftigte, die später in Lovecrafts Necronomicon mündeten. Abgekürzt: Ich will herausbekommen, wie dieses Werk zustande kam, ehe wir mit dem Papyrus an die Öffentlichkeit gehen.«

»Du möchtest das? Oder Enzo?«

Jenna zuckte die Achseln. »Natürlich Enzo, was fragst du überhaupt! Dein verdammter Bruder hat nun mal die beste Spürnase von uns allen. Übrigens: Seit einiger Zeit beschäftigt er sich im Zusammenhang mit Lovecraft auch intensiv mit den Jesiden.«

Bernadette runzelte die Stirn. »Den Jesiden im Irak?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Jen, ich muss noch was Dringendes fertig machen. Treffen wir uns in einer halben Stunde im Englischen Garten? Er liegt um die Ecke. Da können wir ungestört fachsimpeln.«

»Okey-dokey, ich schau mich bei euch etwas um und warte dann unten vor dem Eingang auf dich.«

Nachdenklich lehnte sich Bernadette zurück … Jerusalem. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft gewesen: Enzo, Bernadette, Jenna und John Snyder, der Grabungsleiter – bis es zu merkwürdigen Spannungen und Zerwürfnissen gekommen war. Zuerst hatte es Erbschaftsstreitigkeiten zwischen Enzo und ihr gegeben, dann war sein langjähriges Verhältnis mit Jenna wegen einer anderen Frau zerbrochen, was Bernadette ihrem Bruder bis heute nachtrug. Auch die ständige Kompetenzrangelei zwischen Enzo und John war ihr zunehmend an die Nieren gegangen. Aufgebracht über das oft rücksichtslose Verhalten ihres Bruder – ein wichtiges Projekt war seinetwegen geplatzt! – hatte sie Ende 2008 ihren Vertrag erstmals nicht verlängert, sondern war nach Italien geflogen, um sich dort für eine Saison zu verpflichten. In Spina, einer in den ersten Jahrzehnten n. Chr. verschwundenen griechisch-etruskischen Stadt, hatte sie mitgeholfen, ein etruskisches Grab auszuheben. Dass Enzo nach ihrem Abflug im Team erzählt hatte, sie sei wohl von ihrem letzten Liebhaber schwanger geworden und deshalb »geflüchtet«, hatte ihr schließlich den Rest gegeben. »Schwanger? Ich?«, hatte sie sich Jenna gegenüber am Telefon empört, »sag meinem Bruder, er ist ein Idiot.« Seitdem hatte Enzo nur einmal kurz von sich hören lassen, dieses Jahr an Ostern.

Zur verabredeten Zeit setzten sie sich auf eine Bank in der Nähe des Chinesischen Turms in den Schatten. Bernadette überreichte Jenna den gewünschten Katalog, dann packte sie den Imbiss aus, den sie rasch in der Kantine besorgt hatte. »Pute oder Käse?«

»Käse«, sagte Jenna und griff zu. »Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie kauend.

»Bei den Jesiden.«

»Genau. Wusstest du, dass man sie früher Teufelsanbeter gescholten hat, weil sie nie ein Wort sprachen, das auf Sch begann, um Schaitan, den arabischen Namen Satans, nicht aussprechen zu müssen?«

»Sch …, nein, wusste ich nicht. Interessant. Aber wie kam es … «

»Das waren sie auch nicht«, fiel Jenna ihr ins Wort. »Teufelsanbeter, meine ich. Enzo hat ihr Heiligtum aufgesucht, und der Besuch bei den Jesiden hat ihn offenbar sehr beeindruckt. Nun, H.P. Lovecraft hat sich ebenfalls mit den Jesiden und ihrem Glauben beschäftigt. Kennst du seine Erzählung Grauen in Red Hook?«

»Gelesen habe ich sie nicht, aber davon gehört. Darin geht es doch um diese Großen Alten und den unaussprechlichen Cthulhu-Mythos. Herrje, Jenna, diese Geschichten sind alle fiktiv. Frei erfunden, ausgedacht! Interstellare Wesen mit unheimlichen Kräften, gottgleich und unsterblich. Was soll das mit den Jesiden zu tun haben?«

Jenna hob die Hände und tat geheimnisvoll. »Besorg dir die Story und lies sie. Gottgleich. Unsterblich.« Sie legte das angebissene Sandwich in die Tüte zurück und beugte sich zu Bernadette hinüber. »Nun, zumindest ein Fragment des Papyrus’, den wir entdeckt haben, berührt im weitesten Sinne anthropologische Fragen. Grenzwertige Fragen! Verstehst du?«

Bernadette stutzte. Dann aber lachte sie hell auf. »Himmel, du bist doch nicht wieder auf deinem alten Trip mit den vormenschlichen Rassen?«

»Ich nicht. Aber Enzo meint …«

»Mit Verlaub, Jenna, mein Bruder ist genial, zugegeben, aber gleichzeitig ist er – wie sagst du immer: tricky! Ein Getriebener, der Luftschlössern in Form von Kreuzfahrerburgen hinterherjagt. So war er schon als Kind. Ich kenne ihn besser als du.«

»Jaaa, ich weiß, Bernadette. Aber die Welt braucht VVD!«

»VVD? Bitte was?«

»Na, Visionisten, Verrückte und Dickschädel. Schöpferische Dickschädel!« Jenna lachte. »Also gut, ich erzähle dir jetzt noch etwas. Was würdest du sagen, wenn Enzo einen Knochenfund gemacht hätte, nachdem er sich mit diesem geheimnisvollen Papyrus näher beschäftigt hat?«

Bernadette stutzte. »Knochen? In unmittelbarer Nähe des Absalomgrabes? Wo präzise?«

»In der Nähe der Quelle En Rogel. Genau genommen, in den Gewürzgärten. Du kennst die Stelle.«

Bernadette erinnerte sich. Die Erde dieser Gärten, im heutigen Jüdischen Viertel, war im Altertum gedüngt worden mit dem Blut und den Exkrementen unzähliger Opfertiere sowie den Überresten aus den Verbrennungsöfen des Zweiten Tempels.

»Also, dass Enzo in den Gewürzgärten irgendwelche Knochen entdeckt hat, reißt mich kaum vom Hocker«, sagte sie, doch als sie ihre Freundin ansah, wurde sie schlagartig argwöhnisch: In Jennas Augen glitzerte es verdächtig. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass Enzo … einen gefunden hat? Einen Nephilim? Einen Riesen?« Bernadette beobachtete gebannt, wie Jenna den Mund spitzte. Nie zuvor hatte die Freundin unternehmungslustiger ausgesehen.

»Doch, hat er«, antwortete sie leise, »zumindest Teile davon. Femur und Patella.« Sie kramte in ihrer Tasche, zog ihr Handy heraus und präsentierte ein Foto. »Aber das bleibt unter uns. Hat noch keiner gesehen, nicht einmal John. Enzo hat heimlich gegraben, in der Nacht; er hatte so einen Verdacht. Was sagst du jetzt?«

Bernadette schluckte. »Wie groß, schätzungsweise?«, fragte sie.

»Zweiachtzig muss das Wesen wohl zu Lebzeiten gemessen haben.«

Bernadette war perplex. »Zweiachtzig? Ihr seid irre. Und wo befinden sich die Fundstücke jetzt?«

»In Sicherheit. Mehr darf ich dir wirklich nicht sagen. Enzo würde mir den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass ich dich eingeweiht habe. Also, was sagst du zu diesem Foto? Im äthiopischen Henochbuch, von dem man in Qumran Teile fand, steht folgendes … «

»Ich weiß, was dort steht!«, unterbrach Bernadette sie schroff. Nur widerwillig zoomte sie das Foto heran: Tatsächlich: Zwei riesige Oberschenkelknochen und eine linke Kniescheibe beispiellosen Ausmaßes. Es war schier unglaublich. »Das kann doch nur ein Fake sein, Jenna!«

»Nein. Hominine Fossilien. Ich hab sie mit eigenen Augen gesehen«, behauptete hingegen Jenna. »Dein Bruder hat mich mitten in der Nacht angerufen, um mir den Fund zu zeigen. Sieh mich nicht so skeptisch an, unser Zerwürfnis hin oder her – er brauchte einen verlässlichen Augenzeugen. Und das war definitiv kein Plastik oder so. Das war echt, ich sag’s dir! Und was bedeuten schon zweiachtzig? Aktuell misst ein Mann in der Türkei zweieinundfünfzig. Damit hat er es ins Guinnes-Buch der Rekorde gebracht. Seine Frau ist übrigens nur einsfünfundsiebzig groß. Keine Ahnung wie das mit den beiden im Bett funktioniert.« Sie lachte nervös auf. »Ergo können die Knochen, die Enzo ausgegraben hat, ohne weiteres irdischen Ursprungs sein. Diese außerirdischen Wesen mit Tentakeln auf dem Kopf, wie Lovecraft sie beschreibt, stelle ich selbstredend ebenfalls in Frage. Das ist eine ganz andere Baustelle.«

Jenna litt nicht an mangelndem Enthusiasmus oder fehlender Überzeugungskraft. Dennoch zweifelte Bernadette an der Echtheit des Fundes. Sie kannte ihren Bruder. Enzo war zu allem fähig.

»Sag mal, kann ich das Foto sicherheitshalber bei dir deponieren?«, fragte Jenna und zauberte einen roten USB-Stick aus ihrer Tasche.

»Klar. Wenn dir mein Bankschließfach zuverlässig genug erscheint, gerne.«

Sie nahmen sich ein Taxi, und Bernadette begleitete Jenna zu ihrer Hausbank, wo sie den Memory Stick einschlossen.

Anschließend setzten sie sich ins StaBi-Café, im Untergeschoß der Bayerischen Staatsbibliothek, um noch einen Kaffee zu trinken.

»Italienische Röstung?«, fragte Jenna augenzwinkernd den Kellner, der sie daraufhin irritiert ansah, bis Bernadette ihn erlöste und ihm lachend erklärte, dass ihre Freundin langjährige Expertin für Filmzitate sei.

»Okay«, antwortete der Kellner grinsend. Er zog die Stirn kraus und überlegte kurz: »White Collar - eine Krimi-Serie, bei der es um einen Meisterdieb und Kunstfälscher geht?«

»Châpeau, Monsieur! Ich gebe einen aus. Die Münchner sind immer für eine Überraschung gut. Weshalb tragen Sie eigentlich keine Lederhose, guter Mann?«

Alle lachten schallend.

Doch als sie wieder unter sich waren, wurde Jenna mit einem Mal ernst. »Bernadette, wie schaut’s bei dir aus, kannst du dich nicht kurzfristig freimachen und mich nach Frankreich begleiten?«

Bernadette riss überrascht die Augen auf. »Ist das dein Ernst? Weshalb kommt Enzo nicht mit, wenn ihm die Sache so wichtig ist?«

»Weil John dann sofort wüsste, dass was im Busch ist. Ich selbst hab private Gründe vorgeschoben, Familienprobleme.«

»Ja, ja, wo du mutterseelenallein auf der Welt bist! Das glaubt dir doch kein Mensch, Jen!«

Jenna legte die Hand auf Bernadettes Arm. »Hör zu, Darling, ich brauche derzeit jemanden in meiner Nähe, dem ich blind vertrauen und mit dem ich zwischendurch auch mal Blödsinn machen kann. Das Leben ist so kurz. So verdammt ernst. Komm doch wenigstens nach! Wir lassen es uns gutgehen in Frankreich. Denk ans Meer, an leckeren Rotwein, Fromage und Himbeer-Macarons. Lass uns die Welt für ein paar Wochen auf den Kopf stellen – und nebenher dem Lovecraft-Wirrwarr auf den Grund gehen. Danach kehrst du wieder in dein geregeltes Leben zurück. Was spricht dagegen?«

»Dein Angebot haut mich aus den Socken«, sagte Bernadette lachend, »aber ein wissenschaftliches Volontariat dauert leider zwei Jahre, und ich bin noch nicht lange genug hier, um mir freizunehmen. Ob ich überhaupt irgendwann in München als Kuratorin arbeiten kann, steht in den Sternen. Alles ist ziemlich … kompliziert, weißt du.«

Jenna verzog das Gesicht. »Klar, und dann musst du auch noch deinen Liebsten um Erlaubnis bitten. Und dein Dreißigster steht vor der Tür. Du warst zwar nie der Draufgängertyp, doch dieser hausbackene Touch, den du dir zugelegt hast, seit du in München bist … Patrona Bavariae! Wieso trägst du eigentlich kein Dirndl?«

Bernadette schluckte. »Sehr charmant, Jen, wirklich! Okay. Ich überleg’s mir. Magst du heute Abend zu uns zum Essen kommen oder morgen, zu meiner Geburtstagsparty? Yohann würde sich bestimmt freuen. Ihr müsst euch ja mal kennenlernen.«

»Mein Flug ist schon gebucht. Sag ihm schöne Grüße. Er schaut übrigens blendend aus auf dem Foto, das du mir geschickt hast. Wusste gar nicht, dass du dich für lässige Typen à là Olivier Martinez interessierst. »Isch bin kein Axtmördeer!«, zitierte sie temperamentvoll aus einem der Filme des Schauspielers.

Bernadette lachte laut. »Du bist sowas von durchgeknallt, Jen! Und weißt du was? Ich hab das vermisst. Ich hab dich vermisst! Ehrlich!«

»Wenn dies auch Tollheit ist, so hat’s doch Methode«, zitierte Jenna mit hochgerecktem Hals. Sie stand auf. »Ah, da fällt mir noch was ein: Ihr habt nicht zufällig auch das Symbolorum des Joachim Camerarius aus Nürnberg im Haus? Wenn ja, dann komme ich noch einmal kurz mit in dein Büro, wenn du erlaubst …«

»Warte, ich vergewissere mich gleich!« Bernadette zog ihr Handy aus der Tasche, doch der Akku war schon wieder leer. »Mist!«, fluchte sie, »aber ich bin mir sicher, das Symbolorum ist digitalisiert.« Sie verzog spöttisch den Mund und stupste Jenna in die Seite. »Vergleichsstudien mit Lovecrafts Dämonen?«

»He Malkovich, denk schneller! Ich benötige noch Lektüre für einsame Frankreichabende!«, lachte Jenna, nahm Bernadette in den Arm und nannte sie eine treulose Seele.

»Reiz mich nicht«, sagte Bernadette, »sonst packe ich noch heute die Koffer! Wohin genau fliegst du eigentlich?«

»Perpignan«, sagte Jenna. »Liegt günstig für mich und mein Vorhaben. Ich melde mich bei dir, sobald ich Näheres weiß. Und deinen Koffer solltest du schon mal entstauben.«

KAPITEL 2

Cthulhu - Zeichnung von Lovecraft

Bernadette

»Bernadette, es ist halb drei! Willst du nicht ins Bett?« Mit einem Zipfel seines Badetuchs rubbelte sich Yohann das knapp schulterlange, dunkle Haar trocken, als er das Schlafzimmer betrat. »Wen rufst du an?«

»Jenna«, antwortete sie einsilbig. Sie saß noch immer angekleidet auf dem Stuhl neben der schwarzen Designerkommode. »Ich habe nur meine SMS gecheckt und frage mich, weshalb sie mir nicht gratuliert hat? Sie müsste längst in Perpignan sein.«

»Mademoiselle Chaos geht wohl nicht mehr davon aus, dass du ihr nachfolgst?«, fragte Yohann mit hörbar schwerer Bordeaux-Zunge. (Nicht nur die Gäste hatten zuviel getrunken.) Er schlang sich das Badetuch um die Hüfte und ging noch einmal hinaus, ein Glas Wasser für die Nacht zu holen.

»Mademoiselle Chaos?«, rief ihm Bernadette hinterher. »Was soll das heißen?« Beim Ablegen des Handys hätte sie beinahe das herrliche Fadenglas aus Venedig von der Kommode gefegt, das ihr irgendwann Tante Eva geschenkt hatte. Bernadette erschrak. Grundgütiger Himmel, auch Eva hatte nicht gratuliert. Kein Anruf, kein Brief. Nichts! Hoffentlich war sie nicht krank geworden!

Beunruhigt streifte sich Bernadette die Ballerinas von den Füßen. Bewegte die nackten Zehen. Kreiste zugleich langsam mit dem Kopf. Dieser Spannungsschmerz im Nacken war kein gutes Zeichen. »Warum antwortest du mir nicht, Yohann?«, rief sie mit gereizter Stimme nach draußen. »Was bedeutet: ›Mademoiselle Chaos‹?«

Yohann wieherte vor Lachen, als er zurückkehrte. »Nun, so wie du sie mir geschildert hast, steht sie vermutlich morgen früh um sechs mit dreißig getüpfelten Rosen vor unserer Tür und reißt uns aus dem Schlaf.«

»Sollte das gerade ein Witz gewesen sein?«, fragte Bernadette kühl.

»Hab ich gelacht?«

»Idiot«, sagte sie verärgert, »im Gegensatz zu dir kenne ich Jenna.«

Yohann setzte sich auf die Bettkante. »Suchst du Streit, Schatz? … Désolé, ich weiß, sie ist deine beste Freundin. Aber Männer haben bekanntlich immer ein Problem mit der besten Freundin ihrer Frau. Wusstest du das nicht? Egal. Ruf sie an, deine Jenna, und frag nach, was los ist mit ihr! … Mon Dieu, ich kapiere: Dein verdammter Akku ist wohl schon wieder leer! Na, dann versuch’s mal damit!« Er griff unter die Matratze und zog mit einem lauten »Tataa!« ein rechteckiges Päckchen hervor, eingewickelt in Goldpapier. »Ein zweites Geburtstagsgeschenk für dich«, sagte Yohann. »Pack’s aus!«

»Du bist verrückt!« Bernadette riss das Papier auf, strahlte: »Ein neues Samsung? Wow! Sieht total schick aus! Merci beaucoup, Yohann!« Sie stand auf und fiel ihm um den Hals. »Ich danke Dir!«

»Morgen früh richte ich es für dich ein, ma puce!« Er knipste mit der Fernbedienung die LED-Leiste an – das blaue Licht! – und ließ sich mit einem erleichterten Aufstöhnen aufs Wasserbett fallen. Dann öffnete er einladend das Badetuch. »Aber zuvor«, sagte er, in dem ihm eigenen Tonfall, den Bernadette so liebte, »komm zu mir, ich bin scharf auf dich. Wollte schon immer mal eine Dreißigjährige bumsen.«

Gegen drei Uhr duschte Bernadette. Ausgiebig und zu heiß – mit dem Ergebnis, dass das Badezimmer dampfte wie die Quellen im Yellowstone-Nationalpark, wo sie mal mit Tante Eva gewesen war. Leider fühlte sie sich nach der Dusche nicht besser, ja ihr Kopf hämmerte nun so richtig. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und in die Frotteepantoffeln, riss weit das Fenster auf – es regnete draußen – und schlurfte in die Küche.

Das Chaos war beträchtlich; die Haushaltshilfe hatte frei in dieser Woche. Frustriert beschickte Bernadette den Geschirrspüler und stellte das Leergut in den Transportcontainer. Dann kramte sie im Medikamentenschrank nach einem Aspirin. Nur gut, dass morgen Freitag war und sie erst am Nachmittag ins Museum musste. Während die Tablette im Glas sprudelte, gesellte sich bleierne Müdigkeit zu den Kopfschmerzen. Doch sie war zu träge, um zurück ins Bett zu gehen. Stattdessen stützte sie die Ellenbogen auf die marmorne Tischplatte, legte das Kinn auf ihre Hände und starrte für eine Weile auf den Kunstdruck an der Wand zwischen den Fenstern. Yohann hatte ihn mitgebracht, als er bei ihr eingezogen war. Schwarz-Weiß und Sans-Titre – also ohne Titel. Jeder, der sich in die Küche verirrte, erkannte darauf etwas anderes. Sie selbst hatte sich auf einen heranziehenden Tornado festgelegt. (Nicht unpassend für den heutigen Zustand der Küche!) Yohann sah in der Zeichnung das Harmageddon. Früher hatte man sich tröstlichere Dinge als Katastrophen und Weltuntergänge in die Küche gehängt: Bernadette dachte an das handgestickte Spruchband ihrer Urgroßmutter, das sie (zusammen mit dem Delfter Familienporzellan) vor zwei Jahren geerbt hatte: Trautes Heim, Glück allein. Es hing vermutlich noch immer in der alten Villa in Biarritz, wo es allerdings auch nie hingepasst hatte. Doch welche Diskrepanz zu Sans Titre!

Das Aspirin schmeckte scheußlich nach all dem Rotwein. Bernadette nahm einen weiteren Schluck, dann schob sie das Glas beiseite, lauschte. Ringsum war es erstaunlich still. Kaum Verkehr in der Amalienstraße. Alles schlief wohl schon. Nur der Regen war zu hören, der unablässig auf die Terrassenfliesen prasselte … Weshalb sprach Yohann immer so abfällig über Jenna? Probleme mit der besten Freundin der Frau? Meinte er Ehefrau? Von Hochzeit war bislang nicht die Rede gewesen. Und nun war sie auch noch Dreißig geworden, ganze drei Jahre älter als er. Dreißig! Bernadette, allein mit ihren trüben Gedanken, schüttelte sich, nicht nur wegen des Aspirins. Sie zog den Bademantel enger um den Körper und stellte den Schalkragen auf. Wurde sie krank? Sie sollte besser wieder ins Bett gehen …

Irgendwann schreckte sie hoch, drehte sich um und starrte entgeistert auf Yohann, der im knallroten String unter der Küchentür stand. Ein Anblick zum Niederknien, selbst um diese Tageszeit. »Was … was machst du hier?«

»Bon dieu«, stieß er vorwurfsvoll hervor. »Bist du verrückt geworden, Bernadette? (Auf Französisch klang es weniger dramatisch!) Im Bad steht das Fenster sperrangelweit offen und es hat reingeregnet. Die Fliesen sind tropfnass. Um ein Haar wäre ich ausgerutscht.«

»Ja? Nein … kann sein, das Aspirin …«, stotterte sie und wies auf das vor ihr stehende Glas. »Ich bin am Tisch eingeschlafen, hab wirr geträumt. Vom Spruchband meiner Urgroßmutter. Trautes Heim … Ich glaub, ich werd’ krank.«

Yohann trat hinter sie, streifte ihr den Bademantel von der Schulter und massierte ihren Rücken. »Du bist nur total verspannt«, sagte er, irgendwie zufrieden. »Wer macht denn heute Kaffee?«

»Sag doch gleich, dass ich an der Reihe bin«, sie schüttelte ihn ab und ging zur Kaffeemaschine hinüber.

»Ich bin spät dran, muss in zwanzig Minuten aus dem Haus«, entschuldigte er sich, »du erst heute Nachmittag.«

»Hast du den Wecker nicht gehört?«

»Doch, doch, aber ich habe noch rasch die SIM-Karte für dich gewechselt und deine Kontakte übertragen. Kannst ab sofort wieder telefonieren, ma puce! Dein neues Handy liegt drüben auf der Kommode.« Mit diesen Worten verschwand Yohann im Badezimmer.

»Merci! Je t’aime!«, rief ihm Bernadette hinterher.

Während die ebenfalls knallrote Segafredo vor sich hinblubberte, deckte sie den Tisch, schnitt der Länge nach das vom Abend übriggebliebene Baguette auf und legte die Hälften nebeneinander auf den Brötchenaufsatz des Toasters. Dann nahm sie die Butter und den Orangensaft aus dem Kühlschrank und stellte das Rondell mit den verschiedenen Marmeladensorten auf den Tisch. Für Yohann, als gebürtigen Franzosen, reichte das. Sie selbst hatte so früh am Morgen nie Hunger. Oft trank sie nur, in kleinen Schlucken und verdünnt mit Wasser, den Saft einer ausgepressten Bio-Zitrone, um in die Gänge zu kommen.

Als Yohann zurückkehrte, jetzt in Jeans und dem topasfarbenen T-Shirt, das sie ihm letzte Woche gekauft hatte (seine Augenfarbe!), schob er sich die Haare hinter die Ohren und grinste sie frech an. »Na, hast du Jenna schon den Marsch geblasen? Welche Ausrede hatte sie denn, dass sie deinen Dreißigsten vergaß?«

»Sag mal, wann hätte ich sie denn anrufen sollen?«, entgegnete Bernadette. »Ich bin hier derzeit der Butler und die Putzfrau in Personalunion. Ich telefoniere, wenn du weg bist. Mit dem neuen Handy! Es ist wirklich klasse. Danke nochmals, Schatz!« Sie umarmte und küsste ihn.

Eine Stunde später hatte sie das Wohnungschaos beseitigt. Sie schenkte sich einen Pott Kaffee ein und ging ins Wohnzimmer, um dort in aller Ruhe vom Sessel aus zu telefonieren. Doch Jenna hob nicht ab. Bernadette hinterließ ihr eine (eher geistlose!) SMS folgenden Inhalts: Was ist los? Bist du Lovecrafts Geist begegnet? *lach* Ruf mich zurück! Ich erkundige mich jetzt ernsthaft nach einem Flug nach Perpignan. Vive la France!

Nachdenklich starrte sie auf ihre Füße, die eiskalt waren, wie immer, wenn sie nervös war. Sollte sie Jennas Einladung wirklich annehmen? Yohann würde sich nicht daran stoßen. Er flog am 28. August ja selbst, und zwar für ein paar Tage nach Kalifornien. Allerdings würde sie ihm die verrückte Sache mit Lovecraft und dem Knochenfund einstweilen verschweigen. Nicht, dass es ihm an Phantasie gemangelt hätte, ganz im Gegenteil: Er entwickelte seit Jahren Online-Rollenspiele. Aber Jennas Reisegrund war einfach zu abgehoben!

Nach der zweiten Tasse Kaffee stand Bernadettes Entschluss fest: Falls das Museum mitspielte, würde sie tatsächlich fliegen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und überarbeitete, obwohl sie todmüde war, noch einmal die Präsentation, die sie an diesem Nachmittag vorstellen sollte.

KAPITEL 3

Geflügelter Mann (Ölgemälde von Odilon Redon, um 1890-1894)

Bernadette

fuhr sich verlegen mit den Fingern durch ihre kurzen, weißblonden Haare, als Horst Saal sie nach der Mitarbeiterbesprechung in sein Büro bat und sie dort über den grünen Klee lobte. Ihre Präsentation über den Kult der Kybele und des Attis sei tatsächlich 1A gewesen, meinte ihr Chef, bereits wieder vor dem PC sitzend. »Weiter so!«

»Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen«, antwortete sie, die Gunst der Stunde nutzend.

Saal, ein Asket vom Typ Dauerjugendlicher, sah kurz vom Bildschirm hoch, behielt jedoch die Computer-Maus in der rechten Hand. »Ja? Was kann ich für Sie tun, Frau Molander? Gibt es Probleme?«

»Ich brauche vier Wochen unbezahlten Urlaub«, platzte es aus ihr heraus. »Möglichst ab sofort, das heißt, mein Flug ginge am Mittwoch. Montag und Dienstag könnte ich noch an der Astarte-Abhandlung arbeiten, die aber ebenfalls so gut wie fertig ist.«

Nun hob Saal die Brauen. »Urlaub? Eine Privatsache?«

»Nein. Es geht eher um eine berufliche Chance. Jenna Marx hat mich gebeten, nach Frankreich zu kommen. Feldforschung. Eine Sache, die im weitesten Sinn mit dem Absalomgrab zu tun hat. Ich möchte so bald wie möglich fliegen, wenn … nun, natürlich nur, wenn Sie mir freigeben.« Sie lächelte ihn an. »Ich weiß, ich überfalle Sie mit meiner Bitte, aber auch für mich kam die Einladung überraschend.«

Saal schob zwar die Maus jetzt beiseite, bevor er sich zurücklehnte, seine rechte Hand zuckte jedoch leer weiter. »Die Jenna Marx?«

Bernadette nickte. »Wir haben zusammen in Jerusalem gegraben. Kennen Sie sie?«

»Wer in unserer Branche kennt die Marx nicht. Eine Archäologin, der sich wie durch ein Wunder sämtliche Geldquellen erschließen. Feldforschung in Frankreich, Respekt!« Er grinste und blinzelte Bernadette zu. »Da steckt wohl Ihr Bruder dahinter, nicht wahr? Enzo Molander. Die beiden sind liiert, erzählt man sich?«

Bernadette ließ ihn in dem Glauben. Sie wusste, unter Archäologen gab es keine echten Geheimnisse. »Jenna Marx hat in Fachkreisen einen guten Ruf«, sagte sie stattdessen lapidar.

»Den besten.« Saal nickte. Er zog eine Packung Kaugummi aus seinem Schubfach, bediente sich und bot auch ihr einen Streifen an. »Vier Wochen also? Nun, ich denke, das lässt sich machen, Frau Molander.«

»Das freut mich, danke.« Bernadette, in Gedanken bereits beim Bildhauerkurs, für den sie sich kürzlich angemeldet hatte und den sie jetzt wieder canceln musste, packte den Kaugummi aus und steckte ihn in den Mund. Mintgeschmack.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Saal. »Sie suchen sich am Montag eine der Studentinnen aus, die sich im Archiv herumdrücken und erklären ihr das Allernotwendigste. Spätestens Anfang Oktober möchte ich Sie hier wieder sehen. In alter Frische. Alles klar? Und machen Sie mir einen Bericht über ihre Exkursion mit Jenna Marx. Das interessiert mich.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Und nicht vergessen: Scherben bringen Glück!«

Nachdem sich Jenna inzwischen gemeldet hatte – Lovecrafts Geist lässt Dich schön grüßen!, stand eingangs in ihrer SMS – buchte Bernadette ihren Flug für Mittwoch Vormittag und verließ um achtzehn Uhr dreißig das Museum. Kurzerhand kaufte sie auf dem Heimweg bei El Gusto ein, um Yohann bei einem schönen Abendessen vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Zuhause angekommen, deckte sie den Tisch, verteilte, gedanklich bereits halb in Frankreich, den Krabbencocktail auf die grünen Glasteller, putzte den Endiviensalat, schnitt Petersilie und Dill, würzte die Lammkoteletts mit Rosmarin und Thymian, dekantierte den Wein. Zwischendurch surfte sie im Internet: Wie am Abend nach Jennas Besuch in München, gab sie das Stichwort Nephilim ein:

Die Nephilim (hebräisch לִים יִפְנ von naphil – Riesen), hieß es dort, seien in der altisraelischen Mythologie riesenhafte Mischwesen gewesen, gezeugt von göttlichen Wesen und Menschenfrauen, größer und stärker als Menschen und, nach den Berichten der Apokryphen, von großer Boshaftigkeit. Am Schluss der Ausführung wurde vor gefälschten Fotos gewarnt, die offenbar immer wieder kursierten.

Da haben wir es, dachte Bernadette, nicht unzufrieden. Fälschungen! Wie konnte Jenna ernsthaft angenommen haben, dass Enzos Knochenfund echt war? Schließlich hatte sich alles in der Nacht abgespielt …

Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Vielleicht war diese Entdeckung nur ein Vorwand gewesen, um Jen, die sich wieder Hoffnungen auf Enzo machte, für eine Weile loszuwerden? Oder – noch kurioser! – ging es am Ende um die Absalom-Säule, hinter der Enzo her war? Hatte er eine Spur entdeckt und allein sein wollen?

Leicht beunruhigt schenkte sich Bernadette ein Glas Wein ein und lehnte sich, das Glas in der Hand, mit dem Rücken an die Küchentheke. Sie dachte wieder an das sonderbare Gespräch, das sie mit ihrem Bruder in Jerusalem geführt hatte, wenige Tage vor der Testamentseröffnung in Hamburg. Sie waren in einem Speiselokal gewesen, und Enzo hatte ihr plötzlich einen Abschnitt aus dem Zweiten Buch Samuel vorgelesen: »Absalom aber hatte sich eine Säule aufgerichtet, als er noch lebte; die steht im Königsgrund …«

»Und diese Säule suchst du?«, hatte sie gefragt. »Ernsthaft?«

»Wenn ich den Königsgrund gefunden habe, werde ich sie zu finden wissen.«

»Aber Enzo, das Absalom-Grabmahl befindet sich doch am Ort der Säule. Das Kidrontal ist das ehemalige Königstal oder der Königsgrund.«

»Niemals! Dass es sich dabei um dieselbe Stelle handelt, ist schon chronologisch nahezu ausgeschlossen: Absalom starb etwa 1000 vor Christus. Das heutige Grabmal wurde erst zur Zeit des Zweiten Tempels errichtet, also im 1. Jahrhundert nach Christus. Eine riesige Zeitspanne! Nein, im Kidrontal haben sich zu keiner Zeit Absaloms Gebeine oder auch nur diese Säule befunden.«

»Ich glaube, du läufst mit deiner Idee im Kreis, Enzo. Auch Flavius Josephus verortet die Säule im Kidrontal, nämlich zwei Stadien von Jerusalem entfernt, wie er schreibt.«

»Nur leider verschweigt er die Himmelsrichtung! Nein, ich suche nach einem bislang unbekannten Tal namens Schawe, von dem in Gen 14,17 die Rede ist.« Er kramte einen weiteren Zettel hervor. »Hier: Als er nach dem Sieg über die Kedor-Laomer und die mit ihm verbündeten Könige zurückkam, zog ihm der König von Sodom ins Schawetal entgegen, das jetzt Königstal heißt … Dort muss man Absaloms Säule suchen, dort! Aber eigentlich ist es dafür jetzt zu spät …«

»Zu spät? Wie meinst du das?«

»Na, der Alte ist tot.«

»Bitte? Was redest du da? Was hat Vaters Tod mit Absalom zu tun?«

»Hat er dir nicht erzählt, dass er mir auftrug, diese Säule für ihn zu suchen? Seine Exzellenz Xaver Gottseibeiuns Molander?«

Sie hatte an dieser Stelle gestutzt, dann jedoch gelacht. »Aber ja, und im Himmel ist Jahrmarkt! Enzo, wenn, dann hat Vater das im Scherz gesagt. Oder es hatte mit seiner Logenzugehörigkeit zu tun. Das war doch ganz sein Stil: Meine lieben Brüder, heute eine vertrauliche Information: Mein Sohn sucht derzeit im Heiligen Land nach der Absalom-Säule!«

»Ein Scherz?« Enzo hatte seinerseits bissig aufgelacht. »Niemals! Diese Säule lag dem Alten am Herzen wie sonst nichts. ›Finde das Denkmal für mich!‹, hat er bei meinem letzten Besuch in Hamburg zu mir gesagt, mich an den Armen gepackt und geschüttelt. Er war wie besessen davon!«

»Aber nein, Enzo, hör sofort auf mit diesem Quatsch! Das ist too much! «

»Kein Quatsch, es war sein letzter Wunsch! Aber ich habe natürlich abgelehnt. So cool wie er früher mich abgelehnt und schließlich enterbt hat.«

»Ach, er war krank. Verbittert. Du hättest ja im Schein drauf eingehen können.«

»Im Schein? Ich hätte ihn auf dem Sterbebett belügen sollen? Gib mir vier Wochen, o mein Erzeuger, dann habe ich die Säule gefunden? Nope, Vater war zeitlebens ein Fanatiker. Er tat doch nur so fromm vor seinem Busenfreund, dem Bischof, während sein oberster Gott immer nur das Geld gewesen war … Ich bin auch ein Freak, Bernadette, aber auf andere Weise. Wusstest du, dass er mich bei meinem letzten Besuch sogar verflucht hat: »Verflucht sei Absalom, verflucht seien alle Söhne, die sich ihrem Vater widersetzen …«

… Bernadette fuhr zusammen, als das Telefon läutete. Hastig und ohne die Nummer wirklich zu registrieren, drückte sie auf Empfang. Doch es hatte sich nur jemand verwählt. Wieder kam ihr Tante Eva in den Sinn, die noch immer nichts von sich hatte hören lassen. Das war noch nie vorgekommen. Kurz entschlossen scrollte sie durch ihre Telefonkontakte und wählte sie an. Eva war zuhause.

»Moin, moin«, legte Bernadette wie stets spöttisch los. »Wie kann man bloß den Geburtstag seiner Ziehtochter vergessen!«

»O Gott, Bernadette!«, stieß Eva hervor – und wie immer legte sie Wert auf den letzten Buchstaben dieses Namens. »Ich weiß, ich weiß! Es ist unverzeihlich. Ich hoffe, du kündigst mir nicht die Freundschaft auf. Alles erdenklich Gute! Ich küsse und umarme dich, min Deern. Bleib gesund, das vor allem.«

»Es war ja nur mein Dreißigster«, antwortete Bernadette lachend. »Ich bin dir nicht böse, Tante Ev, du bist und bleibst ein Exot, man sollte dich einrahmen und an die Wand hängen.«

»Was du nur immer willst, Kind! Ein Exot!« Bernadette hörte, wie auch die Tante prustete. »Das musst gerade du sagen, wo du im Ausland jahrelang im Dreck nach alten Sachen gewühlt hast. Ohne es finanziell nötig zu haben, wohlgemerkt. Soll ich dir mal was sagen? Das Exotischste in meiner Kindheit war … nein, ich erzähle es dir besser nicht. Heutzutage muss man sich ja schon schuldig fühlen, wenn man …«

»… den Geburtstag der Deern vergisst.« Bernadette grinste. Eva war und blieb ein Unikum. Schrullig, aber herzlich. Stets wettergebräunt. Eisgraue Löckchen. Kluge Augen. »Aber jetzt zu dir? Ich habe mir Sorgen gemacht, Eva. Wie geht es dir? Gut? Gibt es was Neues?«

»Was Neues? Ich wüsste nicht, außer dass ich ins Krankenhaus muss.«

Bernadette erschrak. Also doch! »Was hast du denn?«

»Krebs. Was sonst. Hat doch alle Welt, oder? Meine Freundin Jette hat es übrigens auch erwischt. Aber mach dich nicht verrückt. Im schlechtesten Fall kannst du mich schon bald tatsächlich eingerahmt an die Wand hängen und die Jette gleich daneben.«

»Sag doch so was nicht! Wie ernst ist es denn? Und worum genau …«

»Erspar mir die Einzelheiten. Kommt vom Rauchen, hat der Arzt gesagt. Immerhin, keine Chemo nach dem Eingriff, nur Bestrahlungen. Und natürlich keine Zigaretten mehr. Ach, Gottchen«, seufzte sie, »ob das in meinem Alter mit dem Entzug noch hinhaut, wage ich zu bezweifeln.«

Bernadette seufzte ebenfalls. »Und wann?«

»Morgen rücke ich ein. Deshalb war ich auch gestern so beschäftigt gewesen. Ein paar schicke Nachthemden kaufen, Friseur, die Grünpflanzen versorgen, die Todesanzeige aufsetzen … «

»Entschuldige, Eva, wirklich! Ich … ich hätte dich nicht so angehen dürfen.«

»Du hast es ja nicht gewusst, Kleine. Übrigens: Ich war heute auf der Bank und hab dir was überwiesen. Ich weiß, es ist Wasser auf die Mühlen, du hast mehr als genug. Aber kauf dir trotzdem was Nettes, hörst du? Ohrringe aus Platin vielleicht. Den Fehler habe ich immer gemacht: mir nichts Richtiges gegönnt. Und noch etwas: Ich lehne Besuche ab, auch im Sanatorium. Du kannst mich anrufen, Liebes, jederzeit, aber ich will niemanden sehen! Hörst du: Niemanden!«

Bernadette schluckte. »Vater hat auf Krankenbesuche auch immer allergisch reagiert. Das kenne ich.«

»Stimmt genau. Wir sind von einem Stamm. Und jetzt Kopf hoch, sei brav und grüß mir deinen Yohann herzlich. Einen Franzosen sucht sich meine Kleine aus! Oh, là, là, Bernadette, das hätte ich auch machen sollen, als ich noch jung war. Ist er in deiner Nähe? Spreche ich etwa zu laut? Ah, ich muss weiter, mein Taxi! Küsschen!«

»Yohann kommt erst in einer Viertelstunde«, sagte Bernadette irgendwie beklommen, doch da hatte Eva schon aufgelegt.

… Yohann reagierte betroffen, als er von Evas Erkrankung hörte. »Ich sage nicht, dass es herzlos ist, dass du in dieser Situation nach Frankreich fahren willst. Aber was soll ich tun, wenn deiner Tante während deiner Abwesenheit etwas zustößt?«

Bernadette fasste nach seiner Hand. »Sie wird doch wohl meine Telefonnummer in der Klinik angeben! Außerdem bin ich nicht aus der Welt, Yohann. Wir nehmen uns einen Mietwagen, da kann ich die Reise jederzeit abbrechen.«

»Konntest du sie denn heute erreichen? Jenna, meine ich.«

»Ja, natürlich! Sie erwartet mich am Mittwoch in Perpignan, schrieb sie, direkt im Flughafen. Am Abend feiern wir dann meinen Geburtstag nach.« Bernadette zwinkerte Yohann zu. »Irgendwo unten am Meer und mit Hummer und Champagner.« Sie lachte auf. »Typisch Jen, das verrückte Huhn …«

»Weiß dein Bruder von eurer Reise?« Yohann massierte sich den Nacken.

Bernadette merkte auf. »Enzo? Warum? Nein, das glaube ich nicht.«

»Also ist es zwischen den beiden endgültig aus?«

»Beruflich arbeiten sie noch zusammen.«

Yohann schenkte sich vom Wein nach. »Honi soit qui mal y pense!«

Bernadette stutzte. »Wieso sagst du das, in diesem Zusammenhang?«

»Nun, wenn man die Arbeit über die Liebe stellt? Findest du nicht, dass das … pathologisch für Archäologen ist?«

»Quatsch. Mit Vernunft ist alles möglich«, antwortete sie ausweichend. Sie stand auf, um das Geschirr abzutragen. Sie gab es nicht zu, aber sie war verärgert.

»Und natürlich mit Geld«, setzte Yohann nach.

Sie blieb stehen, runzelte die Stirn. »Sag mal, worauf läuft unser Gespräch eigentlich hinaus? Stört es dich etwa, dass Enzo Jennas Forschungen finanziert, obwohl sie privat getrennte Wege gehen?«

»Im Grunde nicht. Ich frage mich bloß, wie sich das dein Bruder auf Dauer leisten kann.«

»Er kann, Yohann, er kann.« Bernadette seufzte schwer, setzte sich dann aber wieder zu ihm an den Tisch. »Ich hab dir das nie erzählt, doch Enzo ging absolut nicht leer aus, als unser Vater starb. Aber was ist schon Geld ohne richtige Aufgabe, ohne Arbeit?«

»Du schaust gerade drein wie meine Mutter, wenn ich mit schlechten Noten nach Hause kam.« Yohann drehte sich um, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernsehapparat ein.

KAPITEL 4

Astarte

Bernadette

Endlich Mittwoch. Nach zwei arbeitsreichen Tagen im Museum (ihre Abhandlung über den phönizischen Tempel der Astarte in Cádiz) war es soweit – und Yohann, dessen Laune sich längst wieder gebessert hatte, ließ es sich nicht nehmen, Bernadette zum Flughafen zu fahren. Beim Abschied im Terminal presste er sie fest an sich und schärfte ihr ein, jeden Abend anzurufen. »Egal, wie spät es wird, ma puce! Und gib auf dich acht. Mon Dieu, ich vermisse dich schon jetzt!« Sanft zeichnete er mit dem Daumen die Umrisse ihrer Oberlippe nach, dann wollte er, wie in der Nacht zuvor, als sie miteinander geschlafen hatten, gar nicht mehr aufhören, sie zu küssen. »Je t’aime!«, flüsterte er während des Atemholens. »Je t’aime!«

Obwohl sie anderen Reisenden im Wege standen und es Blicke und Gemurre gab, trennte sich Bernadette nur widerstrebend von ihm. So sehr Yohann mit seiner ausgeprägten Hybris sie manchmal irritierte und seine Worte sie manchmal traurig oder wütend machten, so sehr genoss sie sein animalisches Temperament – sogar in der Öffentlichkeit. Auch sie wünschte ihm einen guten Flug für morgen.

Im Boardingbereich suchte sie sich eine abseits gelegene Ecke, um sich zu beruhigen und Jenna per SMS von ihrem bevorstehenden Abflug zu informieren. Dann steckte sie nervös das Handy weg, betrat viel zu früh die Abflughalle und nahm nach einigem Zögern in einem der bequemen Schalensessel Platz. Bis zum Aufruf des Flugzeugs war noch Zeit … Sie dachte an Jenna. An Perpignan. Doch in ihrem Kopf steckte noch immer Yohann: Honi soit … Ein Schuft, wer Böses darüber denkt?