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Ein herrlicher Sommer hat in Lübeck Einzug gehalten, als Hauptkommissar Knutsen zum Beidendorfer See gerufen wird. Passanten haben dort eine Frauenleiche entdeckt. Währenddessen gibt es in Margreta Mais Gartenlokal Radieschenheim nur ein Thema: Salbei! Margreta kocht mit ihm und versucht ihn sogar mit Pinsel und Farbe auf die Leinwand zu bannen. Als die Ermittlungen jedoch einen Ehestreit zwischen ihrer Tochter Marjolein und Knutsens Sohn Ole auslösen, kann Margreta sich nicht länger aus dem Fall heraushalten.
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Seitenzahl: 306
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Meta Friedrich
Salbeirausch
Der 2. Fall für Margreta Mai und Kommissar Jan Knutsen
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von:
© VICUSCHKA / photocase.de
ISBN 978-3-8392-5268-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Margreta Mai überhörte das Knurren. Vielleicht, weil sie ihren Dreibeinhocker zum Knarzen brachte, während sie sich millimeterweise auf seiner ledernen Sitzfläche nach vorn beugte. Vielleicht, weil ihre Aufmerksamkeit ganz allein dem Wilden Salbei gehörte, der zu ihren Füßen wuchs. Sie starrte bereits minutenlang darauf und konnte sich dennoch nicht sattsehen.
»Welch ein Meisterwerk!«, murmelte sie, als es der vorbeifahrende Zug aus Ratzeburg schaffte, sie aus ihrer Konzentration zu reißen. Sie war noch ganz betört vom ausgiebigen Studium von Form und Farbe des Salvia pratensis, als sie sich auf ihrem Dreibeinhocker aufrichtete und das Kreuz weit durchstreckte. Sie blinzelte ein paar Mal in den Lübecker Sommerhimmel, bevor sie ihren Blick wieder senkte.
Erst jetzt nahm sie den Hund wahr. Er kam direkt auf sie zugestürzt.
Sie zuckte reflexartig zurück. Ihr Dreibeinhocker klappte zusammen. Margreta landete rücklings im Wiesengras.
Der Skizzenblock, der auf ihrem Schoß gelegen hatte, flog hoch in die Luft und knallte mit einer Ecke hart auf ihren Oberarm.
Sie rappelte sich hoch, sah zum Hund. Er war angeleint. Zum Glück. Der Hund sprang immer wieder in sein Halsband. Mit breiter Brust und wütendem Gebell versuchte er, zu Margreta zu kommen.
»Verdammt!«, entfuhr es Margreta.
Sie konnte nicht glauben, was ihr passierte. Sie war noch nie Opfer eines Hundeangriffs geworden. Sie, die sich rühmte, von einem Hund noch nicht einmal angebellt worden zu sein!
Im Gegenteil, bislang hatte sie fest daran geglaubt, eine magische Wirkung auf des Menschen besten Freund zu haben. Es gab bisher keinen, der sie nicht schwanzwedelnd begrüßt hatte, ob sie ihn nun kannte oder nicht.
Dieser Hund sollte sie an diesem herrlichen Sommertag eines Besseren belehren!
Es war nur etwa eine Stunde her, als Margreta ihren alten Golf durch die Siedlungsstraßen rechtsseitig der Vorrader Straße gelenkt hatte, um zu einem besonderen Wiesenblumenstreifen am Fußweg zur Berliner Allee zu gelangen. Er lag gleich hinter den Bahngleisen neben einer eingewachsenen Wiese.
Sie hatte den Tipp von einer der Kleingärtnerinnen bekommen, die sich in Lübeck für die Pflanzung von Wiesenblumen an öffentlichen Plätzen starkmachte. »Das ist ganz wichtig für unsere Artenvielfalt!«, hatte sie betont, und Margreta hatte ihr Engagement bewundert.
Neugierig wurde sie erst, als sie hörte, dass unter den ausgesäten Wiesenblumen auch der Wilde Salbei wuchs, ein für Schleswig-Holstein untypisches Wiesenkraut, für Margreta ein altbekanntes. Denn wie im übrigen Deutschland war es auch in Hessen weitverbreitet. Und dort hatte Margreta die ersten 30 Jahre ihres Lebens verbracht.
Margreta hatte aus zweierlei Gründen Interesse am Artverwandten das Gartensalbeis. Zum einen war sie in diesem Sommer sowieso ganz auf den Salbei gekommen: Sowohl in der Küche als auch bei der Neugestaltung ihres Kräutergartens spielten verschiedenste der unzähligen Salvia-Arten eine Rolle.
Zum anderen suchte sie eine ganz besondere Blüte für den Sommermalkurs »Blühende Landschaften« der Kunstschule, zu dem sie sich in diesem Jahr angemeldet hatte. Warum den Salbei nicht auch auf die Leinwand bringen, hatte sie sich schon in ihrem Garten gedacht. Als sie von der wild wachsenden Sorte gehört hatte, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie erinnerte sich an deren wunderschöne Blüte. Und sie hatte sie auf Anhieb wiedererkannt. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar entdeckte sie neben einem Trampelpfad, der an dieser Stelle Zugang zur ansonsten eingezäunten Wiese bot und zu einem baufälligen Schuppen führte. Dieser rottete im Schatten einer Eiche vor sich hin.
Nun stand sie neben dieser prächtigen Blüte und hatte keine Zeit für sie, denn sie musste ihre Haut retten.
Zum Glück ist er angeleint, dachte Margreta. Sie hoffte, das Mädchen hinter ihm hatte ihn im Griff. Er war nicht allzu groß. Beste Straßenmischung. Sein Fell war grau und braun gescheckt. Sein Bellen und Knurren ging Margreta durch Mark und Bein.
»Nun nimm den Hund endlich weg!«, befahl sie dem Mädchen, das mit erschrockenem Gesichtsausdruck am anderen Ende der Leine hing.
Es versuchte zwar, sich mit aller Kraft in den Boden zu stemmen, um den Hund am Vorpreschen zu hindern, dennoch kam die wütende Bestie Stück für Stück näher.
»Entschuldigung«, rief das Mädchen. »Günni! Jetzt komm her!«
Margreta schluckte. Mit dem dünnen Stimmchen konnte es den Hund kaum zur Räson bringen. Und dann hieß er auch noch Günni! Wer kam auf die Idee, einem Hund den Namen Günni zu geben?
»Günni!« rief Margreta. Sie musste dem Kläffer selbst Respekt einflößen.
Doch Günni machte unbeirrt weiter.
»Hast du den Hund neu?«, fragte Margreta.
»Ja«, antwortete das verängstigte Mädchen, das nun auch noch anfing zu heulen. Dabei wurde es gleich noch einmal ein ganzes Stück nach vorn gezogen. »Er ist aus dem Tierheim.«
»Hmm«, machte Margreta, während sie sich bückte, um Zeichenblock und Dreibeinhocker in ihre Tragetasche zu werfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Günni sie erreicht hatte. Zudem befürchtete sie, dass sich der Hund losreißen könnte. »Ich nehme an, ihr lernt euch gerade kennen?«, fragte sie.
»Hmm«, machte das Mädchen, was Margreta ein »Ich habe es befürchtet« entlockte.
»Du musst ihn ganz kurz nehmen!«, wurde Margreta nun lauter, während sie sich hektisch umsah. Sie musste ihre Fluchtmöglichkeiten einschätzen. Würde sich der Hund losreißen, wäre jedes Weglaufen sinnlos. Günni hätte sie schnell wieder eingeholt. Sie sah zum Schuppen. Wenn sie Glück hatte, konnte sie dort Zuflucht finden.
»Ich … ich kann nichts tun. Er ist zu stark.«
Zu stark! War das kleine Würstchen Günni etwa mit Superkräften ausgestattet? Margreta stieß genervt die Luft aus. Dennoch musste sie dem Mädchen recht geben. Besser, sie verließ sich nicht auf seine Kräfte.
Margreta entdeckte einen Stock im Gras. Sie hob ihn auf.
Der Hund verstärkte sein Knurren.
»Sie wollen Günni schlagen?«, rief das Mädchen erschrocken. »Er ist wirklich ganz lieb!«
»Ganz lieb?« Die Äußerung des Mädchens entlockte Margreta ein Auflachen. »Dann meine ich aber, dass Günni sich heute ganz besonders gut verstellt! Wie heißt du überhaupt?«, fragte sie und hob den Stock in die Luft.
»Lisbeth«, antwortete das Mädchen.
Margreta nickte, während sie weiter auf den wütenden Günni starrte.
»Lisbeth, pass auf! Ich werfe den Stock gleich in deine Richtung. Mit Glück wird Günni davon für einen Moment abgelenkt. Dann ziehst du, so fest du kannst!«
»Ist gut«, sagte Lisbeth. Margreta sah, dass sie versuchte, sich breitbeinig hinzustellen.
Margreta bückte sich und ließ den Stock kreisen. Günni bellte noch wütender. Dann warf Margreta den Stock über die beiden hinweg.
Günni zuckte zusammen und hörte damit tatsächlich für einen Moment auf zu ziehen. Lisbeths Kraft reichte nun aus, Günni ein Stück zurückzuziehen.
Margreta ergriff die Chance und lief auf den Trampelpfad Richtung Schuppen. Auf der Vorderseite war ein Doppeltor eingelassen. Da dort ein dickes Vorhängeschloss hing, ließ sie es rechts liegen. Auf der Rückseite gab es eine Tür. Sie drückte den Eisengriff herunter. Der Riegel, der darüber lag, war bereits zurückgeschoben. Leider ließ sich die Tür nicht öffnen.
»Mist!«, entfuhr es Margreta. Sie rüttelte noch einmal. Schließlich gab sie auf.
Gleichzeitig bemerkte sie, dass ihr Rettungsmanöver offenbar geglückt war. Sie hörte Günni noch kläffen, doch er wurde immer leiser. Lisbeth hatte ihn wieder in den Griff bekommen. Margreta wartete ein Weilchen, dann wagte sie sich zurück auf den Fußweg.
»Du malst?«, fragte Hauptkommissar Jan Knutsen noch am gleichen Abend. Er wirkte überrascht. Für diese Frage hatte er sogar seine akribische Suche nach jedem noch so kleinen Stück Paprika in Margretas Gulasch unterbrochen. Seine Gabel ließ er in seine bisherigen Fundstücke sinken, die er an den Tellerrand geschoben hatte.
Margreta hatte ihre Tochter Marjolein und deren Mann Ole zu einem Abendessen ins »Radieschenheim« eingeladen. Hauptkommissar Knutsen war einfach mitgekommen. Unangekündigt.
Als Schwiegervater von Marjolein sah er es als selbstverständlich an, dass er nicht fragen musste. Margreta hätte damit leben können, dass er sich selbst einlud, würde er nicht ständig an ihren Kochkünsten herumnörgeln. Für seinen Geschmack verwendete sie entschieden zu viel »Grööntüch« im Essen. Und dies ließ er sie regelmäßig wissen.
»Ja, ich male! Was dagegen?« Margreta sah ihn angriffslustig an.
»Nein, nein«, beschwichtigte dieser. »Um Gottes willen!« Er stocherte schon wieder im Essen herum. »Ich habe es nur nicht gewusst.«
»Mama hat sich zu einem Kunstkurs angemeldet. ›Blühende Landschaften‹«, erklärte Marjolein.
Knutsen hüstelte.
»Was?«, fragte Margreta scharf in seine Richtung.
»Na ja, besser auf der Leinwand als im Kochtopf!«, sagte er grinsend, während er sein Gulasch weiter untersuchte.
»Papa! Du kannst es echt nicht lassen!« Ole schüttelte den Kopf, während Marjolein die Augen verdrehte.
»Was denn?« Knutsen blickte unschuldig auf. »Sie hat nachgefragt!« Dann fasste er in seine Hemdtasche, zog eine Lesebrille heraus und setzte sie sich auf die Nase. Als er sich wieder über den Teller gebeugt hatte, schrie er schon bald »Ha!« und schob mit der Gabel einen weiteren Paprikaschnipsel aus der Soße.
»Paprika sind nicht giftig!« Margreta wollte Knutsens Tellerstocherei eigentlich ignorieren. Doch was zu viel war, war zu viel. Sie funkelte ihn böse an.
»Für mich schon!«, verteidigte sich Knutsen. »Ich habe danach immer so ein Ziehen im Bauch.«
»Pure Einbildung!«, entgegnete Margreta.
»Wie kann ich mir Bauchschmerzen einbilden?«
»Wenn du Bauchschmerzen hast, solltest du von diesem Salbeieistee trinken.« Sie schob ihm die Karaffe mit dem eiswürfelgekühlten goldfarbenen Getränk hinüber.
»Ich bin doch nicht verrückt!«, sagte er und schob sie mit angewiderter Miene zurück. »Salbei macht Magenschmerzen!«
»Aber nicht in dieser Menge! Du bist einfach krüsch, das ist alles.«
»Papa!«, sagte Ole.
»Mama!«, sagte Marjolein.
»Ist ja schon gut!«, kam es fast gleichzeitig aus den Mündern von Margreta und Knutsen.
»Erzähl lieber von deinem Malkurs, Mama. Mich interessiert das wirklich.« Marjolein angelte nach dem Salbeieistee.
»Was soll ich denn da erzählen?«, fragte Margreta und schob ihn ihr hinüber.
»Was macht ihr? Wer ist dein Lehrer?«
»Mein Lehrer?« Margretas Augen begannen augenblicklich zu leuchten. »Hans Junker natürlich!«
Niemand reagierte.
»Ihr kennt Hans Junker nicht?« Margreta sah entsetzt in die Runde.
»Nein«, kam es von Ole und Marjolein.
»Wüsste nicht, warum ich den kennen sollte. Oder hat er sich in meiner Verbrecherkartei verewigt?« Der Hauptkommissar grinste.
Margreta zog eine Schnute. »Banausen!«
Knutsen grinste. »Wer ist er denn nun, dein Mallehrer? Ist er berühmt?«
»Oh ja!« sagte Margreta und sah bedeutend in die Runde. »Er ist ein großartiger Künstler mit internationalem Ruf. Er wurde mit dem renommierten Lemaire-Preis ausgezeichnet!«
Ole und Kommissar Knutsen sahen sich an und zuckten mit den Schultern.
Marjolein hingegen schien der Name etwas zu sagen. »Der Lemaire-Preisträger? Bei dem hast du den Kurs belegt? Er ist gerade Gesprächsthema Nummer eins bei uns im Lehrerzimmer, weil unsere Rektorin ihn für einen Vortrag an unserer Schule verpflichten konnte. Seinetwegen hatte die Dutt-Winter den Termin mit mir am Freitag abgesagt.«
»Na, wenn seine Kunstfertigkeiten für deinen Grundschulunterricht von Vorteil sind, kann es mit ihm ja nicht weit her sein.« Knutsen lehnte sich zurück, strich sich über seinen vollen Bauch und grinste.
»Aber klar, Jan. Deine vielseitigen Erfahrungen helfen dir ja genauso in deinem Beruf, auch einen leichten Fall schnell aufzulösen«, erklärte Marjolein mit ihrer üblichen Engelsgeduld gegenüber ihrem Schwiegervater. »Selbst wenn es während des Vortrags nicht um Methoden für den Kunstunterricht geht: Warum sollten die Tricks eines großen Künstlers nicht hilfreich sein, den Kleinsten die Kunst schmackhaft zu machen? Oder den Benachteiligten? Die Schulung befasst sich mit dem Thema, wie Kunst als Interdisziplin im schulischen Alltag bei Lernbehinderungen positiv eingesetzt werden kann.«
»Das klingt interessant«, sagte Ole.
»Na, wenn der Künstler sich damit auskennt«, sagte Knutsen, und es klang, als würde er es bezweifeln. Er griff zu seinem Handy und sah kurz drauf, legte es aber gleich wieder weg. Offensichtlich gab es nichts Spannendes darauf zu sehen.
Margreta legte ihr Besteck auf den Teller. »Da musst du unbedingt hingehen, Marjolein!«
»Ja, habe ich mir auch schon überlegt«, sagte die und nickte.
»Und was macht ihr in eurem Kurs? Auch so was Theoretisches?«, fragte Ole. Er füllte sich einen Löffel voll Bohnen auf seinen Teller, was Margreta wohlwollend zur Kenntnis nahm.
»Unter dem Oberbegriff ›Blühende Landschaften‹ malen wir Ausschnitte von Blüten, um ihren Ausdruck zu studieren.«
Knutsen bedachte Margreta mit einem Blick, als hätte sie erzählt, sie würde neuerdings in der Badewanne übernachten.
»Es geht um die Ausdruckskraft des Schwunges, um genau zu sein. Die Blüten dienen uns als Beispiel aus der Natur.«
»Wow!«, sagte Marjolein. »Das hört sich wirklich toll an.«
»Malt ihr in der Natur oder habt ihr Vorlagen?«, fragte Ole, der nun ebenfalls sein Besteck beiseitelegte.
»Tja, das ist so eine Sache«, sagte Margreta. »Junker hält allein das Original für eine optimale Vorlage. Da der Kurs jedoch abends stattfindet, können wir nicht rausgehen. Deshalb möchte Junker, dass jeder seine Blüte außerhalb des Kurses in der Natur studiert. Wir sollen Skizzen anfertigen. Und dann während der Stunde mit Fotos der Blüten arbeiten. Ein Kompromiss. Anders geht es nicht.«
In dem Moment meldete sich Knutsens Handy. Und während er danach griff, sah er zu Margreta. »Bin gespannt, welches Unkraut du auf deiner Leinwand verewigst!«
Dann nahm er den Anruf entgegen. »Ja, was gibt’s, Magnus?« Knutsen kam bei seinem Kollegen Fink wie gewohnt direkt zur Sache. Lange Begrüßungsfloskeln waren nicht seine Art.
»Wo, sagst du? In Beidendorf? Am See? Ich komme sofort!«
Alle hatten aufgehorcht, als sie Knutsen vom Klempauer Hofsee sprechen hörten. Der See war in Lübeck besser unter dem Namen Beidendorfer See bekannt. Es war ein beliebter Badesee im Sommer. In einem abgetrennten Bereich hatte ein Angelverein sein Zuhause. Was Margreta, Marjolein und Ole jedoch in Aufruhr versetzte, war, dass Beidendorf der Nachbarort von Wulfsdorf war, dem Zuhause von Margreta.
»Ich bin gerade im ›Radieschenheim‹ und gleich da!«, sagte Knutsen, beendete das Gespräch und stand auf. »Ihr entschuldigt mich, die Pflicht ruft«, informierte er Margreta, Marjolein und Ole und wandte sich Richtung Ausgang. »Und danke fürs Essen, Margreta«, rief er, als er schon halb zur Tür hinaus war. »Ich hoffe, ich habe heute nicht Pech und du hast einen Nachtisch ohne Hokuspokus vorbereitet.«
Margreta überhörte die Stichelei. »Was ist am Beidendorfer See?«
»Angler haben eine Leiche im Wasser gefunden.« Die Tür fiel ins Schloss.
»Oh nein!«, flüsterte Margreta.
»Da baden so viele Kinder!«, rief Marjolein entsetzt aus.
Ole nahm seine Frau in den Arm.
Als Margreta am nächsten Morgen auf der Gästeterrasse des »Radieschenheims« stand und den Tau von den Sitzgruppen abwischte, kündigte sich Grete Siebenhus durch das leise Klimpern ihrer Armreife an.
»Guten Morgen, Frau Siebenhus!«, grüßte Margreta, während sie ihren Lappen über einen eingetrockneten Kaffeefleck kreisen ließ.
»Tach, Frau Mai!« Grete Siebenhus ließ sich vor Margreta auf die Bank plumpsen und streifte ihre Holzpantoletten von den nackten Füßen. Die glitzernden Pailletten, die auf ihrem olivgrünen Flattershirt in geschwungener Schrift das Wort »wild« bildeten, hatten exakt den gleichen Orangeton wie der Nagellack an ihren Händen und Füßen. »Hast du schon gehört? Die Rektorin der Vogelsangschule ist tot!«
Margreta erschrak. Marjolein machte gerade ihr Referendariat an der Grund- und Gemeinschaftsschule am Vogelsang. »Oh nein!«, sagte sie mitfühlend und hob den Lappen vom Tisch.
Die Rentnerin versuchte, eine ihrer herabhängenden silbernen Haarsträhnen zurück in ihre lockere Hochsteckfrisur zu schieben.
»Meine Nachbarin hat es mir erzählt«, sagte Grete Siebenhus, während sie weiter an ihren Haaren herumfummelte. »Sie weiß es von einer Freundin.«
»Und die kennt die Rektorin?«, fragte Margreta interessiert.
»Neeein«, entgegnete Grete Siebenhus. »Die Freundin kennt einen Arbeitskollegen ihres Cousins, der einen Sohn hat.« Grete Siebenhus ließ die Hände sinken und sah ratlos vor sich hin. »Oder war es eine Tochter?«
Margreta zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder dem Wischen des Tisches.
»Doch, es war eine Tochter!« Grete Siebenhus stieß Margreta mit dem Fuß an. »Jetzt weiß ich es wieder, sie hatte so einen komischen Namen. Pumilla, oder so. Ich frage meine Nachbarin noch mal.«
»Pumilla war demnach mit der Rektorin bekannt?« Margreta versuchte, Grete Siebenhus wieder auf das Thema zu bringen.
»Mit der Rektorin? Aber wie kommst du denn darauf, Frau Mai?« Die Rentnerin sah Margreta an, als sei sie verrückt geworden. »Nein! Pumillas Freundin war bei der Friseuse in der Kahlhorststraße. Du weißt schon, der Salon, in dem die Chefin noch selbst schneidet.«
»Aha!«, sagte Margreta, die langsam das Interesse an der Geschichte verlor. Grete Siebenhus war dafür bekannt, dass sie sich in ihren Erzählungen verfranzte.
Margreta sah auf die Uhr. Sie musste sich beeilen, wollte sie den Salat noch vor dem Eintreffen der Mittagsgäste ernten. Für die Vorbereitungen sollte sie schon bald wieder in der Küche sein.
»Jedenfalls hat die Freundin neben einer Frau gesessen, die gesagt hat, dass die Rektorin tot ist.« Grete Siebenhus fing erneut an, an ihrer Frisur herumzuzupfen. Und je mehr sie es tat, desto mehr Haarsträhnen fielen heraus. »Also, ich stelle es mir ganz schlimm vor, im Schwimmunterricht zu ertrinken!«
»Im Schwimmunterricht? Oh mein Gott. Die armen Kinder!« Margreta schlug sich vor Entsetzen eine Hand vor den Mund.
»Wieso Kinder, Frau Mai?« Grete Siebenhus ließ ihre Haare und zog ihre grün getönte Hornsonnenbrille, die aus der Zeit stammen musste, in der »Ein Bett im Kornfeld« gerade die Hitliste der Schlagerparade erstürmt hatte, nach vorn auf die Nasenspitze und sah Margreta verwundert an. »Von Kindern hat meine Nachbarin nichts erzählt.«
»Ich dachte nur, weil Sie Schwimmunterricht sagten.«
Grete Siebenhus schob die Brille wieder zurück. »Ach so! Das hast du falsch verstanden, Frau Mai. Ich habe dir nur gesagt, dass sie da tot gefunden wurde.« Nun besah sie mit kritischem Blick ihre orange lackierten Fingernägel. »Aber gut, dass du gefragt hast. Man weiß ja, wie schnell Gerüchte entstehen!«
»Das ist wahr«, sagte Margreta und musste aufpassen, dass sie bei all dem Ernst der Geschichte nicht lachen musste.
»Also, meine Nachbarin und ich denken, sie wird einen Herzinfarkt gehabt haben«, fuhr Grete Siebenhus fort, während sie ihr Flattershirt lüftete. »Die Hitze diese Woche macht ja vielen zu schaffen!« Sie seufzte. »Und so jung war sie schließlich auch nicht mehr. Und dann noch die ganze Belastung als Rektorin. Als Frau, wenn du weißt, was ich meine, Frau Mai!« Grete Siebenhus schüttelte besorgt den Kopf, als könnte sie nicht verstehen, wie ein Mensch all das überhaupt ertragen sollte. Sie kratzte sich am Nasenflügel. »Und gemocht haben soll sie auch keiner, hat meine Nachbarin gesagt.« Dann sah sie zu Margreta.
Als diese nicht sofort auf das Ende ihrer Geschichte reagierte, beugte sie sich über den Tisch Margreta entgegen. »Geht es dir gut, Frau Mai?«
»Ja, natürlich!«, antwortete Margreta. »Eine merkwürdige Geschichte, wenn sie wahr ist.«
»Natürlich ist sie wahr!« Grete Siebenhus richtete sich empört auf. »Ich kann da meiner Nachbarin voll und ganz vertrauen!«
Margreta sah auf die Uhr. »Vielen Dank jedenfalls dafür, dass Sie mir das erzählt haben. Nur jetzt müsste ich weiter. Ich habe noch eine Menge zu tun, bis ich das Lokal öffne.«
»Ach Gott, ja, ich auch, Frau Mai!«, Grete Siebenhus rutschte in ihre Holzpantoletten und stand auf. »Wenn ich daran denke, was ich noch alles auf meinem Zettel stehen habe!«
Und eine Hand in die Luft erhoben, winkte sie Margreta zu, während sie von der Terrasse auf den Zibbelsring watschelte. Ihre Armreife klimperten noch, als Margreta sie schon nicht mehr sehen konnte.
Wenig später stand Margreta mit der Nase dicht über die Salatköpfe in ihrem Hochbeet gebeugt. Sie war auf der Suche nach Schneckenschleim und Schneckenfraß, konnte jedoch keinen finden.
»Slavek, du bist ja wirklich Gold wert«, murmelte sie, als sie sich wieder aufrichtete und zufrieden auf die prall wachsenden Köpfe blickte.
Slavek, der polnische Gärtner von Frau Steenkamp, hatte ihr das Hochbeet am letzten Montag neu angelegt, kurz nachdem Margreta bei Frau Steenkamp über ihre Schneckenplage geschimpft hatte. Diese baute zwar kein Gemüse an, hatte aber Margreta versprochen, ihren Slavek um Rat zu fragen.
»Nixe Schnecken mehr, Frau Mai! Schnecke möge keine Kupfer!«, hatte der mit breitem Grinsen und strahlenden Augen versprochen, während er ihr mit dem Prospekt des Hochbeetbausatzes »Schneckweg« vor der Nase herumgefuchtelt hatte.
Zufrieden nahm Margreta ihr Erntemesser aus dem Korb und drückte auf den Salatköpfen herum. So konnte sie die herausfinden, die sich fest anfühlten. Von diesen schnitt sie die größten dicht über der Erde ab.
Nachdem sie auch Pflücksalat und Endivie geerntet hatte, wagte sie einen vorsichtigen Blick hinter die Fliederbeerbüsche in den unteren Teil des Gartens, in dem auch ihr Kräuterbeet lag. Vorsichtig deshalb, weil sie das Bild des ehemaligen zweiten Vorsitzenden, wie er vor wenigen Monaten erst tot in ihrem Kräuterbeet gelegen hatte, wohl nie vergessen würde. Sie tauschte ihr ungutes Gefühl gegen ihre Neugier, als sie drei hingestellte Pflanztöpfe am Rande des Beetes entdeckte.
Slavek war wirklich sehr eifrig. Sie hatte den Wunsch nach mehr Salbeisorten nur erwähnt, und nun hatte er ihr bereits drei mitgebracht. Den Purpursalbei erkannte sie sofort an seiner teils violetten Blattfarbe. Auf dem Etikett des zweiten, grün belaubten las sie, dass es sich um die Sorte Ananassalbei handelte. Sie rieb ein wenig an einem der Blätter und sog anschließend an ihren Fingern den süßlichen Ananasgeruch ein. Der dritte Salbei mit den weiß-grün-rosa gescheckten Blättern musste die Sorte Tricolor sein, mutmaßte sie, und das Etikett verriet ihr, dass sie recht hatte.
Margreta freute sich sehr über die neuen Pflanzen, dennoch wusste sie, dass sie Slavek ein wenig bremsen musste. Sie hatte ihm erlaubt, ihr ein wenig zur Hand zu gehen, und konnte seine Hilfe auch gut gebrauchen. Insbesondere jetzt, da sie sich für den Malkurs bei Hans Junker angemeldet hatte. Sie merkte, dass er seine Chance nutzen wollte, um ihr zu beweisen, welch gute Arbeit er zu leisten imstande war. Das Problem war, dass Margreta auf Dauer keinen Gärtner bezahlen konnte und wollte. Was sollte sie tun? Er war wirklich ein Pfundskerl!
Sie dachte noch daran, als sie später mit ihrem Auto in die Ratzeburger Allee zum Malkurs fuhr. Von Zeit zu Zeit roch sie dabei an ihren immer noch so herrlich nach Ananas duftenden Fingern.
»Meine Liebe, meine Liebe! Nein, nein, nein! So wird das nichts. So wird deine Blüte nie zu wahrer Pracht erblühen, sondern nur ein ordinäres Abbild bleiben!«
Margreta sah zwischen dem renommierten Maler und ihrem Bild hin und her und seufzte.
»Erkennst du denn nicht, dass deine Linien nicht dem richtigen Schwung folgen? Du musst den Radianten der natürlichen Form erspüren, nur dann kann deine Blüte lebendig werden!«
Margreta trat einen Schritt von ihrer Leinwand zurück und wischte sich über ihre verschwitzte Stirn. Die Hitze des Tages hatte sich in dem Atelier der Kunstschule angestaut. Und da kein Lüftchen wehte, halfen auch die geöffneten Fenster nicht.
Hans Junker hatte ja recht. Der Salbei auf ihrem Blatt, das sie auf die Leinwand geklebt hatte und auf dem sie heute die Blütenschwünge üben sollte, war alles andere als lebendig. Sie fand zwar, dass er nicht so schlecht aussah, wie ihr Kunstlehrer tat, aber sie musste zugeben, er war nichts im Vergleich zu dem echten.
»Ich weiß nicht mehr, was ich noch verbessern soll«, stöhnte Margreta.
»Dann fangen Sie von vorne an«, sagte Hans Junker und setzte seine Sonnenbrille auf, die an einem langen Band vor seiner Brust gebaumelt hatte.
Gunnar vom Kunstkreis »Rotblaumond« warf Margreta einen mitfühlenden Blick zu. Er wartete neben seiner Staffelei, bereit, sich seinen eigenen Kommentar von Junker abzuholen.
»Ganz von vorne?«, fragte Margreta sicherheitshalber nach.
»Haben Sie je den Drang verspürt, eine echte Blüte besser machen zu wollen?«
Margreta dachte an die vielen auseinandergezogenen Blüten, die ihre Gäste ihr manchmal in den Vasen zurückließen. »Okay, ich verstehe«, sagte sie nachdenklich.
»Eben! Jede Blüte ist zwar anders, aber immer perfekt. Selbst die, die wir als fehlerhaft ansehen. Sie sind alle ein Wunderwerk, ausladend in ihrer Form ohne jede Einschränkung. Nach diesem Vorbild wollen wir unsere Blüten auch auf die Leinwand bringen. Perfekt und einzigartig.«
Sie bemerkte, wie er rücklings in den Gürtel griff und seine Hose hochzog, die ihm über den schmalen Hintern zu rutschen drohte. Dann riss sie ihr Blatt vom Block und begann von Neuem.
Wenn sie eines in den zwei Stunden ihres Sommermalkurses bereits gelernt hatte, dann, dass Hans Junker ein gnadenloser Lehrer war. »Entweder ihr wollt, oder ihr wollt nicht. Ein Dazwischen gibt es bei mir nicht. Wer da nicht mit mir d’accord geht, kann seine Staffelei räumen!«
Mit Junker über sein Urteil zu diskutieren, das schien unmöglich. Er war ein ganz besonderer Lehrer, entschuldigte Margreta seine Strenge.
Für Margreta war klar, dass sie wollte. Sie hatte all die Jahre, in denen ihre Leinwand aus Platzgründen erst im Frankfurter und anschließend im Lübecker Kellerverschlag eingemottet stand, vergessen, was ihr das Malen einmal bedeutet hatte. Es konnte sie berauschen, beflügeln, beruhigen. Alles auf einmal. In ihrem kleinen Häuschen in Wulfsdorf stand ihr der Platz reichlich zur Verfügung, trotzdem hatte sie ihre Malutensilien beim Einzug auf den Dachboden getragen. Jetzt schüttelte Margreta den Kopf über sich.
Ja, Margreta wollte malen! Sie setzte ihren Bleistift auf das unschuldige Blatt, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, mit welcher Kraft sich jedes einzelne Blatt der Salbeiblüte entfaltete.
Die Ankündigung des Kurses »Blühende Landschaften« war ihr beim Durchblättern der Zeitung direkt aufgefallen. Sie hatte zwar mit dem Namen Hans Junker nicht sofort etwas anfangen können. Nach einem kurzen Blick ins Internet aber wusste sie, sie wollte teilnehmen. Ein Lemaire-Kunstpreisträger! Das preisgewürdigte Bild hatte international große Anerkennung erhalten!
Ihre Freundin Valerie, mit der sie ihre Kindertage in einem kleinen Dorf am Rande des hessischen Vogelsbergs verbracht hatte und die ihr als Geschäftspartnerin im »Radieschenheim« half, hatte sie sofort bestärkt. »Du konntest dich früher schon so sehr in deine Malerei vertiefen, dass ich manches Mal Angst hatte, du würdest in deine Bilder hineinfallen. Melde dich bloß an, Margreta! Es wird dir guttun.«
Sie hatte Glück, als sie bei der Kunstschule anrief: Es war gerade jemand abgesprungen. Sie konnte den Platz haben.
Als Margreta ihre Augen wieder öffnete und auf die Leinwand sah, hatte sie mehrere Bögen gemalt. Sie trat einen Schritt zurück, dann wieder vor und zuletzt ganz dicht vor die Leinwand. Nein, das alles hatte nichts mit dem kraftvollen Aufblühen von irgendeinem Ding zu tun, geschweige denn mit dem prächtigen Blütenaufbau ihres Wilden Salbeis. Sie seufzte und sah in die Runde ihrer Mitstreiter. Alle wirkten angespannt und verbissen, während sie ihre Bleistifte über ihre Papierbögen zogen. Dabei wurden sie von Hans Junker umkreist. Seine Augenbrauen standen dabei auf Schlechtwetterstimmung, sodass Margreta befürchtete, die große Falte auf seiner Stirn würde nie mehr verschwinden. Nein, heute schien keiner den Schwung des großen Meisters gefunden zu haben.
Über den Ehrgeiz seiner Schüler brauchte er sich allerdings nicht zu beklagen.
Margreta blickte auf die Wanduhr. Der große Zeiger war nur wenige Minuten vor dem Stundenende angelangt. Also räumte sie ihren Platz auf und ihre Sachen zusammen und wartete, bis auch die anderen so weit waren.
»Gehen wir noch irgendwohin?« fragte der unternehmungslustige Björn, als sie gemeinsam den Raum verließen. Der Vorschlag klang für alle verlockend, jeder konnte eine Erfrischung gebrauchen. Nur Hans Junker entschuldigte sich bei seinen Kursschülern. Seine Zeit in Lübeck sei begrenzt, gab er vor. Zudem müsse er sich auf einen Vortrag konzentrieren, den er in Lübeck halten wollte.
Das Bedauern über seine Absage hielt unter seinen Schülern nur kurz an. Eine Viertelstunde später saßen sie schon vergnügt an einem der Tische vor dem Alten Zollhaus und warteten auf ihre Getränke. Bei Bier, Wein und Wasser unterhielten sie sich über die vergangene Stunde.
»Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll, mit einem Foto zu arbeiten!«, beschwerte sich Filibert, dessen Künstlername Margreta insofern irritierte, als er mit seinen rötlichen Haaren und seinem breiten Kreuz eher wie ein kräftiger Nordmann als ein Franzose aussah. »Ich fand, dass meine Skizze genau der Blutpflaumenblüte auf meinem Foto entsprach!«
»Es stand in der Kursbeschreibung, dass eine Blüte auszusuchen sei, die derzeit in der Natur zu finden ist«, sagte Thorsten und zuckte mit den Schultern. »Wie sagt Junker immer? Sie müssen den richtigen Schwung am Originalobjekt studieren können!«
»Die Blutpflaumenblüte ist nun einmal meine Lieblingsblüte. Warum soll ich etwas malen, was ich nicht mag?« Filibert versenkte seinen roten Oberlippenbart in den weißen Schaum seines Bieres.
»Es gibt im Moment herrliche Blüten! Du brauchst dich nur umzuschauen. Mein Problem ist sein mathematischer Ansatz!«, meinte Levke.
Margretas Gedanken schweiften ab. Sie erinnerte das Gespräch über Filiberts Blutpflaumenblüte an das Pflaumen-Blätterteig-Gebäck, das sie am nächsten Morgen plante zu backen. Gleichzeitig wurmte es sie, dass sie während des Kurses nichts auf der Leinwand zustande gebracht hatte. Sie überlegte, dass sie ein Stündchen des nächsten Vormittags am liebsten dem Wilden Salbei gönnen würde, den sie auf einem künstlich angelegten Wiesenblumenstreifen in der Verlängerung der Rosa-Luxemburg-Straße hinter den Bahngleisen gefunden hatte. Dort könnte sie dem Schwung am Originalobjekt auf die Spur gehen, nahm sie sich vor. Das Pflaumengebäck würde sie heute Abend noch in den Ofen schieben.
Margreta zog ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer vom »Radieschenheim«. Mit etwas Glück war ihre Freundin Valerie noch dort. Sie könnte den Blätterteig aus dem Gefrierfach nehmen, das würde Margreta Zeit sparen. Niemand nahm den Hörer ab. Margreta seufzte und steckte ihr Handy wieder ein.
»Was der immer mit seinem Radianten hat. Ich konnte früher schon kein Mathe leiden«, maulte die hübsche Levke und holte Margreta damit gedanklich in die Runde zurück. »Wenn ich einen Mathekurs hätte machen wollen, hätte ich keinen Malkurs gebucht!«
Margreta hatte die Sache mit dem Radianten auch nicht richtig verstanden und nickte zustimmend in Levkes Richtung.
»Tja, da hat er sich was ausgedacht, unser Lemaire-Preisträger!«, meinte Thorsten und grinste.
»Mich irritiert schon, dass er immer seine Sonnenbrille aufhat«, merkte Levke an.
»So sind sie, die Künstler. Die Sonnenbrille ist sein Markenzeichen, habe ich gehört«, klärte sie Björn auf.
»Und ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass er sie immer trägt, weil seine Lider zucken«, richtete sich Levke auf.
»Wo kann man denn so etwas lesen?«, fragte Gunnar und sah sie zweifelnd an.
Levke zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich jetzt auch nicht mehr!«
»Hat jemand mal das Bild gesehen, mit dem er den Preis gewonnen hat?«, fragte Gunnar weiter und mühte sich, seine stämmigen Beine zu überschlagen. »Es ist wirklich fantastisch!«
»Es ist bestimmt im Internet zu sehen«, meinte Björn und zückte ein Tablet aus seiner bunt gestreiften Umschlagtasche. »Ah, da ist es ja!«, sagte er wenig später und reichte sein Tablet herum, auf dessen Display das preisgekrönte Landschaftsbild erschienen war.
»Ist schon Wahnsinn! Allein in dieser Ansicht. Weiß jemand, ob es in einer Ausstellung hängt?«, fragte Levke. »Dann könnten wir ja mal gemeinsam hinfahren.«
»Warte! Vielleicht steht hier was dazu«, meinte Thorsten, der das Tablet gerade gereicht bekam. Er brauchte nicht zu scrollen, Filibert wusste die Antwort bereits.
»Er hat es bei sich zu Hause! Irgendwo bei Wilhelmshaven. Ich habe ihn in der ersten Stunde gefragt, da ich gehofft hatte, dass wir es uns mal ansehen können.«
»Vielleicht kommt es irgendwann nach Lübeck in eine Ausstellung. Oder zumindest Hamburg.« Björn sah in die Runde. »Wir verabreden uns jetzt schon, dass wir dann gemeinsam hingehen. Wer weiß, wann das sein wird.«
»Ist doch witzig«, meinte Levke. »Vielleicht sind wir dann alle alt und grau.«
Und damit gaben sich alle zufrieden.
Es war spät, als Margreta das letzte Blech mit dem Blätterteiggebäck aus dem Ofen zog, das »Radieschenheim« abschloss und mit ihrem alten Golf schließlich zufrieden, aber hundemüde nach Wulfsdorf fuhr.
Das Taxi in ihrer Einfahrt sah sie erst, als sie selbst einbiegen und in ihre Garage fahren wollte. »Och nee, was ist denn hier los?«, seufzte sie, zog die Handbremse an und stieg aus.
Die Fahrertür des Taxis öffnete sich, und eine Frau mit roten, lockigen Haaren stieg aus. »’n Abend!« rief sie Margreta zu und ging einmal um das Taxi herum, um die Beifahrertür zu öffnen.
»Sie können jetzt aufwachen. Hallo, hören Sie mich? Ihre Nichte ist jetzt da!«
Margreta ging Richtung Taxi. »Ihre Nichte ist da?«, wiederholte sie. »Meinen Sie etwa mich damit?«
Die Taxifahrerin, die sich in der Zwischenzeit zur Beifahrertür hineingebeugt hatte, tauchte wieder auf. »Ob Sie nun ihre Nichte sind oder nicht, das ist mir ehrlich gesagt schietegal. Hauptsache, Sie kümmern sich jetzt mal um die Dame. Ich habe noch was anderes vor.«
Margreta versuchte vergeblich, einen Blick auf den Fahrgast zu werfen. Sie konnte an der rundlichen Figur der Taxifahrerin nicht vorbeisehen.
»Hallo! Wachen Sie auf!«
»Lassen Sie mich mal!«, sagte Margreta.
Die Taxifahrerin machte ihr Platz.
»Ach du meine Güte, Tante Ria!«, entfuhr es Margreta. Auf dem Beifahrersitz saß leibhaftig ihre Großtante aus dem Vogelsberg.
Die grunzte zur Antwort, während sie sich auf dem Beifahrersitz einmal umdrehte und weiterschlief.
»Sie war schon weg, kurz nachdem sie sich ins Taxi gesetzt hatte. Hat mir gerade noch Ihre Adresse in die Hand gedrückt. Seitdem schläft sie. Tief und fest.« Die Taxifahrerin wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe mehrfach versucht, sie zu wecken. Und bei Ihnen habe ich geklingelt, aber es hat ja niemand aufgemacht. Das Taxameter läuft, nur damit Sie das wissen!«
»Das kriegen wir schon hin«, murmelte Margreta, während sie sich ins Taxi beugte. »Tante Ria! Hörst du mich?« Margreta rüttelte an ihrer Schulter.
Ihre Tante grunzte zur Antwort.
»Nützt doch nix! Schläft wie mein Mann vorm ›Tatort‹«, mischte sich die Taxifahrerin ein.
Margreta sah auf die Anzeige, die schon 73 Euro meldete. »Wenn Sie das Taxameter anhalten, wäre es mir egal, ob Sie finden, dass das nix nützt. Ansonsten könnten Sie mir mal helfen.« Margreta versuchte, Tante Rias Beine in Richtung Tür zu heben. »Gehen Sie auf die andere Seite und passen Sie auf, dass sie nicht zur Fahrerseite fällt.«
»Wie? Ich weiß ja nicht.«
»Aber ich. Also bitte. Ich kann sie sonst nicht Richtung Tür drehen.«
Ein Auto hielt an der Straße, eine Autotür klappte zu. »Was ist denn hier los!«
Margreta stieß mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen, als sie sehen wollte, wer gekommen war. »Autsch!« schimpfte sie.
Knutsen stand breitbeinig in der Auffahrt.
»Jan, was machst du denn hier?« Margreta rieb sich die schmerzende Stelle am Kopf.
»Ich bin gerade auf dem Nachhauseweg und habe dein Auto halb aus der Einfahrt stehen gesehen.«
»Hmm, ja, das Taxi stand im Weg. Siehst du ja. Meine Tante Ria ist zu Besuch gekommen. Wir kriegen sie nicht aus dem Auto. Weil sie schläft.«
Knutsen bedachte ihre Informationen mit einem Knurren und trat dann einen Schritt vor. »Lass mich das mal machen.«
Mit Knutsens Hilfe stand Tante Ria schnell, wenn auch wackelig, auf ihren Beinen.
»Ach, der Herr Kommissar. Das ist ja wunderbar.« Tante Rias Mundwinkel zogen sich für einen Moment nach oben, und sie warf Knutsen einen treuherzigen Blick zu. Im nächsten fielen sie wieder schlaff hinab. »Ach, ich möchte lieber noch schlafen!«, nuschelte sie, während sie es sich in Knutsens Armbeuge gemütlich machte.
»Das kannst du gleich, wenn wir im Haus sind«, sagte Margreta, die von der Taxifahrerin einen Gehstock und einen schweren Jutebeutel entgegennahm.
»Kann ich denn jetzt mein Geld haben? Ich habe Feierabend!«, nörgelte die Taxifahrerin.
»Gleich! Ich bringe jetzt erst mal meine Tante ins Haus.« Margreta konnte nicht begreifen, wie unverständig die Dame sich gab. »Sie können schon mal den Koffer aus dem Kofferraum holen«, rief sie ihr zu, während sie gemeinsam mit Knutsen die halb wieder eingedöste Tante zum Haus manövrierte.
»Das Taxameter läuft dann aber weiter!«, informierte sie die Taxifahrerin. »Und einen Koffer, meinen Sie? Den hatte sie nicht.«
»Was? Keinen Koffer? Sind Sie sicher? Die Dame kommt von weit her!«, rief Margreta über die Schulter, während sie mit einer Hand den Haustürschlüssel aus ihrem Schlüsselbund sortierte.
»Nee, sie hatte nix dabei außer dem Zettel mit Ihrer Adresse. Und dem Jutebeutel.«
Margreta und Knutsen verfrachteten Tante Ria auf das Bett im Gästezimmer.
»Und nun?«, fragte Margreta.
»Kümmere dich man um sie. Ich regle das da draußen«, meinte Knutsen.
Margreta schüttelte verwundert den Kopf, als sie den Jutebeutel ausleerte. Neben einer zerknautschten Wurststulle in Butterbrotpapier, einer halb leeren Flasche Wasser , einer leeren Flasche Apfelwein der Marke »Roppe Schoppe« kamen nur noch eine zerdrückte Schachtel mit Kreislauftabletten, eine Geldbörse mit ein paar klimpernden Euros, ein orangefarbener Zahnputzbecher mit Kalkflecken und eine zerkaute Zahnbürste nebst Prothesenhaftcreme heraus.
»Kein Nachthemd. Keine Sachen zum Wechseln. Bestimmt hat sie den Koffer im Zug vergessen!«, rief sie Knutsen zu, der gerade zurückkehrte und im Türrahmen stehen blieb. Da sie im Moment keine andere Wahl hatte, deckte sie ihre Tante, so wie sie war, mit der Gästedecke zu. Dies schien dieser zu gefallen, denn sie knautschte sich die Decke sofort bis hoch unter ihr Kinn und begann selig zu schnarchen.
»Sie ist mit dem Taxi aus Hessen gekommen? Das hat ja mehr als ein Vermögen gekostet!« Knutsen schüttelte den Kopf, während sie aus dem Zimmer gingen.
»Nein. Nur vom Bahnhof. Aber sie müssen eine Weile vor dem Haus gewartet haben. Ich war nicht da.«
»Oha!« Knutsen blickte mit abschätzender Miene auf seine Armbanduhr. »Und du wusstest nicht, dass sie kommt?«