Salziges Land - Ralf Weißkamp - E-Book

Salziges Land E-Book

Ralf Weißkamp

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Beschreibung

Der Schriftsteller Thomas Mark fährt im Herbst in den niederländischen Küstenort Zoutelande, um an seinem neuen Buch zu arbeiten. Er lernt Sarah Bosch kennen, deren Schwester dort ermordet wurde. Das Opfer, Renate Willers, hatte sich offenbar mit dem Kauf mehrerer Häuser in Zoutelande beschäftigte. Scheinbar wollte sie von einer Immobilienkrise profitieren. Es kommt zu Anschlägen, steckt eine einheimische Gruppe dahinter? Es wird gefährlich für Tom und Sarah bis klar wird, wer tatsächlich für den Mord und die Gewalt verantwortlich ist. Kai Sänger reist seinem Freund Tom Mark nach, um zu helfen. Bereits am ersten Abend erlebt er einen Mord. Opfer ist Wolfgang Lemmens, ein Chemiker aus Duisburg. Kai beschützt Jutta Lemmens, die Schwester, nach dem Mord und wertet mit ihr Unterlagen ihres Bruders aus. War er in einen Drogenhandel verstrickt und musste deshalb sterben? Was hat es mit dieser osteuropäischen Bande auf sich, die sich am Rande von Zoutelande niedergelassen hat? "Salziges Land" behandelt zwei reale aktuelle Themen, die niederländische Immobilienkrise und einen höchst profitablen Geschäftszweig der internationalen Mafia.

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Seitenzahl: 330

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Für die Freundschaft

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Zweiter Teil

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Mit einem leisen Zischen strömte der Schaum auf den Deckel der Dose, als mein Zeigefinger die Lasche nach hinten zog. Auf diesen Moment hatte ich mich seit Wochen gefreut. Allein, oben auf der welligen Düne, das harte Gras wiegte sich mit dem sanften Wind, kein Geräusch drang weder vom Strand noch vom Dorf zu mir hinauf. Ich liebte diesen Blick von der Kuppe, das blaugrüne Meer, das sich in der Ferne mit dem blasser werdenden Schein des Himmels verschmolz. Die Ruhe, die ich nur hier fand, für wenige Minuten, wenn der Tag sich mit seinem schönsten Licht in den Abend verwandelte. Ich hatte so sehr gehofft, diesen Moment wiederzufinden, die vielen Wochen, die ich mich auf diese Reise freute. Auf die zehn Tage, jetzt, nach dem die Herbstferien zu Ende waren und keine Menschenmassen das Dorf, den Strand und die Dünen mit ihrem Lärm beschmutzten. Gleich an meinem ersten Abend belohnte mich mein Ort, den ich so herbeigesehnt hatte, mit diesem sanften Licht.

Ich trank einen Schluck aus der Bierdose, ließ das Amstel einen kurzen Moment in meinem Mund, bevor ich es schluckte, schwieg, sah auf die vorbeifahrenden Schiffe und den Horizont. Dann schwenkte mein Blick hinüber zu dem Dorf, das sich hinter den hohen Deichen vor der Nordsee versteckte. Einige Dächer, im Hintergrund die alte Windmühle und weiter links der Kirchturm, der die Silhouette beherrschte, blickten über die Spitze des begrünten Deiches fast trotzig zum Meer. Auf der breiten Betontreppe, die vom Strand in mehreren Absätzen hinauf zur Deichkrone führte, waren nur noch wenige Spaziergänger, die zurück in ihre Ferienwohnungen und Hotels gingen oder hinunter zum Strand, um die Stille und Sanftheit des Abends zu genießen. Vereinzelt tollten Hunde über den Sand, genossen die unglaubliche Breite und Länge, der sich ihnen jetzt, während der Ebbe, als Spielplatz bot, nutzten die letzte Gelegenheit des Tages, um durch das kalte Wasser der sanften Brandung zu toben.

Ich hatte mir früher oft überlegt, einen Hund aus dem Tierheim zu uns zu nehmen, gemeinsam mit meiner Frau, mit der ich damals noch zusammenlebte. Aber der Alltag sah anders aus als hier in Zoutelande, wo ich meinen Hund am Strand hätte laufen lassen, mit anderen Hundebesitzern sprechen und vielleicht auch die eine oder andere Gelegenheit zu einem Flirt hätte nutzen können. Nicht ein Spaziergang um sieben Uhr morgens im kalten Novemberregen und hohe Tierarztrechnungen hielten mich von einem Hund ab. Es war der Ekel. Der Ekel davor, die Kacke meines Hundes in die Hand nehmen und sie in einem Plastikbeutel stecken zu müssen.

Die Dose stellte ich für einen Moment auf einen der Pflöcke des Zaunes, der den gepflasterten Weg von den Dünen trennte, der leichte Wind würde sie nicht umwerfen. Ich schloss den Reißverschluss meiner braunen gefütterten Cordjacke bis zum Hals, die Kühle kroch vom Meer zu mir hinüber. Dann trank ich einen weiteren Schluck, stopfte meine linke Hand in die Tasche meiner Jacke, um sie zu wärmen. Obwohl ich höchstens eine Viertelstunde auf der Kuppe des Deiches stand, spürte ich, wie sich an meiner Nase ein Tropfen bildete, der bald im Stoff meiner Jacke versickern würde. Der Wind war stärker geworden und zupfte an meinen Haaren. Ich trank die Dose aus, blickte ein letztes Mal auf den Strand und die untergehende Sonne. Dann ging ich den Pfad hinunter, den ich schon so oft gegangen war, der von der Düne hinab auf die Straße mündete. Dieser Weg war ziemlich steil und es kam mir vor, als würde er von Jahr zu Jahr, von Herbst zu Herbst, etwas steiler, wenige Grad. Als ich an einem Papierkorb vorbeikam, hielt ich an, zerknüllte die Dose mit meiner rechten Hand und warf sie in den Abfallbehälter. Einmal im Jahr genoss ich es, nicht die abschätzigen Blicke mancher Zeitgenossen zu fürchten, die mich vorwurfsvoll schweigend ansahen, wenn ich ökologisch frevelhaft eine Bierdose kaufte.

Als ich den Platz erreicht hatte, an dem der schmale Weg auf den breiteren hinauslief, stieg ich noch die fünf Stufen der Holztreppe hoch, die auf der gegenüberliegenden Seite war. Die wenigen Stufen brachten mich zu einem kleinen Tableau, das die Spitze der Treppe bildete. Sie führte hinunter zum Strand und zu einem Restaurant. Wie viele Stufen waren es? Fünfzig, sechzig, siebzig oder mehr? Ich hatte sie nie gezählt. Keine Treppe für alte Leute.

Nur einen kleinen Moment blickte ich noch einmal hinunter auf den Strand, lächelte, als der Geruch von Pommes und Schnitzel vom Restaurant zu mir hinaufzog und wandte mich um, zurück zu meinem kleinen Ferienhaus. Sobald ich den breiten Weg nur wenige Meter hinuntergegangen war, erstarben sämtliche Geräusche, die ich vorher kaum wahrgenommen hatte, das Rauschen der leichten Brandung, das Echo des Windes im Gras und in den Büschen.

Den Duinweg ging ich nur dreißig oder vierzig Meter in Richtung des Ortes, dann bog ich zu dem Parkplatz eines Hotels ab, das sich im vergangenen Jahr erheblich vergrößert hatte. Diesen Platz musste ich überqueren, um zu der schmalen Rampe zu gelangen, die auf den Kiesparkplatz meines Bungalowparks führte. Niemals hätte ich in diesem Hotel wohnen wollen, ich genoss die Freiheiten, die mir das kleine Ferienhaus bot. Ich musste mich nicht morgens in Schale werfen und rasieren, wenn ich frühstücken wollte. Und ich wurde dabei auch von Niemandem beobachtet.

Der Kies knirschte unter meinen grauen Trekkingschuhen, ein Geräusch, das mir so vertraut war wie das Gekäcker der Raben und Dohlen, die zu dieser Gegend gehörten. Die rotweiße Schranke war geöffnet, so dass ich den Hauptweg nahm und kurz danach auf den Kiesweg abbog, der mich zu meinem kleinen Häuschen führte. Ich schloss die verglaste Tür auf und genoss die Wärme, die mir entgegenschlug. Vierzig Quadratmeter, die sich auf das Wohnzimmer mit Küche, einem Schlafzimmer, ein winziges Bad und einem Kinderzimmer verteilten. Dazu eine kleine Terrasse und etwas Rasen, umrandet von zwei Meter hohen Hecken. Für vier Personen, wie im Prospekt ausgewiesen, die Hölle, zu zweit ausreichend, allein ein Luxus, den ich einmal im Jahr für wenige Tage genoss. Ich klappte meinen Laptop auf, fuhr ihn hoch und nahm mir eine Flasche Bier aus dem Kasten, den ich mitgebracht hatte. Die Kartoffeln würde ich später aufsetzen. Mit dem Manuskript, an dem ich arbeitete, war ich unzufrieden, ich kam nicht voran, es rumpelte, holperte und zickte und ich wusste nicht, warum. Ich hoffte, hier in Holland zu finden, was nicht passte. Noch bevor ich mich meinem Rechner widmete, nahm ich den Ausdruck des Manuskriptes, den ich von zuhause mitgebracht hatte, legte ihn auf den mit einer altmodischen geblümten PVC-Decke geschützten Holztisch und las. Der Rotstift zwischen meinen Fingern zuckte hin und her, ich nahm meine Brille ab, strich mir mit Daumen und Zeigefinger über die geschlossenen Augen und schob das Manuskript von mir weg. Der Anfang funktionierte nicht, er zog mich nicht in die Geschichte, fesselte mich nicht. Ich seufzte, holte den Tabak aus der Brusttasche meiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, und drehte mir eine Zigarette. Ich hatte mir genügend holländischen Tabak aus Deutschland mitgebracht. Ich rauchte nur noch selten, nur noch wenige Zigaretten am Tag. Ich nahm die Selbstgedrehte und mein Zippo und ging zur Tür. Als ich sie öffnete, hörte ich das Quietschen des kleinen grünen Gartentörchens und sah einen Schatten, der sich von der Seite näherte.

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe, und es ist mir auch ziemlich peinlich.“

Ich betrachtete die Frau, die im milchigen Licht der Außenlampe vor mir stand, eine schöne Frau, mit langen dunklen Haaren, schlank, eine gerade Nase, deren Spitze sich etwas anhob, sinnliche, nicht zu volle Lippen, etwa Mitte vierzig und somit zehn Jahre jünger als ich. Mit einem lauten „Klack“ klappte ich mein Zippo auf, drehte an dem kleinen geriffelten Rad und hielt die Spitze meiner Zigarette in die aufsteigende Flamme. Ich wartete, dass sie weitersprach.

„Ich bin heute erst angekommen und gerade habe ich gesehen, dass ich bei meinem Einkauf in Middelburg die Eier vergessen habe. Die brauche ich aber, weil ...“

„Wie viele möchten Sie?“ Ich hatte die Eier nicht vergessen, und von der Zehnerpackung brauchte ich morgen früh nur zwei, roh.

„Zwei würden reichen, und ich bringe Ihnen morgen neue mit, das wäre supernett.“ Dabei verschränkte sie wie ein aufgeregtes Mädchen die Finger ihrer Hände ineinander.

Ich mochte sie. In ihrem dünnen hellen Kleid musste sie frieren, es war mittlerweile so kühl, wie es an einem Oktoberabend am Meer kühl werden konnte.

„Kommen Sie rein.“ Ich öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich spürte die kurze Verzögerung, mit der sie mir folgte. Ich deutete mit der linken Hand auf den Kühlschrank und sagte „Bedienen Sie sich. Möchte Sie etwas trinken, einen Wein?“

„Oh, nein, nein,“ erwiderte sie mit einem unsicheren Lächeln, als sie die Eier aus dem Kühlschrank nahm, „ich habe das Essen bereits auf dem Herd und leider nicht so viel ...“

„Dann sehen Sie zu, dass Sie Mann und Kinder satt bekommen. Und das mit den Eiern ist nicht eilig.“ Dabei drehte ich mich zur Tür, ging hinaus und zog an meiner Zigarette, die ich in einem Aschenbecher auf dem runden verwitterten Plastiktisch, der auf der Terrasse stand, abgelegt hatte. Ich hasste verqualmte Räume.

Sie bedankte sich noch zwei Mal, bevor sie das kniehohe Gartentor hinter sich zuzog. Einmal zu viel für meinen Geschmack.

2

Das Klopfen weckte mich am nächsten Vormittag gegen zehn. Nur mit einer gestreiften Boxer-Shorts und einem schwarzen T-Shirt bekleidet öffnete ich die Tür, während ich mir mit dem grünen Handtuch durch das Gesicht fuhr.

„Ja?“

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe, wie ich sehe, sind sie gerade erst aufgestanden. Aber sie haben ja auch Urlaub, und da ist es natürlich ...“

„Was möchten Sie?“ Mürrisch betrachtete ich ihr Lächeln. Offensichtlich hatte sie gut geschlafen, war bester Laune, sah frisch und erholt aus. Ich hatte die halbe Nacht am Manuskript gearbeitet und zu wenig geschlafen.

Sie holte aus ihrer blauen Umhängetasche einen Karton mit sechs Eiern hervor und reckte ihn mir entgegen. „Bitte, ganz frisch, ein kleines Dankeschön für gestern. Ich wohne übrigens direkt gegenüber. Und Ihre Einladung zu einem Wein,“ strahlte sie mich bestens gelaunt und überhaupt nicht verlegen an, „möchte ich gerne aufnehmen. Heute Nachmittag um drei Uhr am Strand?“

Ich nickte nur, erschlagen von so viel Freundlichkeit und antwortete „Wir finden uns.“ Dann nahm ich den Eierkarton aus ihrer gepflegten und eleganten Hand, schloss die Tür und stellte den Karton auf den Kühlschrank. Hatte mich diese schöne, vielversprechende Frau gerade zu einem Wein am Strand eingeladen? Ich kratzte mich am Kopf und ging ins Bad. Noch fünf Stunden.

Keine Frau. Kein Wein. Nur entspannte Paare und nachdenkliche Menschen, die über den Strand schlenderten und schlichen. Ich konnte nach beiden Seiten mehrere hundert Meter weit sehen. Aber das Gesicht, auf das ich wartete, sah ich nicht. Das Lächeln, auf das ich mich gefreut hatte, die Augen, die mich angestrahlt hatten, vermisste ich. Ich ging hinüber zu der nächsten langen Reihe von Baumstämmen, die wie an der Schnur gezogen in den Sand gerammt als Wellenbrecher das Meer besänftigten. Sie gaben dem Strand seinen Charakter. Viele waren von oben bis unten mit kleinen Muscheln besetzt, manche Stämme quollen an der Spitze auseinander. Sie standen so dicht, dass ich mich nur zwischen wenigen hindurchquetschen konnte, um nach kurzer Zeit zu der nächsten Reihe Golfbreker zu gelangen. Ich entschloss mich, in Richtung des Dorfes zu gehen, vielleicht würde ich sie unterwegs noch treffen.

Die Hoffnung war endgültig begraben, als ich aus dem kleinen Supermarkt trat, in dem Pappkarton unterm Arm etwas Gemüse und Fleisch für heute Abend. Genug für zwei. Über den Duinweg ging ich hinter dem Deich zurück zum Bungalowpark. Die unzähligen Fahrradfahrer, die mich überholten und mir entgegenkamen, gingen mir mit ihrem Gebimmel und albernen Gelächter auf die Nerven.

Als ich nur noch wenige Meter von meinem Bungalow entfernt war, sah ich, dass das Gartentor meiner vergesslichen Nachbarin nur angelehnt war. Sekunden später erkannte ich, dass auch die gläserne Eingangstür einen Spalt offen stand. War sie tatsächlich so durch den Wind, dass sie nicht nur unsere Verabredung vergessen hatte? Ich stellte meinen Einkauf auf den Plastiktisch auf der Terrasse und ging zu ihr hinüber. Ich öffnete das knapp hüfthohe Tor und ging auf den Eingang zu. Ihr Bungalow war eine Kopie meiner Unterkunft. Mit einem fragenden „Hallo“ kündigte ich mich an. Eine Antwort bekam ich nicht. Vorsichtig, als könnte ich der Tür wehtun, öffnete ich sie so weit, dass ich eintreten konnte. Auch mein zweites „Hallo“ blieb unbeantwortet. Ihre schwarze Handtasche lag auf dem alten Ledersofa, auf dem Tisch stand eine digitale Spiegelreflexkamera. Reichlich leichtsinnig. Auch wenn die Ruhe in diesem Wohnpark eine einlullende Friedlichkeit vorgaukelte, hier wurde mit Sicherheit genau so viel geklaut wie überall woanders auch. Ich trat ein. Schon nach zwei Meter sah ich ihre Beine auf dem Boden, die hinter dem Küchentisch und den Stühlen hervorlugten. Sie trug schwarze, bequeme Sportschuhe. Ich ging noch etwas weiter, darauf gefasst, Erste Hilfe leisten zu müssen. Ich habe in meinem Leben noch nicht viele Leichen gesehen. Aber sie war tot, das war sicher. Ihr Mund stand offen, die Augen aufgerissen. Der von ihren langen Haaren umrahmte Kopf zeigte zum Tisch, während ihre angewinkelten Knie in die andere Richtung wiesen. Ihre Arme lagen neben dem Kopf, völlig entspannt. Ich fluchte. So eine schöne Frau, was für ein Wahnsinn. Ich bückte mich neben sie, machte mir aber nicht mehr die Mühe, nach einem Puls zu suchen. Selbst im Tod strahlte ihr Gesicht eine zärtliche Anmut und Eleganz aus. Die hässlichen dunklen Striemen an ihrem Hals passten nicht dazu. Den Mann, der nach mir eintrat, bemerkte ich zu spät.

3

Im Vernehmungsraum des Politiebureau Middelburg stand die Luft. Ich wartete. Die Vernehmungsbeamten und der Dolmetscher hatten den Raum verlassen. Wahrscheinlich versuchten sie, meine Angaben zu überprüfen. Viel konnte ich ihnen nicht sagen, nur, dass ich eine tote Frau gefunden hatte, die ich am Tag zuvor kennengelernt hatte. Sie machten Fotos, nahmen Proben von mir und meiner Kleidung, hatten mich vermessen und warten lassen. So wie jetzt. Ich blickte auf die Uhr, als könnte ich dadurch die Sache beschleunigen. Es war bereits Abend und ich hoffte, dass ich heute noch freikam. In diesem Moment betrat einer der Beamten, ein junger, sehr schlanker Mann mit einem Scheitel, der seine blonden Haare akkurat in zwei Hälften teilte, zusammen mit dem dicken Dolmetscher den Raum. Der war es, der mir sagte, ich könne gehen. Ich dürfe das Land nicht verlassen und musste mich jeden Tag auf der Wache melden. Dann brachte mich ein uniformierter Polizist zur Tür. Als ich vor dem Klinkerbau stand, holte ich tief Luft, um mir dann eine Zigarette zu drehen. Ich zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und setzte mich in Bewegung. Wie ich jetzt nach Zoutelande kommen würde, hatte keiner der Bullen gesagt. Mich nach der passenden Busverbindung durchzufragen, hatte ich keine Lust. Also ging ich weiter Richtung Zentrum. Vorher schrieb ich mir den Namen der Straße auf, damit ich sie morgen wiederfand, Achter de Houttuinen. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie das in der Provinz Zeeland mit den Taxen funktionierte. Als das erste an mir vorbeifuhr, winkte ich, und der dunkelblaue Wagen hielt an.

Nach einer Viertelstunde stieg ich vor der Schranke des Bungalowparks aus. Im Schatten der Parkplatzbeleuchtung zählte ich das Geld ab, bezahlte, nahm die Quittung und ging zu meiner Unterkunft. Ich massierte meinen Kopf, von dem harten Schlag hatte ich immer noch Schmerzen und eine Beule, aber keine Wunde. Bevor ich aufschloss, warf ich die Lebensmittel, die seit Stunden draußen auf dem Tisch standen, in den Mülleimer. Ich schnappte mir ein Bier aus dem Kasten, öffnete die Flasche, die sich mit einem leisen Plopp bedankte und ging hinaus. Ich stellte mich unter den herrlichen Sternenhimmel. Mein zweiter Tag in Zoutelande, ich hatte kaum etwas geschrieben, dafür eine schöne Tote am Hals und durfte den Ort nicht verlassen. Schreiben konnte ich auch hier, aber falls die Ermittlungen länger dauern, würde es ein verdammt teures Schreiben werden.

4

Als ich die Gardine zur Seite schob, glaubte ich an die Wiederauferstehung. Die Frau in dem knielangen schwarzen Kleid, die drüben am Tor stand, war meine vergessliche Nachbarin. Ich wusste, das konnte nicht sein, aber sie war es. Ich zog meine Schuhe an und ging hinaus. Als das kleine Tor beim Öffnen wieder quietschte, drehte sie sich zu mir um. Diese Ähnlichkeit war unglaublich. Die gleichen langen braunen Haare, die sinnlichen Lippen, die leicht angehobene Nasenspitze. Ob sie beim Lächeln die gleichen Grübchen haben würde? Das Strahlen in ihren Augen fehlte, sie musste in den letzten Stunden viel geweint haben. Die Brille. Sie trug eine dunkle Hornbrille, die perfekt zu ihren Haaren passte.

„Guten Tag, kann ich Ihnen ...“

„Haben Sie sie gefunden?“

Die Frage kam scharf und schnell.

„Ja, gestern Nachmittag, als ich vom Strand kam. Wir waren dort verabredet. Ich hatte mich gewundert, dass sie nicht erschien, weil der Vorschlag von ihr kam. Wie Sie sehen, ist das Haus noch von der Polizei gesperrt. Wenn Sie einen Kaffee möchten, könnte ich uns einen machen.“

Wortlos folgte sie mir in meine Hütte. Sie sah sich flüchtig um und setzte sich an den Küchentisch, aufrecht, die Unterarme auf den Tisch gestützt, die Hände ineinander verschränkt als wolle sie beten. Gewundert hätte es mich nicht.

„Ich heiße Tom Mark. Eigentlich Thomas, aber seit meiner Kindheit nennen mich alle Tom. Ich bin am gleichen Tag angekommen wie ...“ Ich zögerte einen Moment.

„... meine Schwester, Renate Willers“, ergänzte sie tonlos. „Ich bin Sarah Bosch.“

Ich goss das heiße Wasser in den Filter und wartete, bis die erste Füllung in die Glaskanne geflossen war, um nachzugießen. Dann stellte ich Zucker, Milch und zwei Porzellanbecher auf den Tisch. Sie sah aus dem Fenster.

„Kennengelernt habe ich sie gestern Abend. Sie klopfte an, weil sie ...“

„Haben Sie sie getötet?“ Sie sah mir in die Augen, traurig und wütend.

Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick zu senken. „Nein, das habe ich nicht, das schwöre ich Ihnen. Und das scheint auch die Polizei zu glauben, sonst wäre ich in Untersuchungshaft.“

Sie wendete den Kopf und schaute wieder aus dem Fenster.

„Haben Sie schon eine Unterkunft oder fahren Sie heute wieder nach Hause?“

„Ich wollte mir für diese Nacht eine Pension nehmen“, sagte sie leise gegen das Fenster, „aber das Ferienhaus soll heute noch freigegeben werden, sagte der Verwalter. Ich werde mein Gepäck später dort hinbringen und noch ein paar Tage bleiben.“

Überrascht hob ich eine Augenbraue. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie in das Haus ziehen würde, in dem ihre Schwester ermordet worden war. Hatte ich mich mit meiner Einschätzung getäuscht?

„Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort wusste.

„Selbstverständlich, gestern Nachmittag. Ich bin heute früh losgefahren, es sind nur dreihundert Kilometer.“

„Müssen Sie ... Ihre Schwester noch identifizieren?“

Sie nickte und legte beide Hände um den Kaffeebecher, als würde sie frieren.

„Das bleibt mir nicht erspart. Es fehlte ja nichts, sämtliche Papiere und auch ihr Geld waren noch da. Ich verstehe nicht warum, Herrgott, warum?“

Zum ersten Mal zeigte sie Gefühle, ihre Wangen bebten, sie musste mehrmals schlucken und in ihren Augen bildeten sich Tränen. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen. Aber das wäre unpassend für einen Mann, den sie vor wenigen Minuten noch für einen potentiellen Mörder hielt.

„Sie können sich keinen Reim machen auf das, was passiert ist? War sie häufig in Holland? Hatte sie vielleicht Feinde hier?“

Bestimmt schüttelte sie den Kopf, während sie schniefte und sich an ihrer Tasse festhielt.

Genug Fragen. „Möchten Sie noch etwas anderes trinken, einen Schnaps vielleicht?“ Sie nickte, und ich holte die kleine Flasche Genever, die ich gekauft hatte, und ein kleines Schnapsglas. Sie stürzte den Alkohol runter, setzte das Glas ab, schob es in meine Richtung und hielt es mit ausgestrecktem Arm fest. Ich goss nach. Sie zog das Glas zu sich und starrte auf den Tisch. Ich sagte nichts. Schließlich stand sie auf, kerzengerade, ohne den Schnaps zu trinken.

„Ich muss gehen.“

Ihre Gestalt, ihre Eleganz, das schwarze Kleid verliehen ihrer Trauer etwas sehr Würdevolles.

„Soll ich Sie begleiten?“

„Nein, danke, Herr Mark. Ich gehe zu Fuß, die frische Luft wird mir guttun. Auf Wiedersehen.“

Sie verließ meinen Bungalow. Ich musste wissen, warum ihre Schwester gestorben ist. Und ich wollte mehr über Sarah Bosch erfahren.

5

Wenige Minuten, nachdem die Dame abgerauscht war, setzte ich mich in meinen Golf und machte mich auf den Weg nach Middelburg. Wenn ich schon täglich antreten musste, wollte ich es früh hinter mir haben. Ich parkte in der Nähe des Polizeigebäudes, zog ein Ticket und hoffte, dass es schnell ginge.

Ging es nicht. Nachdem ich einen kleinen Spaziergang in der lieblichen Herbstmilde gemacht und mich an den alten Gebäuden der Stadt erfreut hatte, meldete ich mich in der Wache. Ich sollte noch ins Büro von Commissaris Vermeulen kommen, sagte mir der Uniformierte. Auf meine Frage nach dem Warum zuckte er die Schultern. Ich ging hoch in den ersten Stock und kramte meine Englischkenntnisse zusammen. Dann klopfte ich an dem angegebenen Büro und trat ein. Das mit dem Englisch konnte ich mir schenken.

„Setzen Sie sich, bitte.“

Hinter dem zweckmäßigen Büroschreibtisch saß ein breitschultriger Mann mit vollen, leicht welligen schwarzen Haaren, braungebrannt, ein blaues Hemd und ein braunes Jackett. Seine Hände waren gepflegt, die Adern, die sich unter der Haut abzeichneten, ließen darauf schließen, dass er Sport treibt. Viel Sport.

„Ich habe mich in der Wache gemeldet. Was wollen Sie noch von mir?“

„Sie warnen. Mischen Sie sich nicht ein.“

„Habe ich nicht vor. Wie auch?“ Ungefragt setze ich mich auf den Besucherstuhl und drehe mir eine Zigarette. Der Schrank gegenüber lächelt.

„Sie sind Schriftsteller, also neugierig. Halten Sie sich raus.“

„Was gibt es denn rauszuhalten?“ Ich spielte mit der Zigarette zwischen den Fingern, taxierte den Sportler. Er sah nicht aus wie jemand, der Spaß verstand.

„Ich habe Ihnen alles gesagt, was Sie wissen müssen. Tot ziens.“ Er senkte den Kopf und widmete sich wieder der Akte, die vor ihm lag. Ich verließ den Raum und das Präsidium. An meinem Auto fand ich unter dem Scheibenwischer ein Knöllchen. Ich hatte die Parkzeit um zehn Minuten überschritten. Dreiundfünfzig Euro. Verfluchte Holländer.

6

Ich parkte den Golf am Langendam, kurz hinter der ehemaligen Bank, die jetzt verkauft war. Was daraus werden würde, wusste ich nicht, ich verstand das Bauschild nicht. Ich ging zur rechten Seite in die Langstraat, dem Zentrum des Ortes. Autos konnten hier nicht fahren, mir waren die vielen unaufmerksamen und geschwätzigen Radfahrer gefährlich genug. Wehmütig blickte ich zu dem Supermarkt auf der linken Seite, ein kleiner Abklatsch des Ladens, der mir so vertraut war. Der alte Inhaber hatte in einem auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampften Neubau am Ortsausgang einen wesentlich größeren Supermarkt aufgezogen. Ich hatte dort schon eingekauft. Mich nervten die Hektik und die penetrante laute Musik, die die Kunden belästigte.

Neben den Bars und Restaurants sah ich eine altvertraute Fisch- und Pommesbude sowie einen Laden, an dem ich nie vorbeigehen konnte. Koets Hengelsports hieß er früher, als ich ihn noch regelmäßig aufsuchte. Meistens war ich nach fünf Minuten wieder draußen und hatte nichts gekauft, so wie heute auch. Ich ging wieder hinaus in die Sonne, mischte mich unter die anderen Touristen. Dann sah ich sie, auf der anderen Seite, im Eetcafé Royal, an einem kleinen Bistrotisch, auf dem ein Milchkaffee stand. Ich steuerte sie an und nahm Platz, ohne zu fragen.

„Haben Sie sich etwas erholt?“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie zu mir gebeten zu haben.“

Ich ging nicht darauf ein, winkte der jungen blonden Kellnerin und drehte mir eine Zigarette.

„Möchten Sie darüber reden, wer sie umgebracht haben könnte?“

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schloss die Augen und widmete sich der Sonne. Sie sah hinreißend aus, als sie sich langsam mit geschlossenen Augen ihre große eckige Sonnenbrille aufsetzte. Ihre weiche Haut am Hals und am Dekolleté schien mit der Wärme und dem Licht zu spielen, während sie mich nicht beachtete.

„Ich war heute bei der Polizei in Middelburg. Irgendein Kommissar sagte mir, ich solle mich raushalten. Er soll sich zum Teufel scheren. Sagen Sie mir, was hier gespielt wird.“

Sie genoss weiter die Wärme der Sonne.

„Ihre Schwester hat ihren Mörder gekannt, das steht fest. Es war kein Einbruch, und es gab auch keinen Kampf.“ Die Aufmerksamkeit an den Nachbartischen war mir sicher. „Was wollen Sie jetzt machen?“

Da wieder keine Antwort kam, legte ich fünf Euro für den Kaffee auf den Tisch und stand auf.

„Warten.“

Langsam setzte ich mich wieder. „Worauf?“

„Auf die Ermittlungsergebnisse. Oder darauf, dass der Mörder wiederkommt.“

Ich beugte mich vor und sprach leiser. „Sind sie wahnsinnig? Warum sollte er das machen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht will er uns beide töten.“

Jetzt sah sie mich wieder an, aber hinter ihrer dunklen Sonnenbrille konnte ich ihre Augen nicht sehen.

„Ich kenne sein Motiv nicht. Ich weiß nicht, warum er sie umgebracht hat. Vielleicht finde ich in ihren Sachen einen Hinweis, Feinde hatte sie keine, das ist sicher. Oder ich frage Stefan, einen Freund ihres Mannes. Der hat gute Kontakte nach Holland, geschäftlich.“

„Welche Branche?“

„In Deutschland Immobilien und Finanzierungen. Ob und was er hier macht, weiß ich nicht.“

Sehr interessant, dachte ich. Vielleicht kann ich die Geschichte später einmal in ein Manuskript einbauen.

„Wäre es möglich, dass ...“ Weiter kam ich nicht. Sie schob die Sonnenbrille in ihre Haare und schloss für zwei, drei Sekunden die Augen.

„Hören Sie, Herr Mark, ich wäre jetzt gern allein. Auch wenn es aussieht, als würde ich entspannt einen Urlaub genießen, ich trauere um meine Schwester. Wir können gerne später weitersprechen, aber jetzt möchte ich allein sein.“

Sie hatte recht, durch meine Neugier verletzte ich eine unsichtbare Grenze, war ihr zu nahegekommen. Ich nickte. Zeit zu gehen.

„Was halten Sie davon, wenn wir heute Abend zusammen essen?“

Dieser Vorschlag traf mich völlig ünerraschend.

„Kennen Sie ein nettes Restaurant, in dem man draußen sitzen und aufs Meer schauen kann?“

„Hier im Ort fällt mir nur das Zeeuwse Rivièra ein, ein Strandlokal. Kein auffälliges Sterne-Restaurant, normale Speisekarte. Aber ein fantastischer Blick auf den Strand und das Meer.“

„Was glauben Sie, wie lange ich mit Rücksicht auf die Figur kein einfaches Schnitzel mit Kräuterbutter und Pommes gegessen habe?“ Dabei schloss sie die Augen wieder, ließ die Sonnenbrille elegant auf ihre Nase gleiten und legte ihren wunderschönen Kopf in den Nacken. „Meine Schwester auch nicht. Um halb sieben?“

7

Wir nahmen beide das Schnitzel mit Pommes. Als die junge langhaarige Blondine servierte, lächelte Sarah das einzige Mal an diesem Abend. Ein freundliches, trauriges Lächeln.

„Morgen Vormittag muss ich noch einmal nach Middelburg“, erzählte sie zwischen zwei Bissen von ihrem panierten Schnitzel. So, wie sie es verschlang, musste sie wirklich lange keines gegessen haben.

„Kommissar Vermeulen will mit mir sprechen, er hat noch einige Fragen.“

„Worum es geht, wissen Sie nicht?“

„Nein, er hat angerufen und mich um dieses Treffen gebeten. Wobei es so klang, dass diese Bitte auch ganz schnell formell werden könnte.“

„Wir können zusammenfahren, ich muss ebenfalls zur Polizei, mich dort melden. Anscheinend zähle ich noch zu den Verdächtigen. Wobei“, überlegte ich kauend, „ich wahrscheinlich der einzige bin, den sie im Auge haben.“

„Gerne, anschließend können wir noch einen Kaffee trinken. Ich war lange nicht mehr dort, und ich erinnere mich an viele nette Cafés.“

Die Aussicht, mit ihr zu fahren und einen Stadtbummel zu machen, hob meine Stimmung gewaltig.

„Sehr gern, und ich würde mir die alte Abtei anschauen wollen. Gerade im Herbst bietet sie einen eindrucksvollen Anblick.“ Ich nahm einen Schluck von meinem Heineken, während sie an ihrem Weißwein nippte. Als sie das Glas zurückstellte, lächelte sie zum zweiten Mal. Ein warmes Lächeln.

„Sie sagten, ihre Schwester sei verheiratet gewesen. Ich habe mich gefragt, warum ihr Mann nicht gekommen ist.“

Sie zögerte einen Augenblick. „Wir standen uns sehr nahe, wie gute Freundinnen. Und bei den beiden, na ja, gab es in letzter Zeit das eine oder andere Problem. Er ist beruflich viel unterwegs, kaum zu Hause. Ich bin sicher, er wird auch bald kommen.“ Es klang nicht unbedingt wie ein Wunsch.

„Es wird Zeit zu gehen, ist ziemlich kühl geworden.“

Ich nickte und winkte der hübschen Bedienung. Wir zahlten, standen auf und ich zog meine braune Jacke an, die über der Stuhllehne hing. Sie warf sich anmutig ihre wollene sandfarbene Stola über die Schultern. Es konnte auch Kaschmir sein, ich kannte mich da nicht so aus. Dann hielt sie mir ihre Hand hin.

„Sarah.“

„Tom.“ Ich nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig, als hätte ich Angst, ihr weh zu tun.

„Lass uns gehen.“

Wir machten einen Umweg über den Strand zum Dorf. Die Sonne ging bereits unter, kein kitschiger roter Sonnenuntergang. Am Horizont gingen gelbe, graue und bläuliche Pastellfarben ineinander über, das Meer war ruhig, nur eine leichte Brandung, die von den Schiffen stammten, die nach und von Vlissingen fuhren. Vielleicht auch von anderen Häfen, mir egal.

Viel zu schnell erreichten wir die Treppe, die hinauf auf den Kamm des Deiches führte. Oben hielten wir kurz inne, sahen auf das Meer und den Ort. Die Cafés und Restaurant waren gut gefüllt, die Menschen genossen den milden Oktoberabend. Eine der letzten Möglichkeiten, bevor der November sich am Strand und in den Straßen ausbreitet. Wir gingen durch die Langstraat, sahen die Geschäfte, beobachteten die Menschen. Die meisten sahen gleich aus, uniformiert, trugen Wolfskin-Klamotten, Fahrradhelme und waren auf ihren geliehenen Hollandrädern so unsicher, dass man sie sofort als Urlaubs-Radfahrer erkannte.

Wir gingen durch die Duinstraat, auf der rechten Seite lag ein fast leeres Hotel, wenig später ein heruntergekommener Minigolfplatz. Ein friedlicher, entspannender Spaziergang. Was störte, war das Geheul der Feuerwehrsirenen, laut, durchdringend. Schon bevor wir den Eingang des Bungalow-Parks erreicht hatten, sahen wir die Wolke, grau und hässlich. Über den knirschenden Kies gingen wir weiter. Viele Leute waren unterwegs, ungewöhnlich viele. Alle Ferienhäuser mussten leer sein. Je näher wir Sarahs Bungalow kamen, desto mehr Menschen standen auf dem groben Kies. Ich machte uns den Weg frei, bis wir vor einer Absperrung standen, die von einem Polizisten bewacht wurde. Wir mussten ihn nichts fragen. Sarahs Bungalow war nur noch eine schwarze rauchende Ruine.

8

Als wir die Dienststelle betraten, liefen wir Kommissar Vermeulen über den Weg. Der staunte nicht schlecht, als er uns zusammen sah. Sein Mund klappte ein Stück auf, so, als wolle er uns eine Frage stellen. Tat er aber nicht, noch nicht. Der Gedanke, dass er uns für ein Paar hielt, schmeichelte mir. Ich lächelte ihn freundlich an und trennte mich von Sarah. Sie ging mit dem Beamten in dessen Büro, ich in die Wache.

Sie schämte sich ein wenig, weil sie in den gleichen Sachen wie gestern rumlief. Aber, verdammt, es war so, sie besaß nichts mehr, selbst ihr Waschzeug und ihre Autoschlüssel waren verbrannt. Ein paar Klamotten und den ganzen Plunder, den Frauen im Bad so brauchen, würden wir gleich in der Innenstadt kaufen. Ich hatte ihr versprochen, dass sie auf meiner Kreditkarte einkaufen konnte. Es war ihr peinlich, und sie wehrte sich zunächst gegen meinen Vorschlag, aber sie wusste, dass es nicht anders ging. Ich musste ihr versprechen, alles korrekt aufzuschreiben und abzurechnen, sie wollte mir nichts schuldig bleiben.

Es war ihr mehr als unangenehm, dass sie in meinem Bungalow geschlafen hatte, es ging nicht anders. Einer der Betreiber des Parks, der irgendetwas von Katastrophe und Pleite brabbelte, als er seinen abgefackelten Bungalow sah, wollte sich heute um eine neue Schlafstelle für Sarah kümmern. Mir recht, wenn er keine fand. Gott sei Dank hatte ich noch Rotwein gekauft, so dass wir den Schock über den Verlust all ihrer Habe entsprechend begießen konnten. Etwa bei Mitte der zweiten Flasche lachte sie zum ersten Mal, kurz danach wurde sie sehr müde und bereitete das zweite Schlafzimmer, eines für Kinder, mit Hochbett, vor. Ich versuchte nicht, sie zu mir zu lotsen. Zu früh. Und zu schäbig.

Während sie sich im Bad zurecht machte, rauchte ich draußen noch eine Selbstgedrehte. Zwischen den Zügen nippte ich vom Wein, er schmeckte gut. Ich kannte mich mit Wein nichts aus, meistens trank ich Bier oder Scotch. Irgendein Chateau so und so, interessierte mich auch nicht. Ich genoss die Stille, die Aussicht auf die Sterne und hatte den Geruch der Brandruine in der Nase. Ich dachte an Sarah. Die Situation hatte ihren Reiz, ich spürte die Gegenwart dieser schönen Frau. Der Wunsch, das Verlangen, etwas mit ihr anzufangen war da, ziemlich deutlich. Meine Ehe, meine letzte Beziehung war lange her. Gleichzeitig war mir klar, dass ich die Finger von ihr lassen sollte, es würde wieder nur zu Problemen führen. Ich schnippte die Kippe in die Dunkelheit, trank den restlichen Wein und ging hinein. Probleme hatte ich schon genug.

9

„Er sagte, du sollst dich raushalten, das meinte er ernst. Natürlich wusste er, dass ich es dir sagen würde. Klar, nachdem er uns zusammen gesehen hatte.“

„Was hat er zu deinem abgebrannten Ferienhaus gesagt?“

Sie lehnte sich in dem braunen aus stabilem Plastik geflochtenen Bistrostuhl zurück und ließ den Bierdeckel zwischen ihren Fingern langsam rotieren. Sie sah auf den Tisch, als könne er ihr helfen.

„Er sagte, das waren Amateure. Keine Profis, die hätten sofort für reinen Tisch gesorgt. Vermutlich hast du sie gestört. Für Profis wäre das Risiko, an den Tatort zurückzukehren und erwischt zu werden, zu groß. Vor allem, nachdem die holländische Polizei sämtliche Spuren gesichert hatte. Vermeulen sagte, genau das deute auf Amateure hin, die irgend etwas verschwinden lassen wollten, von dem sie selbst nicht wussten, ob es ihnen schaden konnte.

„Na, da bin ich ja beruhigt“, brummte ich, „dass dein Leben nur von Amateuren und nicht von Profis bedroht wird.“

Sie nahm zärtlich meine Hand. Fast hätte ich sie weggezogen, so überrascht war ich. „Und ich habe bei dir auch nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein.“ Nach diesen hingehauchten Worten verschluckte ich jede Antwort.

Sie stellte meine zärtlichen Gefühle für sie auf eine harte Probe. Allein in zwei Schuhgeschäften, eines am Marktplatz in Middelburg, gegenüber dem alten Rathaus, und auf der Lange Delft verbrachten wir gefühlte sechs Stunden. Dazu kamen noch die nicht billigen Shops, in denen man Jeans, Kleider, Tops, Jacken und sonstigen Krempel kaufen konnte. Wie ein Tiger lief ich vor den Geschäften auf und ab, während sie sich nicht entscheiden konnte. So viel Pommes konnte ich gar nicht essen, wie ich Zeit hatte. Meine Kreditkarte traute ich mich kaum anzufassen, heiß wie sie war.

Bepackt mit Tüten und Taschen ging ich mit einer bestens gelaunten Sarah über den Marktplatz und die idyllische Lange Viele zurück zum Parkplatz. Einmal shoppen und der Tod ist vergessen. Diesmal hatte ich genug Parkzeit gekauft, so dass uns kein Knöllchen erwartete. Und auch kein Stau. Wir kamen schnell aus Middelburg heraus. Für mich ist dieser Ort die heimliche Hauptstadt der Halbinsel Walcheren in der Provinz Zeeland. Über die N 208 kamen wir zurück nach Zoutelande, dem Ort, der damit warb, der einzige mit einem Südstrand in Holland zu sein. Naja, wenn es ihnen hilft.

Schon an der Zufahrt zum Eingang des Bungalow-Parks winkte uns einer der drei Vermieter. Er stand vor seinem Büro und schien auf uns gewartet zu haben. Strahlend berichtete er, dass ein kleines Häuschen frei geworden sei, ganz in der Nähe von meinem. Sie könne sofort einziehen. Idiot, dachte ich und freute mich mit Sarah. Wir ließen die Tüten in meinem Golf und parkten direkt vor dem kleinen Häuschen, was auf dieser Anlage nur bei An- und Abreise erlaubt ist. Das Haus hatte die Ausmaße einer größeren Trafostation, mit einem Flachdach und einer Terrasse mit weißen Plastikmöbeln. Wir schlossen auf und ich stellte als erstes die Heizung an. Sarah ließ die Tüten und Taschen auf das schwarze Sofa fallen, vom dem ich nicht erkennen konnte, ob es echtes oder Kunstleder war.

„Kann ich für eine Stunde deinen Wagen und dein Handy haben? Ich möchte noch einmal in den Ort, etwas einkaufen.“

„Aber wir können doch zusammen ...“

„Bitte.“

Es war diese Sorte „Bitte“, die einem Mann keine Wahl ließ. Ich gab ihr den Schlüssel, Bargeld hatte ich ihr bereits in Middelburg gegeben. Dann zog ich die Tür hinter mir zu und sagte wie selbstverständlich „Bis später.“ Ich ging zu meiner Hütte, bediente mich am Kühlschrank und setzte mich auf die Terrasse. Zeit für ein kaltes Bier.

Ich hatte mich entschlossen, mir eine wärmere Jacke zu nehmen und noch einmal ans Meer zu gehen. Die steile Düne schenkte ich mir, dafür war ich zu müde. Stattdessen ging ich über den Duinweg in Richtung Ort. Kurz davor führte ein gepflasterter Weg hoch zur Deichkrone, nicht so steil und lang, den würde ich noch schaffen. Oben angekommen, ging ich etwas bergab, bis zu dem Punkt, an dem sich der Weg teilte. Der obere führte über die beleuchtete Deichkrone, der untere war eine breite Promenade. Der Ausblick war nicht so gewaltig wie der von der Düne, allein das viele Licht störte. Am Strand, im Watt, hatten sich wie jeden Abend zahlreiche Angler niedergelassen, die neben ihren Lampen und den Angeln mit den langen, bis ins offene Wasser reichenden Leinen in der Dunkelheit auf einen guten, vielleicht sogar spektakulären Fang warteten. Wie jedes Jahr fragte ich mich, was auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres war. Ein langes, orangefarbenes leuchtendes Band zog sich über mehrere Kilometer entlang. War dort eine Küste mit einer gewaltigen Hafenanlage? Ein gigantischer Offshore-Betrieb? Durch das Fernglas, das ich gelegentlich mitbrachte, konnte ich es nicht erkennen, auch nicht tagsüber, dafür war das Licht zu diffus. Und wie jedes Jahr nahm ich mir vor, das zu recherchieren. Bis ich im nächsten Herbst wieder hier stand.

Ich holte die Dose Amstel aus der Jackentasche und öffnete sie. Für meinen Geschmack waren hier zu viele Leute, zu viel Geschnatter, der Ort, das Zentrum war nur wenige hundert Meter entfernt. Bequemlichkeit hatte ihren Preis. Ich sah hinaus ins Dunkle und schwieg. Ich sah Sarah vor mir, wie sie ihre neuen Kleider anprobierte und vorführte, sich um die eigene Achse drehte, nur auf den Fußballen, die Arme weit von sich gestreckt, lachend, wie ein junges glückliches Mädchen, das keine Sorgen kennt. Und keinen Tod. Ich hatte fast damit gerechnet, nein, nicht fast, ich hatte mich gefragt, wann sie mich zum Tanz an sich ziehen würde, wie wir uns in der Freude umeinanderdrehen würden. Aber dann kam der Tod zurück. Sie schämte sich ihrer Freude. Als ihr die Tränen kamen, ging sie ins Bad. Ich ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, ihr Raum zu lassen. Wir schwiegen, als wir uns wieder begegneten. Es war besser so, ich war ihr zu nahegekommen.

Als eine Gruppe Jugendlich gröhlend über den Strand tobte, ging ich. Am Fuße des Aufganges warf ich die Dose in einen Abfalleimer. Wenige Minuten später saß ich auf meinem Sofa. Ich fuhr meinen Rechner hoch, um noch einige Seiten zu schreiben, gleichzeitig machte ich den Fernseher an, er störte mich nicht. Merkwürdige, ereignisreiche Tage waren das. So ganz anders als meine bisherigen Aufenthalte in Zoutelande. Eine sympathische Tote, ein Mord, ein abgebrannter Bungalow, eine begehrenswerte Schwester des Mordopfers. Was würde noch kommen? Und wann würde ich mich erholen und schreiben? Ich stand auf, ging zu der Anrichte und kippte einen doppelten Whiskey runter.

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