Sandmann (eBook) - Tommie Goerz - E-Book

Sandmann (eBook) E-Book

Tommie Goerz

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Beschreibung

Die legendäre Erfolgsreihe geht weiter: Friedo Behütuns ermittelt in seinem vielleicht abgründigsten Fall... Kraftshof, Nürnberg: Als ein Mann abends nach Hause kommt, findet er seinen Sohn erstochen im eigenen Blut liegen. Seine Frau verstirbt kurz darauf ebenfalls an ihren schweren Stichverletzungen. Die Tat ist erst wenige Minuten zuvor geschehen ... und an der Garderobe lässt eine Spieluhr ihr Schlaflied erklingen, den Sandmann. Eine Botschaft? Später findet man am Tatort winzige Spuren von Sand ... Bei Behütuns' Suche nach dem Täter tun sich Abgründe in der Familie der Opfer auf. Und immer wieder begleitet den Kommissar das Schlaflied: Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird, und die Lampe ausgemacht wird, zieht der Sandmann durch die Stadt ...

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Tommie Goerz

Sandmann

Friedo Behütuns' neunter Fall

Kriminalroman

ars vivendi

Das zitierte Sandmann-Gedicht stammt aus:

James Krüss, Der wohltemperierte Leierkasten, © 1989 cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Arun Raj / Unsplash

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0181-7

Inhalt

Teil I

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Teil II

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

Teil III

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

Nachtrag

Allererster Dank

Besonderer Dank

Extradank

Der Autor

Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird,

und die Lampe ausgemacht wird,

zieht der Sandmann durch die Stadt.

James Krüss, »Der Sandmann«

Die meisten Menschen glauben, dass Polizeiarbeit

und die Aufklärung von Verbrechen und die Verhaftung

und Strafverfolgung von Kriminellen auf eine

systematische, lineare Weise erfolgt.

Das Gegenteil ist der Fall.

James Lee Burke, »Mein Name ist Robicheaux«

Teil I

Ein Serienmörder, der so ganz im Stillen und unerkannt arbeitet?

Matthias Wittekindt, »Der Unfall in der Rue Bisson«

I

Dienstag, 12.11.2019

Hundsverreck. Jetzt hatte er genau den Fall, den er nie hatte haben wollen. Vor dem man sich als Kriminaler sein ganzes Leben lang fürchtet. Sich wünscht, dass man so etwas nie erlebt, nie so etwas sehen muss. Es war schrecklich.

Vor wenigen Minuten war ein interner Anruf von der Vermittlung eingegangen. Die Uhr stand auf halb vier.

»Behütuns, sind Sie dran?«

»Wer sonst, wenn ihr meine Nummer wählt?«

»Sie müssen raus. Kraftshof.«

Es war grau draußen, und es regnete. Unwirtlich, kein Wetter zum Hinausgehen. Letztes Aufbäumen des Herbstes. Ein steifer Westwind jagte unter einer dicken grauen Wolkendecke immer wieder Regenschwaden zwischen den Häusern hindurch, die letzten Blätter ruckelten nass über den Gehsteig, der Wind riss sie los, trieb sie weiter, alte Zeitungs- und Prospektseiten klebten in den Rinnsteinen, McDonaldʼs-Trinkbecher rollten, Plastiktüten wurden mitgerissen. Die Menschen sind manchmal Schweine.

»Was gibtʼs denn?«

»Anruf eines Herrn Rothlauf, Benedikt Rothlauf, Kraftshof draußen, Lachfelderstraße, westliches Ortsende, gegenüber vom Friedhof. Kennen Sie?«

»Den Friedhof, ja. Hausnummer?«

»1 c.«

»Die zwei Häuserreihen da links?«

»Ja.«

»Und weiter?«

»Der Mann sagt, er sei nach Hause gekommen ... vom Bahnhof mit dem Taxi ... und hat seinen Sohn und seine Frau vorgefunden. Alles voller Blut.«

»Rettungsdienste sind informiert?«

»Schon unterwegs.«

»Okay, ich fahr raus.«

»Nehmen Sie noch jemanden mit.«

»Kann nicht, bin allein. Dick und Abend sind draußen im Einsatz.« Peter Dick und Peter Abend, genannt P. A., die beiden Kollegen aus dem Team. Klaus, der Teamassistent, hatte die Woche frei. Mailand, Oper, Scala, Onegin, Ballett in drei Akten nach John Cranko, zu aus verschiedenen Werken von Peter Tschaikowski zusammengeklaubter Musik, Bühnenbild und Kostüme Pier Luigi Samartini – wie oft hatte Klaus davon geschwärmt und sich darauf gefreut. Kostete ihn fast ein halbes Monatsgehalt, aber auf der Bühne stand Roberto Bolle in der Hauptrolle, und wenn er den sah, bekam er feuchte Augen. Unsere schwulen Mitmenschen sind oft so was von empfindsam, man könnte neidisch werden. Behütuns kannte so etwas von sich allenfalls aus emotionalen Extremsituationen oder beim Gedanken an einen Bierkeller. Und immer öfter bei schlechten Filmen, wenn es schmalzig wurde. Aber das war ihm peinlich.

Sein schönes Gefühl war schlagartig verflogen. Er hatte den ganzen Tag auf Wolke sieben geschwebt –­ na ja, auf Wolke sechs. Oder fünf, aber immerhin. Oder doch sechs? Egal. Er war auf dem Weg ins Präsidium heute früh Luna über den Weg gelaufen, eine alte Beziehung. Große Liebe damals. Wie lange war das jetzt schon her? Lange, er wusste es nicht mehr genau. Verdrängt. Aber sie waren sich sofort wieder in die Arme gefallen. Die letzten zwei Jahre hatten sie sogar zusammengewohnt damals, und dann ... na ja, war er wieder allein gewesen. Sie hatte einen anderen kennengelernt irgendwie irgendwo, für ihn wie aus heiterem Himmel – und weg war sie. Höchstens ein Jahr später schon hatte sie geheiratet. Und dann, vergangenen Sommer, hatten sich, nach mindestens zehn Jahren, wieder einmal ihre Wege gekreuzt, zufällig, in einem Café, und es war Freude pur gewesen, auf beiden Seiten. Nein, mehr als Freude. Leider hatte sie gleich wieder weggemusst, aber sie hatten vereinbart, sich einmal zu treffen. »Wir müssen«, hatte sie gesagt. Bald, aber nicht in einem Café. Hatte überlegt, ob du mit mir rausgehen würdest? Statt in einem Café sich an der Tasse festhalten zu müssen ... einen ausgedehnten Spaziergang? Mit etwa diesen Worten hatte sie es im Sommer vorgeschlagen, in dem Mailverkehr, der sich zwischen ihnen entsponnen hatte. Und irgendwann hatte sie auch sehr charmant, aber eindeutig gespielte Zweifel angemeldet: Wenn wir uns dann eines Tages gegen­übersitzen, kommt bei mir wahrscheinlich die Scheu ... was falsch zu machen ... Schade, dass er die Mails nicht mehr hatte, nach einem Rechnerabsturz waren sie fort gewesen. Aber so ungefähr hatte er sie noch im Kopf. So etwas schreibt man doch nur, wenn ... na ja, wenn man sich dem anderen zumindest nahe fühlt. Sehr nah. Oder bildete er sich das alles nur ein? Spielte ihm seine Erinnerung einen Streich? Immer diese Zweifel. Im Berufsleben waren sie ja hilfreich, geradezu Erfolgsgaranten, aber im Privaten? Wenn er sich im Moment des Erlebens so glasklar sicher war – diese Zweifel aber alles wieder zernagten, kaum dass er daheim war oder Zeit hatte, darüber nachzudenken? Wenn sie nichts verlässlich ließen? Manchmal zweifelte er an sich selbst, aber so war er, er musste damit leben.

Doch dann war ohnehin alles am Termin gescheitert. Einmal war etwas mit ihrem Mann, dann wieder mit den Kindern, mal was mit der Schule, dann war sie im Urlaub, dann konnte er nicht, war ein paar Tage auf Lehrgang, oder die Arbeit ließ es nicht zu, und irgendwann war sie nur noch »verhindert«, der E-Mail-Verkehr ebbte ab, wurde spärlicher, sachlicher, und sein Gefühl auch. Schließlich war der Kontakt wieder eingeschlafen, jeder ging seiner Wege, so wie in den Jahren zuvor. War auch besser so, sagte der Verstand.

Bis heute früh. Kaum hatten sie sich erblickt, waren sie sich auch schon wieder in die Arme gefallen. Sie ihm. Lang und innig, als ob sie sich lange verloren und endlich wiedergefunden hätten. Ja, da war noch was, da war längst noch nicht alles vorbei. Beweise? Herzklopfen pur. Und ihre Augen. Und dann, als sie ihn ansah, kamen ihr die Tränen, liefen ihr übers Gesicht. Was war da los? Irgendwas war, das hatte er gespürt, aber er wusste nicht, was, konnte die Tränen nicht deuten, ihre Aufgewühltheit. »Komm«, hatte er gesagt, »lass uns jetzt gleich etwas ausmachen, dass wir uns die Zeit endlich mal nehmen und in Ruhe reden.« Er hätte sofort mit ihr losziehen können.

Donnerstag nächste Woche, früh um halb neun, hatten sie vereinbart, auf der Höhe bei Tauchersreuth, dort hinter Kleingeschaidt – Glahgschah, wie die Leute hier sagten –, um eine Runde über Beerbach und Neunhof zu laufen, nicht zu weit weg von Nürnberg.

Kaum war er im Büro gewesen, war von Luna auch schon eine Mail gekommen. Sprang ihn an im Posteingang. Wollte sie wohl schon wieder absagen? Im Sommer hatte sie, als sie sich verabredet hatten, noch in ihrer so unnachahmlich warmen und direkten Art geschrieben: Ich freu mich, und die Scheu ... aaaaahhh ... das sehen wir dann. Notfalls bin ich zwei Stunden nervös und rede blödes Zeug und muss hinterher duschen. Aber machen müssen wirʼs! Wie liebenswert und gewinnend. Mit klopfendem Herzen öffnete er die neue Nachricht. Donnerstag halb neun, und diesmal kommt uns nichts dazwischen, ja? Ich freu mich so ... es ist so wichtig! Also doch Wolke sechs? Fünfeinhalb. Er hatte sich erst einmal einen Kaffee geholt. Und dann fast eine halbe Stunde lang nur geträumt, er konnte gar nichts arbeiten.

Klaus, Scala, Bolle, Luna, Date – Behütuns war bei seinem Wagen angelangt, klemmte das Blaulicht aufs Dach und schlängelte sich durch den langsam einsetzenden Berufsverkehr. Eigenartig, wie viele Menschen so früh schon Feierabend hatten. Oder machten.

Er raste aus der Stadt hinaus, am Flughafen vorbei und bog ab nach Kraftshof. Bis zum Adler, dann rechts und ein paar Hundert Meter später schräg links zum Friedhof hin. Ein Holzbauunternehmen, ein kleiner Voltigierplatz, dann schon die Friedhofsmauer. Die schmale Sackgasse, die hier ins Knoblauchsland führte, war bereits abgesperrt. Sanitätsautos, Notarzt, zwei Streifenwagen. Überall blinkte es blau im Regen, Nachbarn standen vor den Haustüren oder am Fenster. Es war eine kleine Siebzigerjahre-Siedlung, die jetzt im November ziemlich trostlos wirkte. Acht Reihenhäuser, 1 a–h, vier links, vier rechts, jeweils Wand an Wand gebaut. Eines wie das andere, nicht einmal versetzt gegeneinander, zwei lang gezogene, schnurgerade Fronten, drei Stufen hi­nauf zu den Eingängen, davor vier Meter Platz bis zur Straße, die Mülltonnen, ein Rasenstück, selbst für das Geschäft eines Hundes zu klein, aber die konnten ja ins Knoblauchsland dahinter auf die Äcker – nein, durften sie nicht, vorn hatte er ein Schild gesehen mit »Anleinpflicht«. Vereinzelt standen Fahrräder vor den Häusern und Kinderanhänger.

Behütuns konnte sich sofort vorstellen, wie es dort drin aussah: Links oder rechts neben dem Eingang ein schmales WC, dann eine Treppe hinauf, darunter die in den Keller, ein Garderöbchen, übervoll behängt, dann die Küchentür, geradeaus in ein Wohnzimmer, bodentiefe Fenster in einen kleinen, umzäunten Garten, die Küche mit Fenster vorne raus zur Sackgasse, halb offen hin zum Wohnzimmer. Einbauküche, alles eher klein. Im Wohnzimmer an der Wand zum Nachbarn der Fernseher, ein Sofa, zwei Sessel, ein Tischchen, an der gegenüberliegenden Wand ein Regal mit Büchern, Nippes, Zeugs, vielleicht Trockenblumen. Die Treppe hoch drei kleine Zimmer, ein Bad, manchmal noch der Dachboden ausgebaut, je nach Anzahl der Kinder – Standardhäuser von der Stange. Seit Jahrzehnten wurde so gebaut, überall gleich, Triumph architektonischer Fantasie. Immerhin lagen die Häuser ganz schön. Nach hinten raus aus dem linken Block der Blick auf Äcker und die Wehrkirche St. Georg, zwar neu errichtet nach den Bombardement des Zweiten Weltkriegs, doch trotzdem wirkten die Gemäuer wie sandsteinernes Mittelalter pur, weiter drüben der Blick aufs Neunhofer Schloss und weit übers brettflache Knoblauchsland, aus dem anderen Block über Äcker bis hin zum Wald. Er kannte die Gegend, doch heute war nicht viel davon zu sehen. Schon Beinahedunkelheit, Regen und Nebel. Aber irgendwo dort hinten, bei Neunhof, stand ein Kirschhain, eigentlich ungewöhnlich hier fürs Knoblauchsland. Zehn, zwölf alte Kirschbäume in zwei Reihen. An den Hain hatte er schöne Erinnerungen. Mit Luna, die Kirschen so liebte. War lange her.

Er hatte seinen Wagen an der Friedhofsmauer geparkt, ging durch den Regen hinüber. Arhythmisch huschten die Blaulichter über die Fassaden, glänzten im Nass des Sträßchens. Hinter ihm startete dröhnend ein Flugzeug, der Flughafen war nicht sehr weit weg, vom Flieger sah man genauso wenig wie vom Knoblauchsland. Aber es wirkte ziemlich bedrohlich, das Dröhnen im Nebel. Er musste zum dritten Haus rechts.

Ihn empfing ein Blutbad. Blut im Gang, Blut an den Wänden, Sanitäter dazwischen, die sich über die Körper beugten, der Notarzt. Die Versorgung der Opfer ging vor, die Spurensicherung musste noch warten – Katastrophe für deren Job. Behütuns blieb in der Eingangstür stehen und sah hinein. Im Gang lag ein Kind, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, schätzte er. Der Junge. In einer riesigen Blutlache. Zwei Sanis kümmerten sich um den Körper, schüttelten den Kopf, als Behütuns sie ansah. Das Kind war tot. Die Wohnzimmertüre stand offen, dort konnte er eine Frau liegen sehen, der Notarzt über ihr, hantierte, assistiert von einem Sani, legte eine Infusion. Trotz all der Geschäftigkeit herrschte ein eigenartiges Schweigen. Der Notarzt blickte kurz auf. Nickte deprimiert auf Behütuns’ fragenden Blick hin, dann zuckte er mit den Schultern. Sie würden alles versuchen, bedeutete die Geste, aber seine Hoffnung war nicht sehr groß. Behütuns spürte, wie seine Knie weich wurden. Er sehnte sich nach einer Zigarette, obwohl er seit Jahren nicht mehr rauchte. Oder nur selten. Seltsam, wie in manchen Situationen der Körper nach Nikotin schreit, wenn man einmal geraucht hat.

Keine Minute später trugen sie die Frau auf der Bahre hinaus, verbundener Kopf, der Sani hielt den Infusionsbeutel hoch, eine Ärztin – Behütuns hatte sie bisher nicht gesehen, sie hatte wohl im Wohnzimmer hinter der Tür gestanden, vom Türrahmen verdeckt – hielt der Frau die Hand. Ihre Kleider voller Blut. Behütuns konnte nicht hinsehen. Sie schoben die Trage in den Wagen, fuhren behutsam an, nur Blaulicht, kein Tatütata. Der Arzt trat hinaus, bleich wie ein Laken, Hände und Hose rot. Aus dem Haus heraus roch es nach Schlachthaus, der Geruch von warmem Fleisch und Blut.

»Kommt sie durch?«

Er zuckte erneut mit den Schultern. Dann, sehr leise, fast matt: »Vielleicht besser nicht, so wie der Kopf aussieht.« Zwei Sanitäter kamen heraus, tappten durch die Lachen, wischten sich die Sohlen im Gras neben der Mülltonne ab.

»Können Sie schon etwas sagen?«

Der Arzt sah ihn fragend an. »Was meinen Sie?«

»Zur Tatwaffe, meine ich.«

»Ein Messer, so wie es aussieht. Ein großes Messer.«

Behütuns presste die Lippen zusammen. »Haben Sie irgendwo eines gesehen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nichts, nein.«

»Gut, danke. Ist noch jemand im Haus?«

»Der Mann.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Küche. »Steht unter Schock. Werd mich gleich um ihn kümmern.« Behütuns hielt ihn zurück.

»Nicht da drin, besser, Sie bringen ihn raus, in den Wagen der Streife.« Der Notarzt verstand, die drei von der Spurensicherung nickten. Zwei Sanitäter, die Ärztin, der Notarzt, der heimgekommene Mann – alle waren durch das Blut gelaufen, hatten Personen bewegt, den Tatort verändert, Spuren verwischt, Blut verschmiert. Das würde ein schwerer Job.

»Das Kind?«

»Erst die Spurensicherung. Dann die Leiche.« Auch Behütuns ging nicht weiter hinein als einen Schritt in den Gang. Nicht noch mehr Spuren verwischen oder unnötige hinterlassen. Er warf einen Blick auf das Kind. Es lag vor der Wohnzimmertür, Blutspritzer an Wand und Türstock, blutige Schmierer. Er wandte sich ab. Auf sein Nicken hin kamen die Kollegen von der Spurensicherung zur Haustür, ganz in Weiß.

»Führt ihr den Mann erst noch raus?« Behütuns deutete zur Küchentür. Sie übergaben den Mann dem Notarzt. Behütuns reichte einem der drei seine Karte hin. »Ihr ruft mich an, sobald ihr etwas habt?«

»Klar.«

»Und wenn es mitten in der Nacht ist.«

Der von der Spurensicherung steckte die Karte ein. »Okay, machen wir.«

Der Arzt war inzwischen mit Rothlauf draußen, Behüt­uns folgte den beiden zum Streifenwagen, sie bugsierten den Mann auf den Beifahrersitz.

Der Notarzt streifte sich die Handschuhe ab. »Wollen Sie erst? Aber nur kurz.«

Behütuns tippte sich an die Stirn. »Ja, lassen Sie mich erst.« Er stieg zu Rothlauf in den Wagen, setzte sich neben ihn, schwieg.

Der Mann starrte hinaus. Apathisch.

Draußen standen Nachbarn und glotzten. Behütuns ließ das Fenster herunter und scheuchte sie weg. Er rang noch um einen Anfang. »Sie sind Benedikt Rothlauf?«

Der Mann starrte weiter hinaus, schwieg. Er hatte Blut an den Händen, an der Hose, Spuren im Gesicht. Er schien nicht ganz bei sich.

»Die Musik ...«, sagte er.

Behütuns ließ ihn erst mal, noch war er viel zu weit weg.

»Diese Musik ... dieses Lied ...«, stammelte er wieder.

Behütuns sah ihn an. »Welche Musik?«

Rothlauf saß da wie sich selber fremd. »Eine Spieluhr ...«

Der Kommissar gab ihm Zeit. Rothlauf atmete, als bekäme er nur schlecht Luft. »Diese Musik ... diese Spieluhr an der Garderobe ... sie lief ... und spielte ... diese Melodie ...«

»An der Garderobe hing eine Spieluhr, die lief, als Sie heimkamen?«

Der Mann nickte, weit, weit weg.

»Einen Moment bitte.« Behütuns stieg aus und winkte den Arzt zu sich, der draußen im Regen stand und wartete. »An der Garderobe soll eine Spieluhr hängen. Könnten Sie bitte der Spurensicherung sagen, dass die wichtig ist?« Der Arzt nickte und ging hinüber, Behütuns stieg zurück in den Wagen. Sagte nichts, wartete.

»Welches Lied?«, fragte er nach einer Weile.

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Sie kennen es nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber die Spieluhr ist Ihnen bekannt?«

Er schüttelte noch immer den Kopf.

»War es eine Spieluhr von Ihrem Sohn?« Kinder haben immer Spieluhren, dachte er sich, vor allem, wenn sie klein sind. Zum Einschlafen. Man hängt sie ihnen übers Bettchen, damit sie Ruhe geben. Aber eigentlich hatte er keine Ahnung von kleinen Kindern. Nicht die geringste.

»Kann ich nicht sicher sagen, aber diese Melodie ... Wir haben ein paar Spieluhren im Haus, aber die kannte ich nicht. Vielleicht war sie neu ... dass meine Frau ...«

Behütuns wartete ab. Draußen huschten Menschen hin und her, langsam beschlug die Scheibe. Der Regen klackerte aufs Blechdach, lief die Scheiben hinunter, hinterließ Spuren. Da drehte Rothlauf den Kopf. »Sie können ruhig mit mir reden.« Urplötzlich wirkte er ganz gefasst.

Behütuns sagte nur: »Erzählen Sie.« Ihm war, als ob der Regen anschwoll. Längst war es vollständig Nacht geworden, der Himmel auch im Westen jetzt schwarz, Wind trieb die prasselnden Tropfen vor sich her. Scheißjahreszeit. Der Mann räusperte sich. »Ich war in München, beruflich, ein Führungskreis-Meeting des Hotels. Ich arbeite im Acom. Kam direkt vom Bahnhof ...«

»Wann sind Sie in Nürnberg angekommen?«

»Kurz vor drei, genau um 14:58 Uhr.«

»Pünktlich? Also, ich meine fahrplanmäßig?« Behütuns versuchte so etwas wie ein normales Gespräch zu führen, um den Mann hierzubehalten, präsent. Dass er nicht wieder abdriftete in seinen tranceartigen Zustand.

Rothlauf musste nicht überlegen. »Ja, der Zug war pünktlich.«

»Erzählen Sie weiter.«

Der Mann schien doch wieder abzudriften, war verwirrt, kein Wunder. »Was ... wo ... was wollten Sie wissen?«

»Zum Beispiel, wie Sie hierherkamen. Vom Hauptbahnhof aus. Sie nahmen ein Taxi, sagten Sie?«

»Ja.« Rothlauf schluckte, kämpfte sichtlich gegen die Bilder, die zurückkehrten, die er nie hatte sehen wollen, die ihn aber sein Leben lang nicht mehr loslassen würden. Solche Bilder waren nicht zu löschen. Das würde noch hart werden für ihn. »Ich komme heim, mach die Tür auf ... da lag Max ... unser kleiner Max ... auf dem Bauch ... und im Blut ... überall Blut. Irgendwie hab ich gewusst, dass er tot war. Gleich, sofort in dem Moment. Ich bin zu ihm hin, hab ihn angehoben, umgedreht ... das Gesicht ... sein Gesicht war ... weg ... kein Gesicht mehr. Ich glaube, er hat noch geröchelt. Und dann lief die Spieluhr ... die lag da ... hing da ... Ich habe ihn gerufen, vielleicht auch geschrien, ihn geschüttelt, versucht, ihn wachzukriegen. Dass er zu sich kommt. Aber er reagierte nicht. Sein Kopf ...« Rothlauf sah auf seine Hände. »Da war ... nur Blut.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht hab ich nach Clara gerufen, meiner Frau, ich weiß es nicht.« Er stoppte. »Dann bin ich ins Wohnzimmer ... musste über den Kleinen steigen, über Max ... all das Blut ... und da lag sie. Auf dem Teppich ... auch überall Blut. Sie röchelte. Bewegte ihre Augen ... aber sah mich nicht ... blickte so ... leer ... als wollte sie einschlafen.«

Er suchte nach der Fortsetzung. Dann schüttelte er heftig den Kopf, wie um das alles loszuwerden. »Weiter weiß ich nichts. Ich bin ... ich weiß es nicht ... irgendwann hab ich das Telefon irgendwie ... ich war so hilflos, bin ja kein Arzt. Hatte keine Ahnung, was ich hätte tun können ... sollen ... müssen.«

Behütuns wartete ab, wusste auch nicht, was sagen.

»Dann hat es ewig gedauert, bis das erste Martinshorn ... und Clara hat die ganze Zeit geröchelt ... mehr so gegurgelt ... auf dem Teppich im Wohnzimmer. Was sollte ich denn tun? Ich bin zu Max ... wieder zu ihr ... hab ihr die Hand gehalten ... dann wieder zu Max ...«

»Und die Musik, also die Spieluhr?«

»Wie?«

»Lief sie noch?«

»Weiß nicht.« Er schien nachzudenken.

»Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?«

»Sie war ja nicht da. Also hat nicht reagiert. Dann nicht einmal mehr mit den Augen. Und ich hab überall nur das Blut gesehen ... An der Tür, am Sessel, drüben an der Wand ... an den Fenstern. Spritzer, Schleifspuren ...«

»Haben Sie jemanden gesehen?«

Rothlauf schnaufte nur.

»Als Sie gekommen sind vielleicht? Auf der Straße? Auf dem Gehsteig? Als Sie aus dem Taxi gestiegen sind? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? War etwas ungewöhnlich? Oder haben Sie vielleicht etwas gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Dicke stand am Zaun, der Nachbar von gegenüber. Noch ohne Schirm, wie ich gekommen bin. Herr Eckl. Der steht oft da. Seit wir hier wohnen. Seit fast sechs Jahren. Manchmal Stunden. Fast immer ohne Jacke, auch im Winter.«

Behütuns sah den Nachbarn im schrägen Licht der Laterne, halb beschattet vom Regenschirm. Stand da im Trainingsanzug, der hatte wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel, so wie er aussah. Ballonseide, hellblau-rosa-grün-weiß, schräg zusammengesetzte Felder, überweite Jacke, Design der Achtziger. Hatte sicher noch nie ein Training gesehen, der Anzug. Berliner Designstudenten hätten sich die Finger danach abgeschleckt, da war er sich sicher.

Der Arzt klopfte ans Fenster, hielt seinen – inzwischen hatte er sich offensichtlich irgendwo einen organisiert – Regenschirm schräg gegen den Wind und schüttelte missbilligend den Kopf. »Muss das so lange sein? Ich denke, das reicht jetzt.«

Behütuns nickte. »Für den Moment bin ich fertig.« Er überließ Rothlauf dem Arzt. Ins Haus konnte der Mann derzeit nicht – nicht, solange die Spurensicherung drin war und die Leiche. Und auch danach nicht gleich. Wahrscheinlich länger nicht. Was macht ein Mensch in so einer Situation?, überlegte er. Wo geht Rothlauf jetzt hin, heute Abend? Wo kann er überhaupt hin, so mit sich, wenn sein Haus ... in seinem Haus ...? Gut, dass der Arzt sich kümmerte.

Der Wind trieb die Tropfen schräg durchs Laternenlicht, die Straße glänzte. Drüben am Zaun stand noch immer der Nachbar, trotzte Dunkelheit, Regen und Kälte. Endlich einmal was zu sehen hier draußen. Trotz Schirm waren seine Haare nass und klebten ihm am Schädel. Der Arzt begleitete Rothlauf zum zweiten Sanka, schob ihn sachte hinein, die Schiebetür rutschte ins Schloss.

Behütuns hatte keinen Schirm. Er schlug den Kragen hoch, ging hinüber zum Nachbarn.

»Ned aweng nass?« Hilflose Gesprächseröffnung.

Der Alte grunzte, sah ihn aus glasigen Augen an, unrasiert, die Trainingshose dunkel vor Nässe. Behütuns roch eine Fahne, eindeutig Schnaps.

»Kriminalpolizei«, stellte er sich vor. »Sie werden mir noch krank hier draußen.«

Keine Reaktion.

»Stehen Sie schon länger hier?«

Der Alte grunzte erneut, nickte mit dem Kopf. Es war der Typ pensionierter Beamter, so schätzte Behütuns ihn ein, dem mit dem Eintritt ins Pensionsalter die Pflichten weggebrochen waren, und damit die Struktur, der Halt im Leben, die Aufgabe, der Sinn. Seine Haare zeigten den Rest einer Rock-ʼnʼ-Roller-Tolle, mit Pomade nach hinten gekämmt. Oder war es die Nässe? Er schien ihm zur Sorte der Nichts-zu-tun-Ruheständler zu gehören, die jeden Tag vor dem Nichts standen und dagegen antranken. Für einen Sekundenbruchteil dachte Behütuns an sich selbst: Was würde er tun, wenn er in Pension ging? Wie füllte er dann den Tag? Mit Frühschoppen, Bierkeller, Biergarten? Auf Dauer nicht sehr verlockend. Er sollte sich schon langsam einmal Gedanken machen, bis dahin war es nicht mehr allzu weit. Der Alte hatte seine Frage nicht beantwortet, aber Behütuns wusste, dass er schon dort gestanden hatte, als Rothlauf nach Hause gekommen war.

»Haben Sie vielleicht etwas gesehen? Etwas Ungewöhnliches? Wer in das Haus ist zum Beispiel?«

Wieder grunzte der Alte nur. Dann blubberte er »Ihch säich doch fasd niggs mehr«, in einem Ton, dass es klang wie »Das Leben ist eine einzige große Scheiße, es ist alles nur widerwärtig, lästig und eklig«. Er sah ihn hohl an. »Homms bei di Rohdlahfs woll ahns umbrachd?«

»Wie kommen Sie darauf?« Oben klapperte ein Dachschrägenfenster, ging kurz auf, gleich darauf wieder zu. Gelbes Licht unter den Wassertropfen auf der Scheibe. Dann erlosch es. Sicher stand man hier jetzt überall hinter den dunklen Scheiben und beobachtete. Wer wollte es den Leuten auch verdenken?

»Na, sichdmer doch, is ja wie im Fernseh. Lauder Gwerch und Laid und Blaulichd. Abgschberrd is ah.«

Er sah also doch etwas. »Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen?« Rothlauf hatte ihm vorhin zwar den Namen genannt, aber Behütuns hatte ihn gleich wieder vergessen. Typische Alterserscheinung. Er wusste gar nicht, warum er so freundlich war, denn der Alte ließ sich den Stinkstiefel fast provokant raushängen.

»Eggl haaßi, Erich Eggl.« Die Fahne roch nicht mehr ganz frisch, aber intensiv.

Das »Eggl« hatte er ausgesprochen wie »Ekel«. Irgendwie passend. Alfred, dachte sich Behütuns, Alfred Ekel hätte noch besser gepasst. Im Unterhemd. Auf dem Briefkastenschild entdeckte Behütuns den Namen: Eckl. »Also: Haben Sie vielleicht doch was gesehen?«

»Nah.« Er grunzte wieder, das Wasser tropfte von seinem Schirm. Behütuns ließ ihn im Regen stehen, ging zurück zu seinem Wagen, schüttelte sich die Tropfen von der Jacke, stieg ein. Er konnte jetzt nichts mehr tun. Zwei Streifenpolizisten bewachten die Absperrung und nickten ihm zu. Arme Kerle, dachte er sich, so ein Dienst ist wie eine Strafe. Er telefonierte mit dem Präsidium, gab ein paar Anweisungen, startete seinen Wagen, wendete und fuhr los.

»Boah, schaust du aus!«, empfing ihn Dick, als Behütuns zurück ins Büro kam. Auch P. A. sah ihn erstaunt an. Es war viertel sechs. Die beiden saßen zurückgelehnt in ihren Drehstühlen und hatten die Füße auf dem Schreibtisch, die Schuhe standen davor. Normale Besprechungssituation. Der Kommissar stand in der Tür und begrüßte die Kollegen. »Arbeit, Leute. In Kraftshof wurden zwei Personen ...« Er stoppte und schüttelte den Kopf. »Eine Frau und ein Kind. Das Kind ist tot, die Mutter im Krankenhaus. Aber sieht schlecht aus.«

Er hängte seine nasse Jacke an den Schrank, zupfte sich die durchnässten Hosenbeine von den Oberschenkeln und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Es war ein einziges Blutbad.« Er spürte, wie es ihn schlagartig würgte, das Gefühl kalten Speichels im Mund. Schon stürzte er hinaus, quer über den Gang zur Toilette, stieß die Tür auf. Gerade noch rechtzeitig. Gut, dass ihm das vor Ort nicht passiert war. Mit kaltem Wasser im Gesicht kam er zurück.

»Sorry.«

Er berichtete, was er gesehen hatte und wusste. Nicht viel. Nur überall Blut.

Noch am Abend war der Fall im Fernsehen. Deutschlandweit. Am nächsten Morgen waren die Zeitungen voll davon. Aufmacherthema auf den Titelseiten des Boulevards. Behütuns hatte, sehr kurzfristig, noch gegen halb sieben eine Pressekonferenz anberaumt, sein Chef Fortinger hatte ihn dazu angewiesen. Natürlich hatte die Presse ohnehin schon von dem schrecklichen Geschehen Wind bekommen, die Redakteure schliefen ja nicht, sondern taten, was sie tun müssen. Dementsprechend war die Bude brechend voll.

»Nein, wir wissen noch nichts.«

»Ja, es handelt sich um zwei Personen. Ein Kind, fünf Jahre alt, ein Junge. Und eine Frau, seine Mutter, einundvierzig.«

»Nein, die Frau ist am Leben, sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Sehr kritischer Zustand. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.«

»Ob sie durchkommt? Ich sagte Ihnen doch, dass ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann.«

»Auch dazu kann ich Ihnen noch nichts sagen, wir müssen erst die Ergebnisse der Gerichtsmedizin abwarten. Das Ganze ist ja auch erst drei Stunden her.«

»Verdächtige? Nein, haben wir noch nicht.«

»Ob wir eine Vermutung haben? Nein. Aber ich muss es wohl noch mal sagen: Wir stehen erst ganz am Anfang. Eigentlich noch vor dem Anfang. Aber Sie können sicher sein: Wir ermitteln in alle Richtungen. Und werden Sie ständig informieren.«

»Die Tatwaffe? Auch hier muss ich Sie leider auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vertrösten. Der Notarzt hat mir gegenüber zwar einen Verdacht geäußert, aber bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nur Fakten präsentiere, keine Vermutungen.«

»Man hat Ihnen gesagt, die Tatwaffe sei ein Messer? Ja, dann wissen Sie es ja schon. Es ist noch nicht gesichert, aber der Arzt vor Ort äußerte diese Vermutung.«

»Nein, die Spurensicherung ist noch vor Ort, wir haben noch keine weiteren Erkenntnisse.«

»Ein Raubüberfall? Ich sagte doch bereits, wir wissen noch nichts. Absolut nichts.«

»Ob etwas auf eine Beziehungstat hindeutet? Ich kann mich nur wiederholen.«

Nach einer Viertelstunde beendete Behütuns die Pressekonferenz genervt. »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, Ihnen morgen schon etwas mehr sagen zu können. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.« Damit erhob er sich und verließ den Raum, flüchtete sich ins Büro, wo Dick und P. A. auf ihn warteten.

»Dick, du rauchst doch ab und zu?«

Dick nickte, schüttelte dann aber missbilligend den Kopf. »Ja, aber du willst doch jetzt nicht wirklich ...?«

»Gib her.«

»Tu’s nicht.«

»Hopp, her damit.«

Dick kramte ein Päckchen Tabak aus seinem Schreibtisch und warf es Behütuns zu. »Papers sind drin.«

Eine Minute später stand Behütuns am Fenster und blies den Rauch in die nächtliche Stadt. Um vier war es schon dunkel gewesen und der ganze Tag nur grau, bis Weihnachten würde es täglich noch früher dunkel werden – und morgens noch später hell. Die Welt rauschte unaufhaltsam in die Nachtseite ihrer Umlaufbahn, und es gab kein Entrinnen. Nicht, wenn man hier war, auf dieser Seite der Kugel. Es würde erst wieder Mitte Februar so hell werden wie jetzt. Wenigstens regnete es nicht mehr so stark. Wie hielt man das nur aus, Jahr um Jahr? Zittrige Hände hatte er gehabt, als er sich die Zigarette drehte, aber er hatte es noch gekonnt. Halbwegs, das Ding war ziemlich krumm geworden. Wie lange hatte er nicht mehr geraucht? Vier Jahre? Oder fünf? Er wusste es nicht genau. Nicht einen einzigen Zug. Nach dem dritten Zug schon spürte er das Kribbeln in den Füßen und wusste sofort: Er musste vorsichtig sein, beim Rauchen war er gefährdet.

Fortinger, der Chef der Nürnberger Polizei, hatte Behütuns noch vor der Pressekonferenz alle Unterstützung zugesagt. »Machen Sie, was Sie für richtig halten, aber kommen Sie schnell zu Ergebnissen«, waren seine Worte gewesen. Nach einer ersten Besprechung mit Dick und P. A. im Anschluss an die Pressekonferenz forderten sie noch am selben Abend zehn Streifenpolizisten an, die umgehend damit beginnen sollten, sämtliche Nachbarn der kleinen Reihenhaussiedlung zu befragen, ob ihnen etwas aufgefallen sei. Morgen, pünktlich um fünfzehn Uhr, sollten sie mit ihren Ergebnissen aufschlagen. War ein blödes Verb, das wusste er, aber er hatte es benutzt. Und schämte sich schon im selben Moment dafür. Aufschlagen kann man ein Buch, ein Ei oder hart und sich wehtun. Welcher Knallkopf hat nur diese bescheuerte Redensart erfunden? Aber alle führten sie im Mund, plapperten sie nach und fühlten sich toll dabei. Modern. Behütuns nicht. Es würde ihm nicht wieder passieren. Großsprecherisch hatte es geklungen, gar nicht seine Art. Er hatte eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, dass es dringend war und dass sie wenig Zeit hatten für ihre Befragungen. Sollte einer aber etwas Wichtiges in Erfahrung bringen, möge er sich doch bitte umgehend bei ihm melden, hatte er noch angefügt und gehofft, dass das dem »Aufschlagen« seine Peinlichkeit nahm.

Und die Beamten sollten die Umgebung absuchen. Auch den Friedhof. Nach Spuren aller Art, nach der Tatwaffe, nach was auch immer.

Die drei saßen schweigend da, Behütuns, Dick und P. A. Kurz nach zwanzig Uhr. Hatten Bilder im Kopf, die nicht guttaten.

»Hast du mal die Liste der Kollegen, die die Nachbarschaftsbefragung machen?« P. A. reichte sie Dick. Der ging die Namen durch, las sie halblaut: »Niederwald, Pafenzinger, Rothemund, Liebermann, Burgmair, Trottmann, Schwertler, Kloster, Kugler, Schwarz. Ich werd die gleich noch informieren, dass sie das mit dem Messer wissen. Ist ja vielleicht aufgefallen, wenn einer mit so nem Ding durch die Straße gelaufen ist.«

»Hast du grad Kugler gesagt?«

Dick nickte. »Der steht da drauf, ja.«

»Ist das dieser Runde?«

»Rund?«

»Na ja, dieser Obelix-Typ, der Kuglerde halt.«

»Ach so. Ja, das ist der, ich würde sagen, ein guter, gedrungener Doppelzentner.«

»Ist der nicht bei der Landpolizei draußen bei Erlangen ... Uttenreuth?«

»War er vielleicht mal, ja, aber seit mindestens zwei Jahren ist er hier bei uns in Nürnberg. Wieso, kennst du ihn?«

»Ja, ich hatte schon mal mit ihm zu tun.«

»Gute Erinnerungen?«

»Gute, ja. Weißt duʼs nicht mehr? Damals die Geschichte in Erlenstegen und mit dem Golfplatz ...?«

Jetzt fiel es Dick wieder ein. »Na ja«, schloss Behütuns, wir sehn ihn ja morgen.« Kugler – wie war noch mal sein Vorname gewesen? Richtig: Dagobert. Wie man so heißen konnte. Obwohl, er hieß ja auch Behütuns, er brauchte gar nichts zu sagen. Und auch noch Friedemann. Dem Kugler, daran erinnerte er sich noch, war es bei der Sitzheizung im Wagen genauso gegangen wie ihm: Beide hatten das Gefühl gehabt, sich auf eine vom Vorgänger noch warme Klobrille zu setzen. Es schüttelte ihn innerlich, und er verdrängte den Gedanken, hier gab es Wichtigeres.

Gegen einundzwanzig Uhr verließen sie das Präsidium, heute konnten sie nichts mehr tun.

Als Behütuns daheim noch einmal in seinen Rechner schaute, fand er eine weitere Mail von Luna.

Lieber, lieber Friedo, am Donnerstag (21.11.) soll das Wetter so halbwegs werden. Es bleibt dabei, gleich früh halb neun? Ich kann ja nur bis mittags. Kleingeschaidter Höhe? Oder hast du einen anderen Vorschlag? Ich geh auch jeden Weg von dir. Ich freu mich so ... und bin sooooo nervös. Ich drück dich, deine Luna.

Um halb zwölf endlich, zwei Biere später, versuchte er zu schlafen.

Welcher Tag ist heute? Egal. Hauptsache, es ist nicht schon wieder gestern.

Saša Stanišić, »Herkunft«

II

Mittwoch, 13.11.2019

Sein Handy klingelte, Behütuns schreckte hoch. 0:37 Uhr zeigte es an.

»Ja?«, grunzte er ins Telefon. Entweder war es wichtig oder saublöd.

»Hummel hier, grüß Sie, Herr Behütuns. Oder besser: guten Morgen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich um die Zeit noch anrufe?« Die Stimme wirkte fröhlich. Um die Zeit! Es war die Ärztin aus der Erlanger Gerichtsmedizin. Hatte er überhaupt schon geschlafen? Behütuns war jedenfalls schlagartig hellwach.

»Hallo, Frau Dr. Hummel, nein, nein, Sie stören nicht. Überhaupt nicht. Sagen Sie bloß, Sie arbeiten noch?«

Frau Dr. Hummel am anderen Ende lachte. Er sah sie förmlich vor sich mit ihren leuchtenden Augen. Er hatte schon mehrfach mit ihr zu tun gehabt, war immer wieder eine Freude gewesen – die Zusammenarbeit, nicht der Anlass.

»Aber natürlich, wo denken Sie hin. Meinen Sie, wir warten bei so einem Fall bis morgen? Ich weiß doch, dass es Ihnen pressiert.« So jung sie auch war, schien sie ihm doch schon reichlich hartgesotten. Bei einer Leiche dieses Zustands, die sie ja auch noch hatte sezieren müssen – und wahrscheinlich hatte sie sich gerade erst die Handschuhe abgestreift –, so locker zu sein und sogar zu Scherzen aufgelegt ... na ja, wenn man den ganzen Tag nichts anderes tat, als tote Körper aufzuschneiden und zu untersuchen, musste man das wahrscheinlich können.

»Schießen Sie los.« Schon wieder so eine bescheuerte Formulierung. Was war bloß mit ihm los? Frau Dr. Hummel schien sich nicht daran zu stören, aber sie wurde ganz sachlich.

»Also, der kleine ...«

»Max.«

»Max Rothlauf, ja. Ich habe bei dem Kleinen sieben Stiche festgestellt ...«

»Können Sie etwas sagen über die Art des Messers?«, unterbrach Behütuns sie.

»Einseitig geschliffene Klinge, Typ besseres Küchenmesser, Rücken gerade, vorne spitz zulaufend, etwa dreißig Zentimeter lang, am Schaft viereinhalb Zentimeter stark. Genaueres kann ich Ihnen noch nicht sagen, dazu müssen Sie mir den morgigen Tag schon noch geben. Ist etwas komplizierter. Beziehungsweise den heutigen.«

Behütuns ging nicht darauf ein. »Was meinen Sie mit ›Genaueres‹?«

»Mit welcher Wucht die Stöße ausgeführt wurden. Wie viel das in Kilopond ist, meine ich, das kann ich noch nicht sagen, da müssen Sie noch etwas Geduld haben. Ist nicht ganz so leicht festzustellen bei einem so jungen Körper. Dazu muss ich erst die verschiedenen Knochendichten messen, um exakte Rückschlüsse ziehen zu können. Und in welcher Reihenfolge sie ihm zugefügt wurden, welcher tödlich war und so.«

Kilopond, dass sie so einen altertümlichen Begriff noch benutzte, dass sie ihn überhaupt kannte.

»Aber es waren sieben Stiche. Oder Schnitte. Einer quer übers Gesicht, so wie es aussieht von links unten nach rechts oben, hat die Wange aufgeschlitzt, die Nase, das Auge bis über die Stirn, ein zweiter, dies ein Stich, ging seitlich in den Hals, linke Seite, hat die Schlagader durchtrennt und den Kehlkopf, ein weiterer führt durchs Ohr bis tief in den Schädel, einer kam von oben am Kopf entlang in die Schulter, hat das rechte Ohr fast vollständig abgetrennt, ein weiterer, ebenfalls von oben, ist durchs Schlüsselbein unter das Schulterblatt und tief in die Lunge, und zwei schließlich von hinten in den Rücken, wahrscheinlich von oben her auf den liegenden Jungen ausgeführt. Wirkt auf mich blindwütig, fast wie Raserei.«

Behütuns versuchte augenblicklich, die Bilder im Kopf loszuwerden. Aber ihn interessierte etwas anderes: »Das heißt, er hat seinem Mörder in die Augen gesehen, als der erste Stich kam?«

»Schnitt. Das kann ich Ihnen nicht sagen, ist aber möglich, ja, wenn Sie den Schnitt über Backe, Nase und Auge meinen.«

Behütuns dachte kurz nach. »Und er war sofort tot?«

»Nach dem dritten ganz sicher, definitiv, ja, warum fragen Sie?«

»Weil Herr Rothlauf, sein Vater, gesagt hat, sein Sohn hätte noch geröchelt, als er ihn fand.«

»Ich glaube, das können Sie ausschließen, allenfalls ist durch eine Bewegung des Leichnams Restluft aus der Lunge entwichen, das kann passieren, wenn man den Körper bewegt oder hochnimmt. Nach solchen Stichen röchelt man nicht mehr, höchstens ein paar Sekunden, aber nach denen in den Rücken überhaupt nicht mehr. Zwei davon gingen ins Herz. Allerdings muss es ziemlich gespritzt haben, könnte ich mir denken. Ich weiß ja nicht, ob da eine Wand in der Nähe war, aber Blutspritzer sollten bis in eine Entfernung von ein, vielleicht sogar zwei Metern zu finden sein.«

»Sehr appetitlich, danke. Das wird die Spurensicherung feststellen.«

»So viel einstweilen zu Max. Mehr morgen.«

Behütuns bedankte sich, doch dann fragte er noch: »Sagen Sie, können Sie denn nach so einer Untersuchung überhaupt schlafen?« Immerhin ging es schon auf ein Uhr zu, und er selber schob gerade wieder aktiv die Bilder vom Nachmittag beiseite. Klappte aber nicht.

Da lachte sie schon wieder. »Schlafen? Kann ich sowieso nicht. Ich habe einen Säugling im Haus, der kommt alle zwei bis drei Stunden – und jetzt hat er eh Hunger, wenn ich heimkomme.«

Behütuns war ehrlich erstaunt. »Sie sind Mutter geworden? Meinen Glückwunsch! Davon hatte ich ja gar keine Ahnung.«

»Ist ja auch kein Wunder, Sie melden sich ja bloß, wenn es Schreckliches zu tun gibt.«

Behütuns überging die Spitze, sie hatten ohnehin nur beruflich miteinander zu tun. Aber er rechnete schnell nach. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Ja, schon über ein Jahr. Also hatte er zumindest die Schwangerschaft nicht übersehen. Oder vielleicht doch?

»Wie alt ist denn die Kleine schon ... oder ist es ein Er?«, fragte er schnell.

»Ein Er. Regulär vier Monate, aber eigentlich schon sechs.«

»Wie ...« Behütuns verstand nicht.

»Unser kleiner Paul kam zwei Monate zu früh.«

Behütuns wusste nicht, was antworten. Mit Kindern kannte er sich nicht aus, da hatte er keine Erfahrung. Er wollte nicht wissen, wie hilflos er ausgesehen hätte, hätte ihm jemand einen Säugling auf den Arm gelegt. So etwas Kleines und Zerbrechliches. Das dann vielleicht auch noch sabberte. Nein, er wollte das überhaupt nicht wissen. »Ja, dann noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch – und jetzt gehen Sie heim zu Ihrem Kleinen, und zwar auf der Stelle. Das ist ein Befehl.« Das war der Ton, den er beherrschte. Leicht burschikos, ein bisschen künstliche Distanz, aber immer mit einer Spur Humor; und doch spürbar auch einer Portion Herzlichkeit. So, dass ihm keiner böse sein konnte.

»Ja, danke. Ich melde mich dann, sobald ich Genaueres habe. Gute Nacht.« Es klackte am anderen Ende.

Die Nacht war kurz gewesen, und Behütuns hatte nur flach geschlafen. Kein erholsamer Schlaf. Um sechs Uhr beendete er das Bemühen und schaute noch vor sieben im Klinikum Nord vorbei, sprach mit Dr. Kinkel, dem Stationsarzt der Not- und Unfallchirurgie. Sah ziemlich verorgelt aus, dieser Doc, war aber auch schon sechsundfünfzig Stunden am Stück im Dienst, wie Behütuns erfuhr. Personalmangel, Einsparungen. Auch hier führten längst die Kaufleute das Regiment, es ging nur noch um das Wohl der Finanzen, längst nicht mehr um das der Menschen. Diktat der Wirtschaftlichkeit, kranke Welt. Da wünscht man sich die Verantwortlichen sofort unters Messer der Übernächtigten. Er selber hatte ja wenigstens ein paar Stunden geruht.

»Wie es Frau Rothlauf geht? Sie liegt auf Intensiv im künstlichen Koma.«

»Wird sie es schaffen?«

Der Arzt machte ein skeptisches Gesicht. »Das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner sagen. Und«, er überlegte einen Moment, als suche er nach der richtigen Formulierung, »es kann auch keiner sagen, ob es für die Frau gut ist, wenn sie wieder zurückkommt. Oder für ihre Lieben. Sie hat Verletzungen im Bereich des Stirnlappens sowie am Hinterkopf im Bereich der Wirbelsäule. Ein Stich ging schräg durchs Auge ins Hirn, einer hat ihr das Gesicht aufgeschlitzt. Der Täter muss getobt haben, wie von Sinnen. Vermute, ein Rechtshänder, aber ich bin kein Gerichtsmediziner. Wir haben Splitterbildung und Einblutungen ins Hirn. Die Splitter haben wir ihr heute Nacht entfernt, aber welche Auswirkungen die Verletzungen auf die Funktionsweise des Gehirns haben, wissen wir noch nicht.«

Der Arzt sah auf die Uhr, er schien es eilig zu haben, trotzdem ließ er Behütuns davon nichts spüren und nahm sich Zeit. Bewundernswert. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »im Bereich der Stirn verortet man im Allgemeinen die Emotionen, Empathie und so. Sozialverhalten. Wir haben schon Verletzungen hier gehabt, die waren bei Weitem nicht so gravierend, aber in ihrer Folge katastrophal. Die Menschen waren überhaupt nicht mehr zu sozialen Beziehungen fähig. Allerdings hatten wir auch schon Patienten mit intensiveren Verletzungen, bei denen hinterher gar nichts war, die waren wieder völlig normal. Kann man also nichts sagen. Ich zumindest nicht.«

»Und die anderen Verletzungen?«

»Einzelheiten oder nur grob?«

»Wenn Sie mir die Einzelheiten ersparen können ...?« Die Schilderungen von heute Nacht blubberten schon wieder aus der brüchigen Versenkung, und die konkrete Vorstellung eines Stichs ins Auge verkrampfte Behütuns den Magen, sein Kaffee begann bereits zu rebellieren.

Dr. Kinkel zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht hat die Frau Glück –, aber sie wird zeitlebens entstellt sein. Im Gesicht und an einer Hand.«

»An der Hand?«

»Die Knochen der Finger einer Hand sind teilweise zersplittert. Damit haben wir heute Nacht noch gar nicht begonnen. Erst einmal muss sie mit den übrigen Verletzungen einigermaßen fertigwerden. Aber wenigstens ist der Zustand der Patientin jetzt halbwegs stabil.«

In Behütuns keimte eine Vermutung auf, er wollte jedoch abwarten, was der Arzt dazu sagte. »Wie erklären sich diese Handverletzungen?«

Dr. Kinkel musste nicht überlegen. »Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber ich tippe auf Abwehrverhalten. Allerdings«, es entstand erneut eine kurze Pause, »die anderen Verletzungen, Stiche in Schulter, Rücken und Bauch, waren für uns gravierender. Wir mussten Venen flicken, auch den Darm, ein Stich ging in die Leber, mit immensen Blutungen in den Bauchraum. Sie wäre uns zweimal fast weggeknickt, allein schon wegen des Blutverlustes. Wollen Sie eigentlich einen Kaffee?«

Behütuns winkte ab, er war froh, dass der, den er schon hatte, dort blieb, wo er war.

»Wissen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, die bei der OP dabei waren, und ich, wir erklären uns das so: Die Frau hat den Angreifer gesehen und ist auf ihn zu. Deshalb trifft sie der erste Stich mit voller Wucht. Sie sieht ihn mit dem Messer auf sich zukommen, sieht, dass er zustechen will, und nimmt zum Schutz instinktiv die Hände vors Gesicht. Dieser Stich zertrümmert ihr die Finger der Hand, dringt hindurch und tief ins Auge ...«

Behütuns winkte ab, sein Magen. Kinkel konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen.

»Nur eines noch: Wie viele Stiche waren es insgesamt?«

»Sieben oder acht. Zum Teil bis zu dreißig Zentimeter tief.«

Behütuns sah auf die Uhr, ein reiner Fluchtreflex. »Sagen Sie, kriegen wir das alles auch noch schriftlich?«

Der Arzt schaute recht skeptisch. »Zu den Verletzungen kriegen Sie einen medizinischen Bericht, zu meinen Vermutungen nicht, dazu sind wir hier die Falschen. Aber wenn Sie mir einen Gerichtsmediziner vorbeischicken, die können so etwas viel besser, ja, mit dem kooperiere ich gern. Außerdem lerne ich dann noch etwas.«