Sanfte Gewalt - Marie Louise Fischer - E-Book

Sanfte Gewalt E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Die blutjunge Witwe Katrin Lessing hat es wahrhaftig nicht leicht: Nicht nur, dass sie ihren Mann verloren hat, sie muss sich auch gegenüber ihrer herrischen Mutter und der schwierigen zehnjährigen Tochter Danny behaupten. Und ihre Mitarbeit in dem Strickwarengeschäft ihrer Mutter füllt sie nicht aus; sie möchte mehr als bisher wieder journalistisch arbeiten. Leider kann auch ihr Privatleben all dies nicht ausgleichen. Ihre merkwürdige Beziehung zu dem egoistischen Jean-Paul Quirin hat keine Zukunft, aber sie kann sich nicht von ihm befreien. Doch auch eine solche Lebenssituation kann sich zum Guten wenden. Dann nämlich, wenn es im Hintergrund jemand gibt, der fest an einen glaubt.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Sanfte Gewalt

Roman

Saga Egmont

Sanfte Gewalt

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719152

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

»Der hier gefällt mir!«, sagte die junge Frau, die gerade etwas zögernd und unsicher das Handarbeitsgeschäft betreten hatte, und trat dicht an einen grau-weiß-gelben Pullover, der über einen niedrigen Paravent drapiert war. Katrin Lessing lächelte. »Ja, der ist sehr schön.« Sie wusste, was als Nächstes kommen würde, und es kam. Die potenzielle Kundin drehte das Preisschildchen um. »Aber unverschämt teuer!«

»Reine Seide«, erklärte Katrin, immer noch lächelnd. Das Telefon klingelte.

Katrin wünschte den Hörer abnehmen zu können, aber sie wusste, dass ihr das nicht gelingen würde. Es gelang ihr nie. Ihre Mutter, die jetzt in ein Gespräch mit einer alten Dame verwickelt war, wäre ihr zuvorgekommen. Sie stand dem Apparat näher, rechts hinter dem Verkaufstisch; das war eine Position, die sie sich nicht nehmen ließ.

Auch in der Wohnung über dem Laden war das andere Telefon im Wohnraum gleich neben der Tür zu ihrem Zimmer aufgestellt, sodass sie, Frau Helga Großmann, immer die Erste sein konnte, wenn es läutete. Weder Katrin noch ihre Tochter, die zehnjährige Daniela, hatten eine Chance.

»Trotzdem!«, widersprach die kritische Kundin. »Zu dem Preis werden Sie das gute Stück nie und nimmer losschlagen.«

Katrin verzog keine Miene. »Das wäre halb so schlimm. Dann würde ich ihn eben selber tragen.«

Das Telefon klingelte weiter. »Ein schlechtes Geschäft für Sie.«

»Immer noch besser, als ihn unter seinem Wert zu verschleudern.«

Die beiden Frauen musterten sich, und die Kundin las wohl in dem sanftmütigen, aber festen Blick Katrins grauer, leicht kurzsichtiger Augen, dass es hier nichts zu handeln gab.

»Schade«, sagte sie.

Das Telefon klingelte weiter, ohne dass Helga Großmann sich darum gekümmert hätte. Katrin stieß die Mutter leicht mit dem Ellenbogen an. Helga Großmann reagierte nur mit einem Kopfschütteln.

Katrin blieb nichts anderes übrig, als sich wieder ihrer Kundin zuzuwenden. »Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Warum stricken Sie sich das Modell nicht selber? Die genaue Anleitung finden Sie hier, in der Zeitschrift ›Libertà.‹ Sie zog das bunte Blatt aus einem Stapel und schlug die Seite mit der Abbildung auf.

»Tatsächlich. Das ist er. Haben Sie ihn danach gestrickt?«

»Ja und nein. Ich habe ihn für die Zeitschrift entworfen.«

»So etwas können Sie? Donnerwetter!«

»Das ist mein Beruf.«

Jetzt endlich, Katrin hatte nicht mitgezählt, wie oft es geklingelt hatte, nahm Helga Großmann den Hörer ab. »Hier ›Die kleine Strickstube«, meldete sie sich und lauschte dann. »Ich weiß nicht, ob ich das fertig bringe.«

»Es ist ganz einfach. Nur rechte und linke Maschen und hier ein paar Stäbchen …«

»Es ist für dich«, erklärte Helga Großmann in einem Ton gezwungener Sachlichkeit und reichte ihrer Tochter den Hörer.

Katrin griff zu, während sie noch »Bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte. »Katrin Lessing.«

»Schön, dass ich dich erwische, chérie!«, ertönte Jean-Pauls tiefe Stimme mit dem besonderen, halb französischen, halb süddeutschen Akzent. »Wie geht es dir? Ich hoffe gut?«

Katrin spürte, wie das Blut ihr zu Kopf stieg. Ihre Stimme zitterte. »Tut mir leid. Ich kann mich nicht unterhalten. Ich bin im Geschäft.«

»Meine arme Petite, immer in Geschäften«, erwiderte er mit leichtem Spott.

»Jean-Paul, du weißt genau …«

»Ich weiß, ich weiß, ich bin ein lästiges Subjekt …«

»Nein, überhaupt nicht!«

»Hättest du Lust, mich heute Abend zu treffen? Kannst du es einrichten?« Heute Abend? Das war knapp. Katrin überlegte kurz. »Wenn es nicht geht, fahre ich gar nicht über Düsseldorf.«

»Doch, natürlich lässt sich das machen. Ich werde dich erwarten. Wann?«

»So genau kann ich das nicht sagen. Zwischen acht und zehn Uhr, ja?«

»Also bis dann! Ich freue mich!«, sagte Katrin und legte hastig auf.

»Wegen mir«, sagte die Kundin belustigt, »hätten Sie sich nicht so beeilen müssen.«

»Sehr nett von Ihnen.« - »Ich habe Zeit.«

Katrin atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie warf einen raschen Seitenblick auf ihre Mutter. Helga Großmann tat, als wäre sie immer noch ganz vertieft in ihr Gespräch mit der alten Frau Lindner. Aber Katrin war sicher, dass sie, auch wenn sie das Gespräch nicht mitgehört, so doch wenigstens jedes ihrer Worte registriert hatte.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Wenn Sie Zeit haben, um so besser. Ich meine, wenn Sie über reichlich Mußestunden verfügen. Dann wird Ihnen das Stricken sogar Spaß machen. Natürlich werde ich Ihnen gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Sie meinen, es ist ‘ne Methode, die Zeit totzuschlagen?«

»Nein, ganz und gar nicht. Die Beschäftigung mit schönen Materialien ist doch genussvoll, und am Ende kommt auch noch was dabei heraus. Wenn Sie sich entschließen könnten, sollten Sie vielleicht andere Farbtöne wählen.«

»Aber gerade die Zusammenstellung von Grau, Weiß und Gelb gefällt mir.«

»Dabei soll es ja auch bleiben. Ich habe nur an leicht veränderte Nuancen gedacht.« Sie beugte sich leicht vor und griff nach den Seidensträngen, die auf einer Leine quer durch den Verkaufsraum aufgereiht waren. »Ein etwas wärmeres Gelb … dies hier vielleicht? Und das Weiß gedeckter? Das Grau mehr zu Granit hin?«

Katrin war bemüht, ihre ganze Aufmerksamkeit der neu erworbenen Kundin und dem geplanten Projekt zu schenken. Aber mit den Gedanken und dem Herzen - wie hätte es anders sein können? - war sie schon ganz bei Jean-Paul. Sie war entschlossen, die Verabredung einzuhalten. Schwierig war nur, das zu schaffen, ohne bei ihrer Mutter eine Verstimmung und bei ihrer Tochter Protest auszulösen.

An diesem Vormittag lief das Geschäft gut - was durchaus nicht immer der Fall war. Erst gegen zwölf, als Katrin die Tür zur Mittagspause verschlossen hatte, blieben Mutter und Tochter allein. Sie räumten auf. »Diese neue Kundin ist nett, nicht wahr?«, sagte Katrin leichthin. »Wenn ihr dieser erste Pullover gelingt …«

»Du willst also wieder einmal nach Düsseldorf fahren«, bemerkte Helga Großmann, und es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

»Mutter, bitte, du hast doch nichts dagegen? Es kommt selten genug vor.«

»Das fällt dir also selber auf.«

»Natürlich. Wir haben uns jetzt schon wieder einen Monat nicht gesehen.«

Helga Großmann schwieg, faltete, ohne ihre Tochter auch nur anzusehen, Pullover zusammen.

Katrin fühlte, dass es auch für sie besser gewesen wäre, den Mund zu halten, aber sie fühlte sich provoziert.

»Auf was willst du eigentlich hinaus?«

»Ich finde, diese Frage kannst du dir selber beantworten.«

»Er hat unheimlich viel zu tun, reist kreuz und quer durch die Welt …« Katrin brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie dies der Mutter schon unzählige Male zu erklären versucht hatte.

»Du kannst ihm also keinen Vorwurf daraus machen …«

Unvermittelt hob Helga Großmann den Kopf und blickte Katrin an, aus Augen, die das gleiche klare Grau zeigten wie die ihrer Tochter, denen jedoch die funkelnden Brillengläser einen harten, fast herrischen Ausdruck gaben. »Ich? Ihm einen Vorwurf machen? Wie käme ich denn dazu?«

»Alles, was du sagst, zielt doch darauf hinaus.«

»Aber durchaus nicht. Du bist eine erwachsene Frau, und ich respektiere das. Ich denke gar nicht daran, mich in deine Angelegenheiten zu mischen.«

»Aber dann …«

»Ich würde nur wünschen, dass du über deine Situation nachdenkst.«

»Ich bin mit meiner Situation voll und ganz zufrieden.«

Helga Großmann lächelte, wobei sich ihre makellosen dritten Zähne zeigte. »Glaub mir, mein Liebes, dann bin ich es auch. Ich freue mich doch, dass du gelegentlich hier herauskommst, dich amüsierst, einen Flirt hast.«

Katrin wusste, dass es klug gewesen wäre, es bei dieser Erklärung bewenden zu lassen. Aber wieder konnte sie den Mund nicht halten. »Wenn das so ist, weißt du es aber sehr gut zu verbergen.«

»Nichts liegt mir mehr am Herzen als dein Glück, und ich glaube, das habe ich dir schon oft genug bewiesen.«

Plötzlich fühlte Katrin sich beschämt. Sie hatte das Gefühl, dass sie es war, die Schwierigkeiten heraufbeschwor, nicht die Mutter. »Verzeih mir«, bat sie zerknirscht, »bitte, verzeih!«

»Ist ja schon gut, Liebes.« Helga Großmann strich ihr mit der gepflegten, schön manikürten Hand über das rabenschwarze Haar. Katrin schluckte. »Dann geh’ ich jetzt nach oben und kümmere mich um das Essen.«

»Tu das! Ich komme nach.«

Katrin hatte das Hinterzimmer schon erreicht, von dem eine schmale Innentreppe in den ersten Stock und damit in ihre gemeinsame Privatwohnung führte, da wurde sie zurückgerufen.

»Katrin!« - »Ja?«

»Wir haben Karten für die Stadthalle.«

»Unser Abonnement, ja, natürlich.« Katrins Augen weiteten sich, wurden schwarz. »Das hatte ich ganz vergessen.«

Helga Großmann sagte nichts dazu, stand einfach da, sehr beherrscht und gefasst, vom gut frisierten und sorgsam blondierten Haar bis zu den Spitzen ihrer eleganten Pumps ein einziger wortloser Vorwurf.

Katrin war wütend und betroffen zugleich. Es musste der Mutter weh tun, so mir nichts, dir nichts versetzt zu werden. Wahrscheinlich empfand sie es als beleidigend, dass Katrin ein Theaterabend, auf den sie sich seit langem gefreut hatten, auf einmal ganz unwichtig geworden war. Trotzdem hatte Katrin das Gefühl, dass ihr wieder einmal mehr der Schwarze Peter zugeschoben werden sollte. Sie wand sich unter dem funkelnden Blick, der sich bis in die Tiefen ihrer Seele zu bohren schien. »Ach, mach dir nichts draus!«, entschied Helga Großmann unerwartet und mit einem wegwerfenden Achselzucken. »Wahrscheinlich kriege ich die Karten noch mit Kusshand an der Abendkasse los.«

»Aber nein, warum denn?«, gab Katrin hastig zurück; inzwischen war ihr wieder eingefallen, dass eine Aufführung von Bernard Shaws Komödie »Pygmalion«, durch eine Kölner Theatertruppe auf dem Spielplan stand. »Dass ich nicht da bin, ist doch kein Grund für dich zu verzichten. Nimm einfach Daniela mit.«

»Das Kind?«

»So klein ist sie doch nun auch nicht mehr. Auch wenn sie nur die Hälfte versteht, wird es ihr bestimmt gefallen.«

»Aber sie ist kein Ersatz für dich.«

»Niemand ist ein Ersatz für irgendwen. Aber wenn ich jetzt nicht die Kartoffeln aufsetze, werden sie nicht mehr rechtzeitig gar.« Katrin lief davon, und sie spürte selber, dass es wie eine Flucht war.

Das Mittagessen nahmen Großmutter, Mutter und Kind an dem hohen Tisch im Wohnraum ein, in dem sie sich auch nach Feierabend aufzuhalten pflegten. Hier standen auch der Farbfernseher und die Stereoanlage, und es war oft schwierig, sich über das Programm einig zu werden. Anfangs bestritt Daniela, die sich von ihren Freundinnen Danny nennen ließ, die Unterhaltung mit Schulgeschichten. Aber bald spürte sie, dass etwas in der Luft lag, und wurde stumm.

Sie hatte das gleiche rabenschwarze Haar wie ihre Mutter, trug es aber jungenhaft kurz geschnitten. Die braunen Augen ihres verstorbenen Vaters gaben ihr etwas Zigeunerhaftes. Statt Röcken, Blusen oder gar Kleidern, in denen die beiden Frauen sie gern gesehen hätten, bevorzugte sie Jeans und T-Shirts. Auch die selbst gestrickten Pullover, für die man sie immer mal wieder zu erwärmen suchte, lehnte sie ab.

Katrin konnte sich nicht vorstellen, dass ihrer Tochter die wirklich hübschen und tragbaren Modelle, die sie mit ihren flinken Händen für sie gearbeitet hatte, tatsächlich nicht gefielen. Sie sah in dieser Zurückweisung einen Widerstand, der direkt gegen ihre Person und ihre Bevormundung gerichtet war. Einmal war sie nahe daran gewesen, ein Drama daraus zu machen, hatte aber gerade noch rechtzeitig eingesehen, dass es sinnlos gewesen wäre. Also verzichtete sie darauf, Daniela etwas aufzuzwingen, was das Mädchen aus welchen Gründen auch immer nicht mochte. Dabei blieb das Gefühl, dass diese Haltung dem äußerlichen Frieden zwar zugute kam, das eigentliche Problem jedoch nicht löste. Es lag vielleicht darin, dass Daniela ohne Vater aufwachsen musste. Doch daran war nichts zu ändern.

Das war eine Beunruhigung, die Katrin stets empfand, wenn sie Daniela in einem ihrer geliebten Baumwollhemdchen vor sich sah, die entweder ausgewachsen waren und in der Taille hochrutschten oder, zwei Nummern zu groß gewählt, formlos um ihren schmalen Körper flatterten. Bei dem heutigen, bedrückenden Mittagessen waren ihre Gedanken ausnahmsweise weit weniger bei ihrer Tochter als bei dem geliebten Mann. Die erste glühende Wahnsinnsfreude auf das Wiedersehen war ihr zwar schon durch den Zusammenstoß mit der Mutter getrübt worden, aber sie wusste, sie würde neu entflammen, sobald sie in seinen Armen lag. Jetzt galt es, alles so reibungslos wie möglich zu organisieren. Sie pflegte ihr langes Haar nicht jeden Tag zu waschen, sondern hatte es statt dessen zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Jean-Paul aber liebte es offen. Es dauerte seine Zeit, bis sie es trockengeföhnt hatte. Das würde nur jetzt, in der Mittagspause, möglich sein, denn gleich nach Geschäftsschluss musste sie los, wenn sie nicht abgehetzt in Düsseldorf ankommen wollte. Dafür aber musste sie Mutter und Tochter bitten, das Abräumen und Aufräumen der Küche allein zu übernehmen, was ihr schwer fiel, denn sie fürchtete auf Unverständnis zu stoßen.

›Verdammter Jean-Paul!‹, dachte sie. ›Warum kannst du mich nicht wenigstens einen Tag vor deiner Ankunft verständigen!‹

Sie ahnte nicht, dass ihre Mutter im gleichen Augenblick fast das Gleiche dachte. Helga Großmann empfand es als Unverschämtheit, ja, geradezu als eine Missachtung ihrer Tochter, dass dieser Mann es wagte, sie so kurzfristig zu einem Rendezvous zu bestellen. - ›Er behandelt sie wie ein Callgirl. Dass sie sich das gefallen lässt! Wenn sie eine allein lebende junge Frau wäre - Single nennt man das jetzt ja wohl -, wäre es vielleicht noch verständlich. Nein, auch dann nicht. Aber er weiß, dass sie Familie hat. Er zwingt auch mich rücksichtslos und brutal, meine Pläne umzuwerfen. Woher nimmt er diese Chuzpe?‹

»Danny …«, begann Katrin unsicher. Daniela blickte von ihrem Teller hoch, sofort alarmiert. Die Mutter benutzte diese Kurzform ihres Namens nur, wenn sie etwas Besonderes von ihr wollte.

Katrin setzte noch einmal an. »Danny, hast du Lust, heute Abend mit Oma ins Theater zu gehen?«

»Warum?«

Katrin stocherte nervös in ihrem Gemüse. »Ich habe dir eine ganz einfache Frage gestellt. Willst du sie mir, bitte, genauso einfach beantworten.«

»Erst will ich wissen, was dahinter steckt.«

»Du darfst heute Abend mit der Oma in die Stadthalle, wenn du jetzt gleich den Küchendienst für mich übernimmst.«

»Ach so! Du ziehst mal wieder auf den Judel-Fudel.«

»Daniela!«, rief Katrin empört.

»Aber wenn es doch wahr ist! Du hast doch was vor, Mutti, oder etwa nicht?«

»Es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich einmal im Monat nach Düsseldorf fahren will.«

»Du warst vorige Woche da.«

»Mit deinem Großvater. Du wolltest ja nicht mit.«

»Und mit wem triffst du dich diesmal?« - »Mit einem guten Freund.«

»Mit dem, der dir immer die bunten Ansichtskarten schickt?«

»Ja.« Daniela sprang auf. »Du, den möchte ich kennen lernen!«

Katrin überlegte. Bestimmt würde es eine Enttäuschung für Jean-Paul sein, wenn sie Daniela mitbrächte. An eine Liebesnacht wäre in diesem Fall ja nicht mehr zu denken. Aber vielleicht hatte Daniela ja das Recht, den Mann kennen zu lernen, der ihr selber so viel bedeutete.

Aber Helga Großmann kam ihrer Antwort zuvor. »Setz dich, Daniela«, sagte sie scharf, »wir sind noch bei Tisch. Außerdem gehört es sich nicht für ein kleines Mädchen, sich Erwachsenen aufzudrängen.«

Daniela ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Wer drängt sich denn wem auf?«

»Nun tu nicht so! Du verstehst genau, was ich meine. Es ist unmöglich, dass deine Mutter dich zu ihrem Freund mitnimmt.«

»Es war ja bloß ein Spaß«, behauptete Daniela.

»Du kannst ihn kennen lernen«, sagte Katrin, »aber ein anderes Mal.«

»Bildest du dir ein, dass mir was daran liegt?«

»Aber du sagtest doch eben …«, begann Katrin, unterbrach sich dann aber, weil sie begriff, dass ihre Tochter sie nur hatte ärgern wollen. »Wie kannst du nur so sein, Daniela!«

»Na, wie bin ich denn?«

»Alles andere als lieb.«

»Schluss der Debatte!«, bestimmte Helga Großmann. »Du darfst mich heute in die Stadthalle begleiten, Daniela. Du hast allen Grund, dich darüber zu freuen. Es wird ›Pygmalion‹ gegeben.«

»Kenne ich nicht.«

»Es gibt vieles, was man in deinem Alter noch nicht kennt.«

»Es ist die gleiche Geschichte wie ›My fair Lady‹«, erklärte Katrin, »nur ohne Musik.«

»Ich werde dich nicht noch einmal auffordern«, sagte die Großmutter, »wenn du keine Lust hast, nehme ich jemand anderen mit. Ich brauche nur ein bisschen herumzutelefonieren.«

»Brauchst du nicht. Ich komm’ schon mit.«

»Mach bloß keine Gnade daraus!«

Überraschend setzte Daniela ihr gewinnendstes Lächeln auf, das ihr kleines, dunkles Gesicht aufstrahlen ließ, als würde es von einer inneren Sonne erleuchtet. »Fällt mir im Traum nicht ein, Omi. Ich freu mich ja wie ein Schneekönig.«

Katrin und ihre Mutter sahen sich über den Tisch hinweg an, und auch ihre Züge entspannten sich. Es war dieses Lächeln, das sie immer wieder erweichte, gleichgültig, was Daniela angestellt hatte oder wie ungezogen sie gewesen war. »Na, dann wäre das ja zur allgemeinen Zufriedenheit geregelt«, sagte Katrin, »darf ich schon aufstehen?«

Helga Großmann erhob sich und sammelte die Teller ein. »Ich denke, wir sind alle fertig. Lass dir nur Zeit bei deiner Toilette. Ich halte die Stellung auch allein. So groß wird der Ansturm nach der Mittagspause ja nicht sein.«

Katrin verstand, was das bedeuten sollte. »Ich bin pünktlich, Mutter«, versprach sie, »nur keine Sorge.«

Tatsächlich nahm Katrins Schönheitspflege nicht viel Zeit in Anspruch. Ihre schlanken Hände mit den rundgefeilten, rosa polierten Nägeln waren ohnehin in Ordnung, mussten es sein, weil sie stets im Blickfeld der Käuferinnen und auch der vereinzelten männlichen Kunden lagen. Ihre schmalen Füße waren genauso gepflegt, Achselhöhlen und Beine glattrasiert. Es dauerte nur, bis sie das dichte lange Haar, das sie unter der Dusche gewaschen hatte, mit dem Föhn getrocknet hatte.

Beim Bürsten entdeckte sie ein silberweißes Haar. Es war nicht das erste, und dennoch gab ihr der Anblick einen Stich. War es möglich, dass sie genauso früh ergrauen würde wie die Mutter, an die sie sich mit dunklem Haar gar nicht mehr erinnern konnte?

»Da bin ich über Nacht ergraut«, pflegte Helga Großmann zu behaupten, wenn sie davon erzählte, wie sie entdecken musste, dass ihr Mann sie betrogen hatte.

Alle Freundinnen und sogar Daniela kannten diese Geschichte, was zur Folge hattte, dass das kleine Mädchen in ihrem Großvater einen Verräter und Bösewicht sah. Auch Katrin war mit dieser Vorstellung aufgewachsen und hatte sich erst als Erwachsene mit ihrem Vater versöhnen können.

Helga Großmann hatte seinerzeit rigoros die Konsequenzen gezogen. Keinen Entschuldigungen und Beteuerungen zugänglich, hatte sie ihren Mann verlassen, die Scheidung eingereicht und war in das elterliche Haus in Hilden heimgekehrt. Katrin war damals fünf Jahre alt gewesen, noch ganz unfähig zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. An die Zeit vor der Scheidung konnte sie sich auch heute noch nur sehr vage erinnern. Sie sah sich an der Hand des Vaters über eine Mauer balancieren, auf Vaters Schoß sitzend, die Ärmchen um seinen Hals geschlungen, auf seinen breiten Schultern - inzwischen kamen sie ihr gar nicht mehr so breit vor - reitend. Das Gefühl war noch da, dass sie damals in einer heiteren, glücklichen und fest gefügten Welt gelebt hatte.

Danach war alles verwirrend geworden. Die fremde Wohnung, der Umgang mit den Großeltern, die ihr uralt vorkamen, Streit unter den Erwachsenen, den man vor ihr verbergen wollte, den sie aber doch mitbekam.

Den Vater sah sie erst nach der Scheidung wieder, an den gerichtlich festgesetzten Besuchstagen. Damals hatte er sich redlich um sie bemüht. Aber sie war schon blockiert gewesen.

»Er liebt uns nicht mehr«, hatte die Mutter ihr eingehämmert.

Einmal hatte er ihr eine Babypuppe geschenkt, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte. Trotz ihrer Verbocktheit hatte sie ihre Freude nicht verbergen können. Als sie strahlend mit ihr nach Hause kam, hatte die Mutter gesagt: »Lass dich nicht einwickeln. Das tut er doch nur, um mich zu ärgern.« Sie hatte die Tür des Kleiderschranks aufgerissen und einen Karton herausgenommen. »Sieh mal! Die gleiche Puppe solltest du von mir zum Geburtstag bekommen.« Sie öffnete den Karton, und das Puppenkind, das Katrin daraus entgegenlächelte, sah genau wie die Puppe aus, die der Vater ihr geschenkt hatte, das gleiche blaue Strampelhöschen, das gleiche weiße Jäckchen und das gleiche weiche blonde Lockenhaar.

Katrin hatte kein Wort hervorgebracht.

»Nimm sie dir nur!«, hatte die Mutter gesagt. »Ich mag sie nicht länger verstecken.«

Katrin war fassungslos gewesen. Wenn sie die zweite Puppe zurückwies, würde sie die Mutter damit verletzen. Der Vater war weg. Ihn konnte sie nicht erreichen. Seine Puppe konnte sie ihm also nicht zurückgeben. »Da siehst du, was dein Vater mal wieder angestellt hat.« Unvermittelt, wahrscheinlich doch von Katrins Verwirrung berührt, wurde die Mutter weicher. »Denk dir einfach, es sind Zwillinge, Liebes. Mit Zwillingen kann man bestimmt herrlich spielen.«

Katrin hatte ihren Rat befolgt. Sie hatte es jedenfalls versucht. Aber aus ihr unerklärlichen Gründen mochte sie beide Puppen nicht mehr leiden. Das Lächeln ihrer lackierten Lippen, in die man einen Schnuller oder den Sauger eines Fläschchens stecken konnte, schien ihr voller Hohn zu sein. Die blauen Kulleraugen blickten kalt wie Eis.

›Warum‹, dachte Katrin, während sie sich das weiße Haar mit der Pinzette auszupfte und achtsam prüfte, ob es das einzige gewesen war, ›muss ich immer wieder über diese alten Geschichten nachdenken? Sie liegen so weit zurück und haben doch gar nichts zu bedeuten. Ich sollte mich lieber beeilen, damit Mutter nicht böse wird.‹

Sie streifte den Bademantel ab und, bevor sie sich anzog, betrachtete sie sich kurz im Spiegel. Sie war zu dünn, stellte sie wieder einmal mehr fest. Wenn nicht der spitze kleine Busen gewesen wäre, hätte sie ein mageres Neutrum sein können. Angezogen wirkte sie mit ihrer schmalen Taille, den langen Beinen, den geraden Schultern und dem kleinen Po nur schlank. Alles, was sie trug, sah gut an ihr aus. Ihre Freundinnen fanden ihre schlanke Linie beneidenswert. Aber nackt war sie einfach zu dünn. Das sagte auch ihre Mutter, und sicher fand das auch Jean-Paul, wenn er es auch nicht aussprach.

Man konnte fast die Rippen zählen. Wenn sie nur ein bisschen mehr Fleisch ansetzen könnte. Sie wollte ja nicht rundlich sein, und schon gar nicht dick, aber ein bisschen mehr Po, vielleicht sogar ein kleiner Bauch, vor allem aber vollere Schultern wären ein wahrer Segen gewesen. Aber da war nichts zu machen.

Dabei aß und trank sie gerne gut. Nur setzte es bei ihr nicht an, und wenn sie ihre Magenschmerzen hatte, brachte sie überhaupt nichts herunter.

Inzwischen hatte sie sich Strümpfe und Schuhe angezogen, war in ihren Büstenhalter und in einen glockenförmig geschnittenen Rock aus weichem rostfarbenen Leder geschlüpft. Prüfend brachte sie ihr Gesicht nahe an den Spiegel. ›Wenn das so weitergeht‹, dachte sie, werde ich bald eine Schminkbrille brauchen!‹ - Das war eine Vorstellung, die sie nicht erschreckte, sondern die sie sogar ganz lustig fand. Noch sah sie sich gut genug. Ihre kurzsichtigen grauen Augen, von schwarzen dichten Wimpern umschattet, beherrschten ihr schmales Gesicht. Mit ein paar raschen Zupfern brachte sie die glänzenden Brauen in Form, strich sie mit dem angefeuchteten Mittelfinger glatt und gab den Wimpern Schwung nach oben. Dann legte sie sich ein sanftes Rosa auf die Lippen. Mehr bedurfte es nicht. Ihre Haut, sehr rein und von Natur aus hell, war jetzt, am Ende des Sommers, leicht gebräunt. Hätte sie sich in die Sonne gelegt, wäre sie dunkel wie eine Haselnuss geworden. Aber das tat sie nicht, weil sie fand, dass es nicht zu ihr passte. Lange Jahre hatte sie sich über die sieben kleinen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken geärgert, die, was immer auch sie dagegen unternommen hatte, spätestens im April dort auftauchten. Inzwischen gefielen sie ihr fast, weil Jean-Paul sie liebte, und sie hatte es aufgegeben, sie mit Schminke oder Puder zu vertuschen.

Nach einigem Überlegen zog sie einen weiten, wollig weichen Pullover über, weiß, mit einem kunstvoll eingestrickten bunten Papagei auf der Brust. - ›Ich hätte mir die Lippen jetzt erst nachziehen sollen‹, dachte sie. Aber nun war es vorbei. Der Stift hatte sich nicht verschmiert. Sie bürstete noch einmal ihr Haar, bis es wie eine rabenschwarze Wolke ihr Gesicht umrahmte und in einer glatten Welle auf den Rücken hinabfloss.

›Vielleicht‹, dachte sie, ›werde ich in Düsseldorf Lidschatten auflegen‹. - Aber sie wusste schon, dass sie es nicht tun würde, falls Jean-Paul nichts Besonderes mit ihr vorhatte. Ihre klaren Augen, strahlend vor Vorfreu de, waren auch ohne Ummalung ausdrucksvoll genug. In den letzten fünf Minuten vor Geschäftsöffnung vervollständigte sie den Inhalt ihres Kosmetikkoffers, packte die wenigen Sachen ein, die sie in Düsseldorf brauchen würde, dazu einen Beutel mit einem begonnenen Schultertuch. In der Küche versorgte sie sich mit Butter, Brot, Kaffeebohnen und Sahne, alles sorgfältig in Alufolie verpackt.

Dann sauste sie die Innentreppe zum Laden hinunter und rief: »Mutter, da bin ich!«

Es war schon eine Kundin im Geschäft.

»Du hättest dich gar nicht so beeilen müssen«, sagte Helga Großmann, »Frau Kübler und ich sind ganz gut allein zurechtgekommen.«

Die Kundin, eine Frau in mittleren Jahren, hatte über Katrins Auftritt gelächelt. »Heute sehen Sie wieder mal ganz besonders hübsch aus, Frau Lessing.«

»Ich habe mir gerade die Haare gewaschen.«

»Meine Tochter hat was vor. Deshalb kann sie mich auch nicht ins Theater begleiten.« - Es klang vorwurfsvoll.

›Mutter, das ist doch kein Thema!‹, hätte Katrin beinahe gesagt, aber sie zog es vor, den Mund zu halten.

Sie war froh, dass die Kundin nicht darauf einging. »Einen entzückenden Pullover haben Sie da an!«, bemerkte Frau Kübler stattdessen. »Meinen Sie, den könnte ich auch hinkriegen?«

»Ja, natürlich«, versicherte Katrin, ohne eine Miene zu verziehen, obwohl sie sich diese schon vom Alter gezeichnete Frau schwer in einem solchen Modell vorstellen konnte.

»Für meine Tochter!«, erklärte Frau Kübler. »Es wäre vielleicht eine nette Überraschung zu Weihnachten. Ob ich es bis dahin hinkriege?«

»Wenn Sie fleißig sind, sicher. Nur das Vorderteil ist ja ein bisschen kompliziert. Ärmel und Rücken werden glatt gestrickt.«

»Und wo finde ich die Anweisung? In der »Libertà« war sie jedenfalls nicht. Die lese ich regelmäßig.«

»Stimmt. Denen war der Entwurf zu ausgefallen oder auch zu auffallend.«

»Nicht ganz zu Unrecht!«, befand Helga Großmann. »Wenn hunderte von Frauen mit diesem grellen Papagei auf der Brust herumliefen … nicht auszudenken.«

»Jetzt gibt es ihn jedenfalls nur einmal?«, staunte Frau Kübler. »Ja, nur dieses einzige Exemplar. Aber ich habe die Unterlagen noch«, erklärte Katrin, »ich kann sie Ihnen gerne geben.«

»Und was würde das kosten?«

»Nichts. Für eine gute Kundin, wie Sie es sind, Frau Kübler.«

»Das klingt wunderbar. Und es würde Ihnen wirklich nichts ausmachen, Frau Lessing? Ich meine, dass Sie dann nicht mehr die Einzige mit einem solchen Pullover wären?«

Katrin lächelte vergnügt. »Aber gar nicht, Frau Kübler. Sie wissen ja, wenn es nach mir gegangen wäre, liefen jetzt schon bald hunderte von Frauen damit herum.«

Während Katrin ihre Aufzeichnungen holte, Frau Kübler beriet und die entsprechende Wolle verkaufte, bediente Helga Großmann zwei kleine Mädchen, die Baumwolle für die Handarbeitsstunde wollten.

Obwohl es auch an diesem Nachmittag viel zu tun gab, verging er Katrin nur langsam. Sie platzte innerlich fast vor Ungeduld, endlich fortzukommen. Aber auch, als sie das Geschäft endlich schließen konnte, ließ sie es sich nicht nehmen, noch beim Aufräumen zu helfen.

»Lass nur, ich mache das schon allein«, sagte die Mutter.

»Kommt gar nicht in Frage. Du musst dich doch auch noch umziehen.«

»Hoffentlich macht Daniela kein Theater, wenn sie ein Kleid anziehen muss. In Jeans nehme ich sie jedenfalls nicht mit.«

»Du wirst schon mit ihr klarkommen.«

»Ich lasse mir jedenfalls nicht von ihr auf der Nase herumtanzen.«

Katrin empfand den unausgesprochenen Vorwurf wohl, ging aber nicht darauf ein, sondern ließ stattdessen den Staubsauger an und machte damit jeglichem Gespräch ein Ende.

Als sie dann später hintereinander die enge Treppe hinaufgingen, sagte Helga Großmann über die Schulter zurück: »Also amüsier dich gut, Liebes. Ich wünsche dir einen wundervollen Abend. Aber, bitte, vergiss nicht anzurufen.«

Katrin blieb unvermittelt stehen. »Muss das sein?«

»Aber ja, Liebes, das weißt du doch. Gerade heute. Wie soll ich Daniela denn zu Bett kriegen nach all der Aufregung? Sie kann bestimmt nicht schlafen, bevor sie dir nicht alles erzählt hat.«

Katrin setzte sich wieder in Bewegung. »Ich kann dir das beim besten Willen nicht versprechen, Mutter.«

»Macht nichts, Liebes. Dann rufen wir dich eben an.«

Helga Großmann wartete, bis Katrin sich verabschiedet hatte und die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Dann schenkte sie sich einen Cognac ein und nahm das Glas mit in ihr Zimmer. Es wäre an der Zeit gewesen, sich umzuziehen, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht in der Lage war, etwas für ihre Schönheit zu tun. Sie war wütend, aufgebracht und tief gekränkt.

Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan - seit ihrer Scheidung hatte sie nur für Katrin gelebt, und doch, dieser Kerl brauchte nur anzurufen oder ein Telegramm zu schicken, dann war sie von einer Sekunde zur anderen völlig abgemeldet. Sie hatten sich auf diesen Theaterabend gefreut, hatten sogar das Stück noch einmal gelesen und über die verschiedenen Schlussszenen diskutiert, die Shaw entworfen hatte, aber das galt jetzt nichts mehr. Mit arglosem, leicht irritiertem Blick wagte Katrin zu behaupten: »Das habe ich ganz vergessen!«

Helga Großmann nahm einen Schluck, empfand fast wohltuendes Brennen im Magen und musste sich zurückhalten, den Inhalt des Glases nicht in einem Zug hinunterzustürzen.

Am liebsten hätte sie laut geflucht. Immer war sie für Katrin da gewesen, auch in der Zeit dieser törichten, überstürzten Ehe, die nicht gut hatte enden können. Was wäre aus Katrin geworden, wenn sie nicht die Mutter gehabt hätte, die ihr stets zur Seite gestanden, ihr Heim, Schutz und Schirm geboten hätte? Nein, Helga erwartete keine Dankbarkeit, darauf hatte sie nie spekuliert. Aber sie hatte doch wenigstens damit gerechnet, dass Katrin irgendwann mal zu der Einsicht kommen würde, dass es keinen Menschen gab, der sie so liebte und so gut verstand wie ihre Mutter.

Wozu brauchte Katrin einen Mann? Es war die reine Triebhaftigkeit, die sie in die Arme dieses Kerls trieb, nichts anderes konnte es sein. Zudem war dieser Jean-Paul verheiratet. Die ganze Geschichte war einfach abstoßend, widerwärtig.

Der entsetzliche Schmerz, den sie erlitten hatte, als sie erfahren musste, dass Gustav sie betrog - sie konnte ihn nicht mehr nachempfinden, zum Glück war das vorbei, aber vergessen war es nicht. Es würde nie vergessen sein. Und jetzt spielte ausgerechnet ihre Tochter die gleiche Rolle im Leben eines Ehemannes wie seinerzeit die kleine Josefine.

Helga nahm noch einen Schluck, wurde mit Erleichterung gewahr, dass das Zittern ihrer Hände nachzulassen begann.

›Nein, ganz so war es natürlich nicht‹, räumte sie sich selbst gegenüber ein. Sie hatte damals ihrem Mann voll und ganz vertraut, war überzeugt gewesen, ihn glücklich zu machen, nie auch nur auf den Gedanken gekommen, dass er Interesse an einer anderen Frau haben könnte. Bis heute noch war sie außer Stande zu begreifen, was ihn in die Arme dieser billigen kleinen Josefine getrieben hatte. Sex allein konnte es nicht gewesen sein, Sex hatten sie doch in ihrer Ehe genügend gehabt. Jedenfalls war Gustavs Untreue für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen.

Hingegen Jean-Pauls Ehefrau - Wie hieß sie? Was tat sie? Wie alt war sie? Hatte sie Kinder? Warum erzählte Katrin nie etwas über sie? - musste wissen, dass er ihr nicht treu sein konnte. Wie hätte sie das von einem Mann erwarten können, der dauernd unterwegs war, einem sogenannten Reiseschriftsteller. Reiseschriftsteller, wie das schon klang, unseriös wie sonst etwas. Ganz sicher war Katrin für ihn nur eine unter vielen. Wie konnte ihre gut erzogene Tochter sich zu so etwas hergeben? Wenn sie ihr nur einmal die Wahrheit hätte auf den Kopf zusagen können. Aber das hätte zu nichts geführt als zu Geschrei, Tränen, harten Worten. Sinnlos. Als Gustav sie enttäuscht hatte, hatte sie auch darauf verzichtet, Szenen heraufzubeschwören. Sie hatte ihre Koffer gepackt, das Kind an die Hand genommen und ihn verlassen.

Wenn sie sich je dazu hinreißen lassen sollte, Katrin vorzuhalten, was sie von ihrem Benehmen dachte, musste sie auch die bittere Konsequenz ziehen und sie aus dem Haus werfen. Und was sollte dann aus Katrin werden? Und aus Daniela? Sie, Helga, war durchaus im Stande, allein mit dem Leben fertig zu werden.

Das hatte sie bewiesen, als sie Gustav verlassen hatte. Sie hatte kein Geld von ihm genommen, denn das wäre ihr schmählich erschienen nach dem, was er ihr angetan hatte. Statt dessen hatte sie ihre Eltern dazu gebracht, eine Hypothek auf das in der Mozartstraße gelegene Haus zu nehmen, das später ihr Erbe sein würde. Mit dem Geld hatte sie den Laden im Erdgeschoss ausgebaut und sich mit der »Kleinen Strickstube« selbstständig gemacht. Es war ihr eine Genugtuung gewesen, ihm zu beweisen, dass sie ihn nicht brauchte. Am liebsten hätte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Nur um Katrins willen hatte sie darauf verzichtet.

Jetzt tat er sich eine Menge darauf zugute, dass er Katrin diese Wohnung in Düsseldorf verschafft hatte. Wie albern das doch war. Er wäre nicht so rasch zu Geld gekommen, wenn sie, Helga, ihn hätte bluten lassen, wie andere Frauen es nach der Scheidung taten. Wozu brauchte Katrin schon diese Wohnung? Gustavs Absicht war ganz klar: er wollte einen Keil zwischen sie und ihre Tochter schieben. Aber das war ihm bisher nicht gelungen und würde es auch nie.

Sollte Katrin sich doch ruhig hin und wieder nach Düsseldorf zurückziehen, mit einem Kerl oder allein, sie, Helga, würde weiterhin den Mund halten. Irgendwann würde Katrin doch noch begreifen, wie gut sie es zu Hause hatte und dass man nicht unbedingt einen Kerl brauchte, um glücklich zu sein. Sie hatte es ihrer Tochter ja vorgelebt. Dabei hätte sie jederzeit einen haben können.

Helga leerte ihr Glas und stellte es auf der Glasplatte vor ihrem Toilettenspiegel ab, Sie zog Rock und Twinset aus und besprühte die Achselhöhlen. Der schwenkbare ovale Spiegel war nicht groß genug, um sich von Kopf bis Fuß zu betrachten. Aber das brauchte sie auch nicht. Sie wusste, dass sie mit ihrer Figur zufrieden sein konnte. Die Taille war zwar nicht mehr die eines jungen Mädchens, und der Busen war ein wenig schwer geworden, aber Wunder durfte man in ihrem Alter nicht erwarten. Dafür waren ihre Fesseln immer noch schlank, die Schenkel straff und die Arme makellos. Es machte sich bezahlt, dass sie jeden Morgen eine gute halbe Stunde auf dem großen weißen Teppich vor ihrem Bett turnte. Den kleinen Bauchansatz bekam sie dadurch nicht weg. Aber wenigstens war er fest und fühlte sich nicht übel an. Auf Essen und Trinken mochte sie nun einmal nicht verzichten, sie gehörten zu den guten Dingen des Lebens.

Helga nahm ihre Brille ab, klappte sie zusammen und legte sie, die Bügel nach unten, auf die Glasplatte. Ihr Gesicht wirkte jetzt weicher und, da sie sich selber nicht mehr klar sehen konnte, jünger und schöner. Sie war mit ihrem Anblick sehr zufrieden und machte sich daran, ihr Make-up aufzufrischen und zu erneuern. Auch sie benutzte dazu keine Schminkbrille, sondern hielt sich einen kleinen Handspiegel dicht vor die Augen.

Die Zufriedenheit mit ihrer äußeren Erscheinung - sie entdeckte kaum ein Fältchen und nicht den Anflug eines Doppelkinns - wirkte sich auf ihre Gemütslage aus. - ›Wie immer Katrin sich aufführt‹, dachte sie, ›ich kann es nicht ändern. Es ist ganz sinnlos, sich darüber aufzuregen. Immerhin habe ich es mir nicht anmerken lassen, habe Haltung bewahrt. Haltung in allen Lebenslagen, das ist es, worauf es ankommt. Ich habe ihren unglückseligen Mann überstanden, und ich werde auch diesen Jean-Paul überstehen. Das wäre doch gelacht, wenn es anders käme!‹ Sie trug Lidschatten auf.

›Aber sie hätte mir doch wenigstens sagen können, wann sie zurückkommt. Danach fragen konnte ich sie ja nicht gut, denn das hätte so aussehen können, als wollte ich ihre Freiheit beschneiden. Wahrscheinlich wird sie morgen Mittag wieder da sein. Aber wenn sie länger bleibt? Auf alle Fälle muss ich Tilly wieder mal bitten, für sie einzuspringen. Die wird ihre Kleine mitbringen, weil sie sie sonst nirgends lassen kann. Na wenn schon. Evchen ist schon zufrieden, wenn man ihr ein paar Wollreste und eine Häkelnadel in die Hand drückt!‹

Ein Jammer, dass Daniela sich fürs Handarbeiten so überhaupt nicht interessiert!‹

Wie aufs Stichwort steckte Daniela genau in dem Moment, als Helga an sie dachte, den Kopf zur Tür herein. »Gewaschen habe ich mich jetzt, Omimi, und auch die Nägel sauber gemacht. Was soll ich anziehen?« Helga lächelte ihr über die Schulter zu. »Was du willst, Liebes …«

»Au, fein!«, rief das Mädchen, schon im Begriff, die Tür wieder zu schließen.

»Nicht so hastig, lass mich erst ausreden! Was du willst, aber keine Jeans, überhaupt keine Hosen, seien sie nun lang oder kurz.«

Daniela verzog den Mund. »Aber was bleibt mir dann noch?«

»Geh an deinen Kleiderschrank und sieh nach! Ich werde dir keine Vorschriften machen.«

Katrin hatte ihre Brille aufgesetzt und fuhr in die hereinbrechende Dämmerung. Eben gingen die Laternen an, und sie schaltete die Scheinwerfer ein.

Da sie selten Gelegenheit hatte, Auto zu fahren, genoss sie es noch. In Hilden brauchte man kein Auto, alles ließ sich leicht zu Fuß erledigen, und die Mutter war sehr gegen diese Anschaffung gewesen. Aber da der Vater ihr das wendige kleine Fahrzeug - gebraucht natürlich - sehr billig verkauft, ja, fast geschenkt hatte, war es Katrin gewesen, die sich durchgesetzt hatte.

»Und was ist mit der Steuer? Der Versicherung? Den Kosten fürs Benzin?«, hatte Helga zu bedenken gegeben, bevor sie sich geschlagen gab.

»Die können wir doch von der Steuer absetzen.«

Tatsächlich benutzte Katrin ihr Auto, um Garnhersteller zu besuchen und die neuesten Produkte gleich an Ort und Stelle zu begutachten. Sie fuhr auch zu Modeschauen, um über die neuesten Trends auf dem Laufenden zu sein. Privat brauchte sie das Auto nur, um damit zum Stadtwald oder zur Ohligser Heide zu gelangen, wo sie, wenn das Wetter es eben zuließ, täglich frühmorgens joggte - und natürlich für ihre Fahrten nach Düsseldorf, zwei- oder dreimal im Monat. Am Steuer ihres eigenen Autos zu sitzen gab ihr ein Gefühl von Freiheit, das sie liebte, wenn sie auch wusste, dass es trügerisch war.

Aber immerhin hatte sie Grund, auf ihren sicheren und eleganten Fahrstil stolz zu sein. Sie nahm Gas weg, sobald sie sich einer Ampel näherte, um nicht im letzten Moment jäh auf die Bremse treten zu müssen, brachte niemals die Reifen zum Quietschen oder das Getriebe zum Jaulen, verstand es stets, frühzeitig Zeichen zu setzen.

Es war ihr ein sportliches Vergnügen, auch jetzt, in dem sehr lebhaften vorabendlichen Verkehr, sich durchzuschlängeln und ihr Ziel zu erreichen. Sie empfand das geliebte kleine Auto fast als Teil ihrer selbst.

Die Innenstadt von Düsseldorf meidend, erreichte sie in einer knappen Stunde den Vorort Ratingen-West, wo ihr Vater in einem riesigen Gebäudekomplex eine Wohnung als Bauherrenmodell erworben hatte. Aus steuerlichen Gründen hatte er die Tochter, wie er vorgab, für den Zeitraum von fünfzehn Jahren als Nutznießerin eingesetzt, unter der Bedingung, dass sie die Wohnung auch benutzte. Aber natürlich hatte sie die eigentliche Absicht sofort erkannt, ohne dass die Mutter sie mit der Nase darauf hatte stoßen müssen: er wollte ihr und Daniela mit dieser Wohnung die Möglichkeit geben, das Haus in Hilden zu verlassen.

Aber das hatte nicht geklappt.

Es hatte nicht klappen können, dachte Katrin, als sie sie hatte ihr Auto auf der hell erleuchteten Parkfläche abgestellt - zum 8. Stock hinauffuhr und die Wohnung aufschloss. Es war eine zu halbherzige Maßnahme gewesen. Zwei Zimmer, Bad und Küche boten zu wenig Platz für sie und Daniela, die beide zudem großzügig geschnittene Räume mit höheren Decken gewohnt waren. Wäre es wenigstens eine Drei-Zimmer-Wohnung gewesen, hätte es ihnen vielleicht gefallen können. Vielleicht. Daniela hatte in Hilden ihre Freundinnen und fühlte sich nur in Hilden zu Hause. Und was war mit ihr selber?

Darauf konnte Katrin sich keine Antwort geben.

Sie knipste die Lampen an, öffnete alle Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und drehte die Heizkörper auf. Dann legte sie ihre Jacke ab, verstaute die mitgebrachten Lebensmittel im Kühlschrank. Er war mit Wein, Wasser und Bier noch ausreichend bestückt. Katrin zog Rock und Pullover aus - es war keineswegs zu erwarten, dass Jean-Paul früher als angesagt erscheinen würde -, band sich ein Tuch um das frisch gewaschene Haar und eine Schürze vor und machte sich ans Putzen und Staubsaugen. Die Brille behielt sie dabei auf, um nur ja keinen Schmutz zu übersehen.

Als diese Arbeit erledigt war, schloss sie die Fenster wieder, zog Gardinen und Vorhänge zu, schaltete die Stehlampe im Wohnzimmer an und die Deckenlichter aus. Jetzt wirkte das Zimmer gemütlich. Sie wusch sich die Hände, zog sich wieder an und kämmte ihr Haar. Ihre Brille legte sie in das Etui.