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Romance meets Thrill: Der neue Romantic Suspense Roman von Francis Eden Er sollte sie nicht beobachten. Ihr nicht nachspionieren. Vor allem aber sollte er sich nicht in sie verlieben. Als Vida in einem Club auf Krystian trifft, bekommt sie gleich zwei Seiten von ihm zu sehen: eine charmante und einnehmende, die jedoch schnell von eisiger Abneigung abgelöst wird. Doch Krystian, dessen Blick aus der Dunkelheit durchweg auf ihr liegt, stellt sich am Ende der Nacht als ihr angeblicher Retter heraus. Aber ist er das wirklich? Ein Held? Oder läuft die junge Frau direkt in die Arme eines Stalkers? Trotz aller Warnzeichen lässt Vida sich auf ein gefährliches Spiel aus Wahrheiten und Geheimnissen mit ihrem Bewunderer ein. Als schließlich ans Licht kommt, warum Krystian sich so intensiv für ihr Leben interessiert, steht Vida vor einer folgenschweren Entscheidung: Kann sie ihm wirklich vertrauen – oder sollte sie lieber fliehen?
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Seitenzahl: 573
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Francis Eden
1. Auflage 2025
Originalausgabe:
Copyright © 2025 by LEAF Verlag, Bücherbüchse OHG, Siebnbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland
Copyright © 2025 by Francis Eden
Textredaktion: Sarah Di Fabio, Yvonne Lübben
Covergestaltung: Jaqueline Kropmanns
unter Verwendung von Motiven von © tomert; © alexannabuts; © tr3gi; © sssss1gmel / Stockmaterial von Depositsphotos Gesetzt aus der Adobe Caslon
Satz: LEAF Verlag
ISBN 978-3-911244-31-2
Playlist
Regel Nummer #1
Regel Nummer #2
Regel Nummer #3
Regel Nummer #4
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #5
Regel Nummer #6
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #7
I: KRYSTIAN
Regel Nummer #8
Regel Nummer #9
Regel Nummer #10
II: KRYSTIAN
Regel Nummer #11
Regel Nummer #12
Regel Nummer #13
Regel Nummer #14
Regel Nummer #15
Regel Nummer #16
Regel Nummer #17
Regel Nummer #18
Regel Nummer #19
Regel Nummer #20
III: KRYSTIAN
Regel Nummer #21
SECHS JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #22
Regel Nummer #23
Regel Nummer #24
IV: KRYSTIAN
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #25
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #26
Regel Nummer #27
Regel Nummer #28
V: KRYSTIAN
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #29
Regel Nummer #30
Regel Nummer #31
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #32
VI: KRYSTIAN
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #33
Regel Nummer #34
Regel Nummer #35
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #36
Regel Nummer #37
Regel Nummer #38
Regel Nummer #39
VII: KRYSTIAN
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #40
FÜNFEINHALB JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #41
VIII: KRYSTIAN
Regel Nummer #42
Regel Nummer #43
Regel Nummer #44
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #45
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #46
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #47
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #48
IX: KRYSTIAN
Regel Nummer #49
FÜNF JAHRE ZUVOR
Regel Nummer #50
Regel Nummer #51
X: KRYSTIAN
XI: KRYSTIAN
Chicago Tribune
EPILOG: KRYSTIAN
Chicago Tribune
Epilog – Vida
Chicago Tribune
NACHWORT
NACHWORT DER AUTORIN
DANKSAGUNG
INHALTSWARNUNG
Nichts wird jemals die Art ändern,wie ich dich ansehe.
– Han Solo
Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte, deshalb befindet sich auf der letzten Seite eine Inhaltswarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
You’re Somebody Else – flora cash
Chemicals – The Glitch Mob
Can’t Take My Eyes Off You – Cary Brothers
Hurt – 2WEI
Couldn’t Stop Caring – The Spiritual Machines
Every Breath You Take – Chase Holfelder
Young And Beautiful – Lana Del Rey
hate u love u – Olivia O’Brien
I Wanna Be Yours – Arctic Monkeys
When You Say My Name – Chandler Leighton
my tears ricochet – Taylor Swift
Sweet Dreams (Are Made Of This) – Marilyn Manson
no body, no crime (feat. HAIM) – Taylor Swift, HAIM
Hurts Like Hell – Tommee Profitt, Fleurie
Shadow Preachers – Zella Day
Egal, was passiert, hab immer ein Back-up
Dummheit ist tödlich. Nicht umsonst gab es seit 1994 den Darwin Award für die skurrilsten Todesfälle. Den Beweis bekam ich täglich in der Leitstelle der Chicagoer Notrufzentrale aufgetischt. Nach einem Jahr in der Telefonzentrale sollte mich nichts mehr schockieren. Weder die fehlgeleiteten Hilferufe, die durch Handys in Hosentaschen verursacht wurden, noch ältere Menschen, die jemanden zum Reden brauchten und dafür die 911 anriefen. Ganz zu schweigen von irgendwelchen Kids, die auf Partys aus dem achten Stock sprangen und wie durch ein Wunder überlebten.
Männer dagegen, die ihre Waffe im Wohnzimmer reinigten und sich deswegen ins Auge schossen – oder russisches Roulette als Gag auf einer Familienweihnachtsparty betrachteten (und dabei draufgingen) –, waren direkte Anwärter auf den Darwin Award. Für diese Fälle befand sich am Ende unseres Großraumbüros mit knapp zwanzig Schreibtischen und ihren Batterien von Monitoren eine Wand mit einem eigenen Ranking der Chicagoer Dienststelle. Unmittelbar neben dem Tisch mit drittklassigem Filterkaffee, den sich die meisten meiner Kollegen an einem Freitagabend reinzogen wie andere Leute staffelweise Netflixserien um diese Uhrzeit. Aber wer bei der Polizei, Feuerwehr, im Rettungsdienst oder in der Notrufzentrale arbeitete, fand mit der Zeit ein spezielles Maß an Normal.
Ein verdrehtes.
Eines mit Listen über skurrile Arten zu sterben zum Beispiel.
Denn wer die teilweise unnötigen, manchmal verstörenden Fälle – ganz zu schweigen von den wirklich schrecklichen – ertragen wollte, musste das auch. Und deswegen starrte ich gerade verdattert wie eine Dreijährige, die im Kaufhaus auf Santa Claus stieß, auf einen meiner vier Monitore.
»Hören Sie mir überhaupt zu? Hallo?!«
Das hier funktionierte nur mit Galgenhumor.
»Haben Sie inzwischen Fieber, Mr. Balliol?« Es war der dritte Anruf. Der. Dritte. Allmählich wünschte ich mir einen eigenen Award für Menschen wie ihn.
»Ich will endlich in ein Krankenhaus!«
»Wie hoch ist die Temperatur inzwischen?«
»Siebenunddreißigkommafünf«, spuckte der Mann in einem einzigen Schwall aus und wiederholte seine Symptome. Schwindel, Müdigkeit, Abgeschlagenheit. Schmerzen überall. Auch das tat er zum dritten Mal. Beim ersten Mal war er bei Stefan gelandet. Danach bei Sam. Jetzt versuchte er es bei mir. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wann ich das letzte Mal so frustriert gewesen war. Vielleicht, als mein Ex-Freund mir mein Herz wie eine mit Maden besetzte Frucht vor die Füße geworfen hatte. Ja, das kam dem sehr nahe.
»Sie haben eine Erkältung«, sagte ich, darauf bedacht, mir mein Headset nicht vom Kopf zu reißen, während ich die Finger in den Locken vergrub. Als ich mich vor einem Jahr für eine Position in Chicagos Leitstelle beworben hatte, war ich davon ausgegangen, ich würde Leben retten. Mittlerweile wusste ich, dass es oft nur darum ging, die unnötigen Einsätze abzuwehren, um Platz für die wirklich dringenden Fälle zu schaffen.
»Ich möchte jetzt sofort in ein Krankenhaus gebracht werden!«
»In Ihrem Zustand können Sie sich entweder hinlegen oder die nächsten acht bis zwölf Stunden in einem überfüllten Krankenhausflur sitzen.« Ich notierte den bisherigen Gesprächsverlauf. Eigentlich war meine Telefonzeit längst überschritten und die Ruhezeit wollte genutzt werden, aber Mr. Erkältung ließ sich nicht davon überzeugen, dass er keinen lebensbedrohlichen Notfall darstellte. »Mit Ihren Symptomen können Sie froh sein, wenn Sie heute überhaupt einen Arzt zu Gesicht bekommen. Daher gebe ich Ihnen den gleichen Rat wie meine Kollegen: Legen Sie sich ins Bett. Ihr Körper braucht jetzt nur drei Sachen: Schlaf, Ruhe und einen heißen Tee oder eine Brühe. Sollte es schlimmer werden, melden Sie sich erneut.«
Im nächsten Moment sprang die Anzeige auf Rot. Mr. Balliol hatte aufgelegt. Keine Ahnung, ob er meinen Rat dieses Mal befolgen oder in wenigen Minuten wieder anrufen und es zum vierten Mal versuchen würde. Manche Menschen waren resistent, wenn es um Hinweise zum ordnungsgemäßen Gebrauch einer Notfallnummer ging.
Müde ließ ich mein Headset auf den Tisch fallen und sperrte den Apparat für weitere Anrufe. »Pause«, flüsterte ich Stefan neben mir zu, dessen Slot erst vor einer Stunde begonnen hatte, und deutete mit dem Kopf zum Ausgang. Er nickte nur geistesabwesend, die Stirn in Falten gelegt. Aber seine Mimik galt nicht mir, sondern der Person am Ende seiner Leitung.
Hektisch begann Stefan zu tippen, startete die Ortung und grenzte das Gebiet des Anrufers ein, während die Fragen aus ihm herausschossen wie Kanonenkugeln. Stefan hatte offensichtlich einen echten Notfall. Machte es mich zu einem schlechten Menschen, dass ich ihn darum beneidete?
Am Ausgang des Großraumbüros wartete Sam bereits mit wippenden Sneakern auf mich und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ihre Augen nur knapp erreichte. Ihr kurzer silberfarbener Pixie saß genauso wie heute Morgen – im Gegensatz zu meinen Haaren. Ich war mir sicher, dass meine Locken inzwischen nur noch an ein Vogelnest erinnerten. Zu häufiges Headset-vom-Kopf-Reißen forderte seinen Tribut.
»Warum müssen sich Freitage immer so anfühlen, als hätte irgendwo jemand den Schlüssel vom Drogenlabor herumliegen lassen?« Sam ging voraus den Flur entlang und streckte sich ausgiebig. »Manche Leute benehmen sich, als hätten sie Koks und LSD zum Frühstück gehabt, um es anschließend mit Tequila-Shots runterzuspülen.«
Ja, an manchen Tagen fühlte der Job sich genau so an. Wie ein fieser Trip mit pelziger Zunge und dem grässlichsten Hangover aller Zeiten in Aussicht. Wie gesagt: Man entwickelte hier ein ganz eigenes Maß an Humor und Abgeschlagenheit.
»Noch zwei Stunden«, erinnerte ich uns beide an den greifbaren Feierabend.
»Dann wird gefeiert.« Wir erreichten die Küche, in der Sam zwei Becher aus dem Schrank nahm, Tee für sich aufsetzte und mir Kaffee einfüllte. In der Leitstelle stand immer irgendwo eine Kanne herum und im Gegensatz zu Sam wäre ich ohne Koffein in diesem Job hoffnungslos verloren.
»Du wirst mich zwingen, richtig?«
»Werde ich.« Sam drückte mir den dampfenden Becher in die Hand, den ich dankbar ergriff.
»Ich will eigentlich nur –«
»Auf dein Sofa, mit einem Buch, Bier und Eiscreme«, beendete sie den Satz für mich und lehnte sich gegen den Küchentresen. Mit ihrer milchigen Haut und den silbernen Haaren hob sie sich von der mattschwarzen Einrichtung ab. »Du weißt, ich gönn dir deine Freitagabende, aber du musst dringend mal wieder raus.«
Ich ahnte ihre Worte voraus, bevor sie weitersprach. Dennoch wollte ich nicht aufgeben. »Ich komme gut klar.« Es war Freitag und ich sehnte mich danach, das einzig freie Wochenende der nächsten drei Wochen genießen zu können. Und zwar genau so, wie Sam es beschrieben hatte. Auf meinem Sofa. Mit einem neuen Science-Fiction-Roman oder einer Dystopie, mindestens fünfhundert Milliliter Eiscreme – bevorzugt inklusive halbgarer Teigstücke oder Brownies – und einem Bier. Ach, was soll’s, machen wir zwei draus. Heute ist ein besonderer Tag.
»Seit Parker gehst du kaum weg.«
»Ich bin auch vorher kaum ausgegangen.«
»Man wird nur einmal fünfundzwanzig.«
Da war es. Ihr Totschlagargument. Und das einzige, dem ich nichts entgegenbringen konnte. Denn Sam hatte recht. Normalerweise akzeptierte sie meine Vorliebe für kuschelige Abende auf dem Sofa, doch seit dem bombastischen Ende der letzten Beziehung hatte sich die Zuneigung zum altersschwachen Ungetüm verdreifacht. Vielleicht war ich auch einen Hauch armselig. Aber heute Nacht wurde diese Armseligkeit ganze fünfundzwanzig Jahre alt. Und ich wusste, Sam würde sich nicht davon abbringen lassen, mich aus meiner – ich mochte es kaum zugeben – mehr als drei Monate anhaltenden Schockstarre zu ziehen.
»Das heißt …« Sam strich sich das kurze Haar nach hinten und schenkte mir einen wissenden Blick, »dass wir zwei heute tanzen gehen. Du weißt schon: Flirten. Schwitzen. Feiern. Und dich zurück in den Pool der potenziell verfügbaren Männer Chicagos werfen.«
»Ich komme gut allein klar.«
Sie lächelte. »Ich weiß, du brauchst keinen Typen an deiner Seite. Aber heute Abend haben wir Spaß und zeigen deinem angeschlagenen Ich in dir«, sie drückte einen Finger gegen mein Sternum, »dass Parker ein ganz, ganz armer Wurm ist.«
»Eher eine Made«, gab ich zu und konnte nichts gegen das Lächeln ausrichten, das auf meinen Lippen erblühte.
»War er etwa so klein?« Sam lachte und ich gönnte ihr den Gewinn, dass ich über ihren Vorschlag nachdenken würde. Aus Geburtstagen machte ich mir nicht viel. Mit wem sollte ich sie auch feiern? Meine Eltern lebten fast vier Stunden entfernt in Wisconsin und außerhalb der Arbeit hatte ich nicht viele Freundschaften aufgebaut. Alles, was ich hatte, waren Sam und die Erinnerung an eine ehemalige Beziehung, die mich am Ende nie glücklich gemacht hätte. Der Grund für Parkers Geheimnisse hätte mir nur gern früher in den Schoß fallen können. Vielleicht sollte ich mir heute doch etwas Spaß gönnen. Mit diesem Gedanken startete ich nach unserer gemeinsamen Pause den letzten Teil meiner Schicht in der Zentrale.
***
»911, Sie sprechen mit Vida Torres. Wo befindet sich der Notfall?«
»Sie atmet nicht mehr.«
»Wo genau sind Sie? Können Sie mir die Straße nennen?« »Bitte, ich weiß nicht, was ich machen soll –«
Ich aktivierte die Ortung. So ungenau die Werte auch waren, manchmal waren sie besser als nichts. Binnen Sekunden leuchtete auf der Karte ein Kreis auf, der – natürlich – von ganzen vier Straßen gekreuzt wurde. Dann ploppten die übrigen Daten des Telefonanbieters auf.
»Spreche ich mit Tatiana Lancaster?«
»Ja.« Hektisches Atmen ertönte. »Genau.«
»Befinden Sie sich gerade zu Hause?« Meine Finger flogen über die Tastatur, Adressdaten flossen über den Monitor und ich erfasste alle Werte für einen möglichen Notfall.
»Ja. Sie müssen ihr helfen, etwas stimmt nicht … Sie –«
»Ich muss ganz genau wissen, wo Sie gerade sind. Hier steht als Anschrift: Claremont Drive 106. Befinden Sie sich derzeit dort?« Claremont Drive war eine der Straßen, die in dem leuchtenden Kreis standen. Regel Nummer eins in der Notrufzentrale war: Erst die Fakten klären. Wo? Was? Wann? Danach konnten wir entsprechende Hilfe schicken, wenn diese gebraucht wurde.
»Ja. Bitte, meine Tochter … Bianca.«
Mein Puls raste, als ich den Notruf an die nächstverfügbare Einheit schickte. »Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Vier.«
Scheiße. Ich bekam grünes Licht. Der Notruf wurde von einem Team nur zehn Blocks entfernt angenommen. Mein Magen machte einen Satz wie bei einem Fahrstuhl, der ein Stück hinabsank. Nur glich das hier eher dem Auftakt zum freien Fall.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll … Ich habe doch nur kurz weggesehen. Vielleicht eine Minute!«
Verdammt, die Frau wurde immer panischer. Ich bemühte meine Stimme um einen tiefen und sanften Klang, um sie zu beruhigen. Früh genug eingesetzt konnte das helfen, die Panik abzuwenden. »Tatiana, was ist genau passiert? Erzählen Sie mir alles genau.« Jedes dieser Details würde an die Einsatzkräfte nachgeliefert werden. Jede Info, die sie besaßen, bevor sie am Unfallort ankamen, hatte Potenzial, Leben zu retten.
»Sie … wusste, dass sie nicht in den Keller darf … Sie … O Gott …« Ein Keuchen erklang. »Ihre Lippen werden blau.« Die Stimme der Frau brach.
Ich atmete ein und schüttelte die Anspannung ab, die mich gefangen hielt. »Tatiana? Es ist wichtig, dass Sie mir jetzt genau zuhören. Wenn nicht schon geschehen, stellen Sie das Telefon auf Lautsprecher und legen es neben sich ab. Dann haben Sie beide Hände frei. Verstanden?«
Es folgte eine Pause. Mein Herzschlag dröhnte rhythmisch in meiner Brust, während dieser verdammte Magen sich weiterhin im freien Fall befand. »Ja. Ich … Sie sind auf Lautsprecher.«
»Gut, Tatiana. Beschreiben Sie mir, was passiert ist. Währenddessen legen Sie die Hand auf den Brustkorb und prüfen, ob dieser sich hebt und senkt.«
***
Verdammt. Was für eine Scheiße.
Warum hatte ich mich nach einem echten Fall gesehnt?
Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich im Stuhl zurück. Ich hatte noch eineinhalb Stunden bis zum Feierabend. Das Gespräch mit Tatiana hatte letztendlich nur zehn Minuten gedauert; ganze zwei Minuten, bis wir an den Punkt der Reanimation kamen, und weitere sieben, bis die Sanitäter mit dem Rettungswagen vor Ort waren, und eine, bis sie übernehmen konnten. Gefühlt hatte der freie Fall jedoch so lange angehalten wie ein kompletter Horrorfilm in Überlänge.
Wie sehr ich es hasste, wenn Kinder involviert waren.
Bevor ich den nächsten Anruf entgegennahm, gab ich Sam schräg gegenüber ein Zeichen. Mit der Hand deutete ich das Runterkippen eines Shots an, prostete ihr zu.
Vielleicht war der Vorschlag gar nicht so verkehrt.
Gerade sehnte ich mich nach einem Drink und einer ganzen Wagenladung voller Ablenkung. Notfalls bestand diese Ladung aus Männern und Musik.
Attraktive Hände und ein umwerfendes Lächeln sind eine gefährliche Kombination
Verdammt, wo bleibst du, Sam?« Ich fühlte mich wie ein Tiger, der in seinem Käfig auf- und abging. Wenn Sam sich noch mehr Zeit ließ, wären die winzigen Absätze der Stiefel abgelaufen und meine Ballen nicht mehr zum Tanzen bereit; sie brannten jetzt schon.
Das Vibrieren des Handys ließ mich innehalten und ich öffnete erwartungsvoll die Nachricht, nur um abrupt stehen zu bleiben.
Parker: Was machst du heute Abend?
Augenblicklich begannen meine Finger zu zittern. Keine Ahnung, warum seine Nummer nach dem Scheiß, den er abgezogen hatte, noch nicht blockiert war. Offensichtlich verstand mein Ex auch nach drei Monaten nicht, dass es vorbei war.
Vida: Geht dich nichts an.
Parker: Willst du ewig schmollen? Ich dachte, das zwischen uns wäre etwas Besonderes. Vermisst du mich denn nicht?
Bevor mein Ex noch mehr schreiben konnte, blockierte ich seine Nummer und löschte den Chat. Dieser Schritt war seit drei Monaten überfällig. Der Typ würde immer eine Ausrede für seine Handlungen finden, einen Grund für seine Lügen, einen, warum er … Erneutes Vibrieren ließ mich innehalten. Dieses Mal tauchte Sams Gesicht auf dem Display auf und ich nahm das Gespräch an. »Wo zur Hölle bleibst du?!«
»Sorry, ich hab nur zwei Minuten. Aber bevor ich ins Detail gehe, musst du mir etwas versprechen.«
»Du kommst nicht, oder?«
Schweigen. Eine Sekunde, dann zwei. »Wir hatten drei Ausfälle in der Folgeschicht.«
»Aber dann wäre ich informiert worden.« Ich hatte mich als Bereitschaft gemeldet. Man hätte mich angerufen.
»Ja, wie an jedem freien Wochenende. Heute wirst du nicht einspringen. Du hast Geburtstag und du musst mal wieder raus. Versprich mir, dass du gleich in diesen Club gehst und die nächsten fünf Stunden lang deinen Hintern auf der Tanzfläche oder dem Schoß irgendeines heißen Typen schwenkst. Morgen will ich von deinem miesen Kater hören und am besten von dem Sex, den du heute Nacht hattest. Ich habe deinen Dienst nämlich freiwillig übernommen.«
Erneut blieb ich abrupt stehen, ohne bemerkt zu haben, dass ich während des Gesprächs wieder auf- und abgetigert war. »Du hast was?«
»Deine Schicht übernommen, damit du heute einen draufmachen kannst. Trink einen für mich mit. Mach drei draus. In spätestens einer Stunde werde ich meine gute Tat bereuen. Also Happy Birthday, Süße, und lass die Sau raus.«
Ich lachte auf. »Es bringt Unglück, vorher zu gratulieren.«
»Dann drücke ich die Daumen, dass der Sex am Ende nicht mies wird. Also, haben wir einen Deal?«
»Ich lass die Sau raus und du arbeitest?«
»Genau.«
»Klingt nach vertauschten Rollen«, gab ich zu. »Darf ich gehen, wenn ich nach einer Stunde vor Langeweile sterbe?«
»Du bleibst mindestens drei.«
»Eineinhalb?«
»Zwei.«
Seufzend gab ich nach. »Deal.«
Sam musste sich zurück an ihren Platz begeben haben, denn ich konnte bereits die hektischen Gespräche im Hintergrund hören, daher schob ich noch eine Sache hinterher. »Danke.«
Immerhin hatte ich mir so nicht völlig umsonst die Beine rasiert und meine Locken geglättet.
***
Der Club war stickig und kurz vor Mitternacht hoffnungslos überfüllt. Lichter in Grün, Blau und Pink flackerten abwechselnd auf und der süßliche Geruch von Nebelmaschinen raubte den letzten Hauch Sauerstoff. Ich bereute bereits, mich auf zwei Stunden eingelassen zu haben, als ich durch den ersten Dancefloor ging und mich an der tanzenden Menschenmasse vorbeiquetschte. Vor Parker war ich ab und an hier gewesen, daher wusste ich, dass der hintere Bereich etwas abgeschirmter war. Gedimmtes Licht, weniger Beats und mehr musikalischer Pop. Außerdem stand man dort nicht drei Stunden für ein Bier oder einen Cocktail an. Mein heutiges Ziel lautete also: Drinks bis zum Vergessen. Das würde ich auch ohne Sam hinbekommen.
Ich musste nur wieder zurück in meine Sphäre finden, aus der ich mich selbst in der Beziehung mit Parker und danach geschubst hatte.
Als ich den letzten Floor erreichte und in entspannende Dunkelheit mit zarten Lichtpunkten und Nebel eintauchte, steuerte ich einen freien Platz an der Bar an. Wie erhofft, war der Bereich voll, aber die Menschen quollen nicht aus allen Ecken wie aufgeplatzte Trauben. Hier konnte man noch atmen. Sofern man das bei dem Mix aus verbrauchtem Sauerstoff und Nebel zwischen schwitzenden Körpern so bezeichnen konnte.
Ich drängte mich in die Lücke zwischen einer Truppe Frauen, die lauthals einen Miley-Cyrus-Song mitsangen, und einem blonden Mann in weißem Hemd, das im Schwarzlicht wie eine Neonreklame hervorstach. Der Typ mochte es, gesehen zu werden, oder ging nicht oft in Clubs. Obwohl … So wie er von hinten aussah, war er ganz bestimmt ein Clubgänger. Also wollte er auffallen.
Es dauerte keine drei Minuten, bis der Barkeeper auf der anderen Seite mich bemerkte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte ein einnehmendes Lächeln, das von zwei Grübchen eingerahmt wurde, und ich war mir sicher, dass er regelmäßig Telefonnummern zugesteckt bekam. »Was kann ich dir bringen?«
Vielleicht würde ich heute Abend ein bisschen mit ihm flirten. »Whiskey Sour bitte. Aber ohne Ei.«
»Eine Lady mit Geschmack!« Er schenkte mir ein Zwinkern, bevor er die wenigen Zutaten mischte. Whiskey, Zitronensaft, Sirup, Eis. Während alles im Shaker gemixt wurde, musste ich an Dad denken, der diesen Cocktail früher schon getrunken hatte. Innerlich speicherte ich ein Memo ab, dass ich morgen endlich wieder bei meinen Eltern anrufen sollte. Dann fiel mir ein, dass ich in wenigen Minuten Geburtstag hatte und sie sich bestimmt von selbst melden würden.
Ein Blick aufs Handy verriet mir, dass es längst so weit war.
0:02 Uhr.
Ich hatte Geburtstag.
Also nahm ich den Cocktail entgegen und nippte an meinem Glas. Happy Birthday. Ich zog mein Handy aus der Clutch und entdeckte den ersten Glückwunsch.
Happy Birthday, Süße! Hatte vorhin einen netten Flirt mit der heißen Blonden aus dem Krankenhaus und präsentiere dir dein erstes Geschenk: Das Mädchen mit der Reanimation hat es geschafft. Dank dir und den Ärzten kann sie ab heute zwei Geburtstage feiern. Ein Grund mehr, gleich deinen perfekten Hintern auf dem Schoß eines Mannes zu platzieren. Geschenk Nummer zwei folgt bei unserem nächsten Netflixabend in Form von Eiscreme. Und vielleicht opfere ich mich für eine Runde Star Wars.
Mein Herz machte einen Sprung bei Sams Nachricht. Nicht nur wegen des geplanten Filmabends, sondern auch, weil der Tag damit ein erfreuliches Ende nahm. Sie wusste, wie sehr mich das Ergebnis des Notfalls interessiert hatte. Oftmals war es schwierig, etwas über den Ausgang eines Falls zu erfahren. Manchmal wollte man es auch lieber nicht wissen, weil es sonst zu viel werden konnte. Aber manche Schicksale klangen in einem nach. Als Dankeschön schickte ich ihr zur Antwort ein Selfie von mir und dem Drink, die Bar im Hintergrund. Doch gerade, als ich auf den Auslöser drückte, machte eine der Frauen aus der Gruppe neben mir einen Schritt zurück und stieß gegen meinen ausgestreckten Arm.
Das Handy glitt mir aus der Hand, ich stolperte, nur um gegen eine warme Wand zu prallen.
Ein Fluch ertönte, so nah an meinem Ohr, dass ich ihn über die Musik hinweg hören konnte, dann traf etwas den anderen Arm. Den mit frischem Happy-Birthday-to-me-Whiskey-Sour-ohne-Eiweiß. Der Inhalt schwappte vom Tumblerglas über meine Hand.
»Scheiße, was –?!«
Wieder die Stimme neben mir. Aus den Augenwinkeln entdeckte ich einen tätowierten Arm, ein leuchtend weißes Hemd und einen allmählich wachsenden Fleck darauf. Doch bevor ich mich dem angerichteten Schaden widmen konnte, musste ich mein Handy davor retten, von fünf Paar Füßen in Heels zertreten zu werden.
Noch immer einen gefährlich schwappenden Drink in der Hand, schoss ich nach vorne, versuchte, mich in diesem viel zu kurzen und engen Kleid zu bücken, ohne zu viel von meinen inneren Werten preiszugeben, und gleichzeitig mein Handy vor einem verfrühten Tod zu retten. Dafür waren die Scheißdinger zu kostspielig.
Als ich mich mit gerettetem Handy aufrichten wollte, hielt eine Hand mich am Arm mit dem Drink fest. »Willst du mir noch eine zweite Dusche verpassen?«
Mein Blick wanderte zu dem Glas in meiner Hand. Es war fast leer und ich hatte bisher lediglich daran genippt. Das waren dann wohl fünfundzwanzig Dollar für die Katz. Der Tag ging offensichtlich so imposant weiter, wie er begonnen hatte.
Ein Schleier aus schwarzem Haar verdeckte meine Augen und ich kämpfte damit, mir trotz Handy und – inzwischen nahezu leerem – Drink die Strähnen aus dem Gesicht zu pusten.
Vergeblich.
Sofort bereute ich den Entschluss, heute Abend Locken gegen Glätteisen in den Kampf geschickt zu haben. Noch hatte das Glätteisen gewonnen, doch jetzt hing dieser tiefschwarze Vorhang wie Seide vor meinem Blickfeld und nahm mir die Sicht auf den Mann. »Sorry. Bin unglücklich gestolpert.«
»Ein Wunder, dass überhaupt noch was in dem Glas ist.« Ein Lachen erklang, trocken und doch melodisch.
Überrascht hob ich den Kopf noch etwas mehr. Gott, ich musste aussehen wie dieses Mädchen aus The Ring, das gruselig aus dem Fernseher gekrochen kam.
Der Mann im Neonreklamehemd nahm mir mein Getränk ab und half mir, mich ganz aufzurichten. »Steckt unter all dem Haar auch ein Mensch oder bist du schüchtern?«
»Ach, ich dachte, der Style wäre mal was Neues«, scherzte ich und erntete erneut dieses trockene Lachen. Okay, bisher hatte ich den Kerl nur von hinten gesehen. Breite Schultern, weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Eindeutig groß, aber kein Bulle von einem Mann. Trainiert, aber nicht auf diese aufgepumpte Gym-Art. Blond, erinnerte ich mich. Und er hatte eine sehr vorteilhafte Stimme. Sexy irgendwie. Rauchig und dennoch weich. Der Typ sollte Hörbücher sprechen. In der Leitstelle wäre so eine Stimme hoffnungslos fehl am Platz. Nachher würden noch mehr alte Damen oder Herren die 911 wählen, nur um mit ihm zu plaudern.
»Darf ich dir helfen?«
Bevor ich antworten konnte, spürte ich schon, wie etwas meine Hand berührte. Ein Tuch oder eine Serviette. Sofort fingen meine Fingerspitzen an zu kribbeln.
Der Fremde tupfte die Hand ab, die vom Sirup bereits klebrig war. »Hast du einen feuchten Lappen und einen neuen Drink?« Das galt vermutlich nicht mir. Eher dem Barkeeper? Kurz darauf wurde das trockene Tuch ersetzt und meine Hand erhielt eine ganz persönliche Reinigungszeremonie.
Mr. Nette-Stimme dachte offensichtlich an alles.
Trotz des Lappens konnte ich seine Finger spüren. Ich war mir sicher, dass er schöne Hände hatte. Parker war ein absolut durchschnittlicher Typ, aber er hatte diese von Adern durchzogenen Unterarme und Handflächen gehabt. Und ich war jedes Mal schwach geworden, sobald er die Ärmel seines Shirts hochgekrempelt hatte.
»Der neue Drink«, hörte ich die Stimme des Barkeepers und hatte augenblicklich sein Grinsen vor Augen. Ich fragte mich, ob Mr.-nicht-mehr-ganz-so-weißes-Hemd auch so lächeln konnte. Oder Grübchen hatte. Das wäre unfair. Ein Mann durfte nicht attraktive Hände und ein umwerfendes Lächeln haben. Das wäre viel zu gefährlich.
»Lädst du mich ein, als Belohnung dafür, dass ich dein Hemd ruiniert habe?« Erst jetzt fiel mir auf, dass ich inmitten des Gedankenstrudels um die Hände und das Lächeln des Unbekannten mir gegenüber die Barriere zwischen uns komplett vergessen hatte. Jetzt hält er dich garantiert für schüchtern. Mein Blick wanderte durch die Haarsträhnen zu seinem tätowierten Arm und der Stelle darüber, wo der Stoff an seiner Haut klebte. Der Fleck war nicht monströs und vermutlich war das Hemd auch nicht ruiniert – nur eben nicht mehr penibel gestärkt und ordentlich.
»Nenn es Ausgleich dafür, dass du den Inhalt deines Drinks auf mir verloren hast.« Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören und musste ebenfalls schmunzeln.
»Ist das ein Versuch zu flirten?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?« Ich versuchte erneut, den Vorhang aus Haaren vor mir wegzupusten. Erfolglos. Ich könnte meine Hand benutzen, aber die eine hielt noch mein Telefon und die andere … die lag in seinen Händen, obwohl die Reinigungsprozedur längst beendet war.
»Ob es funktioniert?« Dieses Mal erhaschte ich sogar einen Ausblick auf sein Lächeln. Es war schelmisch und einnehmend. Keine Grübchen. Aber tolle Lippen und ein markanter Kiefer. Verdammt, ich musste endlich diesen Vorhang loswerden.
Weil ich den Kontakt zu ihm nicht unterbrechen wollte, steckte ich umständlich mein Handy in die Clutch. Doch bevor ich mir mit der leeren Hand endlich mehr Sichtfreiheit verschaffen konnte, zog der Fremde mich näher zu sich und zum zweiten Mal an diesem Tag befand ich mich im freien Fall. Aber dieses Mal war das Gefühl behaglich.
»Also … verrätst du mir, ob es funktioniert?« Seine Hand wanderte meinen Unterarm entlang und hinterließ kribbelnde Pfade darauf. Meine Finger stießen gegen seinen tätowierten Arm und ganz automatisch vergrub ich sie in dem weichen Stoff darüber. Eindeutig kein Billighemd.
Verdammt, ja, und wie das funktionierte. »Vielleicht?«
»Vielleicht?« Er zog mich noch näher und sein Aftershave stieg mir in die Nase. Es war dezent und verlieh ihm einen minzigen Duft.
Seit Parker habe ich nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Der Gedanke kam so plötzlich, wie er wieder verschwand. Trotz Sams Forderung war ich heute nicht mit dem Ziel hergekommen, einen Kerl abzuschleppen. Aber gerade wäre ich nicht abgeneigt, diese Nacht tatsächlich damit enden zu lassen.
Ich spürte seine Hand an der Schulter, wie sie langsam, fast schon genüsslich träge am Hals hinaufwanderte und meine Haare ein Stück beiseiteschob. In diesem Moment existierte kein Raum mehr um uns, keine Musik, keine Bar. Keine tanzenden und johlenden Menschen. Einfach nur wohlige Stille, die von meinem eigenen Herzschlag unterbrochen wurde.
Der Vorhang verschwand und ich schloss die Augen. Vielleicht, um mich selbst noch für ein oder zwei Sekunden jeder Möglichkeit hinzugeben, diesen Zeitraum des Unbekannten zu verlängern. Seine Finger glitten über mein Gesicht, schoben Strähne für Strähne zur Seite. Nur fehlte es plötzlich an der vorangegangenen Leichtigkeit, an ihrem reizvollen Spiel. Es wirkte fast grob. Irgendwie hektisch.
Überrascht öffnete ich die Augen und blinzelte zwei-, dreimal, bis ich den Mann vor mir richtig erkennen konnte.
Er war wirklich attraktiv.
Nicht superschön, sodass es einen blendete.
Sondern auf diese umwerfende Art, mit ausreichend Ecken und Kanten, die einen hinreißenden Kontrast zu den weichen Übergängen dazwischen bildeten. Das blonde Haar war an den Seiten deutlich kürzer, doch das Deckhaar lang genug, um ihm in die Stirn zu fallen. Seine Augenbrauen waren zusammengeschoben und eine steile Falte setzte sich dort fest. Aus hellen Augen starrte er mich an. Sein Mund, mit dem er vorher so einnehmend gelächelt hatte, war zu einer harten Linie verkümmert.
Irgendwas lief falsch.
Abrupt ließ er mich los.
Als hätte er sich verbrannt oder könnte sich einen tödlichen Virus einfangen, würde er mich noch eine Sekunde länger berühren.
»Alles okay?« Ich war nicht eingebildet, aber ich war mir sicher, dass mein Gesicht nicht dermaßen abstoßend war. Es war okay. Etwas zu rund vielleicht. Aber eindeutig kein Grund, mich anzustarren, als hätte man urplötzlich Esmeralda gegen den Glöckner von Notre-Dame getauscht.
»Warst du schon mal hier?« Die Brust des Mannes vor mir hob sich in kurzen, hektischen Stößen.
»Schon ein paarmal.« Unsicher machte ich einen Schritt zurück und griff nach meinem frisch aufgefüllten Cocktail.
»Wie heißt du?«
»Vida«, stellte ich mich vor, unentschlossen, ob das Gespräch überhaupt noch in die richtige Richtung ging. Wann waren wir falsch abgebogen und warum? Ich nahm einen Schluck von meinem Drink. »Und du?«
Seine Hände ballten sich zu Fäusten und ich beschloss, den ursprünglichen Gedanken an diese Nacht mit diesem Mann zu begraben. Aber vielleicht brauchte er nur etwas Auflockerung? Einen kleinen Schubser? Ich wollte endlich Punkt zwei auf meiner Liste abhaken. »Lust zu tanzen?«
Er starrte mich an, als hätte ich ihn darum gebeten, seine Großmutter in Häppchen zu verscharren. Ich schaute wirklich zu viele Horrorfilme.
»Passe.« Mit den Worten wandte der Fremde sich ab und verschwand in der Menge.
Plötzlich war alles wieder da.
Die dröhnende Musik.
Die feiernde Meute.
Nur der angenehme freie Fall, der stoppte abrupt und erinnerte an einen Tritt in den Magen.
Der Kerl hatte mir nicht mal seinen Namen verraten.
Ausreichend Cocktails und ein Dancefloor können jedes Selbstwertgefühl richten
Nach einem weiteren vollständig heruntergekippten Whiskey Sour – nicht verschüttet und nicht an das Hemd eines Arschlochs verschwendet – fühlte ich mich besser.
Ein wenig zumindest.
Vermutlich sollte ich aufhören, das Foto anzustarren, das ich an Sam schicken wollte. Hinter mir war nicht nur der Tresen, sondern auch der Fremde zu sehen, der den Blick auf die Bar oder sein Glas gerichtet hatte. Aber es war sein Gesichtsausdruck, der mich dazu brachte, seit zehn Minuten auf diesen Bildschirm zu starren und dabei einen fünfundzwanzig-Dollar-Drink zu veratmen.
Ich hatte diesen Mann zwischen einer Schar Haarsträhnen lächeln sehen. Danach in arroganter Eisprinzessinnenmanier davonstampfen. Und hier … ja, was genau? Auf dem Bild wirkte er lediglich … verschlossen? In Gedanken? Traurig?
Klar, kümmere dich um die Sorgen der Menschen, die dich wie Dreck behandeln. Ich schickte die Nachricht endlich ab und steckte das Handy weg. Nach Parker sollte ich allmählich gelernt haben, dass Arschlöcher sich nicht in Prinzen verwandelten – weder nach einem Kuss noch nach tausend.
»Noch einen?« Der Barkeeper mit den süßen Grübchen und dem netten Lächeln tauchte direkt vor mir auf und ich hob den Kopf. Er deutete auf mein Whiskeyglas, das bereits wieder leer war. Der Drink war geradezu verschwunden, während ich dieses blöde Foto hypnotisiert hatte.
»Der hilft mir auch nicht weiter.« Ein müder Versuch, mein angekratztes Ego runterzuspielen.
»Geht es um Prince Charming?« Er deutete mit dem Kopf auf einen Seitenbereich zwischen Bar und Tanzfläche.
Ich folgte neugierig seinem Blick – und erstarrte. Dort, in einer nur spärlich ausgeleuchteten Ecke, stand er. Mr.-nicht-mehr-ganz-so-weißes-Hemd.
Inmitten des dunklen Nebels konnte ich ihn kaum ausmachen, nur der leuchtende Stoff verriet ihn. Sogar über die Entfernung glaubte ich, den Fleck darauf erkennen zu können – und die Tatsache, dass er wirklich anziehende Unterarme hatte. Vorhin war ich zu abgelenkt gewesen, die Tätowierung an seinem linken Arm zu mustern. Jetzt bereute ich es, weil die Dunkelheit alle Details schluckte. Genau wie sein Gesicht. Dennoch konnte ich förmlich spüren, wie seine Augen sich in meine brannten.
Beobachtete er mich?
Oder starrte er nur gedankenverloren zur Bar, so wie er es vorhin kurz vor unserem Aufprall getan hatte?
»Kennst du ihn?« Die Frage des Barkeepers holte mich zurück.
Sofort drehte ich der Eisprinzessin den Rücken zu und unterdrückte den Wunsch, einen Mittelfinger hinter mir zu bilden, deutlich sichtbar für meinen Möglicherweise-Beobachter.
»Nein, nicht wirklich. War nur ein kurzes Vergnügen.«
Ein Lachen erklang, das mehr einem Schnauben glich. »So kann man es auch nennen.«
»Alles mitbekommen?«
»Die charmante Abfuhr?« Die Grübchen erschienen erneut, als er lächelte. Er tauschte mein Glas gegen ein neues aus und für einen Moment war ich verwirrt. Ich hatte weder einen weiteren Drink bestellt noch registriert, dass er einen gemixt hatte. »Geht aufs Haus.«
Sofort hob sich meine Stimmung. Was garantiert nicht daran lag, dass der Mann vor mir ein wirklich fesselndes Lächeln hatte – was ihm eindeutig bewusst war. »Flirtest du oder versuchst du nur, die Ehre der Männer wiederherzustellen?«
»Die Ehre«, gab er zu und beugte sich ein Stück über den Tresen. »Ich bin übrigens Alec.«
Grinsend ergriff ich seine Hand. »Vida«, stellte ich mich vor und hatte ein knappes Déjà-vu. »Die mit dem Gesicht, das Männer in die Flucht schlagen kann.«
Eine Kundin machte sich nur wenige Meter entfernt bemerkbar, aber Alec gab ihr lediglich ein Zeichen, dass er gleich bei ihr wäre, und schenkte mir weiter Aufmerksamkeit und ein Grübchen-Lächeln. »Keine Ahnung, was mit Prince Charming dort nicht stimmt. Aber …« Sein Blick wanderte einmal an mir herab und wieder herauf. Normalerweise hätte ich dieses offene Abchecken als aufdringlich empfunden, doch bei Alec wirkte es nicht widerlich. »An dir stimmt einfach alles.«
***
Mit einem (danke, Alec) gerichteten Selbstwertgefühl und drei Whiskey Sour intus (nochmals danke, Alec) stürzte ich mich auf mein zweites Ziel an diesem Abend: die Tanzfläche.
Was sollte ich sagen?
Es tat gut.
Nicht denken.
Weder an den heutigen Tag noch die vergangenen drei Monate.
Oder das, was davor gewesen war.
Einfach. Nur. Fühlen.
Die pulsierende Musik, das Vibrieren des Beats, die Berührungen wildfremder Menschen, die sich dicht aneinanderdrängten und zu einer einzigen Welle aus Rhythmus wurden.
Mit geschlossenen Augen gab ich mich dem wummernden Sog hin, störte mich nicht daran, als Hände auf meiner Taille landeten und ich einen Körper dicht an meinem spürte. Die Hitze des oder der Fremden übertrug sich auf mich und mir war alles egal. Vergangenheit und Zukunft.
Die aufgebauschte Whiskey-Sour-Vida würde heute Nacht tanzen und nicht auf dem Sofa liegen. Sie würde an das nette Lächeln und den Blick von Alec denken und nicht an die Parkers dieser Welt. Oder weiße Hemden und schöne Hände.
Aber als die Person hinter mir noch näher rückte, war ich nicht mehr sicher, was genau sich da hart gegen mich drückte. Option eins: ein Schlüssel. Option zwei: Handy. Dann bliebe da noch Option drei: seine Vorfreude. Mein mühsam aufrechterhaltenes Tanzsoufflé fiel augenblicklich in sich zusammen.
Ich drängte vorwärts und versuchte, meinen Rhythmus wiederzufinden, der sich für ein paar Songs so gut angefühlt hatte. Die Whiskey-Sour-Vida, die entspannt ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag allein auf diesem Dancefloor voller Fremder heraustanzen konnte, statt auf dem Sofa zu liegen. Doch ich prallte schon gegen den nächsten Körper und musste die Augen öffnen.
Vor der Wahrheit: Ich konnte weder Parker noch diesen Tag ganz ausblenden.
Und vor dem Hier und Jetzt: Zum dritten Mal heute Abend traf mich ein Lächeln. Nur war dieses bereits vom Alkohol weichgezeichnet und saß schief im Gesicht. Aber hey, es war ein halbwegs ansprechendes Gesicht. Gerade Nase, schmale Lippen, Dreitagebart. Frisch-aus-dem-Bett-Frisur. Mein Blick wanderte an ihm herab (breite Brust, eng anliegendes Shirt), bis zu dem Punkt, an dem mein Bauch seinen berührte und seine Hand sich warm an meine Taille legte. Oh. Bisher hatte ich gedacht, die Hand gehörte zu dem Kerl hinter mir.
Der jetzt wieder auf Tuchfühlung ging.
So langsam wurde es mir zu eng hier.
Ich schob mich zwischen den Männern hindurch und fühlte mich wie eine Gurkenscheibe, die sich aus einem Sandwich kämpfte. Plötzlich erinnerte mich die Tanzfläche an einen überhitzten Kessel, die Musik schrillte in meinen Ohren und ich sehnte mich nach Luft. Frisch und reinigend. Ohne den süßlich-pappigen Nachgeschmack der Nebelmaschine. Gerade als ich mich aus der Woge von Menschen herausquetschen wollte, hielt mich etwas am Handgelenk zurück.
Es war der Typ mit dem weichgezeichneten Lächeln. Mr. Front-Guy. »Willst du was trinken?« Er deutete auf einen Kerl hinter sich, der ihm ähnlich sah, aber jünger wirkte. Anscheinend Mr. Back-Guy.
Nein, ich will einfach nur nach Hause. Die Worte lagen mir auf der Zunge, doch da leuchteten ein Neonreklamehemd und zwei Augen jenseits der Tanzfläche auf. Intensiv. Und irgendwie unheimlich. Wieder hatte ich das Gefühl, dass diese zwei silbernen Kugeln sich direkt in mir versengten. Vielleicht ist es nicht die Hitze der Menschen, die mich hinaustreibt, vielleicht ist es dieser Blick, der mich zu sehr in Brand setzt, dachte ich.
Vermutlich nickte ich nur deshalb und steuerte zurück an die Bar. Zurück zu Alec, der nett lächelte, und zurück zu einem weiteren Drink, mit dem ich gleich jede Hitze löschen würde.
Obwohl ich mich nicht umdrehte, spürte ich durchgehend den Blick, der sich in meinen Rücken bohrte. Ein glühender Speer, der sich zwischen die Schulterblätter rammte und mitten in der Brust alles in Brand setzte.
Ja, ich wollte wirklich einen weiteren Drink.
Notnagelmänner sind keine Lösung, aber ein Anfang
Front-Guy und Back-Guy waren Brüder. Sie stellten sich als Antony und Benjamin vor. Und nach einem weiteren Drink waren die beiden sogar ganz nett. Aber genau dort endete meine Zuneigung auch. Alecs Lächeln war neckend und einnehmend, hielt einen aber auf Distanz. Der
Typ im Hemd war ein brennender Magnet und ich brauchte mich nicht umdrehen, ich war mir sicher, dass er auch jetzt in dieser dunklen Ecke stand und Löcher in meinen Hinterkopf bohrte. Antony und Benjamin dagegen waren … wie eine Schale Nüsse in einer überfüllten Bar. Da hatte jeder schon seine Hände drin und man knabberte sie nur, weil sie gerade da waren.
Sorry, Sam, aber heute werde ich auf keinem Schoß tanzen. Den Gedanken spülte ich mit dem Rest meines Drinks herunter. Die Tanzfläche hatte jeglichen bisherigen Tropfen Alkohol aus meiner Blutbahn gespült, sodass ich mich klar genug im Kopf fühlte, nicht mit einem oder am besten noch zwei Notnagelmännern mitzugehen.
Vielleicht sollte ich mehr trinken, damit die Kopf-Vida nicht zu nachdrücklich werden konnte. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, spürte ich in der Gegenwart der beiden Männer keine Chemie. Sie redeten über sich, zeigten nur oberflächliches Interesse (wenn wir nicht tanzten und sie meinem Körper sehr deutlich verrieten, was ihnen gefiel) und ich erwischte mich viel zu oft dabei, wie ich einen Blick über die Schulter warf. In die verbotene Zone.
So wie jetzt.
Ich konnte nicht einmal sagen, woran ich es ausmachte, dass unsere Blicke sich trafen, denn seine Augen waren nur zwei bedrohliche Punkte in einem Meer aus Schatten und Nebel. Und doch stand mein Körper unter Strom. Ich drehte mich weg, nippte an meinem Drink und zwang mich zurück zu dem A- und B-Hörnchen vor mir.
»Ich sollte langsam gehen«, unterbrach ich die Brüder in ihrem Gespräch über Sport oder die Arbeit, vielleicht auch irgendeine belanglose Netflixserie … Irgendwann war ich aus der Unterhaltung ausgestiegen und in der Todeszone gelandet. Oder hatte gedanklich den Moment abgespult, als ich noch davon ausgegangen war, zwischen einem attraktiven Mann in einem lächerlich auffallenden Hemd und mir hätte es einen Funken Chemie gegeben. Nein, einen ganzen Kometenschauer davon. Der mir seit seiner Abfuhr im Magen verglomm. Die Hitze lag wie Glut in meinem Bauch und immer, wenn ich erneut nachgab und ihn ansah, stand mein Körper wieder in Flammen.
»In ein paar Stunden muss ich arbeiten«, log ich. Ich hasste Lügen. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, ihr Ego anzukratzen, indem ich ihnen ins Gesicht sagte, dass ich einfach kein Interesse hatte. Ich war immerhin kein Arsch – nicht so wie der Besitzer dieser intensiven Augen in meinem Rücken.
»Jetzt schon?« Benjamin verzog den Mund, vermutlich wollte er süß aussehen, aber der Alkohol machte daraus eine verwirrte Grimasse.
»Was ist mit dem Cocktail, den du bestellt hast?« Antony lehnte sich vor und legte eine Hand an meine Taille. Sofort durchbrach die Wärme seiner Haut den dünnen Stoff des Kleides und übertrug sich auf mich. Es war kein unangenehmes Gefühl.
»Ein letzter Drink, dann bringen wir dich zum Ausgang.« Antony reichte mir den Cocktail, dessen Bestellung ich zwischen heimlichen Blicken und meinen wirren Gedanken vergessen hatte.
»Danke.« Ich nahm einen Schluck vom Whiskey Sour und war froh, dass die beiden es entspannt hinnahmen, sich gleich eine neue Bekanntschaft suchen zu müssen. Antonys Hand lag weiter locker an meiner Taille, während er und Benjamin zu ihrem Gespräch zurückkehrten. Eine Netflixserie also. Sie hatten eindeutig kein Problem damit, dass ich mich zurückzog.
Vielleicht sollte eher mein Ego angekratzt sein.
Ich ließ ihre Worte an mir vorbeiziehen und nippte gedankenverloren am Cocktail, bis es Zeit war aufzubrechen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade mal kurz vor halb drei war. Damit hatte ich den Deal mit Sam eingehalten.
Allein bei dem Gedanken an den Heimweg und die Fahrt in der U-Bahn wurde ich bereits müde. Ich konnte schon die wohlige Wärme meines Bettes spüren, den seidigen Stoff …
»Ich muss dringend los.« Sogar meine Stimme klang müde und weich. Viel weicher als sonst.
»Soll ich dir ein Uber bestellen?« Antony schlang nun den ganzen Arm um meine Taille und zog mich an seine Seite.
»Kannst du Gedanken lesen?« Wohlige Wärme breitete sich in meinem Inneren aus. Gott, dieser Tag war viel anstrengender, als ich bisher angenommen hatte. Und Antony roch ganz passabel, musste ich feststellen. Hölzern, wenn auch eine Spur zu intensiv. Nicht so gut wie das Arschloch im Leuchtehemd. Bei dem Gedanken entkam mir ein leises Kichern.
»Wir bringen dich raus, ich bestelle einen Wagen. Dann wissen wir, dass du heil nach Hause kommst.« Benjamin.
Wow. Die beiden waren echt nett. Warum hatte ich Angst gehabt, sie könnten sauer sein, wenn ich mich verzog und ihnen damit eine Abfuhr erteilte?
Sam hatte recht, nicht alle Männer dieser Welt waren wie Parker. Manche waren nett. Manche riefen dir einen Fahrer und achteten darauf, dass dir nichts passierte.
Ich lehnte mich gegen Antony, gegen seine Wärme und erst, als wir den Ausgang erreichten und mir frische Luft entgegenschlug, fiel mir überhaupt auf, dass ich die Augen geschlossen hatte.
Ich war schlichtweg aus dem Club geschwebt wie auf Wolken.
Es waren wirklich weiche, mollig warme Wolken.
Sie rochen nach Holz und Alkohol. Irgendwie entspannend.
»Wo bleibt Max?« Die Stimme wurde an mein Ohr getragen, aber ich hatte Probleme, die Worte zu verstehen und sie einem der Männer zuzuordnen.
Auf einmal fühlte sich alles so fluffig an, dass ich am liebsten hier und jetzt eingeschlafen wäre. Mein Körper fühlte sich zu berauscht, zu benebelt an, um noch eine weitere Minute auf den Beinen zu bleiben.
»Bin schon da.« Diese Stimme schaffte es durch mein Bewusstsein. Das weiche Timbre. Die kratzige Note.
Ich schlug die Augen auf und sah graue, intensive Augen.
Das Feuer in meinem Bauch wurde erneut entfacht.
Dann wurde alles schwarz.
Verschwinde!« Krystians Gesicht war eine stählerne
Maske, an der alles abperlte. Jedes sanfte Wort zu Beginn, das Betteln danach und schlussendlich auch die angestaute Wut von vier Monaten.
»Fahr zur Hölle!« Die Worte brachen aus mir heraus.
Ich hasste ihn.
Hasste diesen Ort.
Diesen Abend.
Und all die anderen davor.
Zur Antwort ballte er nur seine Fäuste. Zwei zitternde Felsbrocken, die dringend ein Ventil suchten. Ich kannte Krys, wusste genau, wie sehr ihn das hier aus der Haut fahren lassen konnte. Und ich wollte, dass er es tat.
Weil ich es nicht konnte.
Weil ich innerlich zerbrach und niemand es sah.
Weil Krys nicht verstand.
Mein Krys, der mich immer verstanden hatte.
Ich wünschte, er könnte mir meinen Schmerz nehmen, die Albträume, die Erinnerungen. Er könnte einfach alles von mir abstreifen und mich im Arm halten; so wie früher.
Ohne dich wäre ich nie in diesem Chaos gelandet.
Ohne dich wüsste ich noch, wer ich bin.
Das ist ungerecht, erinnerte mich ein blasser Funke in mir. Das hast du dir alles selbst eingebrockt.
Stimmen wurden lauter und die ersten Schaulustigen tauchten an der gläsernen Terrassentür auf. Trotz der Musik im Inneren des Hauses hörte ich den Wind im angrenzenden Wald rauschen. Das weiche Licht hinter ihm verlieh Krystians harten Kanten einen Schimmer. Starr wie eine Eisskulptur stand er vor dem Eingang zum Haus, daher konnte ich nicht erkennen, wer sich inzwischen alles angesammelt hatte und die Show genoss. Aber ich hörte ihr Grölen. Die Partystimmung schwappte wie schales Bier zu uns rüber. »Ärger im Paradies?« Widerliche Scherze gab es gratis dazu.
Wie sehr ich diese Menschen hasste. Sie und alles, wofür sie standen. Wie sehr ich es hasste, dass diese Leute zu seinen Freunden zählten.
»Ich wollte doch nur einen schönen Abend verbringen. Mit–«
»Geh.« Krystians Stimme schnitt wie eine eisige Klinge durch die Nacht. Mein Atem stockte. Sogar die Feierwütigen im Haus verstummten.
»Komm nie wieder her. Verschwinde.« Krystian machte einen Schritt auf mich zu. Im Gegensatz zu mir war seine Atmung abgeklärt. Nur in den geballten Fäusten sammelten sich seine Emotionen. Enttäuschung. Vielleicht auch Verachtung. Aber auf jeden Fall Wut.
Noch ein Schritt.
Meine eigene Wut löste sich auf beim Anblick eisiger Augen. So hatte Krystian mich noch nie angesehen.
Liebevoll, oft.
Freundlich, ja.
Sanft, immer.
Aber niemals so.
Ich wollte zurückweichen, doch sein harter Blick hielt mich gefangen. Ich fühlte mich wie ein Hase, der vor der Schlange stand und sich nicht zu rühren wagte.
Gerade, als ich Mut sammelte, um zurückzuweichen, ergriff Krystian mein Handgelenk und Schmerz entflammte darin. Das ließ mich gänzlich aus der Starre erwachen. »Lass mich los, verdammt!« Mit der freien Hand schlug ich nach ihm. »Hör auf!«
Mein Herz raste.
Panik schnürte mir die Luft ab.
Ich konnte nicht.
Ich durfte nicht.
»Lass mich los!« Mit einem weiteren Schlag kämpfte ich mein Handgelenk frei. Etwas fiel zu Boden.
Ich wollte nur noch weg.
Weg von Krystian und der Art, wie er mich ansah.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, rannte ich los, ließ das Haus mit den gierigen Blicken hinter mir und floh vor all den Erinnerungen, die über mir zusammenbrachen wie eine tiefschwarze Welle.
Mein Atem durchstieß die Sommernacht, bis die Musik aus dem Haus erblasste, bis mein Keuchen das einzige Geräusch war, das ich noch hörte. Ich rannte so lange und so weit, bis meine Lunge nahezu kollabierte.
Dunkelheit hüllte mich ein, umarmte klamm meine Schultern. Äste und Blätter streiften nackte Haut, hinterließen Spuren. Sie gesellten sich zu all den anderen hinzu.
Es war egal.
Tränen rannen mir über die Wangen. Geballter Frust aus dieser Nacht, meiner ersten Liebe, die zerbrach, und den letzten Monaten. Frust über all die nicht beweinten Momente, die ich miterleben musste, um an diesem Punkt zu landen. Ich rannte so lange, bis ich frierend und zitternd mein Ziel erreichte. Bis ich in Sicherheit war.
Mitten unter dichtem Blattwerk trafen meine Hände auf altes, splitterndes Holz. Ich schob mich am Rand entlang, bis ich an der Vordertür ankam. Dann ging ich hinein.
Zum ersten Mal konnte ich aufatmen.
Hier war mir nie etwas Schlimmes passiert, diese Dunkelheit fühlte sich tröstlich an, wie ein Umhang, den ich über mir ausbreiten konnte. Ich verschloss die Tür im Rücken und sperrte die Außenwelt aus.
Dennoch zitterten meine Finger, als ich routiniert die Schublade mit den Streichhölzern öffnete und die erste Kerze anzündete.
Da erst fiel mir auf, dass mein Armband fehlte.
Er hatte es mir zum Geburtstag geschenkt und jetzt war es weg. Der Gedanke sollte etwas in mir berühren.
Doch da war nichts.
Es sollte schmerzen, auch das verloren zu haben. Aber es fühlte sich eher so an, als würde sich der Kreis schließen.
Eine Liebe, die endete.
Ein Geschenk, das verloren ging.
Ein Mädchen, das es nicht mehr gab.
Ich entdeckte das Stativ, das noch immer vor dem Bett stand. Sofort musste ich an Krystian denken. An die letzten Monate. An die Jahre davor. An den heutigen Abend und seine kalte, reglose Miene. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst. Angst vor Krystian und davor, zu was er fähig wäre, wenn er alles wüsste.
Mit wenigen Handgriffen hatte ich mein Handy am Stativ befestigt und öffnete die Kamera-App.
Ich sah schrecklich aus.
Verwischtes Make-up, rote Augen und Nase, fleckige Wangen.
Dennoch setzte ich mich aufs Bett, strich mir lediglich die Haare aus dem Gesicht und entfernte ein paar Blätter, die sich darin verfangen hatten. Der Rest war mir egal. Eigentlich passte es ganz gut.
Ein bisschen Drama für den letzten Auftritt.
Dann startete ich eine neue Aufnahme.
»Wenn du das hier gefunden hast, dann kennst du vermutlich mein Tagebuch. All die Seiten, die so hoffnungsvoll von meinen Träumen erzählt haben. Von meiner Liebe.«
Ich hatte eine Geschichte zu erzählen.
Keine Liebesgeschichte – auch wenn sie so begann.
Aber ich würde nicht mehr schweigen.
Ich würde endlich reden.
Über alles.
Ein vereister See mag noch so sicher wirken, du weißt nie, ob er dein Gewicht wirklich trägt
Ich erwachte mit einem dröhnenden Schlagbohrer, der meinen Kopf misshandelte. Sein bester Freund, Mr. Hammer, gesellte sich dazu und beide versuchten sich an einem Klagelied, das einem Metalkonzert im Beat Kitchen glich. Meine Zunge dagegen glich einem ausgetrockneten Lappen, einer, mit dem zuletzt die Bahnhofsklos geputzt worden waren.
Mit vor Schmerz zusammengepressten Augen setzte ich mich auf – und bereute die Bewegung sofort. In meinem Kopf explodierte etwas und mein Magen schickte einen Schwall saurer Flüssigkeit ein paar Etagen zu weit nach oben.
Gott, ich glaub, ich muss spucken.
Erst nach mehreren tiefen Atemzügen fühlte ich mich bereit, die Augen zu öffnen. Aber da war kein gleißender Morgen, der mich wie sonst in meinem Schlafzimmer begrüßte. Habe ich gestern Nacht die Vorhänge zugezogen?
Mein Blick wanderte durch den Raum und aufgrund des dämmrigen Lichts brauchte es mehrere Sekunden, bis ich das Bild verarbeitete.
Ich kenne dieses Zimmer nicht.
Es bestand aus auserlesenen schieferfarbenen Möbeln, gerahmten Schwarz-Weiß-Bildern mit Fotografien von Schreibmaschinen und Blumen an den Wänden und einem in die Wand eingelassenen Kleiderschrank mit hölzernen Lamellen davor. Ein marineblauer Anzug mit farblich passendem Jackett hing fein säuberlich an einem Bügel in einer der Lamellen. Mein Blick glitt durch den unbekannten Raum und endete am Kingsize-Bett – das außer mir leer war. Nur um an mir hinabzugleiten und festzustellen, dass auch das Shirt, das ich trug, nicht meins war. Ein weiterer Blick unter die Decke verriet mir, dass ich noch meine Unterhose trug.
Die Verwirrung stieg.
War ich gestern noch mit jemandem nach Hause gegangen?
Angestrengt versuchte ich, mich an die letzte Nacht zu erinnern. Grobe Fetzen schafften es an dem Metalkonzert vorbei.
Alec, der Barkeeper.
Grübchen.
Mehrere Drinks.
Mein Kopf landete in meinen Händen und ich stöhnte auf. Hatte ich so viel getrunken? Das hier war eindeutig der mieseste Hangover, den ich jemals gehabt hatte.
»Endlich wach?«
Bei dem plötzlichen Klang einer männlichen Stimme im Raum schreckte ich auf. Sofort brandete neue Übelkeit in mir hoch und das Konzert legte ein Schlagzeugsolo ein. Vor Schmerz krümmte ich mich zusammen und ich konnte mich nicht entscheiden, was gerade heftiger war – mein verkrampfter Magen oder das Konzert.
»Hier, nimm das.« Zwei Hände tauchten vor mir auf, eine mit Wasserglas und eine mit Tablette. Ich nahm sie – in diesem Moment hätte ich alles gegen diesen Lärm in meinem Schädel eingeworfen. Zyankali. Rohrreiniger. Nicht eindeutig zuordenbare Pillen von einem völlig Fremden. Gierig leerte ich das Glas und sehnte mich nach mehr. Meine Kehle fühlte sich an, als hätte ich die letzte Nacht statt Cocktails Sand und Glasscherben geschlürft.
»Gleich geht’s dir besser.«
Mit vor Schmerz und Übelkeit zusammengepressten Augen konnte ich nur hier sitzen und nicken und darauf warten, dass Rohrreiniger oder Schmerztabletten ihren Job taten. Als Finger behutsam meine Stirn berührten, feuchtes Haar zur Seite streichend, flackerte eine Erinnerung auf. Das Time Out. Ein schelmisches Lächeln. Hände, die über meine Haare strichen, die mein Gesicht von der Welt vor mir abschirmten. Aber das Bild stimmte nicht. In dem Rückblick waren die Finger grob, hektisch, sie passten nicht zu dieser sachten Berührung.
Mühsam öffnete ich ein Auge und obwohl das Zimmer in Kopfschmerz schonendem Halbschatten lag, traf mich der Blick aus zwei silbernen Augen wie gleißendes Sonnenlicht.
Erschrocken wich ich zurück.
Mein Körper erinnerte sich als Erstes.
Graue Augen, die mich aus dem Schatten beobachteten.
Meine Hände zitterten und ich stieß das Glas um, als ich noch mehr Abstand zwischen ihn und mich bringen wollte.
Zwei Männer, die mich zum Auto begleiteten – nein, zu einem Uber – hatte ich eines bestellt? Hatten sie es getan? Hatte ich den Abend mit ihnen verbracht? Und schlussendlich, der Moment, in dem mir schwindelig wurde. Der Mann aus dem Schatten, der plötzlich da war. Graue Augen, die sich direkt in mich brannten.
»Du«, keuchte ich und sprang vom Bett. Erneut schwappte Magensäure die Kehle hinauf, verätzte mir jeden hektischen Atemzug. Ich ignorierte es und rannte. Der hämmernde Schmerz in meinem Kopf stieg gemeinsam mit dem rasenden Puls an, machte jede Bewegung zu einer Qual.
Ich schaffte es bis zur Schlafzimmertür.
Dann wurde ich am Handgelenk zurückgerissen.
Gegen die Übelkeit ankämpfend, schlug ich um mich, traf aber nur Luft. Also trat ich aus, kratzte die letzte Schicht Kraft aus den wenigen Reserven. Dieser hämmernde Schmerz im Kopf trieb mir Tränen in die Augen und meine Lunge brannte. Mein Magen stand bereits in Flammen.
»Ruhig. Bitte.« Ein Keuchen hinter mir, direkt an meinem Nacken. Ich bekam eine Gänsehaut. »Vida, hör auf, mach es nicht noch schlimmer.«
Bei dem Klang meines Namens erstarrte ich. Mit jedem hektischen Atemzug wurde mein Rücken gegen seine Front gedrückt, die Arme hatte er so fest um mich geschlungen, dass ich meine Hände nicht mehr für einen Schlag benutzen konnte. Ich dachte angestrengt nach, suchte einen Ausweg aus der Situation. Kämpfte gegen den Schmerz hinter meiner Stirn und die Übelkeit an. Was war letzte Nacht passiert? Waren die anderen Männer auch hier?
»Du musst ruhig atmen, sonst wird es nur noch schlimmer.« Ich spürte sein Gesicht an meinem Hals, seinen hektischen Atem. Und glaubte sogar, seinen Herzschlag zu spüren. Vielleicht raste er genauso heftig wie meiner. Vielleicht war das auch nur mein eigener Puls.
Dann überbrückte die Magensäure die letzte Barriere und alles drehte sich. Die Welt wurde mit einem Schlag gekippt. »Mir wird –«
Im nächsten Moment hockte ich auf dem Boden und übergab mich in einen Eimer, der plötzlich vor mir stand. Krämpfe schüttelten meine Mitte, mein Magen zuckte mit jedem Schwall dünner Flüssigkeit, die aus mir herausbrach.
»Es wird gleich besser.« Wieder diese ruhige Stimme. Als wäre es völlig normal, dass ich nach einem Totalausfall meines Erinnerungsvermögens in seinem Bett erwachte, halb nackt und von Schmerzen geschüttelt.
»Ich erkläre dir alles. Versprich mir nur, dass du nicht wieder versuchst wegzurennen.« Seine Hand strich flüchtig über meinen Rücken, mit der anderen hielt er den Großteil der langen Haare aus der Gefahrenzone. Nur einzelne Strähnen ertranken in dem Inhalt des Eimers.
»Wer bist du?« Meine Stimme klang merkwürdig. Kratzig und dünn. Dann fiel mir noch eine Sache ein. Max, sie hatten auf Max gewartet. »Max?«
Ein trockenes Lachen. »Nein. Der sollte dich wohl an einen Ort bringen, an dem …« Er stockte und mein Atem hallte zwischen dem Plastik des Eimers wider. »An dem sie deinen Zustand ausnutzen können.«
Ich schreckte hoch, mein Magen rebellierte, doch ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und musterte den Mann neben mir.
Er saß mit dem Rücken gegen das Bett gelehnt, hielt mit einer Hand noch immer mein Haar, ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt. Wie in der letzten Nacht trug er das weiße Hemd mit dem Fleck am Ärmel, nur war es jetzt zerknittert und die obersten Knöpfe hatte er geöffnet. Seine Haltung wirkte nicht bedrohlich. Er wirkte eher so, als hätte er eine lange Nacht hinter sich.
»Dann gehörst du nicht zu ihnen?«
»Nein.«
Noch eine Erinnerung flackerte auf. »Es klang so, als würdest du sie kennen. Als wärst du der, auf den sie gewartet haben.«
»Sorry für die Show. Wollte das Überraschungsmoment nutzen.« Sein Lächeln wirkte fehl am Platz.
»Was hatten sie vor?«
»Das kann ich mir nur ausmalen«, gab er zu, »darauf verzichte ich aber lieber.«
Ein Schauer wanderte meinen Nacken hinab, die ganze Wirbelsäule runter, wie ein eisiger Tropfen, der klamm an der Haut kleben blieb. Nein, das will ich auch nicht.
»Was haben sie mit mir gemacht?« Mein Gehirn konnte die Wahrheit gerade nur in winzigen Häppchen ertragen, aber diese Frage brannte zu scharf in mir.
»Sie kamen nicht dazu, irgendwas zu machen. Sei froh, dass besagter Max spät dran war.« Das Lächeln war verschwunden, zurück blieb diese eisige Miene, an die ich mich noch erinnerte. Passe. Auch daran konnte ich mich erinnern.
»Du wirktest schlagartig extrem betrunken, als ihr aufgebrochen seid.«
»Ich hatte wohl einen Whiskey Sour zu viel.«
»Nein.«
Überrascht schaute ich ihn an und mein Magen krampfte erneut.
»Du hattest vier, maximal fünf. Alec achtet auf seine Mischungen und wenn er das Gefühl hat, dass du nichts mehr abkannst, verringert er den Alkohol. Du warst wenige Minuten, bevor ihr aufgebrochen seid, nahezu nüchtern.«
Mir wurde übel, aber es kam nichts mehr.
Er hatte recht. Ich konnte mich grob daran erinnern, Ewigkeiten getanzt und den Alkohol ausgeschwitzt zu haben.
Ich war nicht betrunken gewesen – maximal angeheitert.
Oder?
Zweifel nagten an mir wie eine Ratte an einem Stück Abfall.
Der Mann mit den blonden Haaren, die längst nicht mehr akkurat gestylt waren, betrachtete mich nachdenklich. »Ich vermute, sie haben dir was in den Drink gegeben. GHB oder GBL.« Begriffe, die mir durch meinen Job nur zu bekannt waren.
»Liquid Ecstasy?«
»Auch als K.-o.-Tropfen bekannt, ja«, bestätigte er.
»Das erklärt den Filmriss.«
»Kannst du dich an irgendwas erinnern?«
Aus Reflex schüttelte ich den Kopf. Was für eine blöde Idee. Magen und Gehirnmasse erklärten mir erneut den Krieg. »Ich kann mich grob an den Club erinnern.«
»Auch an mich?« Er lehnte sich zurück und das Lächeln, das ich vergangene Nacht nur durch die Haare hinweg hatte erkennen können, flackerte auf. Es zeichnete seine harten Konturen weich und verlieh ihm etwas Charmantes. Das war der Mann, der meinen gesamten Körper gestern auf angenehme Weise in Brand gesetzt hatte.
»Ich kann mich an ein Arschloch in weißem Hemd erinnern.«
Noch immer lächelnd fasste er sich an die Brust. »Autsch.«
»Und daran, dass du aufgetaucht bist, als …« Wie hießen die beiden noch mal? »Die anderen mich zu irgendeinem Wagen bringen wollten.« Ich hatte nach Hause gewollt, das wusste ich noch, doch danach … Dann fiel mir wieder etwas anderes ein. »Warum hast du mich beobachtet?«
Er seufzte und schloss die Augen. Offenbar würde mir die Antwort nicht gefallen. Dann sah er mich an und ich erinnerte mich an die Intensität dieses Blicks und wie sie sich in meinen Rücken gebrannt hatte. Er hat dich den ganzen Abend über beobachtet, vergiss das nicht. Das ist nicht normal. »Ich wünschte, ich hätte eine logische Erklärung dafür, aber … Ich hatte einfach das Gefühl, dass …« Er ließ meine Haare los und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich hatte das Gefühl, ich muss auf dich achten.«
Das erklärte seine Reaktion gestern nicht, diese merkwürdige und plötzliche Abfuhr und warum er den Männern gefolgt war. »Verschweigst du mir etwas?«
Die Pause dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde zu lang. »Nein.«