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Nach der Scheidung ihrer Eltern zieht Harper Adams in die beschauliche Kleinstadt Blueberry Hill. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten findet sie schnell Anschluss, vor allem dank der herzlichen Art der Bewohner. Dean Parker hingegen, den alle nur „Monster“ nennen, träumt davon, Blueberry Hill zu verlassen. Ein BMX-Wettbewerb könnte ihm dabei helfen, doch dafür benötigt er Geld für die Teilnahmegebühr. Gemeinsam mit seinen Freunden schmiedet er einen Plan, aber um diesen in die Tat umzusetzen, braucht Dean eine Fake-Freundin – und wer könnte dafür besser geeignet sein als das neue Mädchen in der Stadt? Wird sich Harper darauf einlassen, und woran erkennt man, dass aus einem Spiel plötzlich Realität wird?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
SCARS
Die Ruhe in unseren Herzen
Natalie Hennig
Impressum:
Copyright © 2024 Natalie Hennig
Goebenstr.2, 20253 Hamburg
Coverdesign: Kuki Design – Monique Gärtner
www.kuki-design.de
Literaturgutachten: Luise Eggers
www.dasgrauekaninchen.de
www.natalie-hennig.de
Instagram: nataliehennig_schreibt
Email: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches - auch auszugsweise - sowie wie die Übersetzung des Werkes ist nur mit schriftliche Genehmigung des Autors gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle die etwas Dunkles in sich tragen.
Lasst das Monster nicht die Oberhand gewinnen.
Triggerwarnung:
Dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Diese sind:
Umgang mit Trauer, Todesfall in der Familie, Angststörung,
Agoraphobie, Selbstmordgedanken, Erwähnung von Depression, Selbstverletzendes Verhalten
Kapitel 1 - Harper
Wohin, wenn der Weg voller Kürbisse ist?
»Widder: Seien Sie heute besonders achtsam, es könnte sein, dass Ihr Liebesglück an Ihnen vorbeifliegt. Greifen Sie zu.«
»Dein Ernst?«, grummelte ich und klemmte mein Telefon zwischen Schulter und Ohr fest, um nach dem Kaffee zu greifen, der über den dunklen Tresen auf mich zugeschoben wurde. Kurz formte ich mit den Lippen ein Danke und ließ den nächsten in der Reihe vortreten.
»Mein voller Ernst. Tante Luna hat mir letztens erzählt, dass sie und Onkel Peter quasi von den Sternen zueinander geführt wurden.«
Ich schnaubte und nahm das Telefon wieder richtig in die Hand, bevor es mir runterfiel. Kurz streifte mein Blick durch den kleinen Starbucks, doch keiner der Menschen nahm Notiz von mir. Was gut war, ich zog es vor, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Anzahl von Cliquen hatten sich gebildet, teilweise mit Laptops vor sich auf dem Tisch oder einem großen Lehrbuch auf dem Schoß. Die Schlange, die ich hinter mir gelassen hatte, bestand ebenfalls nur aus jungen Leuten. Hier muss irgendwo die Highschool sein, dachte ich. Kurzerhand drückte ich die Tür des Cafés mit der Schulter auf und trat in das herbstliche Blueberry Hill. Mein neues Zuhause.
»Deine Tante erzählte mir einmal, dass sie 10 Cent auf der Straße fand, nachdem ihr linker Zeh morgens gejuckt hatte.«
Der kalte Herbstwind fuhr mir durch die dunklen Haare und ich eilte in Richtung Stadtmitte, während ich mir den ersten Schluck meines Kaffees genehmigte. Mein Blick fiel auf den Namen, der auf meinem weißen Pappbecher stand. Harley. Ich verdrehte die Augen. Wer wurde schon nach einem Motorrad benannt? Doch dann fiel mir Harley Quinn ein und dieser Vergleich gefiel mir schon etwas besser. Wie dem auch sei, immerhin war der Kaffee grandios.
»Harper!«, kam es dann stürmisch aus dem Telefon. Die Stimme von Sally meiner besten Freundin riss mich aus meinen Gedanken. Wir telefonierten so oft wie möglich miteinander, seit ich vor vier Wochen von San Francisco in eine Stadt gezogen war, die den Namen einer Obstsorte trug. Eine Gegend, die aussah, als wäre sie besser in einer Schneekugel aufgehoben und die gefühlt zehnmal weniger Einwohner hat als San Francisco. Was ein scharfer Kontrast war zu dem Leben, was ich hinter mir gelassen hatte. Nach der Scheidung meiner Eltern und dem neuen Jobangebot meiner Mom als Lehrerin blieb mir und meinem kleinen Bruder Louis nichts anderes übrig, als unsere Freunde zurückzulassen und hier in dieser Kleinstadt ein neues Leben anzufangen. Was für mich hieß: neue Schule und neue Menschen. »Selbst wenn ich an Astrologie glauben würde, sage ich dir mit hundertprozentiger Sicherheit, dass dieses Horoskop nicht für diese Stadt geschrieben wurde.«
Ein Schnauben drang aus dem Telefon. »So schlimm ist es bestimmt nicht.«
Ich lachte. »Ich gehe gerade an einer riesigen Pyramide aus Kürbissen vorbei, die fast den halben Rathausplatz einnimmt.«
»Und?«, fragte Sally. »Du liebst Halloween.«
»Sie feiern nicht einfach Halloween, Sal. Diese Stadt feiert es ein ganzes Wochenende. Es ist hier wie Weihnachten. Ein Volksfest, mit Buden, Geisterbahnen und Lagerfeuer.«
»Klingt, als wäre wenigstens das eine Sache, die dich an zu Hause erinnert.«
Jetzt schnaubte ich. »Du sagst es, aber du bist tausende von Meilen entfernt und ich bin hier.«
Als meine beste Freundin schwieg, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich vermisste sie schrecklich. Ich vermisste die Großstadt, auch wenn sie mir schon immer zu laut gewesen war, doch Menschen wie Sally haben sie zu etwas Besonderem gemacht. Kurz schloss ich die Augen und sog die frische Luft in meine Lungen. Wenigstens gab es hier weniger Smog.
»Es ist nur ein Jahr, Harp. Nächstes Jahr werden wir zusammen nach Stanford gehen. Dann lässt du die Blaubeeren, Blaubeeren sein und kommst zurück.«
Ich nickte, auch wenn Sally mich nicht sehen konnte.
»Ein Jahr«, murmelte ich, immer noch mit dem Blick auf den riesigen Berg von Kürbissen.
Ein Jahr hielt ich aus.
***
Es war kurz nach vier, als ich die Tür unseres Hauses aufschloss. Es war kleiner als das Apartment in San Francisco, doch für uns drei reichte es allemal. Es bestand aus vier Zimmern, Louis und meins oben, zusammen mit dem Badezimmer, sowie das kleine Wohnzimmer, das Schlafzimmer meiner Mom und der Küche unten. Zwar hatte ich das Apartment in San Francisco geliebt, jedoch musste ich zugeben, dass dieses Haus seinen Charme hatte. Es war die Art, wie wir hier zusammenwohnten. Es gab mir das Gefühl, als bräuchte ich die Großstadt nicht, weil meine Familie hier war und dieses Haus zu etwas Gemütlichen machte. Wärme breitete sich langsam in meinen Knochen aus, als ich aus den braunen Stiefeln schlüpfte und den Parka an die Garderobe hängte.
»Hey, ist jemand zu Hause?«, rief ich in die Stille hinein und ein Poltern ertönte von oben.
»Harps?«, rief Louis und kurz darauf rannte er die knarrenden Stufen der in die Jahre gekommenen Treppe hinab.
Mein Bruder fand es im Gegensatz zu mir unheimlich aufregend hier zu sein. In den vier Wochen, in denen wir den Umzug gemeistert und versucht hatten, uns hier einzuleben, brachte er jeden Tag neue Infos aus der Stadt mit nach Hause. Mir war so, als kenne er bereits die ganze Stadt, im Gegensatz zu mir, die sich lieber zurückzog und zeichnete. Näher als die Zeichnungen, die ich von den Menschen hier anfertigte, wollte ich ihnen nicht kommen. Zumindest bis morgen. Denn da begann für Louis und mich der erste Schultag.
Großartig. Es graute mir, die Neue zu sein. Niemanden zu kennen, im Mittelpunkt zu stehen. Louis dagegen freute sich schon wochenlang auf diesen Tag.
»Du glaubst es nicht«, begann er und umfasste meine Schultern. Grinsend musterte ich meinen Bruder. Er war zwar nur zwei Jahre jünger als ich, trotzdem sah ich manchmal noch diesen kleinen Jungen in ihm, mit dem ich mich damals ins Kino schlich, um die neusten Horrorfilme anzusehen. Was zur Folge hatte, dass wir wochenlang in einem Bett schlafen mussten, um die Angst in Schach zu halten.
»Was denn?«, fragte ich ihn und strich ihm eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Seine dunkelbraunen Augen, die so anders waren als meine, glänzten vor Aufregung.
»Pete, der Junge aus der Metzgerei, ist in meiner Klasse. Er hat mir schon einige seiner Freunde vorgestellt, das wird ein Kinderspiel morgen.«
»Das freut mich, Lou.« Spielerisch knuffte ich ihm in die Seite. Dann lief ich an ihm vorbei in die Küche, denn ich nahm den Duft meines Lieblingsessens wahr und als Reaktion darauf knurrte mein Magen. Louis folgte mir in die Küche. Und ich hatte recht. Bei unserem Betreten der Küche holte meine Mutter gerade den Nudelauflauf aus dem Ofen. Wenigstens ließen mich die Kürbisse hier in Ruhe. Denn es war nicht nur die Kürbispyramide, sie waren einfach überall. An fast jedem Hauseingang, auf den Grünflächen in der Stadt, in jedem Schaufenster. Sogar die Statue des Bürgermeisters reckte triumphierend einen geschnitzten Kürbis in die Höhe. Meine Mom stellte die terrakottafarbene Form zum Abkühlen auf die Arbeitsplatte und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen, als sie aufsah. Sie strahlte uns an.
»Perfektes Timing. Mögt ihr den Tisch decken?«
Louis holte Gläser und Teller aus dem Schrank, während ich das Besteck beschaffte. Wir bestückten damit den runden Esstisch, an dem höchstens vier Leute Platz fanden.
»Harper, hol noch drei tiefe Teller aus dem Schrank, heute gibt es eine Suppe als Vorspeise.«
»Eine Suppe?«, fragte ich misstrauisch. Meine Mutter war ein Multitalent, zugegeben. Sie konnte perfekt nähen, als Kind hatte sie jedes meiner Halloweenkostüme selbst angefertigt. Sie liebte die englische Literatur, weshalb mich damals Geschichten von Jane Austen oder Emily Brontë in den Schlaf gelullten hatten. Obwohl ich kein Wort verstanden hatte, liebte ich es. Kochen allerdings? Der Auflauf war bereits die höchste Kunst auf diesem Gebiet. »Exakt, und ich ignoriere mal das Entsetzen in deiner Stimme.«
»Sorry«, murmelte ich und holte die Suppenteller aus dem Schrank.
»Was für eine Suppe?«, fragte Louis, während er sich gerade die Fanta aus dem Kühlschrank nahm.
»Monika aus dem kleinen Supermarkt hat sie mir empfohlen. Setzt euch, dann werdet ihr schon sehen.«
Wir nahmen ohne einen weiteren Kommentar am Esstisch Platz und ich versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben, dass sogar meine Mom längst Kontakte geknüpft hatte, obwohl ihr erster Arbeitstag an der Highschool auch erst morgen begann. Es würde komisch werden, sie als meine Lehrerin an der Schule zu haben. Bevor ich mir aber weitere Überlegungen darüber machen konnte, füllte sie mir eine orangene Flüssigkeit in meinen tiefen Teller. Überrascht hob ich die Augenbrauen und sah in das glückliche Gesicht meiner Mom.
War ja klar, dachte ich.
»Lass mich raten ...«, meinte ich und rührte etwas in der dickflüssigen Konsistenz herum.
»… Kürbis?«
Meine Mutter nickte und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Diese Stadt war wahrlich anders, als die aus der ich gekommen war.
Kapitel 2 - Harper
Schuluniformen sind der Untergang der Modeindustrie.
Der schrille Ton meines Handyweckers ließ mich zusammenzucken, obwohl ich seit einer Stunde wach war. Müde saß ich aufrecht in meinem großen Doppelbett, den Skizzenblock auf dem Schoß, doch die Zeichnung der großen Kürbisspyramide, beruhigte mich nicht. Normalerweise rückte die Welt in den Hintergrund, sobald ich Stift und Papier in den Händen hielt. Doch der erste Schultag machte mich so nervös, dass nicht einmal das mich beruhigte. Durch die Tür hörte ich Louis‘ Wecker ebenfalls klingeln, weshalb ich den Block beiseitelegte und wartete.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich leise Schritte hörte, die näher kamen und sich meine Zimmertür geräuschlos öffnete. Der blonde Haarschopf meines Bruders erschien im Türspalt.
»Du bist ja wach«, flüsterte er und ich nickte, während ich einladend auf mein Bett klopfte. Er schlüpfte durch die Tür und schloss sie leise hinter sich. »Schau mal«, meinte er und zog sein Smartphone aus der Tasche seiner Schlafhose. Instagram war geöffnet und zeigte ein Bild eines braunhaarigen Mädchens. Sie saß an einem runden Tisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop sowie ein bauchiger Kaffeebecher stand. »Wer ist das?«, fragte ich und sah vom Foto zurück in das Gesicht meines Bruders. Seine blonden Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen ab und in seinen Augen sah ich Müdigkeit.
»Sie heißt Lotti. Sie jobbt in dem kleinen Starbucks in der Stadt.«
Ich versuchte mich an ihr Gesicht zu erinnern, doch dafür war ich vom Telefonat mit Sally zu sehr abgelenkt gewesen. Plötzlich begann ich zu grinsen.
»Du stehst auf sie!«, rief ich und sah dabei zu, wie Louis‘ Wangen glühten.
»Ich kenne sie gar nicht.« Er griff nach seinem Telefon, doch ich hielt es außerhalb seiner Reichweite. »Folgst du ihr?«, fragte ich und suchte nach dem kleinen roten Herz, was bedeutete, dass er das Bild gelikt hatte, doch das war nicht der Fall.
»Spinnst du? Nein.« Wieder griff er nach dem Telefon, doch ich rollte mich vom Bett und lief ein paar Schritte Richtung Schreibtisch. Mein Bett stand mittig an der Wand, links davon war ein kleines Fenster. Die gegenüberliegende Wand hing voll mit meinen Bildern. Neben reinen Bleistiftzeichnungen von Dingen, an die ich mich erinnern wollte, fand man auch bunter Aquarellbilder, die teilweise abstrakte Muster und Linien zeigten.
»Wieso nicht?«, fragte ich und scrollte etwas durch Lottis Profil. Da waren Bilder mit ihren Freunden, fotografiert auf dem Rathausplatz vor, wer hätte es gedacht, der Kürbisspyramide. Ein Bild zeigte sie hinter dem Tresen vom Starbucks, mit einer dunkelgrünen Schürze und einer Cap auf dem Kopf. In der Hand hielt sie eine silberne Kanne.
»Ich kann sie doch nicht aus heiterem Himmel mit einem Follow überraschen?«
Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Ist das nicht der Sinn von Instagram?«, fragte ich.
Louis raufte sich die Haare und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Er antwortete nicht mehr, weswegen ich zurück zum Bett ging und mich neben ihm fallen ließ.
»Geht sie auf unsere Schule?«
Er nickte.
»Super vielleicht ist sie in deiner Klasse.«
Jetzt schüttelte er seinen Kopf. »Wohl eher in deiner.«
»Schätzt du sie älter als dich?«
Er nickte wieder.
»Dann lege ich ein gutes Wort für dich ein«, versprach ich und stupste ihn liebevoll in die Seite. Louis sagte nichts mehr, doch er sah mich mit prüfendem Blick an.
»Was ist mit dir?« »Was soll mit mir sein?«, fragte ich, stand gleichzeitig auf und schnappte mir die Schuluniform, die wir vor eine Woche abgeholt hatten. Sie bestand aus einem grün-weißen Karo-Rock, einem weißen T-Shirt, einer dunklen Strickjacke und der passenden Krawatte dazu. Der kuschelige oversized Kapuzenpullover und meine dunkle Jeans, die über meinem Schreibtischstuhl hingen, wären mir lieber gewesen. Dieser dunkelgrüne Albtraum in meinen Händen war noch schlimmer als die Kürbispyramide, die mich überallhin verfolgt.
Ein Jahr. Ich rief mir meine kleine Motivationshilfe in Erinnerung und straffte entschlossen die Schultern. Ich würde diesen Tag überstehen. Dieser Tag würde der Schwerste werden.
Ab morgen ist alles ein Kinderspiel, versuchte ich mir einzureden.
»Du hast in den ganzen vier Wochen nicht eine Person näher kennengelernt«, sagte Louis. Ich zucke mit den Schultern. Mit meiner Uniform in den Händen lief ich Richtung Tür, damit ich vor Louis im Bad verschwinden konnte.
»Ich werde heute eh alle kennenlernen.«
»Aber …«, rief er mir nach, doch da hatte ich ihn bereits in meinem Zimmer zurückgelassen und war im Badezimmer verschwunden.
Kapitel 3 - Harper
Wo ist der Tarnumhang, wenn man ihn braucht?
Blueberry Hill begrüßte den Tag aller Tage mit starkem Wind, der mir beim Hinaustreten unseres Hauses die schwarzen Haare aus dem Gesicht wehte. Herbstliche Blätter in sattem Orange wirbelten durch die frische Luft und blieben hier und da an etwas hängen. Mal an den Fensterläden der kleinen Geschäfte, mal an den irrwitzig vielen Kürbissen, die die Wege säumten. Die Stadt war so klein, dass Louis und ich nicht einmal den Bus nehmen mussten, um zur Schule zu gelangen. Nachdem wir mit Mom gefrühstückt hatten, machten wir uns alle zusammen auf den Weg.
»Seid ihr aufgeregt?«, fragte sie, als wir eine schmale Allee passierten, in der sich verschiedene Läden befanden. Mein Blick fiel auf den Supermarkt, der passend zur Jahreszeit mit einer Herbstgirlande geschmückt war, genauso wie die Drogerie und der kleine Buchladen daneben.
»Auf keinen Fall, ich freue mich riesig«, lachte Louis, woraufhin ich nur das Gesicht verzog. Aus der Buchhandlung Berrie Books trat ein rundlicher Mann mit weißem wuscheligem Haar. Er winkte uns freundlich zu und rief aufgeregt: »Die Familie Adams, nicht wahr?«
»Höchstpersönlich«, antwortete Louis und winkte zurück.
»Herzlich willkommen in unserer kleinen Stadt.«
»Danke«, erwiderte Mom und ich fragte mich, wann das Gefühl des Neu-Seins enden würde.
Wir lebten bereits vier Wochen in Blueberry Hill und wurden immer noch von den Bewohnern begrüßt, als wären wir gestern erst angekommen. Trotzdem winkte ich dem Mann zu, als wir an seinem Laden vorbeigingen und kurz darauf eine weitere Straße passierten, die uns direkt zu Blueberry High führte. Obwohl ich es ungern zugeben wollte, hatte ich Respekt vor dem großen braunen Backsteingebäude, in das Schüler und Schülerinnen in grün-weißer Kleidung strömten. Mom verabschiedete sich noch vor dem Rundbogen, der den Eingang bildete, da sie ein Einführungsgespräch mit dem Schulleiter hatte. Louis und ich mussten zum Sekretariat. Immer wieder wurde ich von drängelnden Menschen angerempelt, die vermutlich nur versuchten rechtzeitig in die erste Stunde zu gelangen. Kurz wünschte ich mir Harry Potters Tarnumhang, der mich wenigstens vor den neugierigen Blicken schützen könnte. Denn Kleinstadt bedeutete das unser Umzug wahrscheinlich, das Ereignis des Monats war. Gedanklich machte ich mir eine Notiz die städtische Zeitung zu kaufen, um zu erfahren, ob wir wirklich auf der Titelseite gelandet waren.
»Hier«, sagte ich und stupste Louis an, der ein Gespräch mit einem rothaarigen Jungen in seinem Alter begonnen hatte. Wieso konnte ich nicht nur zwei Prozent von Louis‘ Selbstbewusstsein abzwacken? Er trug sogar diese verdammte Schuluniform selbstsicher, im Gegensatz zu mir. Mit einer kurzen Handbewegung zeigte ich auf das Schild des Sekretariats und mein kleiner Bruder nickte.
»Wir sehen uns«, meinte er zu dem Jungen, der mir kurz zuwinkte.
»Lets Go«, sagte Louis motiviert und sah mich an, als wüsste er genau, was gerade in mir vorging. Freudig pfeifend lief er vor, während ich nur mühsam meine Nervosität herunterschluckte und ihm folgte.
Die Sekretärin Miss Redwood war eine freundliche Frau mittleren Alters mit einem großen braunhaarigen Dutt. Sie brachte erst Louis in seine neue Klasse, bevor wir die mittlerweile leeren Gänge der Schule in den vierten Stock hinaufgingen. Nervös musterte ich meinen Stundenplan, den mir Miss Redwood gegeben hatte, um mich vor der mir bevorstehenden Vorstellung abzulenken. Sie brachte mich zu den Kunsträumen, denn meine erste Unterrichtsstunde war in einem meiner Wahlfächer. In San Francisco hatte ich nie die Möglichkeit gehabt, Kunst zu wählen, deshalb hatte ich hier die Chance ergriffen. Statt Literatur und Bio hatte ich mich für Kunst und Spanisch entschieden.
»Hier sind wir. Bereit Miss Adams?«, fragte Miss Redwood und ich erwiderte ihre Frage mit einem hoffentlich ernsthaften Lächeln.
So bereit, wie ich es sein konnte.
Wir betraten den Raum und wie befürchtet drehten sich sofort alle Köpfe in meine Richtung, was dazu führte, dass mir unmittelbar verräterische Hitze den Hals hochkroch. Die Tische waren kreisförmig aufgestellt. Auf den ersten Blick entdeckte ich fast nur Mädchen, nur vereinzelnd saß ein Junge an den Tischen. Neben uns erschien ein grauhaariger Mann mit wuscheligen Haaren und einer braunen Hornbrille auf der Nase.
»Willkommen, Sie müssen Miss Adams sein?«, fragte er mich und schenkte mir ein freundliches Lächeln.
»Harper«, erwiderte ich leise und versuchte mich zu Räuspern, um ein wenig an Stärke in meine Stimme zurückzuerlangen.
»Wir haben das Glück, ein weiteres Mitglied in unserer Klasse begrüßen zu dürfen«, begann er zu seiner Klasse zu sprechen.
»Das ist Harper Adams.« Stille. Der Lehrer neben mir machte eine viel zu lange Pause. Vermutlich hatte er auf eine Reaktion seiner Schüler gehofft. Die nicht kam. Er rümpfte die Nase, sodass sein weißer Schnurrbart sich merkwürdig kräuselte.
»Mein Name ist Mister Light und ich unterrichte Kunst und Literatur hier an der Blueberry High.«
Ich lächelte, weil mir keine andere Erwiderung einfiel.
Alles, was ich dachte, war: Bitte keine Vorstellungsrunde, bitte, bitte, bitte.
»Was meinst du Harper, hast du Lust, ein bisschen was über dich zu erzählen?« Ich spürte, wie mein Herz kurz aussetzte, obwohl ich damit gerechnet hatte. Während ich mir die schwitzigen Hände an meinem Rock abwischte, versuchte ich es nochmal mit einem Räuspern.
»Ich bin Harper.« Meine Stimme brach inmitten meines Namens, sodass es sich eher wie Harpner anhörte.
»Ich bin vor kurzem achtzehn geworden. Meine Mutter, mein Bruder und ich sind vor vier Wochen hergezogen.«
Okay, das sollte reichen, entschied ich und schaute zum Lehrer, doch der sah mich noch immer neugierig an.
»Von wo kommt ihr?«, fragte er.
»San Francisco.«
»So weit weg von zu Hause.« Sofort hörte ich das Mitleid in seiner Stimme. Er hatte ja keine Ahnung, wie es war, aus seinem Zuhause entrissen zu werden und alles zurückzulassen, um in eine kleine Stadt am Ende der Welt zu ziehen. Das sagte ich aber nicht. Stattdessen schwieg ich.
»Bist du die Tochter von der neuen Lehrerin, die heute angefangen hat?«, erklang es von einem Jungen weiter hinten im Raum. Das Erste, was ich bemerkte, waren seine platinblond gefärbten Haare, dessen Spitzen wie kleine Stacheln nach oben gestylt wurden und die gepiercte Unterlippe mit dem kleinen schwarzen Ring.
»Ähm, ja. Julie Adams ist meine Mom.«
Der Junge beugte sich vor und seine ebenfalls gepiercte Augenbraue hob sich überrascht.
»Ich habe sie vorhin gesehen. Sie sieht gar nicht aus wie du«, bemerkte er.
Meine Gedanken schweiften ab zu meinem Vater, denn der Junge hatte recht. Louis hatte die blonden Haare meine Mutter, ich wiederum verdankte meine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare meinem Vater. Der uns betrogen und verlassen hatte. Meine Mom hatte darunter schwer gelitten und sich nur langsam von ihrem gebrochenen Herzen erholt. Auch wenn sie jetzt ihr fröhliches Wesen zurückerlangt hatte, sah ich es manchmal noch in ihren Augen. Den Schmerz. Besonders wenn sie mich manchmal einen Moment zu lang ansieht, sich dann abwendet und versucht, das zu verbergen, was ich schon lange weiß. Denn sogar ich sehe meinen Vater, wenn ich mein Spiegelbild betrachte. Wie musste es da für sie sein?
»Hat sie auch so einen Stock im Arsch wie du?«, riss mich der Junge aus meinen Gedanken. Kurz huschte mein Blick zurück zu ihm, hinein in die vor Schalk glänzenden braunen Augen.
»Benjamin!« Mister Light unterbrach unseren Blickwechsel, in dem er meine Schultern umfasste und mich in Richtung eines freien Platzes führte.
»Noch so ein Spruch und Sie können gleich mit Miss Redwood mitgehen.«
Ich sah hinüber zu der Sekretärin, denn ich hatte sie völlig vergessen. Mister Light ging zu ihr, um ein paar letzte Worte auszutauschen, bevor sie sich von allen verabschiedete und den Raum verließ. Von meinem Platz aus saß ich Benjamin direkt gegenüber, der mich weiterhin angrinste.
Was für ein wundervoller Start in dieses letzte Highschool-Jahr, dachte ich frustriert.
»Hey«, ertönte es leise und jemand berührte mich am Arm. Überrascht sah ich zur Seite. Ein Mädchen mit einer riesigen roten Lockenpracht und dem Gesicht voller süßer Sommersprossen grinste mich an. »Endlich kommt mal jemand Interessantes hier nach Blueberry Hill. Ich bin Joan, aber alle nennen mich Jammy.«
Etwas überfordert mit dieser herzlichen Begrüßung erwiderte ich ihr Grinsen, erleichtert darüber, vielleicht doch schneller Kontakte knüpfen zu können, als ich dachte.
»Du musst mir unbedingt alles von San Francisco erzählen!«
»Klar.«
»Welchen Kurs hast du nach Kunst?«, fragte sie mich und ich kramte meinen Stundenplan aus der Jackentasche, in die ich ihn lieblos gestopft hatte.
»Spanisch.«
»Okay, das ist im Erdgeschoss, wenn du willst, bringe ich dich hin. Ich habe im Raum gegenüber Mathe.«
Kurz zog sie die Nase kraus und ich konnte es ihr nicht verübeln. »Gerne, das wäre großartig.«
»Na klar. Wollen wir uns danach zum Lunch verabreden?«, fragte sie mich und wieder nickte ich freudig.
»Dann haben wir ein Date.«
Auch sie lächelte mich an und dann fügte sie noch etwas lauter hinzu:
»Ach und mach dir keine Gedanken um unseren lieben Benjamin, der hat heute seinen Abschiedskuss seiner Mami nicht bekommen, deswegen ist er ein bisschen grummelig. Eigentlich ist er aber eher eine Schmusekatze.«
Benjamin sah uns mit zusammengekniffenen Augen an. »Halt den Mund, Jammy.«
»Wirst schon sehen.« Mit einem Zwinkern stupste sie mir in die Seite, bevor sie sich ihrer Leinwand widmete, und Mister Light begann von unserer ersten Aufgabe zu sprechen.
Vielleicht wird der Start hier doch nicht so schwierig, wie ich ursprünglich gedacht hatte.
Kapitel 4 - Harper
Ist das die Hölle oder doch nur ein Spanischkurs?
»Hier ist es.«
Jammy und ich hielten vor einer gelben Tür. Während ich kurz in den Raum hinein spähte, knotete sie sich ihre rote Lockenpracht zu einem riesigen Dutt und lächelte.
»Danke fürs Herbringen, Jammy«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln, während sie nur eine abweisende Handbewegung machte.
»Gar kein Problem, ich hole dich nach deiner Doppelstunde wieder hier ab und dann gehen wir essen, ja?«
Ihr Dutt wippte hin und her, als wir uns verabschiedeten. Ich gab mir kurz Zeit, mich zu sammeln, bevor ich den Unterrichtsraum betrat. Der Kunstunterricht hatte nach den anfänglichen Schwierigkeiten sogar Spaß gebracht. Mister Light hatte uns eine Licht-und-Schatten Aufgabe gegeben, bei der wir ein Objekt aus dem Raum aussuchen durften und nur die Schwärze auf Papier bringen sollten. Es fiel mir leicht, da ich wusste, wie ich mit der dickflüssigen Acrylfarbe umgehen musste. Nur mein Objekt, einen Vogel aus Pappmaché, hatte sich nicht unbedingt gut dafür geeignet. Doch es war ein angenehmer Start in das neue und letzte Schuljahr und ich hoffte, dass der Tag so weiterging.
Die Schulglocke ertönte und so betrat ich den Unterrichtsraum. Eine Frau mit dicken braunen Locken und einer hellen Brille stand bereits am Lehrerpult. Sie trug einen orangefarbenen Rock und ein grünes Oberteil mit Muster. Genau wie Mister Light zuvor, trug auch sie ein freundliches Lächeln auf ihren Lippen, als sie sich in meine Richtung drehte.
»Hallo«, begrüßte sie mich, während sie sich ihre Brille höher auf die Nase schob.
»Hi, ich bin Harper Adams. Ich bin die neue Schülerin.«
»Sí, genau. Komm ruhig näher.«
Sie fasste mich an den Schultern und drehte sich Richtung Klasse, die mittlerweile vollständig war, da der letzte Junge, der durch die Tür gekommen war, sie hinter sich geschlossen hatte und an einen Platz in der Mitte des Klassenraums verschwunden war. Wieder waren alle Augen auf mich gerichtet und wieder stieg die verräterische Hitze meinen Hals hinauf, bevor sie mein Gesicht überflutete.
»Clase!«, rief sie zur Ruhe und drückte mich noch ein Stück mehr an ihre Seite. »Está es Harper Adams«, stellte sie mich im perfekten Spanisch vor.
»Mein Name ist Raquel Lorenzo. Von wo kommst du, Schätzchen?«, fragte sie mich und ich antwortete etwas zu leise. Doch sie verstand mich und erzählte der Klasse dann, dass ich aus der Großstadt kam, und bat darum, dass sie mich alle herzlich willkommen heißen sollten.
»Miss Adams, hinten links neben Señora Matthews ist noch ein Platz frei.«
Sie führte mich durch die Reihen und ich ignorierte die Blicke der Personen, die mich interessiert musterten. Wir erreichten einen Tisch, an dem ein junges Mädchen saß. Sie hatte braunes langes Haar, das sie am Scheitel entlang zu einem geflochtenen Zopf gebunden hatte. Das Lächeln auf ihren Lippen zauberte zwei Grübchen auf ihre Wangen. Statt jedoch an ihrem Tisch anzuhalten, lief die Lehrerin noch ein paar Schritte weiter zu dem Tisch hinter dem Mädchen. Unschlüssig blieb ich stehen und sah, wie Miss Lorenzo einen Jungen musterte, der nicht gerade anwesend zu sein schien, da er vorn über gebeugt in einem Buch las. Ich konnte es zwar schwer erkennen, doch es war definitiv kein spanisches Lehrbuch. Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover mit einem weißen Druck auf der Brust. Die Kapuze hatte er über den Kopf gezogen, sodass ich nicht viel von seinem Gesicht sah. Irgendetwas an ihm hinterließ ein eisiges Gefühl auf meiner Haut. Mein Blick fiel auf seine Finger, die gerade eine Seite in seinem Buch umblätterten. Aus dem Ärmel seines Pullovers schlangen sich dünne Ranken eines Tattoos. Sie verliefen über seinen Handrücken und wanden sich dann um seinen Mittelfinger. Ein ärgerliches Räuspern ertönte aus Miss Lorenzos Kehle, doch der Junge machte keine Anstalten, sich von seiner Lektüre zu lösen, als würde er gar nicht mitbekommen, dass sie an seinen Tisch getreten war. »Mr. Parker!«, rief sie aufgebracht und baute sie sich direkt vor dem Jungen auf. Sein Kopf hob sich, und auch wenn er die Kapuze weit ins Gesicht gezogen hatte, wusste ich, dass er ihr direkt in die Augen sah. »Kapuze runter, Parker«, sagte sie, und ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht, bevor die tätowierte Hand, die schwarze Kapuze von seinem Kopf schob. Das Erste, was mir auffiel, waren seine Haare. Sie waren dicht und dunkelbraun. Die Seiten waren kurz geschnitten. Durch die Kapuze standen die verwuschelten Strähnen von seinem Kopf ab.
»Kopfhörer her«, befahl Miss Lorenzo und streckte die Hand aus. Da erst sah ich, dass in seinen Ohren Airpods steckten. Widerwillig nahm er sie heraus, und kurz hörte man laute Musik aus den Hörern, bevor er sie in die passende Vorrichtung verstaute und sie dann in die Hand der Lehrerin legte. »Ist es überhaupt erlaubt, mir mein Eigentum wegzunehmen, Miss Lorenzo?«, fragte er und seine Stimme ließ mich kurz den Atem anhalten. Den Namen der Lehrerin hatte er so süßlich ausgesprochen, dass es in jeder Silbe nur so vor Arroganz strotze. Ein sarkastisches Grinsen legte sich auf seine Lippen und er fuhr sich durch die längeren Strähnen, sodass sie noch ein wenig mehr durcheinandergerieten. »Sie können froh sein, dass ich Sie nicht geradewegs zum Direktor schicke, Mr. Parker.«
»Sie wissen, dass nicht ich Mr. Parker bin, oder?«, antwortete er, was für mich nicht unbedingt Sinn ergab, doch die Lehrerin versteifte sich.
»Konzertieren Sie sich, sonst fliegen sie aus meinem Unterricht.«
Er lehnte sich auf seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass der Stoff seines Pullovers an den Oberarmen spannte.
»Was wirklich jammerschade wäre, das weiß ich wohl«, gab er auf ihre Drohung zurück, woraufhin Miss Lorenzo nur schnaubend die Luft aus dem Mund schießen ließ.
»Passen Sie auf, was Sie sagen, sonst verschwindet das Buch auch noch.«
Daraufhin sagte er nichts mehr, doch der Blick, den er ihr zu warf, war Antwort genug.
Wow, was für ein Idiot, dachte ich und erwartete, dass er das Buch zuklappte, doch das tat er nicht. Immer noch starrte er die Lehrerin an, ohne dass er einen Muskel bewegte.
»Wenn Sie nicht bald ein bisschen Respekt zeigen, fahre ich schwerere Geschütze auf als das Konfiszieren von privaten Dingen. Also, ich warne Sie.«
»Ein bisschen viel Warnung für eine Stunde, finden Sie nicht auch, Miss Lorenzo?«, rief er ihr nach, während sie sich umdrehte und mich ansah. Da ich immer noch an der Stelle stand, wo sie mich hatte stehen lassen, kam sie wieder direkt auf mich zu. Sie versuchte, eine freundliche Maske aufzusetzen, doch Wut glitzerte noch immer in ihren Augen.
»Bitte entschuldigen Sie, Miss Adams«, sagte sie und wandte sich an das Mädchen vor mir am Tisch. »Miss Matthews ist ab heute ihre neue Sitznachbarin.«
»Hi«, begrüße mich das brünette Mädchen. Ich ließ mich neben sie auf den Stuhl nieder. Mir war, als kannte ich sie irgendwoher. Während Miss Lorenzo wieder Richtung Lehrerpult lief, kramte ich meine Unterrichtssachen aus meinem Rucksack und hängte ihn schließlich über die Lehne meines Stuhls.
»Ich bin übrigens Lotti. Wie ist dein erster Tag bis jetzt?«, fragte sie und ich lächelte. Diese Ähnlichkeit, als hätte ich dieses Gesicht bereits irgendwo gesehen.
»Ganz gut«, meinte ich wahrheitsgemäß.
»Wir sind auch alle ziemlich leicht zu Händeln, und falls du noch einen guten Kaffee Spot suchst, der …«
»… lass mich raten, der Starbucks in der Innenstadt«, unterbrach ich sie und sie nickte grinsend. »Genau der. Ich bin zwar etwas voreingenommen, weil ich da jobbe, aber der Kaffee ist wirklich mega dort.«
Wie als hätte ich eine plötzliche Eingebung, wusste ich, als Lotti den Namen Starbucks aussprach, wer sie war. Sie war die Lotti. Louis‘ Lotti. Das Mädchen, das er mochte. Ich grinste in mich hinein. Was für ein wundervoller Zufall, so konnte ich ein bisschen mehr über sie erfahren.
»Gut zu wissen, vielleicht komme ich mal mit meinem Bruder Louis vorbei.«
»Gerne, der erste Kaffee geht aufs Haus.«
Miss Lorenzo begann die Stunde mit der Aufforderung, die Seite siebenundachtzig im Spanischbuch aufzuschlagen.
Die erste Stunde ging relativ schnell vorüber. Wir lernten etwas über die Bildung von Pluralformen, und ich wusste, dass ich mich hier ein wenig mehr ins Zeug legen musste als im Kunstunterricht. In dem Moment, als Miss Lorenzo gerade einen Vortrag über die verschiedenen Vergangenheitsformen des Wortes haben hielt, spürte ich, wie jemand etwas gegen meinen Rücken drückte. Sofort zuckte ich zusammen und reckte den Rücken gerade. Zuerst dachte ich, es wäre der Riemen meines Rucksacks, doch als ich das Stechen nochmals spürte, drehte ich mich zum Tisch hinter mir um.
Der Junge mit dem Tattoo auf der Hand hatte sich über den Tisch in meine Richtung gebeugt, die Kapuze immer noch vom Kopf geschoben und einen Bleistift in den Händen. Vermutlich hatte er mir den in meinen Rücken gedrückt. Das Buch, was er las, lag immer noch geöffnet vor ihm, doch sein Blick lag auf meinem Gesicht. Fragend starrte ich ihn an, doch als er nichts sagte, drehte ich mich wieder zur Tafel. Kurze Zeit später spürte ich wieder den Stift im Rücken. Ich entschied mich, ihn zu ignorieren.
»Hey Großstadtmädchen«, zischte er leise und stupste mich wieder mit dem Stift. Angenervt drehte ich mich um. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, doch seine Augen musterten mich neugierig. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war die Farbe von Moos in den Wäldern. Ein dunkles Grün sah mich an, ohne dass er mir verriet, was er dachte. Seine Hand fuhr unbewusst über seine Wange, die mit ein wenig Bartschatten bedeckt war, was ihn älter aussehen ließ.
»Was?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Hast du eine Kippe für mich?«
War das sein Ernst? »Wie bitte?«, zischte ich und er zuckte mit den Schultern.
»Ich habe dich gefragt, ob du eine Zigarette hast, Großstadtmädchen?«
»Mein Name ist Harper«, korrigierte ich ihn, ohne auf seine Worte zu reagieren. Daraufhin hob er eine Augenbraue, was meine Aufmerksamkeit darauf lenkte. Sie war durchbrochen. Durch seine linke Braue verlief eine paar Zentimeter große Narbe. Ein kleines Grinsen lag auf seinen Lippen, doch es war kein freundliches Lächeln wie das von Jammy oder das der Lehrer. Nein, es strotzte vor Kälte und Arroganz.
»Sagte die Lehrerin schon«, antwortete er ohne jegliche Emotion. »Was ist nun, Großstadtmädchen?«
Verwirrt sah ich ihn an, schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Hättest du ja gleich sagen können«, stöhnte er und rollte mit den Augen. Ohne noch einmal einen Blick auf mich zu werfen, schob er sich schließlich die Kapuze über den Kopf und las in seinem Buch weiter. Langsam drehte ich mich in Richtung Tafel, schob mir gedankenverloren mein dunkles Haar über die Schulter und versuchte, den Faden des Unterrichts wieder aufzunehmen.
Was war das gerade gewesen? Kurz entschlossen verwarf ich die Gedanken daran. Es konnten ja nicht alle nett sein in Blueberry Hill, und außerhalb des Spanischunterrichts hatte ich sowieso nichts mit dem Typen hinter mir zu tun.
Kapitel 5 - Harper
Eine Blaubeere in sechs Monaten! Top, die Wette gilt!
»Ich nehme die Pasta bitte.«
Jammy und ich standen, gefühlt wie alle anderen, an der Blueberry High in der Essensschlange. Während sie ein vegetarisches Gericht bestellte, vertraute ich eher auf das, was ich kannte. Denn wenn man mich beschreiben wollte, wäre das Wort wählerisch ganz oben auf der Liste meiner Eigenschaften. Daher war Pasta Bolognese die bessere Wahl für mich.
»Wollen wir uns da hinsetzen?«, fragte Jammy und zeigte auf einen Tisch, an dem bereits drei Schüler saßen, darunter auch Benjamin aus dem Kunstunterricht. Ein ungutes Gefühl überkam mich, besonders als ich ein schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht sah, während wir uns näherten.
»Bist du sicher?«, fragte ich Jammy. Sie drehte sich zu mir um und nickte so kräftig, dass der Dutt auf ihrem Kopf im Takt mitwippte.
»Natürlich, Benji ist einfach ein kleiner Stinkstiefel. Er will sich vor Neuen präsentieren und den großen Macker spielen. Wenn ihr euch richtig kennenlernt, wird alles gut, versprochen.«
Immer noch nicht überzeugt, überlegte ich ein paar Sekunden, bevor ich mir selbst in den Hintern trat. Louis würde jetzt einfach an diesen Tisch marschieren und so tun, als kannte er alle Leute schon seit hundert Jahren. Der Gedanke an Louis ließ mich in der Cafeteria umherschauen, doch ich sah den blonden Kopf meines Bruders nirgendwo. Vielleicht hatte er noch Unterricht. Also ließ ich mich von dem rothaarigen Wirbelwind neben mir mitziehen. Die drei Augenpaare am Tisch sahen uns neugierig an, als wir die Tabletts mit unserem Essen auf die zwei freien Plätze abstellten.
»Hello Friends, aufgepasst«, begann Jammy.
»Das ist Harper Adams. Sie kommt aus San Francisco. Krass, oder?«
Wieder spürte ich, wie ich rot wurde, doch ich schluckte meine Nervosität herunter und lächelte.
»Hi.«
Jammy begann, mir die anderen vorzustellen. Sie zeigte auf ein Mädchen mit einem schwarzen kurzen Bob und riesigen blauen Augen. In ihren Ohren baumelten große Creolen.
»Das ist Laurie. Sie ist vor drei Jahren hierhergezogen. Allerdings stammt sie nicht aus der Großstadt wie du, sondern aus einem kleinen Städtchen nahe Texas.«
»Howdy, schön, dass du da bist! Falls du bei irgendwas Hilfe brauchst, sag gerne Bescheid. Ich weiß, wie schwierig es ist, sich irgendwo neu einzugewöhnen.«
»Danke«, erwiderte ich und schenkte ihr ein Lächeln.
»Das ist Liam. Er ist wie ich eine waschechte Blaubeere.«
Jammy lachte laut über ihren eigenen Witz.
»Schön gesagt, Blaubeere«, erwiderte Liam. Er war groß und seine langen blonden Haare waren zu einem kleinen Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden. Seine hellbraunen Augen erinnerten mich an die Farbe von Honig. Als Letztes zeigte Jammy auf Benjamin.
»Und unseren großen Macho Benji kennst du ja schon.«
Der Junge mit den platinblonden Haaren sah sie undurchdringlich an. Er schien ziemlich angepisst.
»Ach komm schon.« Jammy nahm ein Stück Karotte von ihrem Teller und warf es in seine Richtung. Er fing es in der Luft auf und steckte es sich in den Mund. Seine gepiercte Augenbraue hob sich und ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen.
»Hey«, sagte er an mich gewandt und schob seine Hand in meine Richtung. Immer noch lag ein Grinsen auf seinen Lippen. »Sorry wegen vorhin.« Etwas zögerlich ergriff ich seine Hand. Der feste Händedruck hinterließ ein merkwürdiges Gefühl auf meiner Haut. Offensichtlich versuchte er, ein Arschloch zu sein, doch sein Auftreten vermittelte nicht die Arroganz, die er möglicherweise anstrebte.
»Entschuldigung angenommen.« Lächelnd löste ich unseren Händedruck und er griff nach seiner Gabel. Benji hatte sich ebenfalls für die Bolognese entschieden und begann, in diesem Moment zu essen. Als wäre dies das Stichwort, folgten alle seinem Beispiel.
»Und erzähl mal, Harper, was treibt dich in unser kleines Städtchen?«
Liam sah mich neugierig an und ich wusste, es war eine ganz normale Frage an jemanden, der gerade neu in der Stadt war. Trotzdem überkam mich eine Welle der Enttäuschung und Traurigkeit – wie eine Last, die ich immer mit mir herumtrug.
»Meine Eltern haben sich scheiden lassen und meine Mom hat hier einen neuen Job bekommen. Deswegen sind wir umgezogen.«
In allen Augen las ich Mitleid, und ich hasste es.
»Du und deine Mom?«, fragte Jammy und ihre Hand strich kurz über meinen Unterarm.
»Ja, und mein Bruder Louis. Er ist zwei Klassen unter mir.«
»Das muss schwer sein«, meinte Laurie, und ich zuckte mit den Schultern.
»Es ließ sich nicht vermeiden, und es ist zum Teil auch gut so. Ein Neuanfang ist manchmal die einzige Lösung.«
Kurz schwiegen alle, als traute sich keiner, etwas dazu zu sagen. Doch dann ergriff Liam das Wort.
»Ist deine Mutter Julie Adams?«
Nickend wickelte ich mir ein paar Spaghetti um meine Gabel.
»Sie ist cool. Sie ist unsere neue Englischlehrerin.«
Ich glaubte ihm sofort. Meine Mom liebte es, Englisch zu unterrichten. Sie liebte die Romane, die Schriftsteller und all die Geschichten, wie sie oft sagte, die geschrieben wurden, damit sie anderen davon erzählen konnte. Es war einfach ihr Element.
Wir unterhielten uns die ganze Mittagspause, und irgendwann hatte ich fast vergessen, dass ich die Neue war, die dort am Tisch saß. Ich konnte mein Glück kaum fassen, wie selbstverständlich ich an der Blueberry High aufgenommen wurde. Auf dem Weg zum nächsten Unterricht liefen Jammy und ich zusammen nebeneinanderher.
»Hast du einen Tipp für mich, wo ich nach einem Nebenjob fragen kann?«
Jammy überlegte nicht lange.
In San Francisco hatte ich einen Job in einem Café gehabt. Ich hatte ihn geliebt und gehasst zugleich. Zum einen war es wundervoll, Teil eines Teams zu sein, zu arbeiten und mein Geld zu verdienen. Es ermöglichte mir vielleicht irgendwann die Chance auf Stanford. Ich wollte dort Kunstgeschichte studieren, und ich war mir der Studiengebühren bewusst. Deshalb hatte ich mich für einen Job entschieden, um jeden Cent für meinen Traum beiseitezulegen. Doch es war für mich eh schon schwer, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Ich selbst zu sein, in einer Gesellschaft, die ich meist nicht verstand. Doch ich hatte es geschafft. Es hatte mir geholfen, aufgeschlossener in der Öffentlichkeit zu sein und mich nicht nur hinter meinem Skizzenblock zu verstecken. Ich hatte Sally versprochen, mir hier ebenfalls einen Job zu suchen.
»Mein Grandpa hat hier ein kleines italienisches Restaurant, das Mirtillo Delizioso.«
»Was bedeutet das?«, fragte ich, und sie begann, laut zu lachen.
»Es heißt genussvolle Blaubeere. Glaub mir, hier in Blueberry Hill findest du an jeder Ecke etwas über Blaubeeren. Wir nehmen das hier sehr ernst. Unser Bürgermeister hat sogar den Frühlingsanfang Tag der Blaubeere getauft.«
»Diese Stadt ist verrückt. Blaubeeren, Kürbisse. Was kommt noch?«
»Hey, komm! Auf unsere Kürbispyramide sind wir mächtig stolz. Findest du sie etwa doof?«
Das Entsetzen in ihren Augen amüsierte mich.
»Nein, es ist schon cool«, gab ich zu.
»Halt dich an uns, und du wirst in einem halben Jahr eine echte Blaubeere sein.«
Jetzt musste ich auch lachen. »Da bin ich gespannt.«
»Aber jetzt zurück zum eigentlichen Thema. Soll ich meinen Grandpa mal fragen? Meist suchen sie jemanden für die Küche oder jemanden, der ab und zu ein paar Auslieferungen übernimmt.«
»Hört sich toll an«, meinte ich ehrlich, und sie schien zufrieden.
Wir tauschten unsere Handynummern aus, bevor wir den neuen Unterrichtsraum betraten. Diesmal saß ich neben Liam und fühlte mich sehr wohl. Bevor ich mein Handy wegstecken wollte, entdeckte ich eine Nachricht von Sally.
Sally: Ich hoffe, dein erster Tag in der Obststadt läuft okay!
Harper: Ist er tatsächlich. Wenn es so bleibt, ist Blueberry Hill vielleicht doch nicht so übel.
Sally: Super! Ich freu mich für dich. Beim nächsten Telefonat musst du mir alles erzählen. So vergeht das eine Jahr wie im Flug.
Sally hatte recht. Wenn es so blieb, würde ich dieses Jahr besser überstehen, als ich befürchtet hatte.
Harper: Ein Jahr :)
Kapitel 6 - Monster
Regen ist auch nur fucking Wasser, das vom Himmel fällt.
Regen.
Die Welt ging unter, in dem Moment, als ich die Hälfte des großen Baseballfelds erreichte, auf dem Weg in Richtung Tribünen. Eilig zerrte ich mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf, doch die großen Tropfen, die auf mich nieder klatschten, hatten meine Klamotten bereits in kürzester Zeit durchnässt. Natürlich musste es fucking regnen, wenn ich mich aus der Schule stahl, um eine zu rauchen - mein Laster, wenn man es so nennen konnte. Eigentlich tat ich es nur, um meinen Vater damit zu ärgern. Sobald ich nach Hause kam und er den Rauch an mir bemerkte, hatte ich gewonnen. Zwar war ich nicht wild auf den Vortrag, den er mir ständig hielt, doch ich war ihm mal wieder unter die Haut gegangen, und das waren die Momente, die ich brauchte.
Meine weißen Turnschuhe waren vom schlammigen Rasen mit braunen Flecken besprenkelt, als ich endlich die Tribüne erreichte – der Ort, wo man sich so gut vor Lehrern oder vor der Menschheit allgemein verstecken konnte. Endlich geschützt vor dem regnerischen Nass, schob ich die durchnässte Kapuze wieder vom Kopf und fuhr mir durch die feuchten Haare. Dann holte ich die Packung Zigaretten aus meiner Hosentasche, die ich mir bei einem Mädchen aus der Parallelklasse geschnorrt hatte. Ich wusste nicht, warum Frauen für ein bisschen Freundlichkeit und ein, zwei Mal Lächeln, sofort alles machten. Doch das konnte mir egal sein, zumal ich hatte, was ich wollte. Erleichterung erfüllte mich, als ich sah, dass die Zigarettenpackung nicht durchgeweicht war, so wie der Rest von mir. Zusammen mit meinem Zippo nahm ich eine der Kippen heraus und steckte sie mir zwischen die Lippen. Doch mein Feuerzeug machte es mir nicht so einfach. Mehrmals ließ ich es aufschnappen, doch heraus kam nicht mehr als ein leises Aufglimmen.
»Fuck!«, stieß ich angepisst hervor und warf es einfach von mir, wo es schließlich im Matsch landete. Kurz schloss ich die Augen, die Zigarette immer noch zwischen den Lippen und atmete tief ein und aus. Nicht mal eine rauchen konnte man, ohne dass der fucking Regen mir einen Strich durch die Rechnung machte.
»Scheiß Dreck«, fluchte ich laut. Dann erschien neben mir eine Flamme. Meine Augen weiteten sich und ich blickte zur Seite, um zu sehen, wer mein Fluchen erhört hatte. Es war Liam Porter, der Wichser.
»Lass mal stecken«, murmelte ich und griff nach der Zigarette in meinem Mund, um sie wieder in die Packung zu stopfen.
»Zu fein, um etwas von einem Normalsterblichen anzunehmen, Monster?«, fragte er mich und ich starrte ihn an. Nicht weil er mich bei diesem Namen nannte - wie jeder in dieser verfluchten Stadt es tat-, sondern weil er allen Ernstes dachte, ich wäre etwas Besseres als alle anderen hier an der Schule.
Deswegen griff ich nach dem Feuerzeug in seiner Hand und steckte mir die Kippe zurück in den Mund. Diesmal versagte die Flamme nicht und ich inhalierte den Rauch gierig in die Lunge, obwohl er abartig schmeckte.
»Was machst du hier?«, fragte ich Liam. »Hätte nicht gedacht, dass du rauchst.«
Wieder zog ich an der Zigarette und stieß den Rauch in einem Schwall wieder hinaus.
»Tue ich auch nicht. Ich war auf dem Weg zum Baseballtraining.«
Ich verzog das Gesicht.
»Das draußen spielen fällt wohl flach«, stellte ich fest, doch der blonde Kerl neben mir lachte nur laut. »Schön wär´s. Deswegen solltest du auch in den nächsten fünf Minuten hier verschwinden, bevor Mr. Lou dich sieht.«
Gleichgültig zuckte ich nur mit den Schultern.
»Und wenn schon.«
Ein abwertender Blick von dem Mädchenschwarm der Blueberry High traf mich, doch es kümmerte mich nicht. Ich verstand nicht einmal, warum er hier war und mit mir sprach. Ich war gern allein. Ein Schicksal, das man so hinnahm, wenn man in die Position hineingeboren wurde, wie ich. Es war nicht so, dass die Mädchen nicht auf mich standen oder die Jungs nicht mit mir befreundet sein wollten. Doch wusste ich nicht, was sie wirklich wollten. Wollte ich es wissen? Es gab nur zwei Menschen, denen ich vertraute: Meinen Stiefbruder Tobias, der mein Schicksal teilte, weil seine Mutter, meinen Vater vögelte und meinem besten Freund Nic, der jedoch schon seit einem Jahr nicht mehr auf unsere Schule ging. Stattdessen arbeitete er in einer Autowerkstatt, nicht weit von hier.
»Scheint dir wirklich egal zu sein«, rissen mich Liams Worte aus meinen Gedanken.
Und das war es wirklich. So egal wie dieser Scheiß Regen, der perfekt zu meiner Stimmung passte. Der Gedanke daran, was heute Abend wieder von mir verlangt wurde, ließ Übelkeit in mir hochkommen. Da konnte ich von Glück sagen, dass mein heutiges Mittagessen aus dieser verdammten Kippe bestand. Doch es gab keine andere Möglichkeit, als es über mich ergehen zu lassen. Zwar war ich nicht der beliebteste Schüler hier, doch die anderen respektierten mich, und das war alles, was ich von ihnen wollte. Einfach nur, weil sie mich dann in Ruhe ließen.
»Hat die Saison schon angefangen?«, fragte Liam schließlich und kurz verwirrte mich diese Frage. Auch wenn ich genau wusste, was er meinte, tat ich ahnungslos.
»Welche Saison?«
Liam sah mich wissend an, antwortete aber trotzdem.
»Die BMX-Saison?«
Nickend zog ich nochmal an der Zigarette und dachte darüber nach, was ich dafür geben würde, endlich bei der Meisterschaft teilzunehmen.
»Bald«, gab ich ihm kurz zu verstehen, und als hätte der blonde Kerl endlich gemerkt, dass er mir auf die Eier ging, schnaubte er nur und sagte etwas wie: »Wie auch immer.«
Dann drehte er sich um und ging in Richtung Baseballfeld. Für einen Moment sah ich ihm nach, wie er zu den anderen hinüber ging und mit dem einen oder anderen abklatschte. Wie ein waschechter Musterschüler, der Baseball spielte und auch noch gut in der Schule war. Zum Kotzen.
Es war die Wahrheit, der BMX-Herbst-Wettbewerb würde bald starten, nach dem beschissenen Halloween-Fest. Mein Baby und ich warteten sehnsüchtig darauf, endlich wieder an den Start gehen zu können. Mit diesem Gedanken, der schon immer mein Ankerpunkt in meinem Leben war, nahm ich den letzten tiefen Zug der Zigarette, bevor ich sie von mir wegschnippte und abermals die Kapuze über den Kopf zog. Dann, bevor ich mir wieder mal Ärger mit einem Lehrer einhandeln konnte, hob ich kurzerhand meinen nutzlosen Zippo auf und verschwand.
Kapitel 7 - Harper
Der popcornliebende Killerclown kann auch nicht aus seiner Haut.
Es war kurz vor vier, als die Schulglocke ertönte und offiziell das Ende des Tages einläutete. Da meine letzte Stunde ausgefallen war, beschloss ich kurzerhand, zum Starbucks zu laufen, um zwei große Cappuccino zu besorgen. Damit stand ich jetzt vor dem Klassenraum im Erdgeschoss, in dem mein Bruder gerade Geschichte hatte. Die Freude, dass wieder ein Schultag geschafft war, stand allen ins Gesicht geschrieben. Ich entdecke meinen kleinen Bruder, direkt in einer Gruppe von Jungs. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen, als er mich sah. Er verabschiedete sich bei dem rothaarigen Jungen neben ihm, den wir heute Morgen schon getroffen hatten.
»Hallo Schwesterherz«, rief er freudig und legte den Arm um meine Schultern. Es war immer noch merkwürdig, dass Louis zwei Jahre jünger war, mich aber um einen Kopf überragte.
»Wie war dein erster Tag? Ist der für mich?« Er zeigte auf den Kaffee und ich nickte. Wir gingen zusammen den Schulflur entlang und als wir nach draußen traten, war ich glücklich. Denn der erste Tag, vor dem ich mich unendlich gefürchtet hatte, verlief überraschend gut.
»Nun erzähl schon. Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen«, drängte Louis und nahm einen Schluck von dem Kaffee, während wir auf der kleinen Straße Richtung Innenstadt liefen, die durch den Herbst übersät war mit braunroten Blättern.
»Es war ganz gut, besser als ich befürchtet hatte. Die Lehrer waren nett, der Unterricht fiel mir leicht und ich habe sogar schon Anschluss gefunden.«
»Nicht dein Ernst?« Sein ungläubiger Ton brachte mich dazu, ihm in die Schultern zu knuffen. Ausführlich erzählte ich ihm alles und von jedem, dem ich heute begegnet war, inklusive des Kerls aus Spanisch und von der Frage, ob ich eine Zigarette für ihn hätte.
»Komischer Typ«, kommentierte er sein Verhalten und ich stimmte ihm zu. Louis erzählte mir ebenfalls von seinem Tag. Im Grunde war er ähnlich wie meiner. Der rothaarige Junge, mit dem er sich angefreundet hatte, hieß Kyle und ging fast in jedes von Louis‘ Unterrichtsfächern.
»Hast du Mom als Lehrerin?«, fragte er und ich schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht.«
»Aber ich hatte jemand anderen in meiner Klasse«, meinte ich und grinste.
Neugierig starrte Louis mich an und ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht, die der Wind zerzauste.
»Rate mal, wer mir diesen Kaffee empfohlen hat?«
Louis‘ braune Augen weiteten sich und ich grinste über den Rand meines To Go Bechers hinweg. »Lotti?«, fragte er und ich grinste noch etwas breiter.
»Wir sitzen nebeneinander in Spanisch und sie hat uns zu einem Kaffee in ihrer Schicht eingeladen.«
Ich kicherte über den vor Staunen offenen Mund meines Bruders. »Uns?«
»Ja uns. Mich und meinen hinreißenden, wunderschönen, nervtötenden und selbstverliebten - kleinen Bruder.«
»Das hast du doch aber nicht gesagt?«, fragte er entsetzt und ich zuckte mit den Schultern.
»Für wen hältst du mich?«
Plötzlich packte er mich und riss mich in seine großen, schlaksigen Arme, so heftig, dass ich kurz Angst um meinen Kaffee hatte.
»Du bist meine Lieblingsschwester«, rief er, als er mich wieder auf festen Boden stellte.
»Das sagst du bestimmt zu all deinen Schwestern.«
Mission Louis glücklich machen, Check.
***
Kurz bevor wir unser kleines Häuschen erreichten, bekam ich eine Nachricht von Mom, die uns sagte, dass sie mit ihren neuen Kolleginnen essen gehen würde und wir uns eine Pizza in den Ofen schieben sollten. Was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Es war kurz vor sieben, als ich mich auf das große einladende Sofa plumpsen ließ und nach der Fernbedienung griff. Draußen begann es bereits zu dämmern. Ich liebte die Jahreszeiten, in denen es schon früh dunkel wurde. So konnte man es sich bereits nachmittags mit einem guten Buch, dem Zeichenblock oder mit einem schaurig schönen Horrorfilm gemütlich machen. Zusammen mit zwei Tellern mit je einer Pizza darauf, ließ sich Louis neben mir in die Kissen sinken. Beim Anblick der glänzenden Käseschicht auf meiner Peperoni-Pizza lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich setzte mich in den Schneidersitz, platzierte den Teller mit dem Essen auf meinem Schoß und sah meinen Bruder fragend an.
»Horrorfilm?«
Er hatte es mir gleichgetan, die Füße auf dem kleinen Holztisch und bereits ein Stück seiner Margarita-Pizza in der Hand, von dem ein kleiner Käsefaden hinab hing.
»Yes! Was sonst!«
Zufrieden öffnete ich Netflix und als das große N auf dem Bildschirm erschien, nahm ich ebenfalls den ersten Bissen meiner Pizza.
»Was soll es für den Herren sein?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte. Er antwortete jedes Mal dasselbe, was der Grund war, warum ich meist die Filme aussuchte. Langsam drehte Louis den Kopf in meine Richtung. Dabei rief er: »P..p…p..Popcorn.«
Auch ich sah ihn dramatisch an, hielt ihm meine Pizza unter die Nase und zitierte: »Dein Haar ist Winterfeuer, heiße Januarglut, mein Herz brennt lichterloh.«
Louis lachte. Ich lachte. Diese Momente waren für mich der Inbegriff von Glück.
»Dann wird es wohl Pennywise, der tanzende Clown. Wer hätte es gedacht.«
Grinsen biss Louis von seiner Pizza ab und sah mir dabei zu, wie ich den ersten Teil des ES-Films startete.
»Lieblingsfilm«, murmelte er, und ich wusste, er war jetzt im Filmmodus, was so viel hieß wie, dass niemand außer ihm jetzt noch reden durfte.
Deswegen drücke ich auf Play, machte mich über meine Pizza her und tauchte ein ins regnerische Derry, um dabei zuzuschauen, wie ein popcornsüchtiger Clown, den kleinen Jungen mit dem Papiersegelboot in die Kanalisation zog und damit unseren Horrornachmittag einleitete.
***
»Du wirst fliegen.«
Ein Ruck ging durch meinen Körper, und ich atmete abgehackt Luft in meine Lungen. Kurz war ich verwirrt, wusste nicht, wo ich war, doch dann sah ich die Umrisse des Fernsehers und die zwei leeren Teller auf dem Tisch. Ich griff instinktiv nach meinem Telefon auf dem Tisch. Es war fast Mitternacht. Der Fernseher war aus. Ich musste eingeschlafen sein, und Louis hatte mich höchstwahrscheinlich einfach liegen lassen. Mein Herz klopfte noch etwas unregelmäßig, als ich an den Traum zurückdachte, der mich hatte aufschrecken lassen.
Im Traum hatte es geregnet. Mit einem gelben Regenmantel war ich durch die leeren Straßen von Blueberry Hill gelaufen, bis plötzlich Hunderte von roten Luftballons vom Himmel fielen und mich unter sich begruben. Dann war ich gefallen, hinein ins Dunkle. Hart war ich auf etwas aufgekommen. Ein Clown starrte mich an. Er hatte die gleichen Züge wie Pennywise, doch er sah anders aus. In seinen Händen wirbelte er meinen rechten Arm, den er mir ausgerissen hatte, wie ein Seil.
Lachend hatte er sich vorgebeugt und mich angestarrt. »Hast du eine Kippe für mich?«, hatte er gefragt und daraufhin die durchbrochene Augenbraue hochgerissen.
»Was?«, hatte ich geantwortet, doch der Clown lachte weiter und sagte: »Du wirst fliegen.«
Dann war ich aufgewacht.
Was für ein bescheuerter Traum. Ich erinnerte mich an den Kerl aus dem Spanischunterricht zurück. Warum auch immer ich ihn in meinen Albtraum eingeladen hatte, wusste ich nicht. Doch anscheinend hatte mich seine dumme Frage wirklich auf die Palme gebracht.
Arroganter Mistkerl, dachte ich über den unbekannten Jungen und schob die Gedanken an den Albtraum beiseite. Kurzerhand erhob ich mich vom Sofa, streckte meine steifen Glieder und brachte die Teller in die Küche. Dann sah ich nach meiner Mom und Louis, die beide friedlich in ihren Betten schliefen. Und genau das würde ich jetzt auch tun, bevor morgen ein neuer Tag in Blueberry Hill beginnen würde.
Kapitel 8 - Monster
Es ist kein Märchen, nur weil man in einem Glaspalast wohnt.
Es roch nach Fisch.
Der Geruch stieg mir sofort in die Nase, als ich die schwere Glastür öffnete. Wärme sickerte in meine Knochen, und ich würde einen Arm für eine heiße Dusche hergeben. Außerdem musste ich aus den nassen Klamotten raus. So leise wie möglich durchquerte ich den Wohnbereich, in der Hoffnung niemanden anzutreffen. Normalerweise funktionierte es ganz gut. Ich nahm immer die Terrassentür, um in das Haus zu gelangen.
Selbst wenn wir in dieser verfluchten Märchenstadt lebten, war unser Anwesen einfach das komplette Gegenteil. Als hätte Aschenputtel nicht nur den gläsernen Schuh verloren, sondern einfach einen verfickten Glaspalast hinterlassen. Obwohl ich bereits 19 Jahre in diesem Glasgefängnis festsaß, befiel mich immer noch dieses bedrückende Gefühl und das Bedürfnis, einen fetten Stein durch die größte Glasfront zu werfen. So war es, und doch tat ich es nicht.
Stattdessen verließ ich den Wohnbereich, wo ein Feuer im Kamin brannte und der große Esstisch gedeckt war. Vier Gedecke bedeuteten, dass mein guter alter Herr ebenfalls anwesend war.
»Verdammt«, murmelte ich. Das konnten die verflucht nochmal vergessen. Ich hasste diese vorgegaukelten Familienessen, wo meist nur darüber gesprochen wurde, was ich falsch machte. Was ich besser machen sollte. Das Lieblingsthema meines Vaters war jedoch das BMX-Fahren. Er hasste es, und höchstwahrscheinlich liebte ich es deshalb so sehr. Ich hatte nie verstanden, warum er so dagegen war, dass ich mit meinem Bike bei Meisterschaften oder Wettbewerben mitmachte. Alles, was er immer nur sagte, war, dass es nicht die richtige Klientel war, mit dem ich Zeit verbrachte. Doch die Jungs, die mit mir zusammen den Kick suchten, waren fast mehr Familie für mich als dieser lächerliche Haufen hier. Jedes Mal, wenn dieser Tisch gedeckt war, jedes Mal, wenn sie mich dazu zwangen, heile Welt zu spielen, hatte ich das Gefühl, als wäre ich ein wildes Tier, das in einen zu kleinen Käfig gedrängt wurde. Und das waren nur die Essen mit meinem Vater, seiner neuen Frau Klara und Tobias. Von den vielen Veranstaltungen, die wir dank des Privilegs seiner Position beiwohnten, mal abgesehen.
Kurzerhand machte ich kehrt in Richtung Wendeltreppe. Zwar knurrte mein Magen mittlerweile so unangenehm, dass ein Abstecher in die Küche sicher besser gewesen wäre, doch das Risiko jemanden von den Clowns dort zu treffen, war zu groß. Meine Turnschuhe hinterließen ein schmatzendes Geräusch, als ich über den hellen Marmor lief, und innerlich freute ich mich, denn wenn Klara das zu sehen bekam, würde ihr Kopf so rot anlaufen, dass er vielleicht platzte. Doch wahrscheinlich hatte ich nicht so viel Glück. Hastig nahm ich zwei Stufen gleichzeitig nach oben.