Scham - Andrea Köhler - E-Book

Scham E-Book

Andrea Köhler

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Beschreibung

Scham gehört zum Menschen wie die Geschlechtlichkeit und das Bewusstsein – davon erzählt schon die Geschichte vom Sündenfall. Kaum eine Empfindung besitzt mehr Macht im Alltag und kaum eine ist heutzutage tabuisierter als sie. Obwohl sie scheinbar zuerst auf das Sexuelle zielt, trifft sie uns ganz, Körper und Seele zugleich. Beschämung wird als Machtinstrument gnadenlos instrumentalisiert. Doch als Mechanismus, der die empfindlichsten Anteile der Persönlichkeit schützt, ist das Schamgefühl nicht nur ein moralischer Kompass, sondern auch eine Schildwache der Integrität – obgleich sein Stern im heutigen Selbstdarstellungsrummel zu sinken scheint. Andrea Köhlers Essay geht den ambivalenten Spuren, welche die Scham im Alltag, in der Politik, der Kindererziehung, der Literatur, der Kunst und in den sozialen Medien hinterlässt, nach und zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie prägend die Macht dieses vermeintlich altmodischen Affekts für unser persönliches und gesellschaftliches Leben bleibt.

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ANDREA KÖHLER

Scham

Vom Paradies zum Dschungelcamp

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Andrea Köhler,

geboren 1957 in Bad Pyrmont, studierte Germanistik und Philosophie in Braunschweig und Freiburg. Seit 1984 ist sie als Journalistin tätig. Von 1991 bis 1994 arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Paris. 1995 trat sie in die Feuilletonredaktion der »Neuen Zürcher Zeitung« ein. Heute lebt sie als Kulturkorrespondentin dieser Zeitung in New York. 2003 erhielt sie den Berliner Preis für Literaturkritik. Zuletzt ist von ihr erschienen: »Lange Weile.

Über das Warten« (2007).

Inhalt

Cover

Titel

Die Autorin

Maskenbildnerin

Intermezzo: Beschämt

Am Nacktbadestrand – der Prozess der Zivilisation

Kulturen der Schamlosigkeit

Intermezzo: Akrobaten der Schamlosigkeit – der Hochstapler

Schamlosigkeit im öffentlichen Diskurs

Intermezzo: Forum der Scham – das Selbstgespräch

Schuld wiegt, Scham brennt

Intermezzo: Vorm Spiegel

Augenlust und Ideal

Through the Looking Glass – Reality-Shows

Der Stachel der Scham – Gesichtsverlust

Am Online-Pranger – Scham und Pubertät

Intermezzo: Ein Engel geht durch den Raum

Anstand und Abstand

Intermezzo: Entblößt

»Du solltest dich schämen!«

Der Kern des Selbst

Zeige deine Wunde – Strategien der Entblößung

Verbrecher aus verlorener Ehre – Scham und Gewalt

Kleiner Exkurs über die Dankbarkeit

Der Schleifstein unserer Empfindlichkeit

Literaturhinweise

Impressum

Maskenbildnerin

Ich habe den ersten Schritt, der mir am schwersten geworden ist, in das düstre und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse getan. Nicht das Geständnis dessen, was verbrecherisch ist, kostet am meisten Überwindung, sondern die offene Einräumung dessen, was lächerlich und beschämend ist.

Jean-Jacques Rousseau,

»Confessions du Promeneur solitaire«

WENIG prägt sich unauslöschlicher in die Erinnerung ein als Momente der Scham – jene Augenblicke, in denen wir, plötzlich entblößt, am liebsten im Boden versinken würden. Scham kann vernichten; wir wünschen, in diesen Augenblicken, nicht mehr sichtbar zu sein. Obwohl sie scheinbar zuerst auf das Sexuelle zielt, trifft sie uns ganz, Körper und Seele zugleich. Der Alarm der Haut, das Erröten der Wangen – die Scham gibt die heimlichsten Wünsche und Nöte preis. Die Entblößung ist ihre Domäne, der Voyeurismus jenes Bestreben der Lust, das von ihrem Wunsch nach Verborgenheit lebt. Diese paradoxe Tendenz der Scham macht sie zu einer Maskenbildnerin par excellence.

Dabei gibt es unendlich viel, dessen man sich – zu Recht oder Unrecht – schämen kann: Von der schiefen Nase bis zur ärmlichen Herkunft, von der Pein einer nicht erwiderten Zuneigung bis zum Bewusstsein einer groben Verfehlung sind die Scham-Anlässe unerschöpflich. Das Gleiche gilt für den Schmerz der Beschämung, der – von der freundlich bestimmten Zurückweisung bis zur offenen Demütigung – alle Stadien der Qual durchlaufen kann. Beschämung ist ein Moment, der den Beschämten ins Unrecht zu setzen scheint, auch wenn dies zu Unrecht geschieht. Denn Scham macht uns wehrlos, sie entblößt unser verletzliches Selbst.

Das ist unangenehm, das will niemand fühlen. In einer Gesellschaft, in der das selbstbewusste Auftreten einer Person ihr soziales Prestige bestimmt, sorgt die Scham für Störungen im Selbstdarstellungs-Schaulauf. Die Scham gilt als peinlich, Schamlosigkeit als cool. Das Schamgefühl existiert im öffentlichen Diskurs nur als Mangel, als etwas, das man bei andern vermisst. Kaum eine Empfindung besitzt eine solche Macht im Alltag, und kaum eine ist tabuisierter als sie.

Nun ist die Klage über den rasanten Anstieg der Schamlosigkeit beileibe nichts Neues; zu allen Zeiten haben die Verfechter von Anstand und Sitte über den Regel-Kodex gewacht. Neu aber ist, dass der Verkehrswert der Scham selber in Frage steht – und mit ihr ein Jahrtausende alter Menschheitskonsens. Denn die Scham gehört zum Menschen wie die Geschlechtlichkeit und das Bewusstsein – davon erzählt schon die Geschichte von Adam und Eva. »Da gingen ihnen die Augen auf und sie sahen, sie waren nackt.« Der Sündenfall bringt den Blick auf das andere in die Welt, die Unterscheidung von Ich und Du, Mann und Frau. Erst der Biss in den Apfel unterschied uns von den anderen Geschöpfen im Paradies, so wie er danach die Triebnatur in den Rang des Tierreichs verwies. Deshalb schämt sich der Mensch dieses Anteils in seiner Natur – oder hat es zumindest einst getan.

Das Bewusstwerden der Geschlechter und das Bewusstsein der Sterblichkeit, das jede Handlung in das Reich der Entscheidung stellt, sind die Quellen der Scham: Schon im zweiten Kapitel der Bibel tötet ein Mensch seinen Bruder. Seither ist die Scham unser standhaftester Begleiter. Alle Zweige des Wissens und der Kultur sind von ihr durchzogen – von der Anthropologie, Philosophie, Religion und Geschichtswissenschaft, Psychologie, Medizin, Politik und Mentalitätsgeschichte bis hin zur Kunst und Literatur. Angesichts der Größe dieses Menschheitsthemas und der gebotenen Kürze eines Essays kann man nur in Demut verfallen – und allenfalls ein paar Aspekte schlaglichtartig erhellen. Ragt die Scham auch in alles, was uns betrifft, so ist sie zugleich doch so persönlich, dass ich an dieser Stelle ein Bekenntnis ablegen muss: Trotz allen Nachdenkens über die Scham bin ich ihrem genuinen Geheimnis nicht nähergekommen. Bis mir aufging, dass es die paradoxe Natur der Scham selber ist, dass sie sich, auch wenn sie sich zeigt, immer entzieht. Man kann sie einkreisen – fassen wird man sie nie.

Intermezzo: Beschämt

SIE hatte so eine Art, zaudernd dazustehen. Eine geduckte Trägheit war um sie herum, ein trüber Hof. Niemand wollte mit ihr das Pausenbrot teilen. Die Beschämung hatte sich in ihren Gesichtszügen breitgemacht als ein Unglück, das sie trotzig in sich verschloss. Doch ihr schnell errötender Teint verriet uns, wie sehr sie für Demütigungen empfänglich war. Wenn sie den Mund aufmachte, dann kamen die Worte nur langsam heraus, mit einer östlichen Färbung, die sie als Flüchtlingskind auswies. Dazu passte die ärmliche Kleidung, die verschlissene Kluft der Nachgeborenen, die stets die abgelegten Sachen der Älteren anziehen müssen – als wäre Armut eine abzutragende Schuld. »Lahme Ente«, sagten wir hinter vorgehaltener Hand. Sie hieß Maria, ging mit mir zur Schule und hat mich gelehrt, wie Gemeinheit sich anfühlt, wenn man sie selber verübt.

Früh lernen wir, dass das Nachsehen hat, wer langsamer ist. Vielleicht ist Schnelligkeit überhaupt die erste Form kindlichen Distinktionsgewinns. Die Schnellen waren beliebt. Sie liefen fixer ins Ziel und profitierten auch sonst von der Autorität der Geschwindigkeit. Kein Bleigewicht lähmte ihnen die Zunge, kein Zögern stellte sich in den Weg. Wer schnell war, war frei von der Hemmung der Angst, der Bremse der Schüchternheit. Er entkam den Sanktionen der Lehrer ebenso wie den kindlichen Ausschlussmanövern, mit denen die Scheuen und Zaudernden gestraft werden. »Lahme Ente«, sagten die andern, wenn man beim Mannschaftssport auf der Bank sitzen blieb.

Auch Maria saß da. Ein kleines Mädchen mit hellbraunem Haar, sehr bleicher Haut und aufgeschlagenen Knien. An ihre Stimme kann ich mich nicht mehr erinnern, nur unscharf an das Gesicht. Doch ist sie dort sitzen geblieben, sitzt heute noch dort, eine Skulptur früher Schuld. Die Erinnerung hat sie mir wieder nahegebracht und mit ihr die Einsicht, wie lange es manchmal braucht, bis man in den Beschämten sich selber wiedererkennt.

Am Nacktbadestrand – der Prozess der Zivilisation

Wie schwierig ist es, bei Dingen, zu denen niemand die Wahrheit sagt, die Veränderungen zu beschreiben, die vorgegangen sind. Es nützt nichts, von den »Tabus« zu sprechen, die gefallen seien, wenn man nicht sicher sein kann, dass sie je bestanden haben. Das gilt nicht nur für sexuelle Verhaltensweisen. Was wissen wir wirklich von Scham und Ehre, wenn die Wörter nicht mehr gebraucht werden, aber die Phänomene nicht verschwunden sind?

Hans Blumenberg

MITTE der neunziger Jahre schickte der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann ein Forscher-Team an Frankreichs Badestrände, um dort halbnackte Frauen und Männer zum Thema »Oben ohne« zu interviewen. Er wollte herausfinden, wie sich das zeitgenössische Schamgefühl beim Anblick entblößter Frauenbrüste manifestiert. Sein Befund: Das Bikini-Oberteil zu entfernen ist auch in der sexualisierten Öffentlichkeit von heute keineswegs eine problemlose Geste, sondern reiht sich ein in ein Set von verinnerlichten Verhaltensweisen, das die Bewegungen und die Blicke einem ausgefeilten Regelkodex unterwirft. Jede Gebärde ist Teil ungeschriebener Etikette, jeder Blick in ein unsichtbares Schamkorsett eingeschnürt. Allzu ausgedehntes Eincremen der entblößten Brust etwa trifft auf schweigenden Unmut der Umgebung, während lange haftende Männerblicke Anlass zu deutlicherem Tadel geben. Ein kurzer männlicher Blickstreifzug über den Busen wird dagegen von Frauen nicht nur gebilligt, sondern goutiert – solange der Blickende sich in der Altersspanne zwischen zwanzig und vierzig Jahren bewegt. Dabei laufen nach Kaufmanns Beobachtungen vor allem bei männlichen Strandbesuchern viele Prozesse nur halbbewusst ab, Tagträumereien, in denen ein heimliches Ich lustvollen Phantasien nachgeht. Da diese verschiedenen Impulse jedoch nicht thematisiert oder ausagiert würden, lasse sich Nacktheit – so sie in einer dafür vorgesehenen Umgebung stattfindet – konfliktfrei realisieren.

Kaufmanns Ergebnisse reihen sich ein in den Befund des Kulturhistorikers Norbert Elias, der in seinem dreibändigen Klassiker »Über den Prozess der Zivilisation« die These vertritt, dass im Laufe der Zeit mit fortschreitender Freizügigkeit das Schamgefühl immer stärker verinnerlicht worden sei. Die Scham gegenüber der eigenen Nacktheit habe sich in Europa erst seit dem Mittelalter langsam herauskristallisiert. Im 14. und 15. Jahrhundert dagegen sei die völlige Unbefangenheit gegenüber dem Körper und seinen Bedürfnissen und Ausscheidungen noch die Regel gewesen. Erst die Disziplinierung des höfischen Lebens habe die Affektkontrolle zunehmend verfeinert und nach innen verlegt; ein Prozess, der sich mit der Entstehung der modernen Gesellschaft auf immer breitere Bevölkerungsschichten übertrug.

Der Ursprung dieser Entwicklung, so Elias, verdanke sich dem Umstand, dass im Laufe des Zivilisationsprozesses die Natur ihre unmittelbare Bedrohung verlor und dadurch in größerem Maße zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Lust wurde. Im Zuge dieses Fortschritts »wurden auch die Menschen füreinander zur Quelle einer Augenlust oder umgekehrt zur Quelle einer durch das Auge vermittelten Unlust, zu Erregern von Peinlichkeitsgefühlen verschiedenen Grades«. Die unmittelbare Angst der Menschen voreinander habe abgenommen; an ihre Stelle sei die Angst vor der Blickkontrolle und dem Regelkodex getreten:

»Je mehr die starken Kontraste des individuellen Verhaltens sich abschwächen, je mehr die großen und lauten Ausbrüche von Lust oder Unlust durch Selbstzwänge zurückgehalten, gedämpft und verwandelt werden, um so größer wird die Empfindlichkeit für Schattierungen oder Nuancen des Verhaltens, um so sensibler werden die Menschen für kleinere Gesten und Formen, um so differenzierter erleben die Menschen sich selbst.«

Spannungen, die ehemals unmittelbar im Umgang zwischen Mensch und Mensch ausgetragen wurden, mussten nun als innere Spannung im Umgang des einzelnen mit sich selbst bewältigt werden. Der Konflikt geht seither mitten durchs Ich. Die Scham wurde zur Zuchtmeisterin der Gefühle.

Was Elias, ausgehend von der frühen Neuzeit in Europa, über den Strukturwandel des Seelenhaushalts anführt, gehört zum unbestrittenen Kanon der Soziologie der Gefühle. Um so heftiger waren die Reaktionen, als der Ethnologe Hans Peter Duerr Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen insgesamt fünfbändigen Großangriff auf Elias’ Theorien startete, in dem er vor allem die These anfocht, dass die Schamschwellen im Prozess der Zivilisation zunehmend gestiegen und die Sphäre der Sexualität mit einem Panzer von Verhaltens- und Empfindungsregeln umgeben worden sei. Mit einer exorbitanten Fülle von Material und dem Widerlegungsfuror des Empirikers tritt Duerr in seinem Werk »Der Mythos vom Zivilisationsprozess« den Beweis an, dass die genitale Scham bei allen Völkern zu allen Zeiten bestanden habe, also nicht historisch gewachsen, sondern eine anthropologische Universalie sei. Man irre, wenn man glaube, dass die Affektkontrolle in der modernen Welt größer sei als in den traditionellen Gesellschaften. Anders als von Elias behauptet, sei es im Laufe der Zeit nämlich nicht etwa zu einer zunehmenden Disziplinierung der Sitten und einem Anstieg der Schamschwellen, sondern im Gegenteil zu einer rapide wachsenden Schamlosigkeit gekommen.

In seiner auf Tausenden von Seiten ausgebreiteten Beweisanordnung, die den allgemeinen Niedergang des Schamgefühls veranschaulichen soll, kommt Duerr auch auf das Phänomen der Nacktbadestrände zu sprechen. Laut Norbert Elias sind diese nur deshalb möglich, weil heutzutage angesichts der Zurschaustellung des nackten Körpers ein hohes Maß an Zurückhaltung als selbstverständlich gelten kann. Denn »nichts wäre den Anwesenden peinlicher als eine spontane männliche Erektion auf der Badewiese«. Dagegen vertritt Hans Peter Duerr die überraschende Auffassung, dass »an den heutigen Nacktbadestränden (…) Erektionen meist als natürliche Reaktionen betrachtet oder einfach ›übersehen‹ (werden), desgleichen sexuelle Betätigungen, wobei allerdings genitaler Koitus und Cunnilingus unter Heterosexuellen sowie Analverkehr unter Homosexuellen selten vorkommt und beide Gruppen im Allgemeinen mit Fellatio und Masturbation vorliebnehmen«.

Man mag sich angesichts dieses Beispiels fragen, wo Hans Peter Duerr in den 1970er Jahren – denn aus dieser Zeit stammt dieses Beispiel – seinen Urlaub verbracht hat. Doch wirft dieses hübsche Zitat ein Schlaglicht auf eine Epoche, die – in Reaktion auf die sprichwörtliche Prüderie der fünfziger Jahre – das systematische Niederreißen der Schamschranken zum doktrinären Prinzip zu machen versuchte, nur um alsbald mit »der sexuellen Befreiung des bürgerlichen Individuums« ähnlich autoritäre Strukturen zu kultivieren wie jene, die zu überwinden sie angetreten war. Die Privatsphäre wurde als »bourgeois« verpönt und das notorische Überschreiten der Schamschwellen zum Normalfall erklärt, wobei die Stifter dieser sexuellen Befreiungstheologie vom nach wie vor patriarchalischen Machtvorteil ordentlich profitierten. Exemplarisch für solch forcierte Enttabuisierung sind die Beispiele sexueller »Freizügigkeit«, sprich Kindesmissbrauch, von denen wir etwa durch die Enthüllungen aus den Instituten der deutschen Reformpädagogik erfahren haben. Dass viele der damaligen Schüler – nicht anders als die Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche – jahrzehntelang geschwiegen haben, verrät die anhaltende Macht eines Schamgefühls, das auch die Sexualisierung der Öffentlichkeit nicht aus der Welt schaffen konnte.

So lässt sich sowohl gegen Norbert Elias als auch gegen Hans Peter Duerr einwenden, dass die Schamschwellen nicht periodisch immer höher oder niedriger werden, sondern dass das Schamgefühl sich nur verschiebt. Der nackte Körper ist seiner inflationären Zurschaustellung zum Trotz noch immer mit Scham besetzt, beispielsweise wenn er den Normen des Schönheitsideals nicht entspricht. Auch die Geschichte der Freizügigkeit verläuft eher in Zirkeln, wobei die Paradoxieentfaltung – wie beispielsweise das vor allem in Amerika eklatante Nebeneinander von rabiater Prüderie und sexualisiertem Konsum – eine besondere Variante der Schamökonomie darstellt. Doch der private user, der im Schutze der Anonymität im Internet Pornographie konsumiert, ist nicht unbedingt weniger schamhaft als der notorische »Playboy-Leser« der 1960er Jahre, der seine abgefingerten Hefte unterm Nachttisch versteckte. Und wenn – um ein jüngeres Beispiel zu wählen – ein Buch wie Charlotte Roches analpornographisches Ekelmanifest »Feuchtgebiete« zu einem Verkaufsschlager werden konnte, so liegt das weniger an der vermeintlichen Preisgabe aller sexuellen Hemmungen als vielmehr daran, dass Roche mit ihrem lustvoll in Körpersekreten und Ausscheidungen badenden Infantilismus noch immer die letzten wahren Tabus – nämlich die der Körperhygiene – exekutiert.

Die Scham steht an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, sie ist die Unterhändlerin zwischen dem Ich und der Norm. Sind ihre Ursachen auch veränderlich wie die Sitten, so ist doch die Empfindung selbst in allen Kulturkreisen weitgehend gleich. Beschämung ist das Gefühl einer spontanen Herabsetzung des Selbstwertgefühls, eine Regung, die sich körperlich manifestiert. Norbert Elias hat das Schamgefühl eine »ständig schwelende soziale Angst« genannt; Sigmund Freud aber definierte »die soziale Angst« als die Furcht, verlassen zu werden. Diese Furcht spielt bei aller Beschämung mit. Wer beschämt wird, fühlt sich ausgestoßen, mutterseelenallein.