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Die unterhaltsamste Fläche auf Erden sei das menschliche Antlitz, befand der Philosoph und Physiker Georg Christoph Lichtenberg. Vom ersten Kinderlächeln bis zur zerfurchten Greisenstirn, vom beglückten Strahlen bis zur Schmerzensfratze ist es die Bühne für unsere Gefühle. Doch in seiner schier unendlichen Wandelbarkeit ist es nicht nur unterhaltsam, es ist auch geheimnisvoll, eine Landschaft, die unser Inneres sowohl offenbaren als auch verbergen kann. Durch die ganze Geschichte hindurch haben Menschen ihr Gesicht mit Schminke, Bart oder auch Schmuck verziert, um ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, Unvorteilhaftes zu korrigieren, Schmeichelhaftes hervorzuheben. Heute ist die technische Entwicklung dabei, das Verhältnis von Natürlichem und Künstlichem zu verkehren. Der zunehmende Einsatz von Schönheitschirurgie, Photoshop oder KI-generierten Deep Fakes degradiert das reale Antlitz zum bloßen Material, aus dem ein beliebig wählbares virtuelles Konterfei geformt werden kann. Andrea Köhler beleuchtet, wie aus der unterhaltsamsten Fläche auf Erden eine nahezu grenzenlos manipulierbare geworden ist.
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Seitenzahl: 107
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Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Einleitung
I Zwischen Gesichtern
Intermezzo
Von Angesicht zu Angesicht – Mutter und Kind
The One and Only – das geliebte Gesicht
Entstellte Ähnlichkeit
Der Mann im Mond – Gesichtsbezogenheit
Intermezzo
Die erste Unterscheidung – Freund und Feind
II Kult und Kosmetik
Intermezzo
Der goldene Schnitt – plastische Chirurgie
Das Kinn der Venus, die Stirn der Mona Lisa
Das entstellte Gesicht
Dreh dich (nicht) um – das abgewandte Gesicht
III Person und »persona« – das maskierte Gesicht
Die Totenmaske
Die theatralische Maske
Intermezzo
Gesichtshalbierung – die medizinische Maske
Das Zoom-Gesicht
IV Eindruck und Ausdruck
Intermezzo
Wie – so sehe ich aus? Vorm Spiegel
Das Gesicht der leidenden Kreatur
V Von der Ikone zum Image – das Gesicht in Malerei, Photographie und Film
Das bist du! Das Photographiergesicht
Intermezzo
Ecce homo – das Ebenbild Gottes
Porträt und Palimpsest
Ich-Plakate – das scheinbar vertraute Gesicht
Defacing – das übermalte Gesicht
Blinzeln und Augenaufschlag – das Selfie
VI Die Zeichensetzung der Gefühle
Schutzschild und Verräter – über das eigene Gesicht reden
Intermezzo
Das Gesicht schreiben
Moralische Gesichtslektüren – Physiognomik
Du entkommst uns nicht – das gejagte Gesicht
VIII Die Tiefenkarte des Gesichts
Find Face und Fake Face – virtuelle Gesichter
Deepfakes
Die Essenz unserer Humanität
Literatur
Anmerkungen
Impressum
Cover
Titel
Widmung
Einleitung
Quellenangaben
Inhaltsverzeichnis
ANDREA KÖHLER
Vom Antlitz zum Cyberface
Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit
Reihe zu Klampen Essay Herausgegeben von Anne Hamilton
Andrea Köhler studierte Germanistik und
Philosophie. Seit 1985 ist sie als Journalistin, Essayistin und Literaturkritikerin tätig. Von 1991 bis 1994 arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Paris. 1995 trat sie in die Feuilletonredaktion der »Neuen Zürcher Zeitung« ein, für die sie von 2001 bis 2018 als Kulturkorrespondentin aus New York berichtete. Bei zu Klampen ist von ihr erschienen: »Scham. Vom Paradies zum Dschungelcamp« (2017).
Für Melitta
Inhalt
Cover
Titel
Einleitung
I Zwischen Gesichtern
II Kult und Kosmetik
III Person und persona – das maskierte Gesicht
IV Eindruck und Ausdruck
V Von der Ikone zum Image – das Gesicht in Malerei, Photographie und Film
VI Die Zeichensetzung der Gefühle
VIII Die Tiefenkarte des Gesichts
Literatur
Impressum
»Die beste Maske, die wir tragen, ist unser eigenes Gesicht.«
Friedrich Nietzsche
»Was war dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Mutter und dein Vater geboren wurden?«
Zen-Koan
DIE unterhaltsamste Fläche auf Erden sei das menschliche Antlitz, befand der Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg – sie ist zugleich die geheimnisvollste. Vom ersten Kinderlächeln bis zum zerfurchten Greisengesicht, vom beglückten Strahlen bis zur Schmerzensfratze ist das Gesicht die Bühne für unsere Gefühle. Es entzückt und berührt, fasziniert und stößt ab. Wie das Wetter, der Himmel und die Gestirne, strahlt und bewölkt und verfinstert es sich. Tränen rollen, Schamröte gibt es preis, Trauer legt es in Asche, die Lust verzerrt es ebenso wie das Leid. Und zuletzt sitzt darunter der Totenschädel.
Eine Landschaft hat man es genannt, eine Leinwand und eine Visitenkarte, und es – von Gott bis zur Frau im Islam – mit Tabus belegt. Wir maskieren, streicheln und schlagen es, wir lachen, sprechen und küssen mit ihm, es wird mit Nasenringen, Schnurrbart, Brille und Schminke verziert. Laut dem Psychologen und Haptikforscher Martin Grunewald fasst sich jeder Mensch täglich bis zu 800-mal ins Gesicht. Offenbar geht von dieser flüchtigen Selbstberührung eine Art Tröstung aus. Manchmal weiß man auch einfach nur nicht, wohin mit seinem Gesicht.
Eine Seltsamkeit liegt in dem Umstand, dass unsere Physiognomie sich einerseits mit den Jahren verändert, andererseits aber ähnlich bleibt. Die meisten von uns behalten von der Kinderzeit bis ins hohe Alter ihren charakteristischen Zug. Zuweilen nähert sich das Greisengesicht auch dem Kind wieder an. So kommt es, dass man Menschen, die man jahrzehntelang nicht gesehen hat, oft mühelos wiedererkennt. Leider ist auch das Gegenteil wahr: dass das Alter, das Schicksal oder die ästhetische Chirurgie ein Menschengesicht völlig verwüsten können.
Das Gesicht ist die Schnittstelle zwischen Ich und Umwelt, der Ort, wo Sinne und Seele, Person und Persona, das Blicken und das Erblickte zusammentreffen. Physiologisch betrachtet, ist es das Körperteil mit der höchsten Sinneskonzentration: Hier haben die Organe des Sehens und Hörens, des Riechens und des Geschmacks ihren Sitz. Zugleich ist das Gesicht eine Fläche der Mitteilung. Wir entnehmen ihm, welchen Geschlechts und Alters, welcher Herkunft und Stimmung der oder die andere ist. So oder so aber ist eine Begegnung zwischen Gesichtern immer ein Vorstoß in etwas Unbekanntes hinein – und dies nicht nur, wenn sie unter Fremden geschieht. In der Tat ist kein Gesicht vorstellbar, das uns völlig gleichgültig lässt. Das Gesicht ist nicht nur die unterhaltsamste, sondern auch die unwiderstehlichste Fläche auf Erden.
VIELLEICHT ist es eine weise Einrichtung der Natur, dass man sein eigenes Gesicht nicht sehen kann, jedenfalls nicht unvermittelt, so wie die andern uns sehen können. Photographien, Filme und Spiegel bieten nur eine Ahnung davon, wie unser Gesicht in Aktion erscheint. Was wir als unser eigenes Antlitz erkennen, entspricht nämlich lediglich einer Momentaufnahme unseres Gesichts. Der Abstand zwischen dem Ich, das wir sind oder zu sein glauben, und der Person, die unser Gegenüber erblickt, ist nie wirklich einholbar. So wie auch unsere eigene Stimme für uns selbst einen anderen Klang als für unsere Umgebung hat. Und doch sind Gesicht und Stimme die besonderen Kennzeichen unserer Identität.
Denn neben der Mimik, die aus unendlich vielen Informationen besteht, ist es immer die ganze Person, die wir – zumindest in Umrissen – beim Blick ins Gesicht wahrnehmen. Dabei vermisst das Zusammentreffen der Augen in Sekundenbruchteilen das Terrain. Wir nehmen den Ausdruck des anderen als Entgegenkommen oder als Abweisung wahr; unwillkürlich sucht man nach dem Ansteckungsfaktor der Sympathie. Zwar spielt dabei eine Rolle, ob die oder der andere über Attribute der Attraktivität verfügt. Entscheidender aber ist, was zwischen Gesichtern geschieht. Ob man sich auf Anhieb mag oder nicht, wird unter Gesichtern entschieden.
Dieser Vorgang ist intuitiv, und er ist gegenseitig: Wir geben den anderen zu verstehen, ob sie willkommen sind. Das Lächeln ist hierfür die allgemein akzeptierte Konvention – wobei aber deutlich empfunden wird, ob es genuin oder aufgesetzt ist. Das stereotype big toothy megawatt smile der Amerikaner, das sich vermutlich den Sprachschwierigkeiten der Einwanderungsnation verdankt, steht seitens der Europäer unterm Verdacht der Oberflächlichkeit. Für die global verbindende Dimension unseres mimischen Potentials spricht wiederum, dass das in sich versunkene Lächeln des Buddha – ein Lächeln, das ganz bei sich selber bleibt und doch alle meint – auch in unseren Breitengraden als Ausdruck höchster Erleuchtung und Liebe gilt.
Intermezzo
Domenico Ghirlandaios »Portrait eines alten Mannes und eines kleinen Jungen« aus dem Jahr 1490 ist das ergreifende Bildnis der Begegnung zwischen einem ganz jungen und einem alten Gesicht. Die Zuneigung zwischen Knabe und Greis, die auf diesem Gemälde zwischen Antlitz und Antlitz aufscheint, wird akzentuiert, ja gesteigert durch die drastische Diskrepanz zwischen der von einer Wucherung verunstalteten Knollennase des altenMannes und der Makellosigkeit des zarten Kindergesichts. Der gütige Blick des Alten, der vertrauensvolle Augenaufschlag des kleinen Jungen, untermalt von seiner zärtlich an die Männerbrust gelegten Hand, sind von einer Zugewandtheit, die unmittelbar zu Herzen geht. Das Bild bezeugt eine Nähe zwischen zwei Menschen, die sich – über die entstellte Nase des Alten hinweg – im Tausch der Blicke vollzieht. Zugleich fängt dieses Doppel-Porträt das ganze Drama der Vergänglichkeit ein: Die Spuren der Verwüstung im Antlitz des Greises und die reine Fläche des kleinen Gesichts spiegeln einander in vollkommener Harmonie. Es ist der beseelte Austausch, der die beiden unter der Aureole der Liebe vereint – ein Leuchten, das vom ursprünglichen Zauber zwischen Menschengesichtern erzählt.
Denn wir bleiben lebenslang Kinder und legen bis zum Tod die Köpfe in den Nacken, um den Ausdruck auf den Gesichtern der Erwachsenen zu entziffern.
Harold Brodkey, »Unschuld«
Der innige Austausch von Mutter und Kind ist gemeinhin die erste Auf führung in dem Drama, das sich zwischen Menschengesichtern abspielt. Schon Neugeborene interessieren sich mehr für Gesichter als für jedes andere Phänomen; nach kurzer Zeit können sie das Antlitz der Mutter wiedererkennen. Diese Ausrichtung bringen wir mit auf die Welt. Bei intrauterinen Untersuchungen hat man Schwangeren mit Licht eine Art Smiley auf die Bauchdecke projiziert und dabei beobachtet, dass die Ungeborenen sich ab einem bestimmten Entwicklungsstadium nach dem Lichtmuster ausrichteten – dies aber nur, wenn das Lichtgesicht nicht verkehrt herum gezeichnet war.
Die Reaktion auf ein Gesicht ist der erste Akt in der Wahrnehmung einer anderen Realität, ja unser Selbst- und Wirklichkeitssinn entwickelt sich überhaupt nur über die An- und Abwesenheit eines Gesichts. Wie der Kinderanalytiker Donald Winnicott bemerkt, entspricht der Blick der ersten Bezugsperson dem Vorläufer eines Spiegels. Das Gesicht der Mutter reflektiert die Emotionen, aus denen allmählich das Selbstbild des Kindes entsteht. Auch das Gehalten- und Genährtwerden ist verbunden mit der Zugewandtheit eines Gesichts. In einem zweiten Entwicklungsschritt kommt dann die Erfahrung hinzu, dass sich das liebevolle Antlitz verändern, dass es als ablehnend erlebt werden kann.
Dieser Blick, der – ob kalt taxierend oder liebevoll zugewandt – die Sicht auf uns selber formt, wird die im Dunkeln des Unbewussten schlummernde Keimzelle unserer Empfindungen bei der Begegnung mit anderen Menschen bleiben. Das Misslingen der ersten Gesichts-Beziehung gilt als eine Ursache bleibender psychischer Wunden – so wie sich umgekehrt eine gesunde Persönlichkeit nur in der zuverlässigen Präsenz eines vertrauten Gesichtes herausbilden kann. Diese Mitgift aus der biographischen Frühzeit prägt unsere Reaktion auf die Physiognomien anderer Menschen ein Leben lang. Sie ist der archaische Bodensatz für unsere unwillkürlichen Urteile in der Begegnung mit Fremden. Da die spontane Reaktion auf ein Gesicht dem verschütteten emotionalen Fundus unserer vorsprachlichen Existenz entstammt, ist sie der kritischen Selbstreflexion nur bedingt zugänglich. Intuitiv aber spürt man beim Blick ins Gesicht des andern sofort, ob »die Chemie stimmt«.
Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau.
Johann Wolfgang von Goethe, »Gedichte«
Die Liebe auf den ersten Blick mag ein Mythos sein, er ist, ob wahr oder nicht, noch immer wirksam. In der Menge der unzähligen Gesichter lauert unverhofft das eine Gesicht, das Amors Pfeil losschickt. Dieser vielbesungene und gleichwohl rätselhafte Vorgang speist sich aus dem Eindruck einer Vertrautheit, der auf Wiedererkennen beruht. Wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel rührt das fremde Gesicht an etwas in unserem Unbewussten, das auf diesen Anblick gewartet zu haben scheint. Man meint, sich seit Ewigkeiten zu kennen.
Die Besonderheit dieses Gesichts löst also eine Art Erinnerungsschock aus, der die Getroffenen mir nichts, dir nichts in einen Ausnahmezustand versetzt. Dieses unsterbliche Phänomen, ob schicksalhafte Fügung oder hormoneller Schub genannt, hat Legionen von Philosophen und Dichtern – und natürlich Hollywood und die Musikindustrie – inspiriert. In Platons »Phaidros« steht das Begehren, das ein schönes Gesicht auslöst, freilich auf der untersten Ebene der Liebeshierarchie. Die erotische Ergriffenheit angesichts einer bezaubernden Physiognomie ist dort nur ein Mittel zum Zweck: Vorstufe für die Erkenntnis des Göttlichen und die Liebe zur reinen Idee. Doch macht nicht die Liebe jeden und jede zu einer Art Götter-Wesen?
Es gibt freilich auch den Fall, dass Menschen sich spontaner Antipathie zum Trotz ineinander verlieben. Dass die Züge des anderen, mögen sie auf Anhieb auch wenig anziehend sein, im Laufe der Zeit etwas Unwiderstehliches gewinnen. Das Einfalltor für die Liebe ist meistens das »Fenster zur Seele«, die Augen. Im 15. und 16. Jahrhundert galt es noch als das Äquivalent einer physischen Berührung, jemanden direkt anzusehen. Vielleicht kommt daher die seismographisch austarierte Blick-Dramaturgie, die intuitiv bestimmt, wie lange wir den anderen anschauen dürfen. Mehr als 3,3 Sekunden, sagt die Statistik der Etikette, sieht man sich höflicherweise nicht in die Augen. Alles darüber hinaus geht auf die eine oder andere Weise unter die Haut.
»Warum gabst du uns die tiefen Blicke?« dichtete Goethe halb selig, halb verzweifelt das Schicksal (bzw. Charlotte von Stein) an. In einem berühmt gewordenen Experiment hat der Psychologe Arthur Aron über zweihundert Jahre später diese Frage aufgegriffen und zwei Fremde dazu gebracht, sich zu verlieben, indem er sie einander vier Minuten lang tief in die Augen schauen ließ – eine Versuchsanordnung aus dem Jahr 1997, die die amerikanische Autorin Mandy Len Catron im Jahr 2015 noch einmal nachgespielt hat. Der Anfang, schreibt sie in ihrem rekordverdächtig oft gelesenen Essay mit dem Titel »To Fall in Love With Anyone, Do This« in der »New York Times«, sei reichlich unbehaglich gewesen: betretenes Lächeln, verlegene Unruhe auf beiden Seiten, das Gefühl, mehr zu offenbaren, als den beiden Beteiligten lieb war. Die größte Herausforderung aber bestand für die Autorin anfangs darin, dem anderen dabei zuzusehen, wie er in sie hineinblickte. Dann aber geschah etwas Seltsames: Ihr Wahrnehmungsfokus veränderte sich,1 und sie sah nur noch die Augen. Fasziniert von der wundersamen Natur dieses Organs, studierte sie die Kugelgestalt des Augapfels und das Zusammenziehen der Pupille, die durchsichtig-glatte Oberfläche der Hornhaut,