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Die 16-jährige Michaela hat eigentlich nicht mehr Ärger mit ihren Eltern als alle anderen Mädchen. Ihre Leistungen in der Schule lassen zu wünschen übrig, sie hält nicht allzu viel von Ordnung und all ihr Interesse gehört der Beatmusik. Aber eines Tages gerät ihre Welt wirklich aus den Fugen: Sie wird zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen ihren Eltern und erfährt, dass diese gar nicht ihre wirklichen Eltern sind. Sie ist ein Adoptivkind und wurde all die Jahre darüber im Unklaren gelassen. Von diesem Augenblick an ist Michaela nur noch besessen von dem Wunsch, ihre leibliche Mutter zu finden. Nur auf diese Weise hofft sie, wieder Ordnung in ihr Leben bringen zu können.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 225
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Schatten der Schuld (Adoptivkind Michaela)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1966 by LübbeVerlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711742365
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Es war kalt.
Die Straßenlaterne vor der kleinen Villa in München-Bogenhausen brannte schon lange, als Schneiders aus ihrem kobaltblauen Wagen stiegen. Sie hatten bis nach neun Uhr die Frühjahrsmodelle, die am nächsten Montag in die Herstellung gehen sollten, überprüft. Anschließend hatten sie eine private Verabredung mit einem ihrer wichtigsten Geschäftsfreunde gehabt, die aber im letzten Augenblick abgesagt worden war. So kam es, daß sie an diesem Samstag zwar spät, aber immer noch früher, als erwartet, nach Hause kamen.
Erhard Schneider trat als erster in die Diele, ein breiter, untersetzter Mann, dessen spiegelnde Glatze von einem Kranz lockiger, grauer Haare umgeben war, die ihm das Aussehen eines Künstlers gaben. Tatsächlich war er Kaufmann. Er zeichnete Verantwortlich für Kalkulation und Vertrieb des Hauses Schneider & Torsten, Herstellung von Damenoberbekleidung, während die herbe, kluge Isabella Schneider, geborene Torsten, für die modische Gestaltung und die Herstellung zuständig war.
Ohne besonderes Interesse begann Erhard Schneider den kleinen Stoß Post durchzusehen, der auf dem braungekachelten Dielentisch auf ihn wartete.
Er wollte die Post schon achtlos in seine Jackentasche schieben, als er plötzlich stutzte.
Isabella trat, ihren Ozelot über dem Arm, näher. »Was ist?« fragte sie. »Etwas Unangenehmes?«
»Keine Ahnung. Ein Brief von Michaelas Schule.«
»Lies doch schon!«
Erhard Schneider riß den Umschlag auf und überflog schnell die wenigen Zeilen.
Trotzdem fragte ihn Isabella noch einmal ungeduldig: »Was ist?«
Er ließ den Brief sinken und sah sie an. »Michaelas Versetzung ist gefährdet.«
»Mein Gott!« Isabella nahm ihm den Brief aus der Hand. »Warum hat sie uns davon nichts gesagt?«
»Michaela!« brüllte Erhard Schneider, und als Frau Beermann, die Haushälterin, atemlos die schmale, geschwungene Treppe heruntergerannt kam, fragte er, immer noch mit beachtlicher Lautstärke: »Wo steckt Michaela?«
»Oh, guten Abend! Ich wußte gar nicht … sie ist nicht da«, stotterte Frau Beermann.
»Nicht zu Hause?« fragte Isabella erstaunt. »Aber … das verstehe ich nicht ganz!«
»Sie ist fortgegangen, vor etwa einer halben Stunde.«
»Spazieren? Bei der Kälte?« Erhard Schneiders Kopf war rot angelaufen.
»Nein, ich glaube … sie hat gesagt, sie wolle ins Kino.«
»Da hört sich doch alles auf! Die Schulbehörde schickt uns einen Brief ins Haus … und was tut Michaela? Sie geht ins Kino.«
»Aber, Erhard, sie wußte doch sicher gar nichts von diesem Brief«, versuchte Isabella ihn zu beruhigen.
»Unsinn. Man weiß, ob man versetzt wird oder nicht. Mach mir nichts vor, so etwas weiß man sehr genau.«
Frau Beermann hatte Isabella den Pelzmantel abgenommen. »Haben die Herrschaften sonst noch Wünsche?« fragte sie.
»Nein, nichts«, sagte Erhard Schneider grob. »Sie hätten besser auf das Kind aufpassen sollen, wozu haben wir Sie denn engagiert?«
»Bitte, Erhard!« Isabella warf Frau Beermann einen entschuldigenden Blick zu. »Es hat wirklich keinen Sinn, alle Welt für diese Sache verantwortlich zu machen.« Sie ging vor Erhard Schneider her in den kostbar und geschmackvoll eingerichteten Wohnraum.
»Du wirst wenigstens zugeben, daß ich dir schon oft gesagt habe …« Erhard Schneider öffnete den kleinen Bar-Schrank, holte eine Flasche französischen Kognak und zwei Gläser heraus.
»Was?« fragte Isabella.
»… daß Michaela faul und oberflächlich ist … Da, lies doch, was der Direktor schreibt!« Er nahm Isabella den Brief wieder aus der Hand. »Da steht es, schwarz auf weiß … begabt und von schneller Auffassungsgabe, aber völlig desinteressiert und ohne nötigen Ernst. Da hast du es!«
»Sie ist noch so jung, Erhard!«
»Sechzehn Jahre. Mit sechzehn Jahren habe ich schon längst als Lehrling gearbeitet und du …«
»Ach, Erhard, heute ist das doch alles ganz anders! Die Zeiten haben sich geändert und …«
Erhard Schneider hatte die beiden Gläser vollgeschenkt und reichte ihr eines. »Ich mache dich ja nicht verantwortlich, Isa«, sagte er in verändertem Ton. »Ich weiß, du hast dich um das Kind gekümmert wie kaum eine andere Mutter. Aber vielleicht ist es das gerade. Du hast sie zu sehr verwöhnt.«
»Du etwa nicht?«
»Ja, ich auch. Aber ich habe gedacht, daß sie es uns anders danken würde. Was soll nun werden?«
Isabella nahm einen Schluck Kognak. »Nun, das beste wird sein, wir lassen ihr jetzt Nachhilfestunden geben, denke ich. Vielleicht kommt sie doch noch mit. Oder sonst muß sie das Jahr eben wiederholen.«
»Das meine ich nicht.« Erhard Schneider stellte sein Glas hart auf den Tisch. »Glaubst du, daß sie je das Zeug haben wird, die Firma zu übernehmen?«
Ehe Isabella Schneider antworten konnte, trat Frau Beermann ein. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »draußen ist ein Herr, der Sie sprechen möchte.«
»Wer?« fragte Erhard Schneider böse.
»Er hat mir seinen Namen nicht genannt.«
»Na, erlauben Sie mal! Wie oft müssen wir Ihnen noch sagen, daß Sie niemanden hereinlassen sollen, wenn Sie nicht wissen, wer er ist!«
»Ja, natürlich, Herr Schneider, ich habe das nicht vergessen, nur … er sagte, es sollte eine Überraschung für Sie sein.«
»Eine Überraschung am Samstagabend?«
»Er ist sehr … liebenswürdig.«
Erhard Schneider entging es nicht, daß sie leicht errötete. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf. »Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte er. »Nein, laß nur, Isa, das werde ich schon allein erledigen.« Er nahm noch einen Schluck aus seinem Glas, dann stellte er es aus der Hand und ging zur Tür.
Isabella Schneider holte tief Atem, dann öffnete sie ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Mit leichtem Ärger bemerkte sie dabei, daß ihre schlanken, gepflegten Hände zitterten.
»Danke, Frau Beermann«, sagte sie, »ich brauche Sie nicht mehr.«
Sie ließ sich in einen der hochlehnigen Gobelinsessel fallen. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Also war er doch wiedergekommen. Sie hätte es sich ja denken können.
Sie Spürte zu ihrem eigenen Entsetzen, daß sie ihn haßte. Sie haßte ihren eigenen Bruder, Till Torsten.
In der Diele standen sich Till Torsten und Erhard Schneider gegenüber. Der schmale, geschmeidige Till wirkte neben seinem schweren, wuchtigen Schwager wie ein Windhund, der um einen Bernhardiner herumschwänzelt.
»Ich verstehe natürlich, daß du überrascht bist, mich zu sehen«, sagte er und zeigte mit einem kleinen Lächeln seine kräftigen weißen Zähne.
»Durchaus nicht.«
»Es ist eben so, Menschen wie ich, die kein Zuhause haben … das soll natürlich kein Vorwurf sein, lieber Erhard, versteh mich bitte nicht falsch … aber man möchte eben doch ein paar …«
»Wieviel brauchst du?« fragte Erhard Schneider scharf.
»Ich verstehe dich nicht.« Till Torsten hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen.
»Wieviel?«
»Tausend.«
»Du bist verrückt.«
»Bitte, wie du willst!« Till Torsten gab sich den Anschein, als ob er sich zum Gehen wenden wollte. »Grüße meine Schwester von mir … oder auch nicht. Ganz wie du willst. Adieu.«
»Gut. Ich werde dir einen Scheck geben. Aber nur unter der Bedingung, daß du Isabella endgültig in Ruhe läßt.«
»Scheck kann ich nicht brauchen, Schwager.«
»Na, bitte. Dann bekommst du die tausend Mark bar … aber nur gegen Quittung. Als kurzfristiges Darlehen.«
»Und du glaubst, daß ich so etwas unterschreibe?«
»Ganz bestimmt. Sonst bekommst du das Geld nämlich nicht.« »Bildest du dir im Ernst ein, du würdest es von mir zurückkriegen?«
»Nein.«
»Wozu willst du dann die Quittung?«
»Nur so. Also … entweder du schreibst mir so einen Wisch aus oder …«
»Na schön. Wenn es dir Spaß macht. Ich sehe den Sinn zwar nicht ein, aber immerhin …« Till Torsten zog seine Brieftasche aus dem Jackett seines tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzugs, fand einen leeren Zettel und kritzelte, über den Dielentisch gebeugt, ein paar Zeilen darauf. »Genügt es so?« fragte er und hielt seinem Schwager die Quittung hin.
»Danke.« Erhard Schneider nahm die Quittung entgegen, zählte aus seiner Brieftasche zehn Hundertmarkscheine. »Du hast Glück, daß ich das Geld überhaupt bei mir habe …«
»Ich habe immer Glück, mein Lieber, das solltest du wissen.«
»Um so besser für dich … wenn es dir so vorkommt.«
Till Torsten knöpfte sich seinen dunkelblauen Wintermantel zu. »Also, schönen Dank, Schwager … und von mir aus keinen Gruß an Isabella.«
»Paß auf, Till … ich will kein Versprechen von dir, ich weiß, daß dein Wort nichts gilt, aber ich warne dich. Wenn du noch einmal unser Haus betrittst … oder wenn du ein einziges Mal versuchen solltest, dich hinter meinem Rücken mit Isabella in Verbindung zu setzen …«
»Was dann?«
»Dann wirst du von mir nie wieder, unter gar keinen Umständen, auch nur einen einzigen Pfennig herausholen. Hast du mich verstanden?«
»Du hast dich ungewöhnlich deutlich ausgedrückt, Schwager!« Till Torsten drückte sich den weichen Hut auf den Kopf, tippte mit einem spöttischen Lächeln an die Krempe, drehte sich um und ging aufreizend langsam zum Ausgang. Erhard Schneider folgte ihm bis zur Haustür, und als die Tür hinter dem unangenehmen Gast ins Schloß gefallen war, drehte er den Schlüssel zweimal um und schob den Riegel vor.
Der Beat-Schuppen lag im Keller eines alten Schwabinger Hauses und wurde nur von Jugendlichen besucht.
Der Alkoholverbrauch war sehr gering. Die Mädchen tranken ausschließlich Coca-Cola und Fruchtsäfte, die Jungen mal ein Bier und nur wenige einen Schnaps zwischendurch – wenn sie überhaupt tranken, denn die meiste Zeit verbrachten sie auf der Tanzfläche.
Sie waren gekommen, sich auszutoben, und sie tobten sich aus. Die Musikbox, auf größtmögliche Lautstärke eingestellt, war unentwegt in Betrieb. Platten der Beatles, Rolling Stones und der Rainbows wurden bevorzugt.
Michaela Schneider hatte die Augen mit den dunklen Wimpern leicht geschlossen, das blütenhafte Gesicht zu Gregor Hellmer erhoben. Sie genoß den betäubenden Rhythmus und die körperliche Nähe des jungen Mannes.
Dann war die Platte abgelaufen. »Komm!« sagte Gregor und nahm Michaela bei der Hand. Er zog sie an einen Tisch, der eng an der Rückwand eines Raumes stand, sie setzten sich. Gierig saugte Michaela an ihrem Strohhalm. Gregor zündete sich eine Zigarette an.
Michaela sah ihn von unten herauf mit schrägen Augen an. »Sag mal, Greg, was hättest du eigentlich gemacht, wenn ich heute abend nicht gekommen wäre?«
Er grinste. »Wahrscheinlich hätte ich mich in mein Bettchen gelegt und hätte geweint.«
»Nein, ich meine … im Ernst! Mit wem hättest du getanzt?«
»Sieh dich mal um. Es sind massenhaft Mädchen da.« Sie sagte, ohne den Blick von ihm zu lassen: »Eine gräßliche Fülle!«
»Was willst du? Samstagabend.«
»Warum …« begann sie, aber dann unterbrach sie sich selber: »Ich merke schon, ich falle dir fürchterlich auf die Nerven …«
»Überhaupt nicht. Spuck heraus, was du auf dem Herzen hast!«
Sie schlug die Augen nieder und zeichnete mit ihren spitzgefeilten, zartrosa lackierten Fingernägeln Striche und Kreise auf die Tischplatte. »Ich meine nur, du weißt genau, daß ich mich am Samstagabend am schlechtesten freimachen kann … und überhaupt, Samstag ist ein scheußlicher Tag zum Ausgehen. Warum also …«
»Weil ich wochentags arbeiten muß, Micky … Sonntagmorgen kann ich mich ausschlafen. Das ist die ganze Erklärung.«
»Du bist ein schrecklicher Spießer, nicht wahr?«
Er zuckte die Achseln. »Kann sein.«
»Wenn dir ein bißchen an mir liegen würde …«
Er legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. In seinen braunen Augen stand freundlicher Spott. »Was erwartest du eigentlich von mir? Daß ich dir einen Heiratsantrag mache, weil ich dich für das bezauberndste Wesen der Welt halte?«
»Warum eigentlich nicht?«
»Weil dir noch die Eierschalen hinter den Ohrwatscheln kleben und ich selber … also bitte, Micky, mach dich nicht lächerlich. Ich bin jetzt das erste Jahr bei der Dresdner Bank … mein erstes Lehrjahr. In sieben Jahren verdiene ich frühestens genug, um … du siehst gerade so aus, als wenn du sieben Jahre auf einen Mann warten würdest.«
»Warum nicht? Dann bin ich dreiundzwanzig, das wäre doch noch nicht alt.«
Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Nasenspitze. »Wenn du zweiundzwanzig bist, reden wir wieder darüber, ja?«
»Du bist gemein.«
»Klar bin ich das.« Er horchte auf, der Automat hatte eine neue Platte aufgelegt, einen heißen Beat. »Komm!« sagte er, reichte ihr die Hand und zog sie hoch.
Sie tanzten ganz dem Rhythmus hingegeben. Michaela hielt ihren strahlenden Blick auf Gregor geheftet. Ihr blondes, schulterlanges Haar umschwebte ihren kleinen Kopf wie eine seidig schimmernde Wolke, der leuchtend rote Pulli und der dunkle kniekurze Bleistiftrock standen ihr gut.
Michaela und Gregor klatschten wie die anderen in die Hände. »Balla, balla«, brüllten die Burschen aus vollem Halse – da unterbrach Gregor den Tanz … so plötzlich, daß Michaela aus dem Rhythmus gerissen, stolperte. Er fing sie in seinen Armen auf. »Schnell!« flüsterte er. »Komm!«
Sie verstand nicht, sträubte sich gegen seinen Griff, wollte ihn zurückreißen. Aber er war stärker als sie und hatte sie schon mitgezerrt, bevor sie wußte, was vor sich ging. »Razzia!« sagte er scharf. Er hatte als erster die drei Herren in Zivil bemerkt, die langsam die Kellertreppe herunterkamen …
Von einer Sekunde auf die andere wechselte ihr Gesichtsausdruck, die ausgelassene Freude machte tiefem Schrecken Platz. »Was nun, Greg? Was sollen wir tun?«
Wortlos riß Gregor sie durch die Hintertür hinaus, sie glaubte, ihn verstanden zu haben und wollte in einer der Damentoiletten verschwinden. Aber er zerrte sie am Handgelenk durch einen halbdunklen Gang mit sich fort, stieß eine eiserne Tür auf – sie standen im Heizungskeller.
»Meinst du, hier können wir bleiben?« flüsterte sie atemlos, als er sie losließ.
»Du mußt raus!« sagte er und machte sich schon daran, das Kellerfenster aufzustoßen.
»Aber …«
»Tu, was ich dir sage!«
Er faltete seine Hände zu einem Korb, sie trat hinein, er hob sie hoch und half ihr, durch das schmale Fenster hinauszukrabbeln.
»Halte dich nach rechts!« rief er ihr zu. »Da ist ein Torweg … immer nach rechts! Und dann in der Garderobe vom Studio fünfzehn. Warte auf mich!« Ihm fiel ein, daß sie draußen entsetzlich frieren mußte, er riß sich die Jacke herunter und stopfte sie ihr durch das Fenster nach.
»So … und nun lauf!«
Das Klappern ihrer halbhohen Absätze war noch auf dem Pflaster zu hören, als die Tür des Heizungskellers aufgestoßen wurde und einer der Herren in Zivil eintrat. Gregor angelte in seiner Hosentasche nach seinem Zigarettenpäckchen, steckte sich eine Zigarette an und gab sich Mühe, so gelassen wie nur möglich auszusehen.
»Was machen Sie denn hier, junger Mann?« fragte der Kriminalbeamte nicht einmal unfreundlich.
Gregor nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete: »Habe meine Dame nach Hause gebracht.«
Der Kriminalbeamte runzelte die Stirn. »Nach Hause?«
»Na klar. Durchs Fenster.«
Der Kriminalbeamte ging zum Fenster, öffnete die Klappe, ließ sie wieder fallen. »Und wie hieß die Dame?«
»Keine Ahnung. Habe sie erst heute abend aufgerissen.«
»Hm.« Der Kriminalbeamte ging zur Heizung, öffnete die Klappe und warf einen Blick hinein.
»Ich habe sie nicht verbrannt, wenn Sie das glauben!«
»Na, vielleicht nicht die Dame, aber …« Er bückte sich und nahm einen Stummel auf, zerfetzte das Papier und hob es prüfend an die Nase.
»Seit wann sammeln Sie Stummel, Herr Kommissar?«
»Nie was von Marihuana gehört?«
»Gehört schon.«
Der Kriminalbeamte schnupperte dem Rauch von Gregors Zigarette nach, dann sagte er: »Ihren Ausweis, bitte!«
Gregor fuhr sich mit der Hand zur Brust, siedendheiß fiel ihm plötzlich ein, daß sein Ausweis in der Jacke war, die er Michaela mitgegeben hatte. »Verdammtes Pech.«
»Ausweis wohl vergessen, was?«
Gregor hatte sich schon wieder gefaßt. »Nicht doch, Herr Kommissar! Ich habe ihn im Mantel, drinnen!«
»Na schön, dann holen Sie ihn. Sie werden ihn brauchen können.«
Langsam ging Gregor durch den halbdunklen Gang zurück. Er überlegte fieberhaft. Durch die Toiletten konnte er nicht, dort würde bestimmt ein Beamter postiert sein. Es hatte gar keinen Zweck, es zu versuchen. Er mußte sich auf ein paar Stunden auf dem Polizeipräsidium gefaßt machen. Es würde einen furchtbaren Krach zu Hause geben. Aber das war nicht das Schlimmste.
Wie sollte Michaela nach Hause kommen? Sie hatte ihre Handtasche auf dem Tisch liegenlassen, und in seiner Jacke war kein Geld. Sie würde sich eine Erkältung, wenn nicht noch Schlimmeres holen, wenn sie in ihrem dünnen Seidenpulli nur mit seiner Jacke darüber, zu Fuß den weiten Weg von Schwabing nach Bogenhausen machen mußte. Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Sie würde auf ihn warten, warten und warten und immer verzweifelter werden …
Nein, das durfte nicht geschehen, irgendwie mußte er hier heraus. Er mußte es mit Frechheit versuchen.
Als er in das Lokal zurückkam, stand einer der Kriminalbeamten noch immer auf der Treppe. Der andere ging von Tisch zu Tisch und prüfte die Ausweise. Die Musikbox spielte nicht mehr. Die jungen Leute saßen und standen in dumpfem Schweigen. Gregor ging ruhig, nicht zu schnell und nicht zu langsam, zu seinem Tisch zurück, nahm Michaelas Mantel über den Arm, legte seinen Ulster darüber, steckte ihre kleine Handtasche ein und bahnte sich einen Weg zur Treppe. Der Kriminalbeamte, der dort stand, ein älterer Herr mit dem Ansatz eines Bauches, versuchte, den ganzen Raum im Auge zu behalten, und er sah ihn erst, als er vor ihm stand.
»Na?« fragte er.
»Ich möchte nach Hause, Herr Kommissar!«
»Ihren Ausweis, bitte!«
»Den habe ich schon Ihrem Kollegen gezeigt … hinten im Heizungskeller!«
»Na, dann zeigen Sie ihn mir eben noch mal!«
In diesem Augenblick entstand ein Geräusch im Hintergrund des Lokals. Unwillkürlich blickte Gregor sich um. Er sah, daß ein breitschultriger junger Mann seinen Stuhl zurückgeschoben hatte und blitzschnell, statt seinen Ausweis zu zeigen, dem Beamten, der ihn kontrollieren wollte, die Faust unters Kinn schlug. Der Hieb hatte gesessen, der Kriminalbeamte brach stöhnend zu sammen. Wie auf Kommando erhoben mehrere Burschen ihre Stühle und zerschlugen die Birnen an der Decke. Der Kriminalbeamte neben Gregor zog seine Trillerpfeife und ließ einen schmerzhaft schrillen Pfiff ertönen. Gregor verlor keine Sekunde. Er raste an dem Beamten vorbei, die Treppe hinauf und ins Freie.
Vor dem Eingang stand ein Funkstreifenwagen, der Fahrer, der den Pfiff gehört hatte, stieg aus und lief zum Eingang.
»Rasch! Beeilen Sie sich!« rief Gregor ihm zu. »Da drinnen ist was fällig!« Dann ging er, nicht zu schnell und nicht zu langsam, über die Straße hinunter und sah aufatmend die Neonbeleuchtung über dem Studio fünfzehn.
Michaela wartete, wie verabredet, an der Garderobe auf ihn.
Er zog seine Jacke an, half ihr in ihren Mantel, gab ihr die Handtasche und schlüpfte in seinen Ulster.
Dann traten sie zusammen ins Freie. Gregor nahm Michaelas kleine Hand und steckte sie zu sich in die Tasche seines Ulsters.
»Hattest du Angst, Micky?« fragte er.
»Ein bißchen schon. Aber … es war alles aufregend! Toll aufregend, was?«
»Kann man wohl sagen.«
»Wie hast du es bloß fertiggebracht …«
»Dusel«, sagte er kurz. Dann lachte er. »Es hat manchmal doch was für sich, wenn man mit nem Spießer ausgeht, was?«
»Greg … das hatte ich doch nicht so gemeint! Ich weiß doch, daß du dufte bist! Wirklich, du bist der tollste Bursche, den ich kenne. Eigentlich …« Sie stockte.
»Na, was?«
»Eigentlich ist es schade, daß du nicht mein Bruder bist!«
Er blieb stehen und sah ihr lächelnd in die Augen. »Na, so schade ist das nun auch wieder nicht.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie zärtlich auf den Mund.
Die Schneidersche Villa war vom Mondlicht fast taghell beleuchtet, als Michaela und Gregor in die kleine Seitenstraße in Bogenhausen einbogen. Trotzdem sah Michaela sofort, daß im Wohnzimmer noch Licht brannte.
»Verflixt«, murmelte sie und kramte in ihrer Handtasche.
»Was ist? Schlüssel vergessen?« fragte Gregor.
»Ach wo. Aber«, sie machte eine Handbewegung zum Wohnzimmerfenster, »sie sind schon zu Hause.«
»Und nun?«
Sie legte ihm den Finger auf den Mund. »Pst … Ich werde mich reinschleichen müssen!«
Wortlos und so leise wie möglich durchschritten sie den Vorgarten und traten unter das Vordach der Haustür. Michaela steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn sachte um – die Tür gab nicht nach. »Zugeriegelt«, sagte sie verblüfft.
»Auwei!«
»Komm«, flüsterte sie und zog ihn an der Hand hinter das Haus.
»Was willst du machen?«
»Ich muß da rauf«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zum Spalier hin, und bückte sich schon, um ihre schmalen, halbhohen Pumps abzustreifen.
Er schaute unbehaglich die Hauswand hinauf. »Bist du sicher, daß ein Fenster offen ist?«
»Na klar. In meinem Zimmer immer.« Sie rollte sich mit geschickten Händen die Strümpfe herunter, stopfte sie in ihre Handtasche. »Meinst du, daß du mir das hinaufwerfen kannst?«
»Gib her, ich werde es versuchen.«
Sie küßte ihn rasch auf die Nasenspitze, dann wandte sie sich ab und begann, gewandt wie eine Katze, das Spalier hinaufzuklettern. Gregor wurde es klar, daß sie nicht zum erstenmal auf diesem Weg ins Haus gelangte. Das morsche Holz knackte ein bißchen, unwillkürlich trat er einen Schritt vor und breitete die Arme aus, um sie aufzufangen, aber es war nicht nötig.
Sie hatte sich schon zum Fenster hinaufgeschwungen. Jetzt öffnete sie beide Flügel. weit und winkte ihm zu. Er trat einen Schritt zurück, zielte genau, dann flog die Handtasche mit Schwung durchs Fenster. Der erste Pumps folgte, der zweite war zu tief geworfen, er prallte von der Mauer ab und fiel auf den hartgefrorenen Boden. Es gab einen kleinen Lärm, beide er schraken.
Dann, als nichts geschah, löste sich ihre Aufregung in unterdrücktes Gelächter. Beim zweiten Wurf klappte es. Michaela beugte sich weit vor, sandte Gregor eine Kußhand zu, bevor sie das Fenster schloß. Er wartete, bis ein gedämpfter Lichtschein durch die zugezogenen Vorhänge fiel, dann wandte er sich ab und verschwand mit raschen Schritten.
Wenige Minuten später lag Michaela im Bett. Sie hatte ihr Kopfkissen zusammengerollt und hielt es fast zärtlich an sich gepreßt. Um ihren vollen kindlichen Mund spielte ein Lächeln. Sie war müde und ganz wunschlos.
Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Im selben Moment war sie wieder hellwach und richtete sich steil im Bett auf. Wenn die Eltern nun gemerkt hatten, daß sie nicht zu Hause gewesen war? Wenn sie auf sie warteten?
Michaela überlegte eine Sekunde, dann kletterte sie aus dem Bett, öffnete behutsam die Zimmertür und schlich auf nackten Sohlen die schmale, geschwungene Treppe hinunter.
Aus dem Wohnzimmer kam kein Laut. Michaela preßte ihr Ohr an die Tür. Es war so still, daß sie glaubte, das zarte, unablässige Ticken der kleinen antiken Uhr vernehmen zu können. Sie warf einen Blick über die Schulter. Die vertraute Diele wirkte im fahlen Mondlicht, das durch einen breiten Spalt des Vorhangs fiel, kalt und ganz fremd. Eine Treppenstufe knarrte.
Michaelas Herz klopfte bis zum Hals. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, wäre wieder hinaufgelaufen und hätte die Tür ihres Zimmers hinter sich abgeschlossen. Aber sie wußte, daß sie jetzt kein Auge zutun konnte, bevor sie nicht Gewißheit hatte.
Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter, seltsam verändert, spröde, fast tonlos. »Bitte, Erhard … ich habe keine Zigaretten mehr.«
»Ist auch besser so«, erwiderte der Vater rauh, und Michaela spürte, daß er unter der Grobheit seine eigene Erregung verbergen wollte. »Komm, gehen wir schlafen.«
»Glaubst du, daß ich ein Auge zutun könnte?«
»Natürlich kannst du. Du brauchst bloß zu wollen. Nimm von mir aus ein Schlafmittel.«
»Ach, Erhard …!«
Wieder Stille, eine Stille, die mit Gefühlen, die keinen Ausdruck fanden, gleichsam überladen war. Michaelas Knie zitterten. Sie mußte sich an die Wand lehnen.
»Ich begreife nicht, wie sie uns das antun kann«, hörte sie ihren Vater sagen.
»Das arme Kind!« Die Stimme der Mutter war kraftlos. »Ich … mein Gott, wir … was haben wir falsch gemacht, Erhard?«
»Wir … wir … immer wir! Warum suchst du die Schuld bei uns? Warum suchst du sie nicht dort, wo sie wirklich liegt? Wir haben alles für sie getan, was in unseren Kräften steht. Sie hat, was sie braucht und noch mehr. Wenn trotzdem solche Sachen Vorkommen, dann kannst du die Schuld doch nicht bei uns suchen! Dann ist das Kind einfach zu … na, sagen wir … labil!«
»Und wenn sie das ist, ist es ihre Schuld?«
Nach einer kleinen Pause sagte der Vater: »Na ja, vielleicht hast du recht, wer kann schon für seine Veranlagung … Ich hätte damals eben nicht nachgeben sollen. Es war ein zu großes Risiko, sie anzunehmen.«
»Glaubst du, bei einem eigenen Kind wäre das Risiko geringer?«
»Vielleicht nicht. Aber dann weiß man doch wenigstens …«
Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Ehe Michaela noch wußte, was sie tat, hatte sie die Tür aufgerissen und war ins Zimmer gestürzt. Sie starrte die Eltern mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich … ich bin nicht euer Kind?« stammelte sie.
Isabella und Erhard Schneider starrten Michaela wortlos an. Dann löste sich Isabellas Verkrampfung. Sie sprang auf, eilte auf das Mädchen zu und schloß es zärtlich in ihre Arme.
»Gott sei Dank, daß du wieder da bist, Liebling … Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht«, stammelte sie.
Michaela fühlte die Tränen ihrer Mutter auf der Stirn. Auch sie mußte plötzlich weinen. »Mutter«, flüsterte sie, »ist es wahr … ich bin nicht euer Kind?«
»Natürlich bist du unser Kind … unser kleines Mädchen«, erwiderte Isabella. »Spürst du das denn nicht?«
»Aber, ihr habt doch selbst gesagt …«
»Wann?« fragte Erhard Schneider.
Michaela errötete. »Eben. Bevor ich ins Zimmer kam …«
»Du hast gelauscht?«
»Ich habe es gehört.«
»Dann passe das nächstemal besser auf, wenn du schon an den Türen horchst.«
»Aber ich habe mich nicht geirrt …«
»Unsinn. Willst du etwa behaupten, daß wir dich belügen?«
Michaela schwieg verwirrt.
»Na also. Und jetzt möchte ich endlich wissen, wo du herkommst.«
Michaela sah an ihrem kurzen Nachthemd hinunter. »Aus dem Bett.«
»Willst du uns vielleicht weismachen, daß du den ganzen Abend friedlich geschlafen hast, während die Mutter und ich vor Sorgen fast verrückt geworden sind?«
»Nein.«
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Ich weiß es nicht … Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«
»Vielleicht kannst du uns wenigstens sagen, wie du ins Haus gekommen bist. Die Haustür ist nämlich seit Stunden verriegelt.«
»Ich bin über das Spalier in mein Zimmer geklettert.«