Schatten im Silsersee - Christine Neumeyer - E-Book

Schatten im Silsersee E-Book

Christine Neumeyer

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein atmosphärisch-kraftvoller Roman über den Meister der Hochgebirgslandschaft. Der in der österreichischen Monarchie geborene und aufgrund widriger Umstände staatenlose Künstler Giovanni Segantini sucht in den Schweizer Alpen nach Glück, Frieden und Freiheit. Doch im idyllischen Maloja schlägt ihm und seiner Familie unverhohlenes Misstrauen entgegen. Als ein angesehener Käsebauer ermordet wird, fällt der Verdacht auf Segantini. Der Maler setzt alles daran, sich selbst und die Ehre seiner Familie zu retten.

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Christine Neumeyer, geboren in Wien, ist Schriftstellerin und Organisationsassistentin der Universität Wien. Als Regioschwester von Österreich im Netzwerk der »Mörderischen Schwestern« verwirklicht sie seit 2017 gemeinsam mit österreichischen Autorinnen Projekte zur Förderung der von Frauen verfassten Kriminalliteratur. Sie schreibt historische Romane und Kriminalromane sowie Kurzgeschichten.

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, inspiriert durch die Lebensgeschichte des Malers Giovanni Segantini.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von mauritius images/Gdefilip/Alamy

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-933-4

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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So kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit.

F. Scott Fitzgerald, »Der große Gatsby«

1

Savognin, März 1894

Während des Aufstiegs war die Kälte kaum spürbar. Erst im Schatten des Gipfels verriet die Sonne ihr trügerisches Spiel. Eisig blies der Wind von den Bergrücken über die Ebene. Es war das Besondere an dem Licht, das ihn in die Höhe trieb.

Giovanni Segantini zog den Holzrahmen mit der Leinwand, das Malerbrett und die Pinsel aus dem schmalen Holzkoffer und betrachtete prüfend die Umgebung. Hinter den Bergrücken warf die Morgensonne goldenes Licht in den Himmel. Ein einzelner Baum hob sich knorrig vom bläulich schimmernden Schnee ab.

Mit Vergnügen verfolgte er, wie Barbara Uffer versuchte, eine gefällige Pose einzunehmen. Sein Blick glitt über ihre Hüften, die langen Beine, das zurückgebundene helle Haar. Langsam formte sich ein Bild vor seinem inneren Auge. »Baba, hättest du etwas dagegen, dich freizumachen?«

»Freimachen, Signore?« Ihre Augen weiteten sich.

»Als würde dich der Dottore Bernhard mit dem Stethoskop abhören. Stell dir vor, ich wäre dein Arzt.«

»Aber es ist kalt, Signore.«

»Nur für ein paar Minuten. Ich bitt dich recht schön.«

Zögernd glitten ihre langen Finger über Brust und Bauch. Sie schämt sich, dachte er, wie dumm von mir zu glauben, sie würde mein Ansinnen richtig zu deuten verstehen.

»Wenn ich male, bin ich ohne Interesse für deinen Körper, Baba. Einzig das Motiv sehe ich vor mir.«

Wie konnte er es am besten erklären? Er war Künstler. Sie eine Magd.

Und als er schon abwinken und sein Vorhaben zurücknehmen wollte, da schien Baba zu begreifen.

»Meister, so wie wenn ich einen Husten habe und der Dottore mich untersuchen will?«

»Genau so, liebe Baba.« Giovanni lächelte.

Sie zuckte mit den Achseln und knöpfte ihre Weste auf, strich das wollene Gewand von den Schultern, dann die hochgeschlossene Bluse, das Trachtenkleid, das Unterhemd aus grober Baumwolle, und zum Schluss legte sie auch den Büstenhalter ab.

Er musterte ihre kräftige Statur, die kaum je von einem Sonnenstrahl berührte Haut, fast so weiß wie der Schnee im Hintergrund, und die Brüste von üppiger Festigkeit. In Unterhosen, Strümpfen und derben Bergschuhen stand sie vor dem kahlen Baum.

»Brr, kalt.« Bibbernd schlang sie die Arme um den Oberkörper.

»Ich mache schnell!«, rief Giovanni. »Jetzt öffne bitte dein Haar, lockere es mit den Händen und lehne dich an das Holz hinter dir. – Noch ein bisschen zurück, drück dich gegen den Stamm. – Ja, so. Und den Kopf nach hinten. – Ja, das ist gut, und bitte den Oberkörper nach links dehnen. Das machst du gut, Baba.«

Sie folgte den Anweisungen ohne Scheu. Der Wind spielte mit ihren Strähnen, die sich im toten Geäst verfingen. Ein Sonnenstrahl tanzte über ihre Brüste.

»Che bello, einfach grandios. Danke, Baba!« Giovanni tupfte den Pinsel in die Farbe auf dem Brett.

»Mir ist so kalt, Meister!«

»Nur ein paar Minuten!« Seine Hand bewegte sich wie von selbst, der Pinsel wanderte über die Leinwand. Da ergriff ihn ein erregender Schauer. Weniger lag es an der Kälte oder an der Schönheit der weiblichen Blöße, nein, vielmehr spürte Giovanni eine seltsame und unerklärliche Furcht in sich hochsteigen. Während seine Hände mit beginnender Unruhe ihr Werk vollbrachten, umklammerte in seinem Innersten eine Klaue seine Brust. Es war, als drückte ihn etwas gegen eine Wand. Er schnappte nach Luft, krümmte sich und hustete.

»Ist alles in Ordnung, Signore?«

Vielleicht war es die Sorge in ihrer Stimme, die den Druck von ihm nahm. Plötzlich löste sich die Beklemmung, und er konnte wieder ruhig atmen.

»Alles in Ordnung, Baba. Gleich bin ich fertig.« Mit einem Tuch zum Entfernen von überschüssiger Farbe wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn.

»Mir ist wirklich sehr kalt, Meister!«

»Ich bin fertig, du kannst dich anziehen. Aber pass auf, deine Haare haben sich in den Zweigen verfangen.«

»Oh!« Sie griff hoch, befreite sich vorsichtig, machte einen Knicks und bückte sich nach der Kleidung.

Giovanni packte die feuchten Pinsel in das Schweißtuch und verstaute alle Utensilien im Rucksack. »Du warst wunderbar, hast dir einen heißen Tee mit Rum verdient.«

Beim Abstieg schwieg er die meiste Zeit, hörte kaum hin, wenn Baba ihm den neuesten Tratsch aus dem Dorf erzählte. Der Gedanke an jenes beklemmende und atemraubende Gefühl beim Malen ließ ihm keine Ruhe. Wie heiße Wellen im Körper. Hoffentlich waren es nicht wieder die Lungen. Vor einigen Wochen hatte er nach einem schlimmen Husten den Hausarzt konsultiert. Der riet ihm zur Schonung und Meidung der Höhenluft. Doch nur dort oben fand er das Licht, das er für seine Bilder brauchte.

An der südseitigen Mauer des Hauses war das zu kleinen Spalten geschnittene Holz bis zum Dachstuhl hochgestapelt. Der Mischlingsrüde Fingal sprang einem flatternden Insekt hinterher. Die Sonne stand tief und blendete. Luigia Bugatti beschattete die Augen mit der Hand. Dabei bemerkte sie eine rundliche Gestalt. Mit gestrecktem Arm winkte ihr eine Frau zu. Sie erkannte die alte Bäuerin aus dem Volk der Jenischen, das man in Graubünden vor einigen Jahrzehnten angesiedelt hatte, um den umherziehenden Menschen eine Heimat zu geben.

»Grüezi, Nachbarin! Was machst du für a schwere Arbeit? Lass das Holz dei Magd schleppen. Die isch viel kräftiger als du.«

»Signora Grubi, guten Morgen«, erwiderte Luigia höflich. »Die gute Baba hilft mir, wo sie kann. Aber heute ist sie mit meinem Liebsten auf den Berg gestiegen.«

Die Alte zog die Brauen hoch. »Nur die zwei, ganz allein? Da oben auf der Höh? Machst dir keine Sorgen?«

»Das ist nicht ungewöhnlich, Signora Grubi. Ich muss doch bei den Kindern bleiben.«

»Ich will ja nit sticheln.« Die Alte legte den mit einem bunten Tuch verhüllten Kopf schief. »Oba hast nit Angst um den Liebsten, wenn er stundenlang auf die Berg herumkraxelt?«

Luigia runzelte die Stirn. »Weshalb sollte ich Angst haben? Er ist ein guter Bergsteiger.«

»Nit wegen der Felsen, wegen der schönen Magd.« Die Alte grinste. »Zwei Menschen, Weib und Mann, ganz allein in der Natur. Da könnt so einiges geschehen bei einem Mann, der sich gar so geheimnisvoll gibt wie der deinige.«

»Mein Giovanni ist nicht so einer!« Mit aufsteigendem Zorn protestierte Luigia. Was nahm sich diese Person heraus?

»Ja, wenn du dir seiner Treu so sicher bist, dann wird schon nix sein«, sagte die Alte mit durchtriebenem Blick. »Ich jedenfalls würd für kein Mannsbild der Welt die Hand ins Feuer legen. Erst recht nicht für einen, der mir nicht einmal durch das Heilige Sakrament vor dem Herrgott zugesprochen worden ist.«

Luigia verschlug es die Sprache. Was für eine Unverschämtheit!

Die Alte zog weiter. Mit offenem Mund starrte Luigia ihr hinterher. Jetzt erst fielen ihr die Worte ein, die sie der Frau hätte nachschreien sollen. Und es wären, bei Gott, keine freundlichen Worte gewesen! Nur langsam beruhigte sich ihr Atem. Am besten nahm sie das dumme Geschwätz nicht ernst.

Mit einem Seufzer hob sie den Korb mit dem Holz und trug ihn ins Haus. Vor dem Kamin bückte sie sich nach den Scheiten, um sie an der Wand zu stapeln. Dabei stieß sie mit der Fußspitze gegen die Einfassung aus Stein und stürzte nach vorne auf die Knie. Ein schmerzvoller Fluch wollte über ihre Lippen kriechen, da fiel ihr Blick durch den Türspalt in die Stube auf die drei Söhne und die Tochter. Artig und still saßen sie am Tisch, malten oder schrieben. Luigia presste die Kiefer aufeinander, wischte mit einem Lappen die Blutstropfen von den Knien und machte sich daran, ein Feuer im Ofen zu entfachen. Alsbald schlugen die Flammen knisternd hoch. Eine wohlige Wärme breitete sich aus. Die Nächte in den Alpen waren im März oft noch bitterkalt.

Wenige Minuten später erlöste der schrille Glockenton der Eingangstür sie von der Hausarbeit. Als sie öffnete, stand ein Mann in der grauen Uniform der Landjäger vor ihr, den Tschako tief in die Stirn gezogen, das Gewehr an der Schulter. Das Herz schlug Luigia fest gegen die Brust.

»Bedaure, Signore, mein Gefährte ist nicht zu Hause.« Hastig zog sie an der Türschnalle, doch der Mann setzte blitzschnell einen Fuß in die Öffnung.

»Signora, das Gesetz verlangt von Personen, die sich hier länger niederlassen wollen, gültige Papiere.«

Luigia reckte das Kinn und stemmte die Arme in die Hüften. »Haben Sie eine schriftliche Genehmigung für eine Durchsuchung? Falls nicht, bitte ich Sie zu gehen!«

Der Landjäger glotzte. »Signore Segantini soll uns einfach ein Dokument vorbeibringen, das sein Bürgerrecht bekundet.«

»Und ich will Ihre Durchsuchungsgenehmigung sehen«, insistierte Luigia kühn und wunderte sich, dass ihr dieser Begriff gerade eingefallen war. Vermutlich hatte sie ihn in einer Kriminalgeschichte gelesen.

»Ein ständiger Aufenthalt ist nur mit gültigem Pass möglich. Dies ist die letzte Ermahnung, Signora Bugatti.«

Energisch zog Luigia an der Tür.

Da nahm der Mann den Fuß zurück. »Das verlangt das kantonale Gesetz, Signora. Ich kann da leider nicht nachsichtig sein.«

Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich gegen die kühle Mauer im Flur und schloss die Augen. Die Behörde der Eidgenossen würde sich nicht noch einmal zum Narren halten lassen. Am Ende kamen sie das nächste Mal tatsächlich mit einem richterlichen Schreiben und würden sie und ihre Familie aus dem Haus werfen. Ihre Hände zitterten. Sie lebte mit einem staatenlosen Künstler und den gemeinsamen vier Kindern ohne Verehelichung unter einem Dach. In keinem christlichen Land der Welt würde man sie in Frieden lassen. Nicht in Österreich, nicht in Italien, nicht in der Schweiz. Ein Wunder, dass sie unbehelligt die Grenzen passieren konnten. Wie Diebe im Schutz der Dunkelheit. Luigia stieß sich von der Mauer ab. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte gewusst, dass sie sich mit Giovanni auf ein Abenteuer einlassen würde. Sie tat es aus innigster, unstillbarster und gewiss bis zu ihrem letzten Atemzug währender Liebe.

»Mama, wir haben Hunger!«

Die Stimme von ihrem Ältesten riss sie aus den Gedanken. Gottardo war in diesem Jahr zwölf Jahre alt geworden. Alberto war elf, Mario neun und die Jüngste, Bianca, zarte sieben. Sie wollte keine Kinder mehr, wenngleich Giovanni nichts gegen neuerlichen Zuwachs einzuwenden hätte. Nach der vierten Niederkunft hatte sie zu lange im Kindbett gelegen und fürchtete, jede weitere Geburt würde ihren Körper zu sehr schwächen. Sie brauchte ihre Kraft für die Familie. Luigia errötete, da ihrem Liebsten die Zurückhaltung leider gar nicht leicht fiel.

»Herrgott, das Abendbrot!« Sie trödelte schon wieder.

Eilig durchquerte Luigia die Diele zur Vorratskammer. Weder Schinken noch Fleisch noch Käse oder Wurst fand sie dort, bloß einen halben Sack Kartoffeln, rote und weiße Rüben, ein Happel süßes Kraut und eine angebrochene Packung Hirse. Daraus ließe sich eine reichhaltige Suppe zubereiten. Brot war auch noch da. Luigia packte die Reste an Essbarem und ging zurück in die Küche. Die Kinder am Tisch waren ruhig. Von dem unliebsamen Besuch des Landjägers dürften sie nichts mitbekommen haben. Erleichtert machte sich Luigia an die Arbeit.

Etwa eine Stunde später stürmte Giovanni mit fliegenden Mantelschößen in die Küche. Hintendrein polterte Baba auf ihren Holzschuhen. Als Luigia in die leuchtenden Augen ihres Geliebten blickte, waren alle Sorgen vergessen. Giovannis Wangen glühten, und in seinen dunklen Augen funkelte es vor Lebendigkeit. So war er immer, wenn er von den Bergen kam. Innig küsste sie seine von der frischen Luft gekühlten Lippen.

2

Savognin, Mai 1894

Der dumpfe Ton eines Horns meldete die Ankunft der Postkutsche. Nur wenige Meter betrug die Entfernung von der Haltestelle an der Passstraße zu ihrem Anwesen am Rande des Waldes vor einer herrlichen Alpenkulisse.

»Nonna, Nonna!« Die Kinder stürzten auf die schlanke Gestalt zu, als wäre sie viele Jahre fort gewesen und nicht bloß wenige Monate.

Ein süßlicher Geruch drang aus den hübschen bunten Schachteln, die sie aus ihrer großen Tasche fischte. Als die Kinder aufgeregt die Deckel hoben, entströmte ein betörender Duft nach Rosenblüten.

»Aus eigener Zucht in unserem Mailänder Garten«, sagte Luigias Mutter und zog eine Puppe hervor mit Gliedmaßen aus Porzellan und mit blonden Zöpfen, in einem Kleid aus rot-weiß kariertem Stoff, dazu eine Schürze. »Weil Bianca im Mai Geburtstag hat, bekommt sie ein Extrageschenk.« Sie hielt die Puppe lachend hoch. »Das ist Heidi aus den österreichischen Alpen, der Heimat deines Papas, und sie trägt ein Dirndl.«

Bianca wiegte das Geschenk wie einen Säugling und zupfte an der Schürzenschleife.

»Grazie mille. Was ist ein Dirndl, cara Nonna?«, fragte sie mit runden Augen.

»So nennt man die Tracht der Frauen in Österreich, Liebes.«

»Krieg ich auch so ein Dirndl, Mama?«

»Wenn wir mal nach Österreich fahren, bestimmt.« Luigia lächelte gequält.

Die drei Knaben und das Mädchen klammerten sich an die kräftigen Arme der Großmutter und zogen und zerrten wild an ihr. Luigia wollte eingreifen, doch ihre Mutter wehrte ab und versprach mit vergnüglicher Miene, später mit ihnen draußen zu spielen, jetzt wolle sie mit ihrer Tochter in Ruhe plaudern. Nach einem letzten maulenden Protest, den Luigia mit energischem Ton unterbrach, liefen die Buben mit dem Rüden Fingal nach draußen. Nur Bianca blieb, setzte sich mit der Puppe an den Tisch und versenkte das Gesicht in eine der Rosenschachteln.

Lächelnd nahm Luigias Mutter das Hütchen ab und begann, vom prächtigen Gedeihen der beiden Kinder des älteren Bruders Carlo zu erzählen. Ihre Augen sprachen von der Sehnsucht, die gesamte Familie am liebsten ständig um sich zu haben, und eine hörbare Wehmut lag in ihrer Stimme, als sie vom Befinden des Vaters sprach. Er ziehe sich immer mehr in das Arbeitszimmer zu seinen Forschungen zurück und biete ihr kaum Abwechslung vom eintönigen Alltag. Sie machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie die einzige Tochter vermisste, und erkundigte sich nach deren Glück.

»Ich versichere dir, Mama, auch ohne Trauschein kann sich eine Frau an einen Mann gebunden fühlen.«

»Wir sind keine strengen Katholiken, aber kann man daran wirklich nichts ändern?« Sie seufzte.

»Für mich gibt es nur ein Leben mit Giovanni. Nichts anderes kann ich mir vorstellen.« Luigia war es gewohnt, ihre Entscheidung, die sie noch nie bereut hatte, vor ihrer Mutter zu verteidigen.

Die taxierte Luigia mit hochgezogenen Brauen. »Ich glaube, du achtest nicht mehr auf dich, seit du Mailand verlassen hast. Dein Haar hat Glanz verloren, und deine Garderobe ähnelt der von Bauersleuten. Ach, wenn ich daran denke, was für ein ausnehmend hübsches Mädchen du gewesen bist.« Ihr Blick glitt über Luigias Figur. »Wenn du ahntest, wie exquisit sich Carlos Gattin kleidet. Sie trägt neuerdings diese weiten, fließenden Kleider aus Paris, die den Körper kein bisschen einengen. Na ja, ich würde mich niemals in solch schriller Kleidung in der Öffentlichkeit zeigen, im Garten hingegen stelle ich mir solche Gewänder äußerst praktisch vor. Die schrecklich harten Mieder gehören endlich in den Abfall.«

»Ich bin keine Puppe wie die Gattin meines Bruders!« Luigia unterbrach brüsk den Redefluss ihrer Mutter. »Meine Aufgabe sehe ich nicht im Herausputzen unwichtiger Äußerlichkeiten. Vielmehr will ich meinen Kindern eine Beschützerin und Giovanni eine leidenschaftliche Frau sein.«

Luigias Mutter verdrehte die Augen und strich ihrer Enkelin über die Locken. »Ein sorgsames Äußeres schadet keiner Frau.« Sie hob den Blick. »Wenn es am Geld mangelt, deine Eltern würden aushelfen.«

»Danke, Mama, aber du weißt, wie wir darüber denken.« Luigia stand vom Sofa auf. »Darf ich dir das Arbeitszimmer von Giovanni zeigen? Dort bewahrt er seine Bilder auf, bevor er sie nach Mailand zu Signore Grubicy bringt. Es sind ausnehmend schöne Gemälde. Die Gelegenheit ist günstig, denn er ist gerade zum Einkaufen im Dorf.«

»Wie du meinst.« Ihre Mutter nahm Bianca an der Hand und folgte ihr.

»Weißt du, die Agentur in Mailand ist viel zu kritisch mit der Kunst von Giovanni und auch recht geizig bei der Honorarabrechnung. Doch Giovanni schätzt die Gebrüder Grubicy und mag es nicht, wenn ich deren Arbeit beanstande.« Luigia bückte sich und fischte den Schlüssel unter dem Fußabtreter hervor. Die Tür öffnete sich knarrend.

»Soll ich deinen Vater bitten, mit den Brüdern ein ernstes Wort zu wechseln? Du kennst seinen Einfluss in der Stadt.«

Luigia schüttelte den Kopf. »Danke, aber Giovanni will keine Protektion. Das weißt du.«

Ihre Mutter seufzte vernehmlich.

»Was sagst du zu diesen Bildern? Ist Giovanni nicht ein äußerst talentierter Künstler?«

Ihre Mutter spitzte die Lippen. »Auf den meisten Bildern ist eure Magd zu sehen. Dich scheint er gar nicht zu malen.«

»Papa malt sehr schöne Berge.« Bianca schmiegte ihr Köpfchen an die Hüfte der Großmutter und zeigte mit dem Finger auf die bäuerlichen Darstellungen.

»Das kann ich dir erklären.« Luigia ließ sich die Kränkung nach Mutters scharfer Kritik nicht anmerken. »Baba verkörpert das Engadin. Kraftvoll und ursprünglich. Ihre Erscheinung ist wie geschaffen für die Darstellung dieser ländlichen Gegend. Sieh mich an. Ich bin eine Frau aus der Stadt. Zart und schmal.«

»Vielleicht solltest du dich auch so kleiden wie deine Magd. Mit Tracht und himmelblauen Schürzen. Aber wer ist das denn?« Ihre Mutter war weitergegangen und vor einer mit Tüchern halb verdeckten Staffelei stehen geblieben. Sie zog den Stoff zur Seite. »Die ist ja fast nackig!« Mit empörter Miene drehte sie sich zu ihr um.

Luigia verbarg ihre Überraschung, sah sie ja selbst dieses Bild zum ersten Mal. Es war anders als alles, was Giovanni bisher gemalt hatte.

»Nach eurer Magd sieht diese Frau nicht aus.« Ihre Mutter furchte die Stirn.

Luigia trat einen Schritt zurück und betrachtete das Bild in seiner Ganzheit. Zwischen den dunklen Zweigen eines kahlen Baums in einer von Schnee bedeckten Ebene hing eine weibliche Gestalt. Um ihre Hüften ein knöchelumspielender Stoff. Ein Säugling lag an ihrer Brust. »Diese Frau ähnelt unserer Magd tatsächlich nicht.«

Ihre Mutter hielt die freie Hand an Biancas Ohr. Die Kleine gähnte.

»Seit wann malt dein Giovanni entblößte Weiber? Ist das die neueste Mode in den Alpen?«

Luigia kämpfte mit den Tränen. »Es gibt sicher eine Erklärung, Mutter, ein Bild als Vorlage vielleicht.«

»Hör auf zu trutzen, Luigia. Wir fragen die Magd. Vielleicht weiß sie, wer diese Fremde ist.«

»Das ist nicht möglich. Baba ist vor ein paar Tagen abgereist. Eine Tante von ihr ist überraschend krank geworden.«

»Eine Tante? Soso. Darf ich offen zu dir sprechen, mein Kind?«

Luigia seufzte. »Natürlich.«

»Ich will eurer Magd gewiss nichts unterstellen oder sie gar beschuldigen, doch in mir regt sich ein Verdacht.«

»Was für ein Verdacht?«

»Denk nach.« Ihre Hand lag noch immer an Biancas Ohr, die inzwischen schläfrig mit den Fäustchen über die geschlossenen Augen rieb. »Womöglich ist deine Magd nicht so keusch, wie du denkst. Kann es sein, dass sie wegen einer Schwangerschaft abgereist ist? Ich meine, hier draußen gibt es ja niemanden, der so etwas macht, du weißt schon«, sie flüsterte, »Abbrüche.«

»Niemals! Unsere Baba geht regelmäßig in die Kirche. Sie ist anständig!« Was für verdorbene Gedanken ihre Mutter hatte!

»Ach, Kind«, bohrte sie unerbittlich weiter. »Ist sie nicht oft stundenlang mit deinem Giovanni allein in den Bergen?«

»Das … Das würde er niemals tun … Und auch Baba wäre nicht imstande …«

»Luigia.« Ihre Mutter seufzte. »Du bist viel zu gutgläubig. Wenn sie von ihrem angeblichen Verwandtschaftsbesuch zurückkehrt, beobachte sie. Prüfe, ob sie sich verändert hat. Denk an meine Worte. Jeder Frau sieht man an, wenn sie ein Kind abgetrieben hat. Glaub mir.«

»Woher willst du das wissen?« Kopfschüttelnd drängte Luigia ihre Mutter mit Bianca zur Tür. Rasch verschloss sie das Atelier. »Die Kleine ist müde. Ich bringe sie in ihr Zimmer. Hattest du nicht den Buben versprochen, mit ihnen draußen zu spielen?«

»Ja, richtig. Wo sind sie denn?« Ihre Mutter hob den Kopf und spähte durch die Fenster.

»Auf der Wiese an der Rückseite des Hauses. Dort sind sie meistens zum Fußballspielen.«

»Oh, Fußball habe ich schon lange nicht mehr gespielt.« Sie streichelte lachend der Enkelin über den Scheitel und ging.

Das Mädchen winkte der Nonna hinterher.

»Wir sehen uns später zum Abendessen, Mama.« Nachdenklich beobachtete Luigia den noch immer federnden Gang ihrer Mutter.

Als sich Giovanni spätabends zu ihr legte, schnupperte sie verstohlen an seinen Kleidern und suchte nach dem Geruch der Magd oder dem einer fremden Frau. Doch ihr Liebster roch wie immer, nach öligen Farben und Terpentin.

3

Savognin, Mai 1894

An einem der nächsten Tage standen sie frühmorgens leise auf, um die Kinder und deren Großmutter nicht zu wecken. Heute würde Giovanni mit Luigia auf eine Anhöhe steigen. Er würde malen und sie ihm vorlesen. So wie sie es oft getan hatten vor der Geburt der Kinder. Mit besonderer Vorsicht schlichen sie die bei kräftigem Tritt knarrende Treppe ins Erdgeschoss hinab, wo der Koffer mit den Malutensilien bereitstand. Luigia legte die neueste Ausgabe der italienischsprachigen »Gartenlaube« und ein gebundenes Buch mit Werken Shakespeares hinzu. Gebannt starrte sie auf den braunen Holzkoffer vor der Haustür. Wie immer hatte Giovanni eine aufgespannte Leinwand hineingepackt, an der er oben am Berg arbeiten wollte. Ob es das Bild mit der unbekannten Frau im Baum war? Sie fragte nicht.

Nebelschwaden hingen über den Wiesen und zwischen den Felsen. Ein intensiver Tannenduft zog von den Wäldern her, und an den Grashalmen glänzte im anbrechenden Licht der Tau. Die Vögel sangen, und aus der Ferne erklang das Glockengeläut der Kühe auf den Weiden.

Kaum eine Pause gönnte Giovanni ihr. Luigia war außer Atem, als sie die Hochebene erreichten. Der Ausblick entschädigte sie für den anstrengenden Aufstieg. Weit unter ihnen zog jetzt der Nebel entlang. Die Gipfel hingegen gleißten in der Morgensonne wie Silber.

»Fantastico, nicht wahr?« Giovanni entpackte den Malkoffer und stellte den Schemel vor die Staffelei.

Noch bevor er die Leinwand hervorholte, drehte sich Luigia um und suchte bei den windgeschützten Felsen ein sonniges, schneefreies Fleckchen. Mit innerer Unruhe setzte sie sich auf den Stein und schlug die »Gartenlaube« auf. Rasch überblätterte sie einen Artikel über Florence Nightingale, wissend, dass Giovanni keine kämpferischen Frauen wie die Nightingale leiden konnte, und blieb bei einem Gedicht von Ricarda Huch über die Schönheiten der Natur hängen.

»›Um Haus und Stamm und Fels drängt sich Holunder‹«, las sie, »›von allen Mauern stürzt sich die Akazie in rosigen Kaskaden …‹«

Giovanni grunzte zufrieden, hob den Pinsel, tupfte Farbe von der Palette und begann unter dem Klang ihrer Stimme zu arbeiten.

Nachdem Luigia das Gedicht zu Ende gelesen hatte, konnte sie nicht länger an sich halten. Die Neugierde brannte zu stark in ihr. Sie stand auf, ging über die Wiese und trat hinter Giovanni.

»Wer ist diese Frau in dem Baum, Giovanni?«, fragte sie beherrscht.

Mit fragenden Augen sah er sie an. »Wer soll sie schon sein? Baba natürlich.«

»Das bezweifle ich, mein Liebster. Weder hat unsere Magd braunes Haar noch ein rundliches Gesicht.«

»Es steht dem Künstler frei, seine Phantasie mit der Realität zu mischen, Liebste.«

»Bisher hast du sie immer in ihrer Tracht und mit blonden Haaren gemalt.«

Giovanni drehte sich um und warf Luigia einen langen dunklen Blick zu. »Warum setzt du dich nicht wieder auf den Felsen und liest mir weiter vor?«

»Giovanni, kann es sein, dass du die Frau deiner Träume gemalt hast? Liebst du sie?«

»Mein Schatz, was geht nur in deinem süßen Köpfchen vor?« Giovanni ließ die Hand mit dem Pinsel sinken. »Du bist die Einzige für mich.«

»Ach wirklich? Warum malst du mich dann nicht mehr?«

Er seufzte. »Bitte lass uns später reden.«

»Liebst du mich nicht mehr, Giovanni?«

»Aber ich sagte doch gerade, du bist alles für mich.«

»Erinnerst du dich an den Rosengarten meiner Eltern an jenem Sommertag, als du mich zum ersten und zum letzten Mal gemalt hast?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Du sagst mir nicht die Wahrheit. Du verbirgst etwas vor mir.«

»Nein, Luigia, du täuschst dich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde jetzt gerne zu Ende arbeiten. Bitte setz dich wieder in den Schatten und lies mir vor!«

Gekränkt schleuderte sie die »Gartenlaube« zu Boden. So sehr hatte sie sich auf den heutigen Tag mit ihm auf dem Berg gefreut. Nun war alles verdorben. Wegen einer fremden Frau. Hatte die alte Bäuerin vor zwei Monaten ins Schwarze getroffen, als sie behauptete, Giovanni sei ein Mann voller Lügen und finsterer Geheimnisse?

»Bitte, Luigia, setz dich! Ich will weitermalen.«

Unüberhörbar war die Ungeduld in seiner Stimme. Er dachte nur an das Bild, nur an seine Arbeit. Merkte nicht einmal, wie sehr er sie verletzte. Luigia drehte sich um und lief davon. Nahe dem Abgrund hielt sie inne und blickte in die von der Sonne beschienenen Felsen. Da hörte sie seine Schritte im Rücken. Reglos verharrte sie und wartete auf eine Erklärung, eine Entschuldigung, bereit, ihm zu verzeihen, wenn er nur endlich die Wahrheit sprach.

»Vor einigen Tagen bin ich bei einer Wanderung bis zu einem Pass hochgestiegen«, hörte sie seine tiefe Stimme. »Die Landschaft dort ist atemberaubend schön, die Luft unglaublich frisch und rein, klarer noch als hier unten in Savognin.«

Sein Atem strich über ihren Nacken. Sie schloss die Augen.

»Dort spiegelt sich das Sonnenlicht in vielen kleinen Tümpeln«, fuhr er flüsternd fort, »gespeist von kristallklar sprudelnden Quellen. Du und die Kinder, ihr sollt an dem schönsten Ort der Welt wohnen. Dort werden wir glücklich sein.« Er schlang seine Arme um sie. »Ich liebe dich über alles.«

»Ach, Giovanni!« Luigia drehte sich um. »Wieder müssen wir weiterziehen. Ist es das, was du mir nicht sagen wolltest? Dass wir nicht in Savognin bleiben können?«

»Staatenlose sind unerwünscht.« Er lächelte gequält. »Ich habe alles versucht.«

»Ist das gerecht, Giovanni? Wir haben niemandem etwas getan.«

»In Maloja werden wir glücklich sein, Luigia. Das verspreche ich dir.«

»In Maloja? Warum soll es da anders sein? Wo werden wir wohnen? Schon die Miete für das Haus in Savognin konnten wir uns kaum leisten. Und wenn sie uns dort auch wieder vertreiben? Was soll aus uns werden?«

»Vertrau mir, Liebes.«

»Es fällt mir schwer, wenn ich nicht weiß, wie wir im nächsten Monat das Essen für die Kinder bezahlen sollen.«

Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen. »Luigia, hör mir zu.«

Sie löste sich aus der Umarmung.

Er sah sie stirnrunzelnd an.

»Ach, Giovanni. Lass uns zurück nach Mailand gehen. In der Stadt ist alles einfacher. Auch für die Kinder.«

»Niemals!«, donnerte er, dass sie zurückschreckte. »Ich kann nicht atmen, ich kann nicht arbeiten in der Stadt. Das weißt du genau.« Seine Augen glühten im Sonnenlicht, dann wandte er sich ab, ließ sie stehen und rannte zurück zur Staffelei. In Windeseile packte er den Koffer und eilte mit wehendem Mantel den Pfad abwärts ins Tal.

Was hatte sie getan? Mit bangem Herzen lief sie hinterher. Ihre kleinen Füße fanden kaum Halt in dem Geröll. Ein paarmal rutschte sie aus, wäre fast gefallen. Dornenzweige kratzten über ihre Waden. Doch Giovanni drehte sich kein einziges Mal nach ihr um. Irgendwann verlor sie ihn aus den Augen.

Als Luigia den Hof erreichte, fuhr Giovanni gerade mit der Kutsche und zwei vorgespannten Pferden los.

Die Mutter schien an ihrer Miene sofort zu erkennen, dass es mit Giovanni Streit gegeben hatte. Sie sah es in ihrem Blick, noch bevor sie etwas sagte.

»Das Licht auf dem Berg hat ihm nicht gefallen«, murmelte Luigia mit gesenktem Kinn.

»Das ist alles?« Nonna schüttelte den Kopf und ging hinein.

Da ertönte von der Passstraße das dumpfe Horn und kurz danach die Stimme von Gottardo. »Unsere Baba ist zurück!«

Luigia trocknete verstohlen ihre Tränen und trat vors Haus. Ja, ihr Ältester fasste es trefflich in Worte. Baba war eine von ihnen, sie gehörte zur Familie.

Die Kinder liefen der Magd entgegen, Baba ging in die Knie, breitete ihre Arme aus und versuchte, alle vier auf einmal zu umarmen, was ihr nicht gelang. Gottardo drängelte am meisten und küsste sie ungestüm auf beide Wangen.

Luigia wechselte einen tiefen Blick mit ihrer Mutter. »Ich sehe keine Veränderung bei Baba. Sie wirkt genauso unbeschwert und fröhlich wie vor ihrer Abreise. Du hast dich in ihr getäuscht.«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. Luigia begrüßte Baba herzlich und fragte nach dem Befinden der Tante. Die Magd berichtete lachend, dass es ihr dank ihrer Hilfe nun besser gehe.

Und dann überreichte sie einen Brief aus Mailand, den der Kutscher ihr für die Herrschaft mitgegeben hatte. Er war von Vittore Grubicy. Luigia, die für Giovanni alle an ihn adressierte Post öffnete und meist auch vorlas, überflog neugierig die Zeilen. Der Brief brachte gute Nachrichten und die Aussicht auf eine hohe Geldsendung. Wie der Agent schrieb, war eines der Alpenbilder zu einem guten Preis an den österreichischen Kaiserhof verkauft worden. Der Kaiser liebe Giovannis Naturdarstellungen der Berge.

Luigia ließ den Brief sinken. Sie war überaus erleichtert und stolz auf Giovanni. Doch dann ärgerte sie sich wieder, weil ihr Liebster bestimmt längst von dem Verkauf an Seine Majestät Kaiser Franz Joseph gewusst hatte, ohne ihr davon zu erzählen. Warum musste er sie so quälen?

Etwa eine Stunde später kehrte Giovanni mit zwei Säcken teurer Lebensmittel zurück. Kein Wort verlor er über den Streit auf dem Berg. Baba und Luigia trugen die Delikatessen in die Küche, während sich Nonna mit den Kindern zum Spielen auf die Wiese hinter dem Haus begab. Der Nachmittag verlief ohne weitere Zwischenfälle.

Zum Abendessen gab es Perlwein, gebratenen Fasan und Hühnchen, rote Weintrauben, Graubündner Alpenkäse und weichen Honigkuchen. Luigia hatte lange nicht so feudal gespeist. Es war beinahe wie früher in der herrschaftlichen Villa ihrer Eltern in Mailand. Zum krönenden Abschluss schüttete Giovanni aus dem Korb bunt verpackte Bonbons über den Tisch. Mit Begeisterung stürzten sich die Kinder darauf. Das Papier raschelte in ihren kleinen Händen, und es knackte, wenn sie in die Bonbons bissen. Luigia freute sich mit ihnen, ermahnte sie jedoch, dass sie heute vor dem Schlafengehen die Zähne ganz besonders gründlich putzen mussten.

Nach dem vergnüglichen Abendessen und der erfreulichen Post aus Mailand hoffte Luigia, Giovanni würde zu ihr kommen und ihr endlich die Wahrheit über die fremde Frau auf dem Bild mit dem Baum offenbaren. Doch als er kurz vor Mitternacht noch immer nicht neben ihr im Bett lag, gab sie die Hoffnung auf ein versöhnendes Tagesende auf. Erst gegen drei Uhr früh fiel sie in einen unruhigen Schlaf.