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Bon courage, Madame le Commissaire!
Auf dem Pilgerweg Via Podiensis verschwindet ein Mann spurlos. Körperlich fit und ein erfahrener Wanderer scheint es unwahrscheinlich, dass er einem Unfall zum Opfer gefallen ist. Als eine großangelegte Suche erfolglos bleibt und der öffentliche Druck wächst, werden Pauline Castelot und ihr Team auf den Fall angesetzt. Sie entdecken die Leiche des Mannes auf dem Grund einer Schlucht, und schnell häufen sich die Hinweise auf ein Verbrechen. Als plötzlich auch eine junge Frau vermisst wird, erscheint der Fall in einem ganz neuen Licht, und eine fieberhafte Suche beginnt …
Ein spannender Kriminalfall vor südfranzösischer Kulisse.
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Seitenzahl: 293
Auf seiner Pilgerreise trifft der erfahrene Wanderer Raymond eines Abends nicht in seiner Herberge ein. Eine intensive Suchaktion bleibt ohne Ergebnis, und die Arbeit der Polizei wird von der Presse zerrissen, denn Raymonds Verschwinden gilt als Paradebeispiel für die drastisch angestiegene Zahl an Verbrechen auf dem Pilgerweg. Also übernimmt das Sonderermittlungsteam um Pauline Castelot den Fall. Inmitten der zauberhaften Landschaft beginnen die Kommissare ihre Suche, und schließlich kann Raymonds Leichnam aus einer Schlucht geborgen werden. Noch bevor das Team eine richtige Spur hat, verschwindet auch eine junge Pilgerin, und Paulines Team muss alles daransetzen, einen weiteren Todesfall zu verhindern.
Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.
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Maria Dries
Schatten in der Gironde
Bordeaux Krimi
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Motto
Prolog — 2. APRIL
Drei Wochen später: 23. APRIL
24. APRIL
25. APRIL
26. APRIL
27. APRIL
28. APRIL
29. APRIL
30. APRIL
1. MAI
3. MAI
Impressum
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Für Elise
Le Chemin de Saint-Jacques
Die Via Podiensis gehört zu den vier historischen Jakobswegen in Frankreich. Sie führt von Le Puy-en-Velay durch wildromantische Landschaften und vorbei an bedeutenden Abteien, Reliquien und Hospizen bis zum Fuß der Pyrenäen. Dort vereint sie sich mit anderen Pilgerwegen zum spanischen Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
Ein beliebtes Etappenziel ist der Wallfahrtsort Rocamadour, dessen mittelalterliche Häuser sich an die steilen Abhänge über der Schlucht des Flusses Alzou schmiegen. Dort wird die schwarze Madonna, La Vierge Noire, als Schutzpatronin der Pilger verehrt.
Bedauerlicherweise hat der Jakobsweg auch eine dunkle Seite. Dort treiben sich zwielichtige Gestalten herum, die ihn zu ihrem Jagdrevier auserkoren haben.
2. APRIL
Die Sonne stieg als vanillegelber Ball hinter einer Hügelkette empor und tauchte die kleine Gemeinde Sousceyrac in sanftes Licht. Die Turmuhr der Kirche Saint-Martin schlug siebenmal.
Der Tierarzt Raymond Aubrac schnürte seine Wanderstiefel, schulterte den Rucksack, trat vor die Pilgerherberge Saint-Jacques und atmete tief die frische, kühle Luft ein. Der groß gewachsene, breitschultrige Mann mit den grauen Haaren, den pastellblauen Augen und den muskulösen Beinen freute sich auf den neunten Tag seiner Pilgerreise, der ihn von Sousceyrac nach Alvignac führen sollte. Er hatte sich in Puy-en-Velay auf den Weg gemacht und jeden Tag etwa zwanzig Kilometer auf der Via Podiensis zurückgelegt. Bergauf und bergab war er über steinige Pfade gewandert, vorbei an Feldern, Wiesen und Mischwäldern. Es hatte sonnige, verregnete und nebelige Tage gegeben. Die meiste Zeit war er allein unterwegs gewesen. Er hätte sich durchaus Pilgergruppen oder anderen Wanderern anschließen können, doch er bevorzugte die Einsamkeit und die Stille. Während er kraftvoll durch die Landschaft schritt, lauschte er dem Rauschen des Windes, der durch die Gräser fegte, dem Glucksen von Wasserläufen und dem Gesang der Vögel. Einmal hatte er einen Steinadler beobachtet, der majestätisch am Himmel seine Kreise zog und nach Beute Ausschau hielt.
Gut gelaunt und voller Tatendrang machte er sich auf den Weg vorbei am Château de Grugnac und dem Marktplatz, wo die Bauern gerade ihre Stände aufbauten und sich lautstark unterhielten. Die Route führte ihn durch einen Buchenwald, in dem es nach feuchtem Moos und Harz roch. Ein Specht suchte an einem dicken Stamm nach Würmern, und das stetige Klopfen hallte durch den Forst. Dann folgte Aubrac einem schmalen Weg, der in Serpentinen den Hügel emporkroch. Als der Pfad sich gabelte, wies ihm die gelbe Muschel auf königsblauem Grund, die auf einen Felsbrocken gemalt war, die Richtung.
Gegen ein Uhr stand die Sonne im Zenit, und er suchte sich einen schönen Platz, um seinen Mittagsimbiss zu genießen. Er fand eine sonnige Stelle am Waldrand mit einem umgestürzten Baumstamm, auf dem er sich niederließ. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese, auf der Schlüsselblumen und Wiesenschaumkraut wuchsen. Aubrac hatte in der Herberge eine Tüte mit Proviant gekauft, die er jetzt auspackte. Es gab ein halbes mit Schinken und Käse belegtes Baguette, einen Apfel, Tomaten und eine Flasche Wasser. Während er langsam seine Brotzeit aß, bewunderte er die Aussicht. Eine wellige grüne und braune Landschaft breitete sich vor ihm aus. Weit und breit waren keine Einödhöfe oder Ansiedlungen zu sehen. Dann bemerkte er, dass immer mehr aufziehende Wolken die Frühlingssonne verdeckten und dass der Wind auffrischte. Er beschloss, aufzubrechen, schließlich lagen noch ungefähr zehn Kilometer zwischen ihm und der nächsten Pilgerunterkunft. Als er losmarschierte, fröstelte es ihn, und er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
Kurz vor dem Ort Lavergne kam er an eine Kreuzung und suchte vergeblich nach der wegweisenden gelben Muschel. Er holte seine Wanderkarte aus dem Rucksack und faltete sie auseinander. Der Wind riss sie ihm fast aus der Hand, und die Schatten der sich immer weiter auftürmenden Wolkengebirge erschwerten ihm das Lesen. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass der linke Weg der richtige sein musste. Entschlossen stapfte er weiter.
Es begann zu regnen, in feinen, kaum spürbaren Tröpfchen. Nach zwei Kilometern fing er an, sich zu wundern, dass der steile Aufstieg kein Ende nahm. Soweit er wusste, lag Lavergne in einer Talsenke. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, die ihm brennend in die Augen liefen. Weit und breit war kein Mensch in Sicht, den er nach dem Weg fragen könnte. Auch gab es keine Gehöfte, nur einen Geräteschuppen am Wegrand mit schiefen Fensterläden, die von Windböen an die Holzfassade geschlagen wurden. Daneben stand ein schwarzer Renault mit einem verbeulten Kotflügel. Durch einen Blick ins Wageninnere vergewisserte er sich, dass niemand in dem Fahrzeug saß.
Er beschloss, weiterzugehen. Irgendwann musste er doch zurück in die Zivilisation kommen. Langsam zog die Dämmerung auf, und die Bäume und Sträucher verwandelten sich in graue Schemen. Der Anstieg nahm kein Ende, auf dem Waldboden stapelte sich mit Flechten überzogenes Feldgestein. Als ein schauerlicher Schrei aus dem Wald drang, fuhr er erschrocken zusammen. Was war das? Ein wildes Tier? Dem Veterinär fiel kein Tier ein, das solche Klagelaute von sich gab. Etwa ein Mensch? Das erschien ihm höchst unwahrscheinlich. Wer sollte sich bei diesem Wetter schon hier aufhalten? Er war allein. Erschöpft ließ er sich auf einem Stein nieder und verschnaufte. Was sollte er jetzt tun? Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand. Ein Blick auf sein Handy zeigte ihm, dass der Akku leer war. Er hatte vergessen, es in der Herberge Saint-Jacques aufzuladen. Auf einmal öffnete der tiefschwarze Himmel seine Pforten, und es begann zu schütten. Gelbe Blitze zuckten zwischen den Wolken hin und her, Donner krachte gewaltig.
Aubrac musste sich eingestehen, dass er sich verlaufen hatte. Kurz zog er in Erwägung umzukehren, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Vernünftiger wäre es, sich einen geschützten Platz zu suchen, an dem er sein Zelt aufbauen konnte, bevor die Dunkelheit endgültig hereinbrach. Mit suchendem Blick ging er in den Wald hinein, bis er zu einer Stelle kam, die von den Zweigen einer dicht belaubten Eiche überdacht und von einer halbmondförmigen Mauer aus Kalkstein umgeben war. Dort würde er sein Lager errichten und die Nacht verbringen. Im Zelt würde er im Trockenen liegen und in der Provianttüte befanden sich noch ein Schokoriegel und ein wenig Wasser. Für ihn war das keine große Sache. Er hatte schon unzählige schlaflose Nächte in eisigen Ställen verbracht, wenn Kühe kalbten oder wenn er Pferden half, ihren Nachwuchs auf die Welt zu bringen.
Als er auf seine Armbanduhr sah, war es kurz vor Mitternacht. Aubrac konnte nicht einschlafen, er fror erbärmlich, und eine innere Unruhe hatte ihn erfasst. Kopfschmerzen kündigten sich an. Sein Mund war ausgetrocknet, sein Magen fühlte sich hohl an. Der Regen hatte aufgehört. Wasser tropfte von den Blättern. Er beschloss, ein paar Schritte zu gehen. Umständlich kroch er aus dem klammen Zelt und atmete die frische Nachtluft ein. Hinter den rasch dahinziehenden Wolken blitzten hin und wieder Sterne auf, die wie Diamanten funkelten. Der weiße Sichelmond saß auf einem dunkelgrauen Wolkenkissen. Als sein Blick auf den oberen Abschluss der Mauer fiel, traute er seinen Augen nicht. Dort stand ein Wolf mit braunweißem Pelz, angestrahlt vom Mond, reglos und stolz, und sah ihn forschend an. Nach einigen Sekunden drehte er sich langsam um und sprang von der Naturmauer in den Wald. Ein leises Rascheln war zu hören, dann trat Stille ein. Aubrac umrundete mit einem Lächeln die Naturmauer und zündete sich am Waldrand eine Zigarette an. Was für ein schönes Tier. Er hatte noch nie einen Wolf in freier Wildbahn gesehen. Bestimmt ein Einzelgänger.
Als er mit dem Stiefel die Kippe ausdrückte, hörte er Geräusche, die schnell näher kamen. Äste knackten, Kiesel klackerten, Laub raschelte. Ein Nachttier flatterte aufgeschreckt davon. Kam der Wolf zurück und wollte ihn nun doch angreifen? Das war unwahrscheinlich. So verhielten sich diese scheuen Tiere nicht. Er meinte, menschliche Stimmen zu vernehmen, die irgendetwas flüsterten. Jetzt waren sie noch näher, auf der anderen Seite der Mauer. Im Reiseführer hatte er davon gelesen, dass allein reisende Pilger manchmal überfallen und ausgeraubt wurden. Hatten irgendwelche Verbrecher ihn beobachtet, als er im Wald verschwunden war? Der verlassene schwarze Renault fiel ihm ein. Aubrac bekam es mit der Angst zu tun. Seine Hände wurden feucht. Er hatte keine Waffe, sein Taschenmesser lag im Zelt. Die aufsteigende Panik lähmte ihn, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was, wenn sie ihn töten wollten? Er riss sich zusammen und beschloss, das Messer zu holen, als er Schritte hörte und unmittelbar hinter ihm ein Ast brach. Er wurde von einem übermächtigen Fluchtinstinkt erfasst, drehte sich um, weg von den Geräuschen, und rannte, so schnell er konnte, davon. Dabei rutschte er auf nassen Blättern aus und konnte sich gerade noch fangen, bevor er zu Boden stürzte. Er blieb an einem Ast hängen und riss sich den Jackenärmel auf. Nebelschwaden versperrten ihm die Sicht. Er rannte, so schnell er konnte, und begann zu keuchen. Mittlerweile hatte er jede Orientierung verloren. Kamen die Schritte näher? Plötzlich stolperte er über Gestrüpp, blieb mit dem Fuß an einer Schlingpflanze hängen, taumelte und fiel, direkt auf einen Abhang zu, der sich steinig und beinahe senkrecht in die Tiefe neigte. Der Abgrund tat sich wie ein hungriger Schlund vor ihm auf, und das braunschwarze Felsgestein kam immer näher. Er riss entsetzt die Augen auf, spürte einen brutalen Aufprall und stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus. Dann verließen ihn seine Sinne.
Drei Wochen später
Kommissarin Mélanie Leroy erwachte vom Geräusch der Regentropfen, die gegen ihr Schlafzimmerfenster trommelten, und rieb sich verschlafen die Augen. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Es war kurz vor sieben. Sie schaltete ihn aus und gähnte.
Mélanie lebte in einer Altbauwohnung mit Stuckdecken, Stäbchenparkett und Zierbalkonen vor den bodentiefen Fenstern, im Stadtteil Saint-Genès im Südwesten von Bordeaux am linken Garonne-Ufer. Normalerweise hätte sie sich eine Wohnung in dieser Lage von ihrem Beamtengehalt niemals leisten können, aber ihre Vermieterin, eine verwitwete ältere Dame, hatte sie ihr zu einem günstigen Preis überlassen, weil sie, wie einst deren Ehemann, bei der Polizei war.
Neben Mélanie lag ihr Freund Claude, eingerollt in die Bettdecke und leise schnarchend. Sie richtete sich auf und betrachtete sein attraktives Gesicht mit den weichen Zügen und den Bartstoppeln. Liebevoll strich sie ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn und küsste ihn sanft auf die Wange. Gestern Abend waren sie am Port de la Lune in einem neu eröffneten, angesagten Restaurant gewesen, das direkt am Fluss lag. Der dîner schmeckte köstlich, und auch die Verabredung war harmonisch verlaufen, sie hatten sich gut unterhalten und viel gelacht. Sonst stritten sie sich hin und wieder, wenn er ihr vorwarf, durch ihren Ehrgeiz und ihre engagierte Ermittlungsarbeit zu wenig Zeit für ihr gemeinsames Privatleben zu haben. Claude selbst war ambitionierter Staatsanwalt am Geschworenengericht von Bordeaux und hatte ebenfalls wenig Freizeit. Deshalb verstand sie nicht, warum er ihr umgekehrt Vorwürfe machte.
Mélanie stieg leise aus dem Bett, schlüpfte in ein altes rot-weiß kariertes Flanellhemd von Claude und tapste barfuß in die Küche. Dort setzte sie Kaffee auf und trank ein Glas Orangensaft. Mit dem dampfenden bol in der Hand trat sie auf ihren kleinen Balkon, der auf den Innenhof hinausging, und atmete die frische kühle Luft ein. Vorsichtig trank sie den ersten Schluck und lächelte über den Anblick, der sie hier jeden Morgen erfreute. In bunt glasierten Tontöpfen wuchsen Kräuter: Basilikum, Petersilie, Koriander, Schnittlauch und Zitronenthymian. Auf dem von ihr froschgrün lackierten Bistrotisch stand eine Vase mit weißen und gelben Rosen. Ein Traumfänger drehte sich im Wind und hielt zuverlässig Alpträume von ihr fern. Die Dächer und Kirchtürme der Stadt lagen im Dunst, und der Himmel war wolkenverhangen. Auf einem Baum saß reglos eine Elster. Als die Kälte des Morgens ihr die Beine hochkroch, machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer. Im Spiegel über dem Waschbecken musterte sie kritisch ihr Gesicht. War da ein Fältchen unter dem rechten Auge, das es gestern noch nicht gegeben hatte? Begann die Haut, um die Kinnpartie schlaffer zu werden? Die ebenholzschwarzen Haare, die sie zu einem Pagenkopf geschnitten trug, standen in alle Richtungen vom Kopf ab, und ihre veilchenblauen Augen guckten noch etwas verschlafen. Energisch griff sie nach der Zahnbürste und putzte sich die Zähne, anschließend stieg sie unter die Dusche, drehte das Wasser auf und genoss den heißen Strahl, der über ihren müden Körper strömte. Plötzlich öffnete sich die Glastür. Claude stellte sich dicht neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, chérie.«
»Guten Morgen, mein Liebster.«
»Hast du gut geschlafen?«
»Ja, und du?«
»Sehr gut. Ich habe Lust, dich einzuseifen.«
Er griff nach der Lavendelseife, und gleich darauf erfüllte ein wunderbarer Duft die Kabine. Zärtlich streichelte er sie und drängte sie sanft gegen die Fliesen. Sie küsste ihn und erwiderte seine Liebkosungen, bis er leise aufstöhnte. Schließlich liebten sie sich voller Leidenschaft, während das Wasser auf sie niederprasselte.
Während Mélanie sich die Haare in Form föhnte, bereitete Claude das Frühstück vor. Am Küchentisch setzten sie sich einander gegenüber und aufmerksam, wie er war, goss er ihr Kaffee in den halb leeren bol.
»Es gibt frische Croissants?«, freute sie sich.
»Ja, ich war schnell unten beim Bäcker. Die Zeitung habe ich auch mitgebracht. Du liest die Sud Ouest doch so gerne beim Frühstück.«
Sie lächelte und warf ihm eine Kusshand zu. »Merci, du bist ein Schatz!«
Er grinste über das ganze Gesicht, seine blauen Augen leuchteten. »De rien. Hast du heute viel zu tun?«
»Es geht. Wir haben den Cold Case abgeschlossen und schreiben jetzt die Berichte.«
»War das der Fall mit der Comtesse, die durch einen Kopfschuss getötet wurde?«
»Ja, genau der.«
»Wer war es denn?«
»Ein eifersüchtiger Liebhaber.«
»Der Klassiker.«
»Genau.«
»Glückwunsch!«
»Merci.« Sie war stolz auf den Erfolg des Sonderermittlerteams. »Es war gar nicht so leicht, diese Nuss zu knacken. Mal sehen, was als Nächstes reinkommt. Hoffentlich was Spannendes. Wie sieht es bei dir aus?«
»Ich habe zwei Gerichtsverhandlungen, reine Routine. Unwahrscheinlich, dass dabei irgendetwas Überraschendes passiert.« Er griff nach einem zweiten Croissant und bestrich es mit Kräuterkäse.
»Méli?«
»Ja?«
»Du hast vorhin im Bad die Pille genommen.«
»Ja, wie jeden Morgen.«
Er zögerte kurz, dann brach es aus ihm heraus: »Lass sie weg, bitte. Ich wünsche mir so sehr ein Kind, und du dir doch auch, oder?« Begeistert strahlte er sie an. »Ich habe eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir über ein verlängertes Wochenende an einen bezaubernden Ort fahren, in das Burgund vielleicht, und dort das schönste Kind der Welt zeugen?«
Mélanie runzelte die Stirn. »Musst du ständig damit anfangen? Ich fühle mich davon furchtbar unter Druck gesetzt.«
»Du bist siebenunddreißig, so viel Zeit bleibt dir nicht.«
»Willst du mir den schönen Morgen verderben?«
Er seufzte. »Nein, natürlich nicht. Denk einfach mal darüber nach.«
Sie wollte keinen Streit. »Einverstanden.«
Claude wirkte erleichtert. »Super. Soll ich dich zum Kommissariat mitnehmen?«
»Gerne.«
*
Das Hauptquartier der Sonderermittlungsgruppe lag im Stadtteil Saint-Pierre in der Altstadt von Bordeaux. Hier hatte im 18. Jahrhundert die Einfahrt zum Innenhafen gelegen. In dieser Blütezeit florierte der atlantische Seehandel, und in der Hafengegend ließen sich zahlreiche Händler nieder, wodurch die Stadt an Reichtum gewann. Die Straßen in diesem Viertel waren noch heute nach Handwerkszünften benannt oder wiesen auf ehemalige Berufe hin. So gab es beispielsweise die Rue du Chai des Farines, die Getreidelagerstraße.
Die Wache befand sich in einem zweistöckigen, altrosafarbenen Gebäude zwischen einem Wohnhaus und einer Weinhandlung. Einen Steinwurf entfernt floss die moosgrüne Garonne gemächlich vorbei an den Quais mit ihren Restaurants und Cafés, durch die mittelalterlichen Bögen des Pont de Pierre, um sich nördlich der aufstrebenden Metropole mit der Dordogne zur Gironde zu vereinen, die wie ein Trichter geformt war und unaufhaltsam dem Atlantik zustrebte. Der Sog, den die Gezeiten verursachten, war gewaltig und riss alles mit sich, was ihm in die Quere kam. Dabei passierte die Gironde beschauliche Fischerdörfer, pittoreske Austernhäfen und die sternförmig angelegte, imposante Festung von Blaye, die seit Jahrhunderten wachsam und düster oberhalb des Flusses thronte.
Dort war vor einiger Zeit ein grausames Verbrechen geschehen, welches das Sonderermittlerteam Saint-Pierre unter Einsatz ihres ganzen Könnens aufgeklärt hatte. Während dieser nervenaufreibenden Zeit hatte der Cold Case der erschossenen Comtesse warten müssen.
Claude hielt in der zweiten Reihe, sie küssten sich und verabschiedeten sich voneinander. Mélanie stieg aus und ging zum Eingang der Wache. Bevor sie das Gebäude betrat, drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Fröhlich warf er ihr eine Kusshand zu, bevor er davonfuhr.
Im unteren Foyer begrüßte sie die junge Polizistin, die dort Wache hielt, und stieg die Treppe hoch in den zweiten Stock. Im Eingangsbereich saß Michelle Chollet, die Sekretärin der Kommissare, hinter ihrem Schreibtisch. Sie liebte es, sich auffällig zu schminken, mochte Tattoos und wechselte häufig Frisur und Haarfarbe. Dabei spielten die Vorlieben ihrer jeweiligen Freunde eine nicht unerhebliche Rolle. Diese auffällige Erscheinung mochte auf den ersten Blick nicht in ein Polizeisekretariat passen, doch Michelle war kompetent, effektiv, hatte ein großes Herz und für jeden ein freundliches Wort.
Als sie die Schritte hörte, sah sie von ihrem Computerbildschirm auf und lächelte. »Bonjour, Mélanie!«
»Bonjour, Michelle.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete die Sekretärin. Blau schimmernder Lidschatten, brombeerrote Lippen, die Haare raspelkurz geschnitten und weizenblond. Große silberne Kreolen zierten ihre Ohren. Die türkisfarbene Bluse samt Schleife harmonierte perfekt mit dem Augen-Make-up.
»Du hast eine neue Frisur!«
Michelle strahlte. »Schön, dass du es gleich bemerkst, im Gegensatz zu Louis und Frédéric. Männer! Mein neuer Freund Yves, du weißt schon, das ist der attraktive Kerl mit dem Dreitagebart, den ich auf dem Antiquitätenmarkt am Place du Parlement kennengelernt habe, steht total auf den klassischen, kühlen, nordischen Typ à la Greta Garbo.«
Die Kommissarin nickte ernst. »Ich verstehe, das sieht toll aus.«
Die Sekretärin strahlte. »Danke, ich habe mir auch ein neues Tattoo machen lassen«, erzählte sie voller Begeisterung. »Sieh mal.« Sie drehte den linken Fuß. Oberhalb des Fußgelenks prangte ein kleines rotes Herz, das den Namen Yves umrahmte. »Mega, oder?«
Mélanie musste ein Grinsen unterdrücken. »Sehr süß. Aber was machst du, wenn du einen neuen Freund hast, der nicht so heißt?«
»So weit wird es nicht kommen. Yves ist meine große Liebe. Aber das Herz verblasst so oder so nach einigen Wochen.«
»Na, ein Glück! Sind die Kollegen schon da?«
»Ja, sie haben sich im Besprechungszimmer versammelt. Ich muss nur noch ein wichtiges Telefonat für Pauline führen, danach versorge ich euch mit Kaffee und Rosinenschnecken von eurem Lieblingsbäcker.«
»Merci, du bist ein Schatz.«
Sie betrat das Zimmer, das weiß gestrichen war und über große Fenster verfügte, die den Blick auf die Krone einer mächtigen Kastanie freigaben. An der linken Wand war ein Whiteboard befestigt, daneben hing ein farbenfrohes Plakat, das für ein Musikfestival warb, welches in Kürze in der Altstadt stattfinden sollte. An der Stirnseite des Raumes saß Hauptkommissarin und Polizeipsychologin Pauline Castelot, die Chefin des Sonderermittlerteams. Die Spezialgebiete der schlanken blonden Frau waren Profiling, Strategie und Netzwerkarbeit. Sie war vierunddreißig Jahre alt und trug einen schicken Hosenanzug. Gerade war sie dabei, ihr Smartphone zu checken, um zu sehen, ob sich ihre Tochter Sarah gemeldet hatte. Neben ihr saß ein Mann mit dunklen, grau melierten Haaren und melancholischen braunen Augen. Das war Frédéric Rocard, zweiundfünfzig, Hauptkommissar und Verhörspezialist, der gerade gedankenverloren mit einem Bleistift spielte. Ihnen gegenüber saß Louis Pierrot, mit seinen zweiunddreißig Jahren der Jüngste im Team, und blätterte in seinem Notizbuch. Er sah dem leider so früh verstorbenen Schauspieler Steve McQueen verblüffend ähnlich und war IT-Experte. Mélanie indes hatte eine Nahkampfausbildung absolviert und trug damit zum Talentpool des Teams bei. Sie begrüßte ihre Kollegen und setzte sich dazu.
Pauline ergriff das Wort. »Ich möchte euch allen noch mal großes Lob aussprechen dafür, dass wir den Mörder der Comtesse erfolgreich überführt haben. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft und wartet auf seine Gerichtsverhandlung.«
Es klopfte an der Tür, und Michelle kam mit einem Tablett herein. Der Duft von frischem Kaffee und Gebäck zog durch den Raum. Hinter ihr erschien Marcel Castelot, der Polizeipräfekt des Départements Gironde. Er trug eine schwarze Uniform mit goldener Bandschnalle, eine goldverzierte Mütze und weiße Handschuhe. Der dunkle Krawattenknoten saß perfekt auf dem gestärkten Hemd, Castelot war sorgfältig rasiert und roch nach einem herben Aftershave.
»Bonjour, liebe Kolleginnen und Kollegen. Entschuldigt, dass ich unangemeldet hier auftauche, ich muss eine wichtige Angelegenheit mit euch besprechen.«
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Michelle bot ihm einen Kaffee an, den er dankend annahm. Pauline schüttelte unmerklich den Kopf. Der Präfekt war ihr geschiedener Mann, die neunjährige Sarah ihr gemeinsames Kind. Er hatte ein Umgangsrecht, das er, so oft es seine Zeit zuließ, in Anspruch nahm, um etwas mit seiner Tochter zu unternehmen. Es war typisch für ihn, in ihre Runde zu platzen und die ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen. An mangelndem Selbstbewusstsein hatte er noch nie gelitten. Pauline und er waren sehr verliebt gewesen und hatten schnell geheiratet. Doch für Marcel waren sein Beruf, die offiziellen Verpflichtungen und Auftritte und das Ansehen, das er genoss, immer wichtiger gewesen als seine Familie. Irgendwann war der Zauber vorbei, und sie hatte die Scheidung eingereicht. Inzwischen war Pauline mit einem Weinbauer namens Dominic de Montfort zusammen.
Castelot sah mit ernstem Gesichtsausdruck in die Runde und kam gleich zur Sache. »Ich habe einen Auftrag für euch. Der vierundfünfzigjährige Tierarzt Raymond Aubrac wollte eine Pilgerreise auf der Via Podiensis unternehmen und ist am fünfundzwanzigsten März in Le Puy-en-Velay im Zentralmassiv gestartet. Vom ersten auf den zweiten April hat er in der Pilgerherberge Saint-Jacques in Sousceyrac übernachtet. Am zweiten April wollte er weiter nach Alvignac, das sind etwa zwanzig Kilometer. Dort ist er jedoch nie angekommen.«
»War er allein unterwegs?«, hakte Louis nach und griff nach einer Rosinenschnecke.
»Ja, in der Tat. Wandern war für ihn wohl eine Art geistige Inspiration und Meditation, ein Weg der Selbstfindung. Es war bereits seine zweite Pilgerwanderung. Er verfügte also durchaus über Erfahrung.«
Der Präfekt trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort. »Als er nicht mehr an sein Handy ging, hat seine Frau Bernadette die Polizei informiert. Zunächst war die Gendarmerie von Sousceyrac für den Fall zuständig. Die dortige Chefin forderte jedoch zeitnah Unterstützung an, als ihr das Ausmaß des Vermisstenfalles bewusst wurde. In den darauffolgenden Tagen wurde das gesamte Gebiet von Hubschraubern mit Wärmebildkameras überflogen. Bedauerlicherweise ohne Erfolg.«
»Was ist mit Spürhunden?«, wollte Frédéric wissen. »Sind Suchteams eingesetzt worden?«
»Das hat eigentlich keinen Zweck. Das zerklüftete, schwer zugängliche Waldgebiet dort ist riesig. Es gibt nicht nur einen Pilgerweg, an dem man sich hätte orientieren können, sondern unzählige weitere Pfade, Abzweigungen zu Sehenswürdigkeiten, schwierige Pisten, die nur geübte Wanderer bewältigen können, und so weiter. Grob geschätzt beträgt das zu durchsuchende Terrain zweihundert Quadratkilometer. Außerdem könnte der Mann ganz woanders gelandet sein. Vielleicht hat er seine Pläne geändert und ein neues Pilgerziel gewählt. Oder er hat sich für eine andere Via entschieden.«
Er wandte sich an Frédéric. »In vielen Dörfern auf der Strecke wurden dennoch Suchtrupps mit Hunden zusammengestellt. Die Feuerwehr, ehrenamtliche Helfer, erfahrene Bergwanderer, viele hilfsbereite Menschen waren bei jedem Wetter unterwegs, auch in der Nacht, ausgestattet mit Nachtsichtgeräten, Taschenlampen und Fackeln. Sie haben ihn nicht gefunden.«
»Vielleicht will er gar nicht gefunden werden?«, mutmaßte Pauline. »Er hat sich abgesetzt, um ein neues Leben zu beginnen.«
Der Präfekt sah sie an. »Das ist durchaus möglich.«
»Hatte er ein Smartphone dabei?«, fragte Mélanie.
»Ja.«
»Hat man versucht, es zu orten?«
»Selbstverständlich. Eine Ortung war jedoch nicht möglich.«
»Dann war der Akku leer, oder er hat es verloren, und es ist kaputtgegangen oder ins Wasser gefallen.«
»So stellt es sich dar.«
»Wenn der Mann zum Zeitpunkt seines Verschwindens durch einen Sturz oder dergleichen schwer verletzt war, sieht es nach drei Wochen schlecht für ihn aus«, meinte Louis. »Er wäre höchstwahrscheinlich tot.«
Castelot nickte. »Auch das ist eine Möglichkeit. Oder er ist nicht so schwer angeschlagen und hat sich einen Unterschlupf gesucht, womöglich in der Nähe eines Baches, so dass er nicht verdurstet. Allerdings habe ich keine Idee, welche Nahrungsmittel man im April im Wald finden könnte. Ihr müsst ihn so schnell wie möglich finden.«
»Könnte der Vermisste einen Suizid begangen haben?«, überlegte Pauline.
»Findet es heraus.«
»Kommt ein Verbrechen infrage?«, wollte Mélanie wissen und schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein.
»Das ist auch eine Option, die gar nicht so weit hergeholt ist. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Verbrechen auf dem Jakobsweg eklatant angestiegen. Das liegt einerseits daran, dass immer mehr Menschen pilgern wollen.« Er sah kurz auf seine Notizen. »1984 wurden nur 423 Pilgerurkunden ausgestellt, 2014 waren es 237 810. Außerdem sind die Wanderer im Urlaub, sie sind entspannt, vertrauensselig und weniger wachsam. Vor allem sind sie häufig allein in einsamen, abgelegenen Regionen unterwegs. Pilgern ist ein Trendsport, der immer mehr Menschen begeistert, besonders, seit einige erfolgreiche Kinofilme dieses Thema behandelt haben. Da geht es um Menschen, die sich eine Auszeit nehmen, um sich mit einem Schicksalsschlag auseinanderzusetzen, oder um solche, die eine Herausforderung suchen.«
»Stimmt, wie in Picknick mit Bären mit Robert Redford und Nick Nolte«, ergänzte Frédéric.
»Ja, genau.«
»Gab es einen Presseaufruf?«
»Ja, aber bis auf die üblichen Anrufe von Spinnern ist nichts dabei herausgekommen.«
Der Hauptkommissar rieb sich das Kinn. »Das ist leider häufig der Fall.«
»Wann fangen wir an?«, erkundigte sich Pauline.
»Sofort. Es gibt keine Zeit zu verlieren. Alle Medien haben sich auf die Story von dem verschwundenen Tierarzt gestürzt und kritisieren die Polizeiarbeit inzwischen heftig. Journalisten graben immer mehr Geschichten über bedrohliche Vorfälle auf dem Jakobsweg aus und haben damit die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzt. Der Tourismusverband fürchtet um die Einnahmen der kleinen Pilgergaststätten und Herbergen und verlangt nach einem besseren Schutz für die Pilger.«
Pauline nickte ernst.
Castelot legte eine dünne Mappe auf den Tisch. »Darin sind die wichtigsten Informationen enthalten. Viel ist es nicht. Ihr bekommt von mir jegliche Unterstützung. Meldet euch einfach. Viel Erfolg!«
Er erhob sich, grüßte militärisch mit der Handkante an der Mütze und verließ den Raum. Pauline begleitete ihn zum Ausgang.
»Wie geht es Sarah?«, wollte er wissen.
»Es geht ihr blendend, Marcel.«
»Das freut mich zu hören. Sie hat mich gestern angerufen und gefragt, ob ich am Samstag mit ihr shoppen gehe. Ist das in Ordnung?«
»Aber ja. Sie freut sich immer, wenn sie Zeit mit dir verbringen kann.«
Castelot strahlte. »Dann hole ich sie um neun ab. Wir frühstücken zusammen in meinem Lieblingscafé, und dann machen wir die Läden unsicher.«
»Wollt ihr was Bestimmtes kaufen?«
»Ach, mal sehen.«
Sie sah ihn fragend an.
»Sarah braucht ein neues Skateboard.«
»Du verwöhnst sie zu sehr. Ihr altes Board ist erst ein Jahr alt.«
»Aber wenn sie doch ein anderes braucht, ein besseres.«
»Macht doch, was ihr wollt.«
Er grinste. »Das machen wir sowieso.« Liebevoll sah er sie an. »Du wirst immer schöner. Wenn du von diesem Winzer genug hast, komm zu mir zurück. Dann verwirklichen wir unseren alten Traum.«
»Wir hatten viele Träume.«
»Eine Woche in einem Leuchtturm wohnen, an der rauen See vor der westlichen Bretagne. Am besten während der Herbststürme. Wir beide, völlig abgeschnitten von der Welt. Uns lieben, Vögel beobachten, reden, essen, schlafen.«
Pauline war sprachlos. Sie tauschten Wangenküsschen, und er verschwand die Treppe hinunter. Irritiert sah sie ihm nach.
*
Zurück im Besprechungsraum setzte sie sich wieder zu ihren Kollegen und lächelte. »Also gut. Marcel will, dass wir sofort loslegen. Ich schlage vor, dass wir zunächst mit der Ehefrau des verschwundenen Mannes sprechen. Vielleicht ergibt sich ein Ansatzpunkt.«
Die Kommissare nickten. Das klang vernünftig.
»Wir suchen die Nadel im Heuhaufen, es wäre hilfreich, wenn wir etwas in Erfahrung bringen würden, wo wir einhaken können«, meinte Frédéric zustimmend.
Mélanie nickte. »Wenn die Hypothese zutrifft, dass sich Raymond Aubrac eine Verletzung zugezogen hat und nicht weiterlaufen kann, ist das ein Wettlauf gegen die Zeit.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist«, unkte Louis.
Pauline blätterte in der Mappe, die Marcel auf dem Tisch liegen gelassen hatte. »Die Frau des Tierarztes heißt Bernadette Aubrac. Das Ehepaar wohnt in Pyla-sur-Mer, 9 Boulevard de l’Océan.«
Sie sah in die Runde. »Frédéric und ich fahren da hin und reden mit ihr. Mélanie und Louis, ihr bleibt bitte hier auf der Wache und schreibt die Berichte über den Cold Case zu Ende, damit Michelle sie abtippen kann.«
Die Kommissarin wollte protestieren, doch ihre Chefin ließ keine Einwände zu. »Mélanie, wir können dort nicht zu viert aufkreuzen. Nach der Befragung treffen wir uns hier und legen eine Strategie fest. Wie du schon angemerkt hast, läuft uns die Zeit davon.«
Sie verstaute die schmale Akte in ihrer Tasche, erhob sich und sah Frédéric auffordernd an. »Gehen wir.«
Mit dem Dienstwagen verließen sie Bordeaux über die Stadtautobahn Rocade und fuhren auf der Bundesstraße nach Arcachon. Pauline saß am Steuer, während Frédéric, den Blick auf den Inhalt der Mappe gerichtet, seine Chefin über die wichtigsten Details informierte. Marcel hatte recht gehabt, viel war es wirklich nicht.
»Wir müssen praktisch von vorne anfangen«, fasste Frédéric die Sachlage zusammen.
Bei Le Teich gab der Tamariskenwald zum ersten Mal den Blick auf das Bassin von Arcachon frei, das sich über beinahe zwanzig Kilometer ausdehnte und an der Silberküste über einen Zugang zum Meer verfügte. Über dem unruhigen Wasser trieb der Wind Regenwolken und Nebelschleier vor sich her. Die sogenannte Vogelinsel war nur schemenhaft zu erkennen.
Pauline lenkte den Wagen durch den pittoresken Badeort Arcachon, vorbei am Hafen, den sich Fischerboote und Freizeityachten teilten. Auf der Promenade, an der sich Brasserien und schicke Seafood-Bistros aneinanderreihten, drehte sich ein Karussell.
Nicht weit davon entfernt erhob sich die Markthalle, eine elegante himmelblaue Stahlkonstruktion, die gläserne Flächen umfasste. Sie wurde sowohl von Einheimischen als auch von Touristen gerne aufgesucht, um regionale Köstlichkeiten zu kaufen und sich dabei von den Verkäufern beraten zu lassen. Ohne lautstarken Austausch und lebhafte Diskussionen ging gar nichts. Anschließend genoss man frische Meeresfrüchte oder Austern, die auf mehrstöckigen Platten angerichtet wurden. Dazu trank man ein Glas Muscadet.
Die bunten Häuser des Badeortes Pyla-sur-Mer zogen sich am Boulevard de l’Océan entlang, von wo aus man immer wieder einen schönen Blick auf die Düne von Pilat hatte. Die größte Düne Europas war drei Kilometer lang und etwa hundertvierzehn Meter hoch und wanderte jedes Jahr unaufhaltsam einige Zentimeter landeinwärts. Wenn man den schweißtreibenden Anstieg zum Dünenkamm über die Holztreppen geschafft hatte, war der Ausblick auf das blaue Meer, die gelben Sandmassen und den grünen Kiefernwald überwältigend. Paraglider erschienen als bunte Punkte im Himmel. Louis nutzte den Dünenkamm hin und wieder als Startrampe für seine Drachenfliegertouren.
Das Haus mit der Nummer 9 lag in einem gepflegten Garten. Es war weiß verputzt und hatte flaschengrüne Fensterläden. Daneben erstreckte sich ein mit Efeu überwachsener Anbau, den ein Messingschild als »Tierarztpraxis Dr. Aubrac« auswies. Vor dem Eingang wachte ein mächtiger Husky aus Holz über das Anwesen.
Sie stiegen aus dem Auto und gingen über einen gepflasterten Weg zum Hauseingang. Auf ihr Klingeln öffnete eine Frau um die fünfzig, die sich ihre Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete, die Tür. Die dunklen Augen, die das schmale blasse Gesicht dominierten, musterten die Kommissare ernst. Um das olivfarbene Wollkleid hatte sie eine Schürze gebunden, die hellen Haare fielen lockig auf ihre Schultern.
»Bonjour, Madame et Monsieur.« Fragend sah sie die Besucher an.
Pauline zeigte ihren Dienstausweis. »Wir sind von der police judiciaire und möchten gerne Madame Bernadette Aubrac sprechen. Sind Sie das?«
Das Gesicht der Frau wurde kalkweiß, ihre Augenlider flatterten nervös. »Ja, das bin ich. Sie sind wegen Raymond hier, nicht wahr? Haben Sie ihn gefunden? Ist er tot?« Ihr versagte die Stimme.
»Nein, wir haben ihn noch nicht gefunden. Deshalb sind wir vorbeigekommen. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Jeder noch so kleine Anhaltspunkt ist wichtig für uns. Dürfen wir reinkommen?«
»Selbstverständlich.« Sie machte eine einladende Geste. »Gehen wir in die Küche.«
Sie folgten ihr durch den Flur in einen kleinen hellen Raum mit einer blauen Küchenzeile, in dem es angenehm warm war. Auf der mit Mehl bestäubten Arbeitsfläche lag eine Teigkugel.
»Ich backe gerade Osterbrot«, erklärte Madame Aubrac. »Meine Enkel lieben es.« Dann wies sie auf eine gemütliche Sitzecke, wo eine schwarze Katze zusammengerollt auf einem Kissen lag, kurz die grün funkelnden Augen öffnete, schnurrte und weiterschlief.
»Nehmen Sie bitte Platz.«
Die Kommissare kamen der Aufforderung nach und setzten sich auf die Eckbank. Die Frau sank auf einen Stuhl und rieb sich unruhig die Hände. »Sie haben Raymond also nicht gefunden?«
»Nein, bisher noch nicht. Das Gebiet, in dem Ihr Mann verschwand, ist riesig und teilweise nicht einsehbar«, erläuterte die Hauptkommissarin. »Wir haben heute den Auftrag erhalten, ihn zu finden und die Hintergründe seines Verschwindens aufzuklären.«
Eine Sorgenfalte erschien zwischen Bernadette Aubracs Augenbrauen. »Meinen Sie, er lebt noch?«
Pauline überlegte, was sie ihr antworten sollte. Sie wollte keine falschen Hoffnungen in ihr wecken. »Ich weiß es nicht, Madame Aubrac. Aber wir werden alles tun, um diese Frage zu beantworten.«
»Danke.« Sie besann sich auf ihre Gastgeberrolle. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder einen Tee?«
Die Kommissare lehnten dankend ab. Frédéric ergriff das Wort. »Erzählen Sie uns doch bitte die Geschichte von Anfang an. Wie kam Ihr Mann auf die Idee, eine Pilgerreise zu unternehmen?«
Ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, doch es erreichte ihre Augen nicht. »Mein Mann hat vor zwei Monaten seinen vierundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Ich habe ihm diese Reise geschenkt. Er ist vor zwei Jahren schon einmal gepilgert und war begeistert.«
»Wo war er damals unterwegs?«