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Zur Feier der Neuveröffentlichung seiner SCHATTENHERREN rief der Fantasy-Autor Robert Corvus zu einer Teilnahme an einem Kurzgeschichtenwettbewerb auf. Auf den Pfaden der Finsternis wandelnd begab ich mich in das Genre der Dark Fantasy.
Es entstand eine Kurzgeschichte, die mir nunmehr sehr am Herzen liegt und die ich gerne mit interessierten Lesern teilen möchte. Dass SCHATTENHERZ auch Robert Corvus überzeugen konnte, freut mich daher umso mehr. SCHATTENHERZ wurde zum Gewinner des Wettbewerbs ernannt.
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Das war der größte Schlamassel, in den er im Laufe seiner achtundzwanzig Lebensjahre jemals getaumelt war. Nein, nicht getaumelt. Gerannt, gestolpert und mit der Wucht eines galoppierenden Ochsen auf die Schnauze gefallen.
Der Mann neben ihm hatte sich beschmutzt. Der Gestank vermischte sich mit dem von Blut und Schweiß und beherrschte den düsteren Raum. Der Junge an seiner anderen Seite wimmerte vor sich hin.
Zu zehnt knieten sie auf dem steinernen Boden. Eine Reihe der Verlorenen und ein Zehntel von allen, die vor fünf Tagen in diesen Tempel verschleppt worden waren. Jemand am Ende der Reihe betete flüsternd, die Hände verzweifelt ineinander verkrampft. Mittlerweile sollte die Kreatur wissen, dass niemand sie erhören würde.
Leeandor hatte niemals gebetet. Die Götter hatten ihn verlassen in jenem Moment, als seine Mutter ihn als Säugling zum Sterben am Waldrand ausgesetzt hatte.
Schritte näherten sich und ließen weitere Opfer aufschluchzen.
Die Schlampe der Osadroi betrat in Begleitung eines Ghouls den Raum. Lee hatte keinen besonderen Sinn für Ehre oder Moral, doch jene Menschen, die sich freiwillig in den Dienst der Schattenbastarde stellten, verachtete er zutiefst. Sie waren Speichellecker, erpicht auf das, was die Dunkelheit ihnen bot. Dahingegen konnte man dem seelenlosen Monster an ihrer Seite keinen Vorwurf machen, dessen scharfe Zähne, bläulich grüne Haut und buckelige Gestalt kaum glauben ließen, dass es einst menschlich gewesen war.
Seit jeher hatte Lee einen Bogen um das Reich der Schatten gemacht. Denn für jemanden, der mit den Osadroi in Berührung kam, gab es nur zwei Möglichkeiten, und beide waren ihm zuwider: bedingungslose Unterwerfung oder todbringende Gegenwehr. Ihm lag viel an seinem Leben. Es war alles, was er je besessen hatte. Dies und der Anhänger, den er um den Hals trug.
Das Weib, das man hierzulande Dunkelruferin nannte, schritt erhobenen Hauptes an ihnen vorüber. Schon allein ihre Anwesenheit genügte, um weiteres Jammern unter seinen Leidensgenossen hervorzulocken und mit diesem das Glitzern der Essenz.
In den vergangenen Nächten hatten sie mitangesehen, wie anderen die Lebenskraft gestohlen wurde. Heute waren sie selbst an der Reihe. Lee sah hinüber zu den Kristallen, die in den Wandnischen bereitstanden. Zu eben jenen floss ein erster Hauch der Essenz, hervorgerufen allein durch die Angst, welche die Anwesenheit der Dunkelruferin verursachte. Die Kristalle füllten sich mit schillernder Materie, die so viel wertvoller war als jeder Diamant.
Die Hexe schritt weiter die Reihe entlang und Lee senkte rasch den Blick. Sie verharrte vor ihm, packte mit kalter Hand sein Kinn und zwang ihn, aufzusehen. Ihr Gesicht hätte man durchaus als hübsch bezeichnen können, mit den feinen Linien und der zarten Haut, umrahmt von Kaskaden dunkelbraunen Haares. Die Härte und die Abscheu in ihren dunklen Augen zerstörten jedoch alle Schönheit.
»Du hast keine Angst«, stellte sie fest.
Wenn er eines in den letzten Tagen und Nächten gelernt hatte, dann, dass man die Hexe nicht provozierte. Wer Stolz oder Mut zeigte, endete oft als Opfer ihres Haustieres. Ausgerissene Glieder und spritzendes Blut eigneten sich besonders gut dazu, Furcht zu verbreiten.
»Doch, habe ich.« Lees Stimme war rau, weil er so lange nicht gesprochen hatte.