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Welche Möglichkeit bleibt dir, wenn eine Prophezeiung dein ganzes Leben überschattet? Du suchst einen Weg, Licht zu finden. Elayne von Corbenic führt dieser Weg nach Camelot, zur legendären Festung von König Artus. Hier muss sie erkennen, dass ihr Herz noch immer an jenen Mann gebunden ist, der es einst zerbrach. Und dass nicht nur ihr eigenes Leben im Schatten einer finsteren Weissagung steht …
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Seitenzahl: 549
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Landkarte
Stammbäume und Verwandtschaften
1 - DISCESSUS - Abschied
2 - CAER LUEL - Rhegeds Festung
3 - LILY GWYNION - Die weiße Lilie
4 - MAB RHEGED - Rhegeds Sohn
5 - BRENIN RHEGED - Der König von Rheged
6 - SUPREMA VOLUNTAS - Letzter Wunsch
7 - I’R DE - Nach Süden
8 - IN LITORE - Am Ufer
9 - SIGNUM DRACO - Drachenbanner
10 - CLAMOR CORVI - Des Raben Schrei
11 - GWALCHMAI - Lichtfalke
12 - COEDEN AFALAU - Der Apfelbaum
13 - CAPUT APRO - Der Kopf des Ebers
14 - Y CROGADDURN - Der Anhänger
15 - PATRIA POTESTAS - Väterliches Recht
16 - ANAM CARA - Vertraute Seele
17 - CANEUON NEWYDD - Neue Lieder
18 - INSOMNIS - Schlaflos
19 - POLÝTROPON - Der Vielgewanderte
20 - AETERNUM - Auf ewig
21 - Y SALWCH - Die Krankheit
22 - Y GELYN ANWELEDIG - Der unsichtbare Feind
23 - Y TANAU CAMELOT - Die Feuer von Camelot
24 - LUDI INCIPIANT - Die Spiele mögen beginnen
25 - CONSILIUM - DE DUODECIM Rat der Zwölf
26 - AB IMO PECTORE - Von ganzem Herzen
27 - PROFFWYDOLIAETHAU - Prophezeiungen
DANK
Jessica Bernett
Elayne
Band 2: Rabenherz
Historische Fantasy
Elayne (Band 2): Rabenherz
Welche Möglichkeit bleibt dir, wenn eine Prophezeiung dein ganzes Leben überschattet?
Du suchst einen Weg, Licht zu finden.
Elayne von Corbenic führt dieser Weg nach Camelot, zur legendären Festung von König Artus. Hier muss sie erkennen, dass ihr Herz noch immer an jenen Mann gebunden ist, der es einst zerbrach. Und dass nicht nur ihr eigenes Leben im Schatten einer finsteren Weissagung steht …
Die Autorin
Jessica Bernett wurde an einem sonnigen Herbsttag im Jahr 1978 als Enkelin eines Buchdruckers in Wiesbaden geboren. Am liebsten würde sie die ganze Welt bereisen und an jedem Ort einige Monate verbringen. Aktuell lebt sie mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und zwei Katzen in Mainz.
Sie liebt starke Frauenfiguren, die sie in spannende Geschichten verwickelt, und tobt sich in allen Bereichen der Fantasy aus, von historischer Fantasy über Urban Fantasy bis hin zur Science Fantasy.
Wenn sie nicht gerade mit ihren Kindern in Abenteuern versinkt, schreibt oder von neuen Geschichten träumt, tummelt sie sich mit Vorliebe auf Conventions, um sich mit Gleichgesinnten über Lieblingsserien, Filme und Bücher auszutauschen.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, März 2019
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2019
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss | julianeschneeweiss.de
Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-031-7
ISBN (epub): 978-3-03896-032-4
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Herz eines Raben
bindet sich sein ganzes Leben.
Für meinen Helden, immerdar.
Der Saum ihrer Röcke war schwer, getränkt von der Feuchtigkeit des Grases. Ihren Sohn trug sie seitwärts auf der Hüfte, während der Westwind ihnen salzige Luft in die Gesichter blies. Sie zog Galahad seine kleine Kapuze tiefer ins Gesicht und er schmiegte sich fest an sie. Sie selbst störte es nicht, dass ihr Haar bereits in nassen Strähnen an ihrem Kopf klebte und einzelne Tropfen ihre Schläfen hinabliefen.
Mit kräftigen Schritten erklomm sie den nächsten Hügel. Warmer Schweiß vermischte sich mit kalten Regentropfen. Ihr Hemd klebte an ihr, als wäre sie damit in eine warme Quelle gesprungen.
Endlich hatte sie den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht. Vor ihr breitete sich das graue Meer gen Westen aus. Am Horizont konnte sie bei gutem Wetter die Küste Monapias ausmachen. Heute war sie von grauem Dunst verdeckt. Die Wolken, die von dort heranzogen, waren finsterer als das Meer selbst.
Unter dem Hügel erstreckte sich die Bucht mit den Hütten der Fischer, die seit Jahrhunderten den Anstürmen des Meeres und der skotischen Piraten standhielten.
In den vergangenen Monaten war Elayne oft hier hochgestiegen. Hier fühlte sie sich frei. Hier konnte sie atmen und wurde nicht von ihren Erinnerungen erstickt.
Sie hatte sich vorgestellt, eines der kleinen Fischerboote zu nehmen und mit Galahad gen Westen zu fahren. Hätte sie auf Monapia ein neues Leben anfangen können, oder gar noch weiter westlich in Hibernia? Sie hätte ein einfaches Leben führen müssen. Ein beschwerliches. Womöglich nicht frei, sondern als Sklavin eines skotischen Herrn.
Was wäre dann aus ihrem kleinen Sohn geworden? War das Leben eines Sklaven dem vorzuziehen, was Corbenic ihm bot? Ein Königreich. Ein Volk. Beide klein, nicht besonders reich, doch immerhin sein und ihm treu ergeben.
Immer wieder hatte sie sich diese Fragen gestellt. Wo sollte sie hingehen? Wo konnte sie ihrem Sohn das Leben geben, das sie sich für ihn wünschte? Ein freies Leben, es so zu gestalten, wie er es sich selbst wünschte. Ihm alle Möglichkeiten mit auf den Weg zu geben. Die Schriften der Römer und Griechen, die Lieder der Stämme, der Umgang mit Waffen, damit er sich und seine Liebsten verteidigen konnte. Die Liebe zu den Geschöpfen, die sie umgaben, zu ihren Wäldern und Hainen, zu Quellen und dem tosenden Meer.
Corbenic bot all das. Und doch konnte sie nicht hierbleiben. Denn hier schweiften Elaynes Gedanken immer wieder in die Vergangenheit ab. Hier wurde sie immer wieder gepackt von dem Zorn auf Pelles und von den Erinnerungen an Galahads Vater. Sein Schatten verbarg sich hinter jedem Baumstamm, seine Stimme in jeder Melodie, seine Berührung in jeder Nacht.
Wie konnte sie ihrem Sohn eine gute Mutter sein, ihn in die Zukunft führen, wenn sie stets in die Vergangenheit abschweifte? Es war Zeit, Abschied zu nehmen von den Erinnerungen, von der Wildheit des Meeres, der Lichtung des Einhorns, der Quelle im Wald und den Schriften ihres Großvaters.
Die Fischerboote kehrten zurück, denn der Sturm nahm zu. Elayne schob ihren Sohn auf die andere Hüfte und betrachtete sein rundes Gesichtchen. Wie groß er schon geworden war. Die Zeit verging viel zu schnell. Er sah sie mit seinen großen hellblauen Augen an und lächelte. Sie drückte ihm einen festen Kuss auf die Wange und atmete tief seinen Duft ein.
»Zeit, zu gehen, mein kleiner Schatz.«
Er gluckste zur Antwort.
Elayne raffte ihre Röcke und eilte den Hügel hinunter. Das gefiel ihm. Er lachte und blubberte, bis sie unten angekommen waren. Sie konnte kaum noch atmen, doch sie lachte ebenfalls.
»Eines Tages wirst du auf einem Pferd über diese Hügel reiten. Das verspreche ich dir. Aber bis dahin müssen wir einen Ort finden, an dem du zu dem Mann werden kannst, der du sein willst.«
Ein Abschied fehlte noch. Ein Stich traf ihr Herz.
Nicht ganz so eilig ging sie den schmalen Pfad entlang, der zum Fluss führte.
Großvater saß unter der Trauerweide im Trockenen. »Welch herrliches Wetter für einen Spaziergang«, bemerkte er, als er sie erblickte, und zwinkerte in Anbetracht ihrer durchnässten Erscheinung.
»Ja, die Tage werden wärmer«, bestätigte Elayne. »Bald können die Bauern mit der Aussaat beginnen.«
»Komm, setz dich zu mir«, forderte Großvater sie auf und klopfte neben sich aufs Gras. »Wie geht es dem kleinen Galahad? Ich sehe ihn viel zu selten. Ist es dir nicht einsam in der kleinen Hütte? Mir jedenfalls kommt die Festung ohne euch beide sehr einsam vor.«
Der Schmerz in ihrer Brust wurde größer. »Großvater, ich … ich möchte mich verabschieden.«
Sein Gesicht war von tiefen Sorgenfalten gezeichnet. Er wirkte viel älter als noch vor ein paar Wochen. Die kalten Monate hatten ihm nicht gutgetan. »Ich wusste, dass du uns verlassen wirst. Die Zeit ist gekommen, nicht wahr?«
Sie nickte traurig. »Wenn ich jetzt nicht gehe, bleibe ich doch für immer.«
»Ich hätte nichts dagegen. Ich würde dich jeden Tag in deinem kleinen bescheidenen Haus besuchen kommen.«
Sie hatte sich neben ihn auf den Umhang gesetzt und nun schob sie Galahad auf Großvaters Schoß. »Du wirst immer in meinen Gedanken bleiben, Großvater. Ich werde deine Geschichten vermissen, dein Lachen und deine Großherzigkeit.«
»Mir geht es genauso.«
Ihr Herz zog sich zusammen. »Ohne dich wären wir nicht mehr am Leben, der kleine Galahad und ich.«
»Nein, das war Gottes Wille«, winkte er ab. »Oh, sieh doch, ein Lachs. Sie beginnen mit dem Aufstieg. Das wäre ein leckerer Happen für das Abendessen.«
Seine Aufmerksamkeit schien ganz dem Fluss zu gelten. Diesmal würde sie jedoch nicht von dem Thema ablassen. Sie hatte immer wieder versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Stets hatte er abgelenkt und ihr zu verstehen gegeben, dass er nicht darüber reden wollte.
»Großvater, es ist die letzte Möglichkeit für mich, die Wahrheit zu erfahren. Bitte sag es mir.« Sie legte sanft eine Hand auf die seine. »Was war das für ein Ritual, das du durchgeführt hast, als Galahad und ich im Sterben lagen? Welche Sprache hast du gesprochen?«
»Das war kein Ritual, mein Kind.« Sein Blick war auf das unruhige graue Wasser des Flusses gerichtet. »Es war nur ein Gebet, um Gottes Aufmerksamkeit zur rechten Zeit an den rechten Ort zu lenken.«
»Du hast ein ähnliches Gebet am Sterbebett meiner Mutter gesprochen. Und doch ist sie von uns gegangen.«
Er schüttelte den Kopf und sah sie an. »Ich sagte doch: Es ist allein Gottes Wille, wer lebt und wer stirbt.«
Sie drückte seine Hand fester. »War die Flüssigkeit in dem Becher … war das Blut?«
Etwas blitzte in seinen braunen Augen auf. »Ist es das, was du geschmeckt hast? Blut?«
»Bitte, Großvater.« Flehentlich sah sie ihn an, sie musste es wissen.
Gutmütig lächelte er. »Für dich mag es Blut gewesen sein. Für mich schmeckt es eher nach … Saft. Saft des Granatapfels.«
»Was ist das für eine Frucht? Habe ich schon einmal von ihr gekostet?«
Großvater seufzte tief. »Sie wächst weit im Süden, meine liebe Elayne. Dort, wo die langen Tage sehr heiß sind und der Boden eher sandig. Ich erinnere mich nicht daran, sie jemals hier in Corbenic gesehen zu haben.«
»Und doch erinnerst du dich an den Geschmack ihres Saftes?« Elayne beugte sich in seine Richtung, um ihn besser verstehen zu können.
Er zögerte, ließ den Blick über den Weg des Flusses wandern. »Ja«, sagte er schließlich leise. »Ich erinnere mich. Und die Sprache, die du gehört hast, stammt ebenfalls aus jenen Tagen. Doch ich möchte dich nicht mit meiner Jugend langweilen.«
»Du langweilst mich nie, Großvater.« Sie legte ihm einen Arm um die knochigen Schultern. »Es stecken noch immer so viele Geheimnisse in dir.«
»Nun, dann stelle so viele Fragen, wie du möchtest. Vielleicht kann ich sie dir beantworten.«
»Wie alt bist du genau? Das hast du mir nie verraten.«
Er lachte leise. »Weil ich die Anzahl der Sommer, die ich erlebte, vergessen habe.«
»Welche Sprache war es, in der du am Totenbett gebetet hast?«
Sein altes Gesicht wurde ernster. »Es ist die Sprache jenes Ortes, an dem ich geboren worden und aufgewachsen bin. Ich glaube nicht, dass viele Menschen diese Sprache noch sprechen.«
»Und wo wurdest du geboren? Du hast mir von deiner Mutter erzählt und von deinem Vater, von deinen Freunden in der Kindheit. Aber du hast mir nie erzählt, wo das war.«
»An einem entfernten Ort im Süden.« Seine Stimme klang beinahe sehnsüchtig.
»Warum weichst du mir aus?«, flüsterte sie, doch er konnte sie noch sehr gut verstehen.
»Ich weiche dir nicht aus. Ich versuche nur, die Antworten so zu gestalten, dass du sie verstehen kannst.«
Sie seufzte und blickte nun ihrerseits auf den Fluss. Der Wind frischte weiterhin auf. Doch unter der Trauerweide waren sie so sicher, als hätten sie ein Dach aus Schilf über den Köpfen.
»Also gut, eine letzte Frage muss ich dir noch stellen: Der Becher, aus dem du mir zu trinken gabst, ist das der Heilige Gral?«
»Wie gelangst du zu dieser Annahme?« Seine Augen waren nun wach und aufmerksam.
»Ein alter, fleckiger Becher aus Holz, eigentlich ist nichts Besonderes an ihm. Doch als ich davon trank … fühlte ich mich geborgen. War es gar der Becher und nicht dessen Inhalt, der mich heilte?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Nun, ein Becher ohne Inhalt wäre doch recht trockene Kost. Und eine Flüssigkeit ohne Becher … fließt davon.«
Gal erhob sich etwas unbeholfen aus Großvaters Schoß. Er hatte einen Käfer entdeckt, der in der Nähe vorüberkroch. Ihr Sohn hatte sich vorgenommen, das Tier näher zu untersuchen. Elayne ließ ihn gewähren, ließ ihn aber auch nicht aus den Augen. Seit er laufen konnte, musste sie noch achtsamer sein als zuvor. Trotz seiner kleinen Beine konnte er unglaublich schnell an sein Ziel gelangen.
Großvater atmete tief ein, bevor er verkündete: »Elayne, ich möchte dir etwas versprechen.«
Gal hatte nun eine Hummel entdeckt. Begeistert stürmte er auf sie zu.
Elayne schnappte ihn sich und zog ihn auf ihren Schoß. »Nicht die Hummel, kleiner Schatz. Hör zu, was Großvater zu sagen hat.«
Der alte Mann griff nach der kleinen, dicken Hand ihres Sohnes und lächelte. »Wenn Galahad zum Mann geworden ist und ihr beide wieder zu mir zurückkehrt, werde ich euch jedes Geheimnis verraten. Das verspreche ich.«
Würde er überhaupt noch leben, wenn Galahad ein Mann war? Der Gedanke bereitete ihr Kummer. Wie viele Jahre blieben ihm noch? Sie legte ihren Arm erneut um seine Schultern. »Wir kommen zurück. Eines Tages kommen wir wieder.«
»Ich weiß«, sagte er geheimnisvoll. Dann räusperte er sich, erhob sich etwas umständlich und klopfte die feuchte Erde von seinen Gewändern. »So, nun begleite mich zurück zur Festung. Der Sturm bricht alsbald los. Ich spüre ihn bereits in meinen alten Knochen und ich sehne mich nach Brisens Kanincheneintopf.«
Sie erhob sich ebenfalls und zupfte ihre Röcke zurecht. »Schmecken dir die Eintöpfe meiner Amme denn mittlerweile?«
Er schmunzelte vor sich hin. »Man gewöhnt sich an vieles, wenn man muss.«
Sie nahmen den Kleinen in ihre Mitte, eine Hand hielt Elayne, die andere der Großvater. Bis sie den Schutzwall der Festung erreichten, waren sie alle drei durchnässt.
»Komm doch herein, damit ihr euch am Feuer wärmen könnt.«
»Nein, Großvater. Wir müssen jetzt Lebewohl sagen.« Sie nahm Galahad auf den Arm und schlang den freien Arm ein letztes Mal um den alten Mann, dem sie so viel zu verdanken hatte. »Lass dich von Brisen verwöhnen.«
Er tätschelte ihr liebevoll den Rücken. »Ich könnte dir nun sämtliche Gefahren aufzählen, die in der Welt auf dich warten. Doch vermutlich wird dich das nicht abhalten, abzureisen.«
Sie schüttelte den Kopf und löste sich von ihm. »Leider nicht.«
»Bringe mir diesen jungen Mann bald wieder, ja?« Er streichelte dem Kleinen ein letztes Mal über die goldenen Locken und zog ihm rasch zum Schutz vor dem Wind die Kapuze ins Gesicht.
Sie schluckte, da ein fester Kloß in ihrem Hals saß. »Ja, Großvater.«
»Das Wetter bereitet mir Sorge, Herrin.« Liam betrachtete die Wolken, als kündeten sie den nahenden Weltuntergang an.
Elayne tat seinen Einwand mit einem Kopfschütteln ab. »Wenn es nach dem Wetter ginge, würden wir nie das Haus verlassen.«
Sie reichte ihm weitere Vorräte, die er in sein Bündel packen sollte. Ihres war voll mit Tüchern und Kleidung für den kleinen Galahad. Liam schnürte die Bündel aneinander und warf sie über den Widerrist von Centenarius, wobei der Hengst protestierend wieherte. Beruhigend klopfte Liam ihm auf die Seite.
»Bleibt doch noch eine Nacht«, bat Veneva.
»Uns bleibt noch genug Tageslicht, wir können einen großen Teil des Weges heute noch schaffen«, widersprach Elayne.
Das Bündel in Venevas Armen wimmerte. »Siehst du, die kleine Elayne möchte auch nicht, dass ihr geht.«
Elayne nahm ihre Namensschwester auf den Arm und küsste sie sacht auf die feinen rötlichen Locken. Sie war der Grund, weshalb Elayne Corbenic nicht schon viel früher verlassen hatte. Als Veneva ihr vor einem Jahr gesagt hatte, dass sie ein Kind erwartete, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, zu gehen. Nicht, nachdem Veneva bereits ein Kind verloren hatte. Nun aber hatte ihre Freundin zwei gesunde Kinder. Dewi hielt Galahad an der Hand, ganz der große Bruder.
»Du erinnerst dich an die Hütte, von der ich dir erzählt habe?«, vergewisserte sich Ned.
Liam nickte. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir sie vor Einbruch der Nacht.«
Elayne band sich ihr Tragetuch um und setzte den protestierenden Galahad hinein. »Wir gehen jetzt auf eine große Reise, mein Schatz.«
»Dewi!« Es war eines der wenigen Worte, die er schon sprechen konnte.
»Nein, Dewi kann leider nicht mitkommen.« Ihr Herz fühlte sich so schwer an.
Veneva liefen stille Tränen über die Wangen. »Kommt bald zu uns zurück.«
Sogar Ned musste schlucken und ihm brach die Stimme. »Gute Reise.«
Sie schloss alle noch einmal in eine feste Umarmung, dann sah sie auf zu Liam. »Es geht los.«
Er selbst verabschiedete sich mit Händedrücken. Umarmungen waren nicht seine Art.
Der Sturm hatte sich etwas gelegt. Die Luft roch nur noch nach Regen, nicht mehr nach dem Salz des Meeres.
Elayne wickelte sich und Galahad in ihren Umhang und schulterte ihr Bündel. Die Schwere in ihrem Herzen wich einer schwebenden Aufregung. Dies war der erste Schritt in ihr neues Leben. Mochte der erste Schritt im Matsch und regenbehangen sein, endlich war er getan.
Sie hatte geahnt, dass ihr Vater sie nicht einfach gehen lassen würde.
Sie hatten den Weg westlich eingeschlagen, wollten entlang des Küstenpfades nach Norden gehen und abwechselnd auf Centenarius reiten.
Aus dem Schatten der Bäume lösten sich Pelles und sein getreuer alter Liam.
»Was denkst du, wohin du gehst?«, verlangte ihr Vater zu wissen und stellte sich, schwer gestützt auf seinen Eichenstab, mitten in den Weg.
»Eine wunderbare Art, eine Konversation zu beginnen«, entgegnete sie und zügelte den Hengst.
Seit jenem Tag, als sie erkannt hatte, welches Spiel er mit ihr und Lancelot gespielt hatte, hatte es kaum friedliche Worte zwischen ihnen gegeben.
Der alte Liam stand an seiner Seite, die knochigen Hände auf seinen Schwertknauf gelegt.
»Ich verlasse Corbenic, so wie ich es vor langer Zeit beschlossen habe. Wohin ich gehe, darf dich nicht interessieren«, beharrte Elayne.
Ihr Vater verzog kaum das Gesicht. »Denkst du, die Welt dort draußen wartet auf dich? Auf eine gefallene Frau mit einem unehelichen Kind?«
Sie presste fest die Lippen aufeinander. Die Wut trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wollte nicht weinen. »Wessen Schuld ist das, Vater? Du bist so besessen von der Weissagung meiner Mutter, dass du bereit dazu warst, meine Liebe zu riskieren. Du hast mich ins Unglück gestoßen und nun hindere mich nicht daran, aus den Tiefen heraufzusteigen.«
»Die Prophezeiung deiner Mutter wurde erfüllt.« Pelles nickte selbstgefällig. »An jenem Tag, als ich erkannte, wer der Barde ist, wusste ich, dass er hier war, um die Prophezeiung zu erfüllen. Es war von Gott vorherbestimmt.«
»Von Gott gewiss nicht«, entgegnete Elayne bitter.
Gal gefiel der Streit nicht. Er brach in haltloses Schluchzen aus, sodass Elayne ihn fest an sich drückte.
»Hat meine Mutter dir gesagt, dass Lancelot der Vater meines Kindes werden sollte?«, wollte sie aufgebracht wissen.
»Nein«, gab Pelles zerknirscht zu.
Ihre Stimme überschlug sich vor Wut. »Und hat sie dir gesagt, dass du mich unverheiratet in das Bett eines Fremden stecken sollst?!«
»Ich gab euch Zeit, euch aneinander zu gewöhnen«, rechtfertigte sich ihr Vater. »Warum glaubst du, hätte ich sonst erlaubt, dass du so viel Zeit mit einem Fremden verbringst?«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann hattest du Angst, der Held könnte Corbenic verlassen, bevor er deine Tochter geschwängert hat, und hast mit Brisens Kräutern nachgeholfen.«
Ihr Vater reckte hochmütig das Kinn. »Es war keine große Menge des Zaubers nötig, wenn es dich beruhigt. Nur ein Schubs, um das zu verstärken, was ohnehin schon zwischen euch war.«
»Noch nicht einmal jetzt bist du in der Lage, deinen Fehler einzugestehen.« Sie starrte ihren Vater böse an und bemühte sich darum, nicht noch einmal die Fassung zu verlieren.
»Es war kein Fehler«, knurrte der alte König und stützte sich noch schwerer auf seinen Stab. »Dein Sohn wird der beeindruckendste aller Männer werden. Er ist zu Großem bestimmt.«
Sie schaffte es, die nächsten Worte in ruhigem, aber doch sehr deutlichem Ton zu sprechen. »Dann wiederhole ich, was ich dir bereits einmal sagte: DU wirst meinen Sohn nicht aufwachsen sehen.«
Der junge Liam ergriff wacker das Wort. »Du hast sie dorthin getrieben. Es ist deine Schuld, dass sie hier keine Zukunft mehr sieht.«
»Achte auf deine Worte, Sohn!«, ermahnte ihn der alte Liam streng.
»Das tue ich. Ich respektiere meine Herrin«, erwiderte der Junge mit stolzem Blick. »Ihr gehören meine Treue und meine Dienste.«
»Ach, teilst du jetzt ihr Bett? Ist es so weit gekommen?«
Pelles’ Vorwürfe trafen Elayne wie ein Schlag ins Gesicht.
Der junge Liam indes blieb ruhig. Seine Anspannung erkannte Elayne allein an der Art, wie er nun seine Hände auf seinen eigenen Schwertknauf legte. »Elayne ist der ehrenvollste Mensch, den ich kenne. Es sind deine Gedanken und deine Worte, die unehrenhaft sind.«
»Liam! Er ist unser König!«, erhob sein Vater die Stimme.
»Vater, du hast mich dazu erzogen, respektvoll und treu zu dienen.« Sein Brustkorb hob sich, als er tief einatmete. »Der König hat meine Treue in jenem Moment verwirkt, als er seine Tochter verriet.«
Pelles gab seinem Diener ein Zeichen und der alte Liam zog das Schwert. In den sonst so gütigen Augen stand der Entschluss, die beiden jungen Menschen aufzuhalten.
»Ihr geht nirgendwohin«, machte Pelles deutlich. »Oder willst du deine Klinge gegen deinen eigenen Vater erheben, Bursche?«
Der junge Liam überhörte den Einwand und richtete sich weiter an seinen Vater. »Ich werde heiraten. Du erinnerst dich an Teagan, Vater? Aber ich kann mein Weib nicht in ein Haus bringen, das vergiftet ist vom Verrat am eigenen Blut. Ich werde uns ein neues Zuhause finden.«
»Lass uns gehen«, bat Elayne und sah dabei in die Augen des alten Liam. »Bitte.«
Der alte Mann richtete den Blick auf die feuchte Erde vor seinen Füßen. Dann nickte er, ließ sein Schwert sinken und trat zur Seite.
»Liam!«, widersprach der König.
»Herr, wir müssen sie gehen lassen«, bat er inniglich. »Nur dann kommen sie vielleicht eines Tages zu uns zurück. Wenn wir ihnen aber den Weg versperren, wird die Kluft zwischen uns und unseren Kindern noch größer.«
»Nein!«
Pelles wollte in Elaynes Richtung stürmen, doch sein getreuer Diener legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Bitte, Herr.« Seine Stimme klang beschwichtigend. Und als Elayne und Liam langsam an ihnen vorbeigingen, nickte der alte Liam seinem Sohn zu.
Der Abschied zwischen ihnen war still, doch die Zuneigung und die Anerkennung in den Augen des alten Liam schmerzten mehr, als es alle Worte aus Pelles’ verbitterter Seele getan hätten.
»Und Pferdediebe seid ihr auch noch!«, brüllte der alte König ihnen nach.
Doch was war ein Schlachtross ohne Aufgabe? Elayne hatte kein schlechtes Gewissen, weil sie den Hengst mitnahm. Vater hatte sich nie um ihn gekümmert.
Die Festung lag auf einer weiten Ebene, sodass Elayne sie bereits aus der Ferne groß und düster aufragen sehen konnte.
Welch eigentümliche Lage für eine Verteidigung, dachte sie sich. Da die Feste nicht auf einem Hügel lag, wäre der Ansturm für Angreifer einfach. Andererseits wäre jeder Angreifer über Meilen schon sichtbar, da die Ebene um die Mauern herum aus Feldern und Wiesen bestand.
Sie und Liam hatten eine Route entlang des Meeres gewählt, statt durch die Berge und Schluchten gen Osten zur alten Römerstraße zu wandern, die auf direktem Weg von Süden nach Caer Luel führte. Sie hatten die Berge umgangen und stießen erst jetzt auf die Römerstraße. Es war der zweite Tag ihrer Reise und es dämmerte bereits.
Elayne sah Liam an, dass er aufgeregter wurde, je näher sie der Festung kamen. Er redete auch sonst nicht viel, doch wenn er nervös war, wurde er noch stiller.
Sie musterte ihn schmunzelnd, als er auf dem Pferd neben ihr her ritt, Gal vor sich im Sattel haltend. Liam war im letzten Jahr ganz zum Mann geworden. Seine Muskeln hatten sich von der harten Arbeit geformt. Er musste sich jeden Tag rasieren. Schon wurden Kinn und Wangen von Bartstoppeln bedeckt.
»Hast du den Ring?«, fragte sie sicherheitshalber.
Er legte seine Hand an die Stelle des kleinen Beutels, den er an einem Lederband unter seiner Tunika trug. »Natürlich, Herrin. Es war das Erste, was ich einpackte.«
Sie klopfte ihm gegen den Unterschenkel. »Ich sagte dir doch, du kannst mich Elayne nennen.«
»Und ich sagte dir, dass dies nicht angebracht ist.« Er warf ihr einen ernsten Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg vor ihnen richtete.
Dabei war die Römerstraße weit bequemer als jeder matschige Pfad, den sie bisher hinter sich gebracht hatten. Die Säume ihrer Umhänge waren verdreckt und steif von Matsch. Elaynes Stiefel fühlten sich an, als würden sie nie wieder trocknen.
»Liam, es ist unlogisch. Wir sind gemeinsam aufgewachsen. Du kennst fast so viele meiner Geheimnisse wie Veneva. Du bist wie ein Bruder für mich.« Sie versuchte, einen klumpen Matsch am Wegesrand von ihrem Stiefel zu streifen.
Er bemerkte nicht, dass sie stehen geblieben war. »Nein, es ist nicht angebracht«, sprach er voller Ehrgefühl. »Du bist von hohem Blute, ich nur ein Stallbursche.«
Sie hatte es geschafft, sich des Matschklumpens zu entledigen, und eilte ihm hinterher. »Du bist weit mehr als das, das weißt du auch«, rief sie ihm zu und erst jetzt zügelte er Centenarius.
Sie hatten so viel Zeit gemeinsam auf der Jagd und bei den Pferden verbracht, dass sie jede seiner Körperbewegungen und jedes Zucken seiner Miene deuten konnte.
»Es ist mir gleichgültig, von welchem Blut ich bin. Wir sind gleich. Kein Mensch steht höher als der andere. Kein Mensch ist wertvoller als der andere.«
Liam stieg ab und hob den kleinen Gal vom Pferd. »Das sehe ich anders. Du magst recht haben, dass kein Mensch wertvoller ist als der andere. Dennoch hat jeder Mensch in seinem Leben eine Aufgabe. Deine ist es, anzuführen und zu herrschen. Meine ist es, dir zu dienen. Und wenn nicht ich dich mit Respekt behandle, warum sollten es dann die anderen tun? Nein, Herrin, ich werde dich stets mit Respekt behandeln, bis zum Tage meines Todes.«
Sie seufzte. Sie glaubte nicht, dass irgendein Mensch auf dieser Welt so viel Ehrgefühl besaß wie der junge Liam. Andererseits hatte sie noch nicht allzu viele Menschen kennengelernt. Nun, das mochte sich in wenigen Momenten ändern.
»Trotzdem sollst du wissen, dass ich dich genauso respektiere«, beharrte sie. »Du bist für mich ein Teil meiner Familie. Genauso wie Ned und Veneva.«
Er sah sie nicht an, doch sie erkannte an seinem Profil, dass er lächelte.
»Und wenn die Eltern deiner Angebeteten nicht erkennen, dass es für ihre Tochter keinen besseren Ehemann geben könnte, werde ich es ihnen auf geeignete Weise mitteilen.«
Nun sah er sie doch an, beunruhigt von ihren Worten. »Denkst du, sie könnten wirklich ablehnen?«
Sie hatte ihm nicht den Mut nehmen wollen. »Nein, das werden sie gewiss nicht.«
Weitere Menschen befanden sich auf dem Weg zur königlichen Festung. Sie hatten kaum Waren bei sich, jedoch Werkzeuge und Tiere. Das Tagwerk war erledigt und nun kehrten sie in den Schutz der Steinmauern zurück.
Elayne war als kleines Mädchen mit ihren Eltern hier gewesen. Die Mauern waren ihr damals schon riesig vorgekommen. So hoch, dass nur Riesen sie erbaut haben konnten.
Ihre Mutter hatte bei dieser Vorstellung gutmütig gelacht und ihr erklärt, dass es wohl eher die Römer gewesen waren, die über Geräte verfügten, welche die Steine dermaßen hoch heben konnten. Elayne hatte gefragt, warum Menschen solche hohen Mauern benötigten, es könne doch keine Tiere geben, die ihnen derart gefährlich werden könnten.
Diesmal hatte ihre Mutter traurig gelächelt. »Menschen bauen Mauern, um sich vor anderen Menschen zu schützen. Sie wollen ihr Hab und Gut in Sicherheit wissen und denjenigen, die es ihnen wegnehmen wollen, den Weg schwer machen.«
»Aber wieso wollen Menschen anderen etwas wegnehmen?«
»Aus verschiedenen Gründen. Aus Neid, aus Zorn oder aus Hunger und Leid.«
»Was wollten die Menschen, gegen die diese Mauern errichtet wurden?«
»Ihr Land zurück«, hatte ihre Mutter knapp geantwortet.
Damals hatte Elayne es nicht verstanden. Heute wusste sie, dass es einst erbitterte Kämpfe zwischen den Römern und den Stämmen gegeben hatte. Nun waren die Römer seit bald hundert Jahren fort und man hätte sich gewünscht, sie wären geblieben, um die Sicherheit Britanniens zu gewährleisten.
Liam trug den kleinen Gal und Elayne führte Centenarius an den Zügeln, während sie sich den Toren näherten. Zwei Wachen stoppten die Neuankömmlinge.
»Ihr seid nicht von hier. Was wollt ihr in Caer Luel?« Der Ältere der beiden musterte sie mäßig interessiert.
Der Jüngere sah etwas nervös von Liam zu Elayne und zurück.
»Dies ist Elayne von Corbenic, die Tochter von König Pelles«, erklärte Liam unumwunden.
Das Interesse des Älteren blieb gering. »Wohl kaum. Wo ist die Begleitung, die einer hochwohlgeborenen Dame würdig ist? Wo sind ihre Diener? Und wäre nicht zuvor eine Ankündigung eingetroffen, damit man einen solchen Gast gebührend empfangen könnte?«
»Meine Reise war eine spontane Entscheidung«, übernahm Elayne das Wort. »Und wer Corbenic kennt, weiß, dass es dort keine Dienerschaft gibt. Bitte richte König Uryen aus, dass seine Nichte ihn zu sprechen wünscht.«
»Der König ist nicht da«, verkündete der Jüngere übereifrig und erntete einen scharfen Blick seines Vorgesetzten.
»Dann richtet bitte der Königin aus, dass ich hier bin. Morgaine kennt mich. Wir warten hier solange.«
»Wir müssen die Tore schließen«, meinte der Ältere. Sein Blick wanderte die Römerstraße entlang. Sie waren die Letzten, die hineinwollten. »Also gut, kommt herein. Aber bleibt hier vorn stehen, bis wir jemanden gefunden haben, der euch beide kennt.«
»Teagan kennt mich. Die Tochter des Schmieds.« Liam sprach leise. Die Situation war ungewohnt für ihn.
»Wartet hier und bewegt euch nicht«, wiederholte der Ältere, nachdem er und sein Kamerad das schwere Tor geschlossen hatten.
Der Jüngere behielt sie im Auge, als hätten ein Mann mit Kind auf dem Arm und eine mittellose Frau durchaus Potenzial, ihre Waffen zu zücken und einen Überfall auf die Festung zu starten.
Die Menschen auf dem Innenhof gingen ihren Arbeiten nach und beachteten die Neuankömmlinge nicht. Es galt, Waren zu verstauen, Hühner in die Ställe zu treiben, Kinder davon zu überzeugen, dass der Tag nun vorüber war.
Elayne bemerkte, dass Liam sich suchend umsah. Natürlich sehnte er sich danach, seine Angebetete aufzusuchen und sie endlich wieder in die Arme zu schließen.
Sie empfand Schmerz und Freude zugleich. Freude für Liam, dass er jemanden hatte, dessen Herz ihm gehörte. Schmerz um das, was sie selbst nicht haben konnte. Niemand würde sich so nach ihr sehnen. Vielleicht nie.
»Komm, ich nehme dir Galahad ab. Dann hast du die Arme für Teagan frei.«
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Sei nicht so furchtbar selbstlos, Liam. Ich nehme Gal.«
Und so schloss sie ihren kleinen Sohn in die Arme und atmete tief seinen unschuldigen Duft von Milch, Schweiß und voller Windel ein. Sie hatte mehr, als sie sich jemals erhofft hatte – einen wunderschönen kleinen Sohn, dessen Leben erfüllt von Abenteuern und Liebe sein würde.
»Kommt mit«, meinte der ältere Wächter ungehalten, als er zurückkehrte. »Man erwartet euch in der Königshalle. Den Gaul könnt ihr dem jungen Kerl dort überlassen.« Er deutete auf seinen Kameraden, der nicht so begeistert von dem Vorschlag war.
Centenarius hielt ebenfalls nicht viel von der Idee, sich von fremder Hand führen zu lassen. Kaum hatte Liam dem jungen Soldaten die Zügel übergeben, warf das Ross den Kopf zurück und versuchte, sich von dem Mann frei zu machen. Nervös wieherte es auf und der Soldat ließ erschrocken die Zügel fallen. Centenarius buckelte und trabte hocherhobenen Schweifes über den Hof, wo ihm jedes menschliche Wesen erschrocken auswich.
»Herrin, ich kümmere mich um Centenarius«, versicherte Liam. »Geh du mit Gal in die Halle. Ich werde dafür sorgen, dass unser Ross gut untergebracht wird.«
Etwas anderes blieb Elayne auch nicht übrig.
Sie seufzte vor Erschöpfung. Das erste Ziel ihrer Reise war erreicht. In dieser Nacht würden Gal und sie in einem gemütlich warmen Bett schlafen, frisches Essen bekommen und sie würde ihre Füße in warmes Wasser tauchen. Sie schmerzten vom langen Marsch.
Die Halle von König Uryen befand sich im einzigen Turm der Festung. Ein großes, mächtiges Gebäude aus Stein, während alle anderen Gebäude im Inneren der Mauer aus Holz gebaut waren. Da die Sonne kaum noch Licht spendete, wurden Fackeln im Hof entzündet.
Man öffnete ihnen das Tor zur Halle, die bereits von Fackeln erhellt war. Die Menschen hatten sich an langen Bänken und Tischen zum Abendessen eingefunden. Niemand schenkte den Neuankömmlingen Beachtung, bis der Torwächter sie zum Ende der Halle geführt hatte. Hier saß allein an einer prächtigen Tafel der Herr dieser Halle. Und das war an diesem Abend nicht Uryen.
»Meine liebe Base, ich habe nicht mit deinem Besuch gerechnet.«
Der junge Mann sah kaum zu seinem Gast auf. Er pulte lieber Fleisch von den Knochen seines Brathähnchens. Seine Finger glänzten vom Fett, genauso wie sein hellrosa Mund. Seine Wangen waren gerötet, vermutlich von dem Kelch Wein, der vor ihm stand und gerade von einer Dienerin aufgefüllt wurde.
Sie beugte das Haupt, wie es sich gehörte, hob es jedoch rasch wieder, da er von Geburt an nicht höher stand als sie. »Ywein, es freut mich, dich wiederzusehen, und ich entschuldige mich dafür, ohne Ankündigung anzureisen. Dringende Umstände haben meine Abreise aus Corbenic notwendig gemacht.«
Er blickte kurz auf, musterte sie und ihr Kind, ohne Freundlichkeit erkennen zu lassen. »Du bist mit einem Burschen unterwegs, berichtete man mir. Seid ihr beiden auf der Flucht vor deinem Vater? Dann muss ich euch leider zurückschicken. Ich kann keine politische Fehde verursachen. So gern ich ein unglückliches Liebespaar auch unterstützen würde.«
»Du irrst, wir sind kein Liebespaar. Liam ist mein … Leibwächter.« Sie räusperte sich in der Hoffnung, die volle Aufmerksamkeit ihres Vetters wiederzuerlangen, der sich lieber um sein Brathähnchen kümmerte.
Eigentlich hätte man ihn mit dem dunklen Haar und dem jugendlich stolzen Gesicht als gut aussehend bezeichnen können. Wenn nur seine schlechten Manieren nicht gewesen wären.
»Du hast ein Kind«, stellte Ywein überflüssigerweise fest. »Wer ist der Vater, wenn nicht dein … Leibwächter?«
»Niemand, den du kennst. Niemand, den mein Vater für würdig erachtet hätte, mich zu heiraten.« Sie musste sich beherrschen, nicht ihre eigenen Umgangsformen zu vergessen. Natürlich hatte sie nicht darauf hoffen können, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber etwas mehr Respekt wäre sicher möglich gewesen. »Ich hatte gehofft, mit König Uryen die Angelegenheit besprechen zu können. Wann wird er zurückerwartet?«
Ywein zuckte mit den Schultern. »Er ist in Lothian. Seit ein paar Tagen. Wer weiß, wie lange die Besprechungen mit König Lot anhalten. Darüber hat er mich nicht informiert.«
Ihr Herz wurde ganz schwer. »Ich nehme an, Königin Morgaine hat ihn nach Lothian begleitet?«
Er grunzte abfällig. »Natürlich, das Weib muss doch dafür sorgen, dass er gehorsamst das tut, was es wünscht.« Ohne sie weiterhin eines Blickes zu würdigen, schluckte er Wein wie eine Sau das Wasser.
War er schon immer so gewesen? Sie erinnerte sich an Streiche, die er ihr gespielt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Aber das war lange her und sie hatte ihn nie ernst genommen.
»Möchtest du etwas essen?«, fiel ihm dann ein.
»Ja, das möchte ich sehr gern. Und wenn ich eine Kammer beziehen könnte, damit ich mich und meinen Sohn umkleiden und waschen kann …«
Er sah sie streng an, dann das Kind auf ihrem Arm. »Du bekommst eine Kammer. Später. Setz dich zu mir, Base.«
Gal quengelte leise. Auch er war müde und er fühlte sich in der nassen Windel unwohl. Doch sie konnte ihren Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen. Vielleicht konnte sie ihren Sohn mit etwas Brot für ein paar Momente ablenken, bis sie sich zurückziehen konnten.
»Gib das Kind einer Amme«, befahl Ywein und kümmerte sich wieder um sein Brathähnchen.
Dieser Ton gefiel Elayne ganz und gar nicht. »Vielen Dank für das Angebot, doch ich behalte meinen Sohn lieber bei mir.«
Ihr Gastgeber hob eine Schulter, als sei es ihm gleichgültig, und Elayne nahm auf dem Sessel neben ihm Platz. Das Holz war mit Schnitzereien verziert, die Sitzfläche mit Fellen ausgelegt. Sie hoffte, es war nicht der Platz der Königin.
Sie fühlte sich zunehmend unwohl. Die Menschen in der Halle warfen ihr ab und an neugierige Blicke zu, hauptsächlich konzentrierten sie sich auf ihr Essen und sprachen leise miteinander.
Ihr selbst schob Ywein einen Teller hinüber. Das Brot war angebissen, auf der Soße schwammen Fettaugen. »Hier, bitte schön.«
Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie musterte ihn von der Seite. Welches Spiel trieb er hier?
»Danke«, sagte sie bloß und sah sich auf dem Tisch um.
Ein Apfel lag in Reichweite. Gal hatte zum Glück bereits genug Zähne, um ihn zu kauen. Sie nahm den Apfel und ein Messer, dessen Klinge sie unauffällig an ihren Röcken abwischte, bevor sie damit kleine Spalten abschnitt. Ihr Sohn freute sich über die Apfelschnitze und lutschte den Saft heraus, bevor er zaghaft daran knabberte.
»Du bist also von zu Hause weggelaufen«, begann ihr Gastgeber ein Gespräch im Plauderton. »Was hast du vor? Hast du ein bestimmtes Ziel?«
Sie hoffte, er sah ihr ihr Unbehagen nicht an. Sie bemühte sich um einen kühlen, doch höflichen Ton. »Ich möchte mit meinem Sohn ein neues Leben beginnen. Zu Hause fühle ich mich nicht mehr sicher.«
»Ach. Was ist passiert?« Ywein kümmerte sich weiter um sein Essen, das interessanter schien als die Beweggründe seiner Verwandten.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie ihren Vetter. »Das würde ich lieber mit Uryen besprechen.«
Er hob den Blick und eine Augenbraue, stolz reckte er das Kinn. »Ich bin sein Stellvertreter. Du kannst mir alles sagen, was du auch ihm sagen wolltest.«
Genau das glaubte sie nicht. Die wenigen Momente, die sie ihn kannte, hatten in ihr ein Missbehagen ausgelöst, das sie selten zuvor verspürt hatte.
Da sie nicht antwortete, meinte er: »Ich weiß, dass mein Vater vor Jahren plante, mich mit dir zu verheiraten, um die Königreiche zu vereinen.« Er musterte sie abfällig. »Jetzt bin ich froh, dass er es nicht getan hat.«
Sie räusperte sich. Er wollte sie auf eine sehr abfällige Art ärgern. Es war kein freundschaftliches Necken. Er sah auf sie herab. Warum? Sie hatte ihm nie etwas getan.
»Gibt es eine neue Auserwählte für dich?«, kehrte sie das Spiel um. »Vielleicht eine Schönheit aus dem Süden? Oder eine Sächsin? Eine Piktin?«
Er ließ den Hühnerschenkel auf seinen Teller fallen. »Ich werde mir mein Weib selbst aussuchen, wenn es so weit ist.«
Sie lächelte süßlich. »Natürlich. Man sollte auf sein Herz hören, nicht wahr?«
Er sah sie an, als wäre sie eine lästige Fliege. »Nein, nicht auf sein Herz. Ich brauche eine Frau, die mir Erben gebären kann. Eine Frau, die mir dient und auf mein Wort hört. Keine Frau, die mir süße, verräterische Worte in das Ohr säuselt und versucht, mich zu manipulieren.«
Sie sollte lieber schweigen. In ihm loderte Zorn, sie erkannte es an seinen abfälligen Worten. Sie war nicht die Ursache dieses Zorns, doch sie wollte auch nicht diejenige sein, die ihn schürte.
Er nahm ein frisches Stück Fleisch und deutete damit auf ihren Leib. »Du hast bereits bewiesen, dass du fruchtbar bist. Das wird dir helfen, einen Ehemann zu finden.« Ywein knabberte an dem Hähnchen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. »Andererseits hat bereits ein Mann deine Früchte genossen. Männer mögen kein angebissenes Obst. Du wirst Abstriche in der Wahl machen müssen. Es wird kein Thronerbe sein.« Er hielt inne, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und sah sie streitlustig grinsend an. »Wenn du Glück hast, ein Krieger, ein jüngerer Sohn eines Königs. Wieso isst du nichts? Hast du keinen Hunger?«
Elayne biss sich auf die Innenseite ihrer Wangen, um jedes weitere herausfordernde Wort zu unterdrücken. »Ich bin nicht hungrig, aber sehr müde. Wäre es möglich, dass ich mich nun zurückziehe?«
Er schnaubte verächtlich und winkte einen Diener herbei. »Ist alles vorbereitet? Gut, bring die Königstochter in ihre Gemächer.« Er biss von seinem Hähnchen ab und grinste Elayne mit vollem Mund an.
Zu gern hätte sie ihm sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Stattdessen nickte sie ihm zu und hob sich ihr Kind auf die Hüfte, um die Halle zu verlassen. Sie hatte keine weiteren Ansprüche als ein warmes, sauberes Bett und die Möglichkeit, in Ruhe zu schlafen.
Der Diener führte sie einen schmalen Gang entlang zu einer Treppe. Weiter oben im Turm führte er sie einen weiteren Korridor entlang, bis er an dessen Ende stehen blieb und eine Tür öffnete.
»Vielen Dank. Könnte ich frisches Wasser haben, bitte?« Sie blickte in das finstere Dunkel. »Und eine Fackel? Oder einen Kienspan?« Sie wollte keine Umstände bereiten.
Der Mann wich ihrem Blick aus. »Wenn es der Herr erlaubt.«
Seine Antwort war nicht zufriedenstellend.
Sie betrat die Dunkelheit der Kammer. Kein Licht drang durch die Läden, es roch muffig. Gal klammerte sich an sie. Während sie noch versuchte, etwas in diesem Raum zu erkennen, knackste die Tür und wurde hinter ihr geschlossen. Dann hörte sie, wie ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde.
Sie war eingesperrt in der Finsternis.
Gal begann zu weinen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Ihm zuliebe musste sie Ruhe bewahren.
Sie schmiegte ihre Wange an seine Schläfe. »Schsch, mein kleiner Schatz. Es wird alles gut. Ich bin ja bei dir.«
Langsam konnte sie Umrisse wahrnehmen. Etwas Licht fiel durch den Ritz unter der Tür. Auf der anderen Seite befand sich eine Fensterluke.
Sie tastete sich vorwärts, eine Hand ausgestreckt, mit dem anderen Arm hielt sie ihr Kind, das auf ihrer Hüfte saß. Die Feuchtigkeit der Windel drang bereits durch alle Stofflagen ihrer Kleidung.
Warum tat Ywein ihr das an? Hatte Uryen ihn instruiert? Das konnte nicht sein, denn der König wusste nicht, dass sie hierherkommen würde. Es musste also die Idee dieses einfältigen Burschen sein. Aber sie würde sich die ersten Schritte in ihrem neuen Leben nicht von einem Bengel vermiesen lassen, der König spielen wollte.
Sie hatte das Fenster erreicht und ruckelte an den Planken, mit denen es vernagelt war. Das Holz war morsch und gab ihren Bemühungen nach. Sie riss eines der Bretter herunter, sodass frische Luft in die Kammer strömte.
Tief atmete sie ein. Die Nacht war hereingebrochen, der Vollmond aber spendete ein wenig Licht und stand tröstend am Himmel.
Gal jammerte erneut.
»Wo sind wir hier nur hineingeraten?«, fragte sie sich leise.
Die Kammer gab keinen Aufschluss. Ein breites Bett stand zu ihrer Rechten. Eine Truhe zu ihrer Linken. Ein Sessel in der Ecke neben dem Fenster. Mehr konnte sie nicht ausmachen. Doch sie wollte keine weitere Planke entfernen, damit die Kammer nicht weiter auskühlte.
Sie ging zur Bettstatt. Der modrige Geruch kam hauptsächlich von hier. Die Decken fühlten sich feucht an, als sie nach ihnen tastete. Rasch zog sie die Hand zurück. In dieser Kammer würde es wohl keinen ruhigen Schlaf für sie geben. Dennoch musste sie für Gal alles tun, damit er sich wohler fühlte.
Sie trat unter das Fenster und schob mit dem Fuß das schimmelige Heu fort. Danach nahm sie ihren Umhang von ihren Schultern und breitete ihn auf dem Boden aus, um Gal vorsichtig darauf abzulegen.
»Es tut mir leid, mein kleiner Schatz, dass ich dir nicht mehr bieten kann. Aber wir werden das Beste aus der Lage machen.« Ihre Stimme beruhigte ihn.
Während sie ihm die feuchten Windellagen auszog und mit einer noch trockenen Ecke davon den Hintern sauber wischte, so gut es ging, fing er an zu glucksen und vor sich hin zu brabbeln.
Sie trug mehrere Lagen Stoff. Die oberste war verdreckt von der Reise. Sie zog die erste und zweite Lage aus und wickelte ihren Sohn in das trockenere Gewand ein. Dann legte sie ihren Umhang so hin, dass sie sich auf den Steinboden setzen konnte, den Rücken an die Wand gelehnt, die Tür im Blick, ihren Sohn in den Armen.
Sein kleines Gewicht und seine Wärme spendeten ihr Trost. Ihm ging es gut. Und so würde es auch bleiben. Der Bengel auf dem Thron würde es nicht wagen, ihnen etwas anzutun.
Gal tastete mit der Hand nach ihrer Brust. Er war schon fast entwöhnt. Er hatte sich früh für das Essen der Erwachsenen und besonders für das von Dewi interessiert. Aber in den Nächten brauchte er noch immer Milch.
Sie legte ihn an und ließ ihn trinken. Wenigstens bekam er so eine Abendmahlzeit. Ihr eigener Magen war leer und knurrte lautstark.
Sie seufzte und ließ den Kopf nach hinten an die Wand sinken. Sie spürte den Drang, Gott um Hilfe anzubeten. Doch wäre das gerecht? Gott hatte ihr nicht geraten, ihr Zuhause zu verlassen. Das hatte sie selbst entschieden. Also musste sie auch selbst versuchen, diese Lage zu meistern.
Gal war gerade eingeschlafen, da vernahm sie Schritte vom Flur, die sich der Kammer näherten. Schatten zweier Füße waren im Spalt unter der Tür auszumachen.
Hatte Ywein es sich anders überlegt? Ließ er ihr nun doch etwas zu essen und Licht bringen? Oder war es Liam, der sie nun befreien wollte?
Metall knirschte, der Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür langsam geöffnet.
Elayne verlagerte das Gewicht ihres Kindes und stand auf.
»Gefällt dir deine Unterkunft?« Ywein lehnte sich lässig an den Türrahmen.
Sie funkelte ihn böse an. »Nein, natürlich nicht.«
»Das tut mir leid für dich. Nein, warte … eigentlich tut es mir keineswegs leid.« Er winkte jemanden im Flur herbei. »Nimm das Kind.«
Elayne drückte Gal fester an sich. Das konnte er nicht vorhaben. »Was verlangst du von mir?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick über sie wandern, bevor er schmutzig grinste. »Ich möchte mich mit dir unterhalten. Das Kind stört dabei.«
Zaghaft betrat eine ältere Frau in einfacher Kleidung den Raum, gemeinsam mit jenem Diener, der Elayne hierhergebracht und eingesperrt hatte.
Gal wimmerte im Schlaf, da sie ihn so fest an sich drückte. »Kommt mir nicht zu nahe.«
»Wehr dich nicht«, befahl Ywein. »Es wäre doch wirklich traurig, wenn du dabei dein Kind fallen ließest. Dein Sohn wird es gut haben. Er bekommt eine warme Schlafstätte und genug zu essen. Oder willst du, dass er in diesem Dreckloch bei dir bleibt?«
Nein, sie wollte ihr Kind nicht hergeben. Wo brachte man es hin? Sie musste bei ihm bleiben. Er kannte doch hier niemanden. Und er brauchte sie. Wer streichelte sein zartes Gesicht, wenn er im Schlaf wimmerte?
Die Fremde streckte die Arme nach ihm aus. »Gib ihn mir, Herrin. Der Herr wird uns sonst beide strafen.«
Sie spürte einen dicken Kloß im Hals und schüttelte den Kopf.
Ywein nickte seinem Diener zu. Der trat an Elayne heran, packte sie an den Ellbogen und drückte sie fest. »Der Herr sagt, du sollst dein Kind loslassen.«
Elayne starrte den Mann und dann ihren Vetter entsetzt an. »Das könnt ihr unmöglich von mir verlangen.«
Gal wurde wach. Als die Fremde nach ihm griff, stieß er einen protestierenden Schrei aus.
Der Diener drückte ihr fester ins Fleisch. Elayne gab verzweifelt nach, sonst hätte sie Gal wirklich fallen gelassen. Ihr Hals war eng, sie konnte kaum sprechen. »Er mag Äpfel. Und Brot in Soße. Und … wenn er weint, sing ihm etwas vor.«
Gal schrie, als sie ihn losließ. Die Dienerin drückte ihn fest an sich und nickte Elayne traurig zu. »Ich werde mich um ihn kümmern, so gut ich kann.«
Rasch trug die Frau ihn hinaus und der Diener ließ Elayne los. Das Schreien ihres Kindes ließ Tränen über Elaynes Wangen laufen. Ihr Herz schmerzte, als hätte Ywein einen Dolch hineingestoßen. Schmerzerfüllt und voller Wut sah sie ihn an. »Was willst du von mir?«
Ihr Vetter grinste vergnügt. »Mir war nach abendlicher Gesellschaft.«
Er befahl dem Diener, die Kammer zu verlassen und die Tür hinter ihm zu schließen.
Wieder umhüllte sie die Dunkelheit. Elayne schritt zurück, bis sie den Halt der Mauer hinter sich spürte. Der Mond schien durch den schmalen Spalt und erhellte Yweins bleiches Gesicht. Langsam kam er auf sie zu.
Seine Stimme klang seltsam entrückt. »Diese Kammer war einst das Gemach meiner Mutter. Vater ließ sie nach ihrem Tod verschließen. Niemand hat seitdem einen Fuß hineingesetzt. Fühlst du dich nicht geehrt? Das Gemach einer Königin für eine Königstochter.«
Er musste wahnsinnig sein, anders konnte sie sich seine Worte nicht erklären. Als er noch näher trat, konnte sie den Met riechen. Er war nicht nur wahnsinnig, sondern auch betrunken.
»Was ist das nur mit euch Frauen? Wir sollten doch die Beherrscher sein. Wir sind die Könige der Welt. Und doch schafft es ein Blick … ein Lächeln, dass wir schwach werden. Welche Magie ist das?«
Sie drückte sich fest an die Wand. »Ich weiß es nicht.«
»Du musst es doch wissen. Du hast ein Kind. Du hast einen Mann zwischen deinen Schenkeln gehabt. Wer war er? Ein Bauernjunge?« Er lachte bei dieser Vorstellung. »Oh, das geschähe Pelles so recht! Er lehnt das Heiratsangebot eines Königssohnes ab und dafür lässt sich seine Tochter von einem Bauern schwängern.«
Sie presste fest die Lippen aufeinander. Sie musste ruhig bleiben. Wenn sie ihn einfach reden ließe, vielleicht wäre er bald von ihr gelangweilt.
Er kam näher, stützte seine Hände neben ihrem Gesicht ab und hauchte in ihr Ohr: »Sag es mir!«
Er stank so sehr nach Wein, dass sie fast erbrochen hätte. Gleichzeitig knurrte ihr Magen.
Der Schein des Mondes zeigte sein Grinsen. »Hungriges armes Ding. Du hast nichts gegessen. Waren dir meine Reste nicht gut genug? Nun … vielleicht reicht dir ja mein Schwanz?«
»Wag es nicht«, knurrte sie leise.
»Oh, warum nicht? Wir hätten ohnehin heiraten sollen. Vielleicht nehme ich mir einfach, was mir sowieso gehören sollte? Oder willst du mich beißen? Das würde dir gefallen. Und mir vielleicht auch … wer weiß.« Er leckte ihr über das Ohr und ein Schauer des Ekels überkam sie.
Sie presste erneut die Lippen aufeinander und die Augen zu. Alle Gedanken schossen wie wirre Pfeile in ihrem Kopf umher.
Sie hatte einen Dolch in ihrem Stiefel. Würde sie ihn erreichen können? Und würde sie es über sich bringen, ihrem Vetter die Klinge an die Kehle zu halten? Sollte sie ihn nicht einfach gewähren lassen, es über sich ergehen lassen, damit er seinen Spaß hatte und sie dann in Ruhe ließ? Warum war er so zu ihr? Hatte die Ablehnung ihres Vaters ihn so sehr getroffen? Das konnte unmöglich sein, sie beide kannten sich doch eigentlich nicht.
Nein, sie war nicht der Grund. Seine Worte deuteten eher darauf hin, dass er ein generelles Problem mit Frauen hatte.
»Ich weiß nichts von der Magie, von der du gesprochen hast«, sagte sie leise. »Es war ein simples Betäubungsmittel, das den Vater meines Kindes und mich zusammenbrachte. Es geschah gegen unseren freien Willen.«
»Das klingt interessant und irgendwie traurig.« Er ließ nicht von ihr ab. Stattdessen legte er nun eine Hand auf ihre Brust und presste sich fest an sie.
Sie wollte ihm den Dolch ins Herz rammen für das, was er ihr antat. Und doch traute sie sich kaum, zu atmen, geschweige denn, die Hand nach ihrer Waffe auszustrecken.
Seine Erregung drückte gegen ihren Bauch. Erneut überkam sie eine Welle des Ekels.
»Uryen wird dich bestrafen, wenn er erfährt, was du hier treibst«, sagte sie leise.
Er ließ ihre Brust los, jedoch nur, um ihr Kinn grob zu packen und gegen die Wand zu drücken, sodass sie kaum atmen konnte. »Mein Vater wird erkennen müssen, dass ich stärker bin, als er dachte. Und dass ich meine eigenen Vorstellungen von Regentschaft habe. Er mag sich von Weibern süße, verräterische Worte ins Ohr flüstern lassen. Ich dagegen lasse mich nicht von euch bezirzen.«
Mit der freien Hand griff er zwischen ihre Beine. Ihre Röcke dämpften die Berührung und doch fühlte sie Scham und Ekel.
»Du kannst ein schönes Zimmer bekommen«, lockte er sie mit öligem Grinsen. »Möchtest du das? Und mit deinem Kind zusammen sein? Dann solltest du einfach ein wenig mitspielen. Mach die Beine breit und heb deine Röcke. Ansonsten wirst du hier in der Dunkelheit verrotten. Und ich werde dich trotzdem nehmen. Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß machen würde: deine Zustimmung oder deine Gegenwehr.«
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich fortzudenken. An einen schöneren Ort, einen friedlichen Ort. Die Lichtung ihres Einhorns, auf die im Frühling der Sonnenschein wie Silberglanz traf.
Ungeschickt versuchte er, ihre Röcke nach oben zu ziehen, ohne den Griff an ihrem Kinn zu lockern.
Nein, sie würde es nicht geschehen lassen. Nicht, ohne sich zu wehren.
Sie packte seine Hand und riss sie von ihrem Kinn los. Er hatte nicht mit Gegenwehr gerechnet. Mit einem weiteren Ruck tat sie das, was ihr als Erstes in den Sinn kam. Sie verdrehte seinen Arm, bis er knackste.
Ywein schrie auf vor Schmerz und sprang von ihr zurück. »Du … Du Hündin!« Er holte mit der unverletzten Hand aus und schlug ihr so fest ins Gesicht, dass ihr Hinterkopf gegen die Wand knallte und ihre Sicht trüb wurde.
Er wollte sie erneut packen, doch diesmal war sie bereit. Sie zog den Dolch aus ihrem Stiefel und hielt die Klinge schützend vor sich.
Er wich zurück, doch er lachte. »Du denkst, du kannst mich mit diesem Küchenmesser auf Abstand halten?«
Sie schmeckte Blut in ihrem Mund und spie aus. »Und du denkst, du könntest mich, eine Tochter der Könige von Corbenic, benutzen?«
»Eine Tochter von Fischhändlern, das bist du.«
»Ein Sohn von dreckigen Barbaren, das bist du!«
Er lachte erneut. »Du kannst dein Messerchen behalten, wenn es dich beruhigt. Doch nun wirst du noch länger hierbleiben. Vermutlich wird dein Sohn dich gar nicht mehr erkennen, sollte ich dich irgendwann zu ihm lassen.« Er wandte sich ab.
»Nein!«, schrie sie ihm hinterher. Der Schmerz in ihrer Brust übertraf den Schmerz in ihrem Kopf. »Ywein!«
Er lachte grimmig und ging weiter.
Als er den Riegel von außen vorschob und die Dunkelheit sie umhüllte, sank sie in die Knie und ließ den Dolch fallen. Tränen rannen über ihr Gesicht, der Schmerz in ihrer Brust löste sich in einem tiefen Schluchzen.
Die Sonne stand hoch am Himmel und schien ihm strategisch ungünstig ins Gesicht. Er schloss die Augen. Sein Gegner hatte einen Vorteil, zögerte jedoch.
Ein Raubvogel stieß in der Ferne einen Jagdschrei aus. In der Luft lag der Duft von Pferden und verschwitzten Männern.
Sein Gegner räusperte sich nervös.
Lancelot grinste, stieß mit einem Ausfallschritt nach vorn und schlug dem Kontrahenten mit der Schwertspitze in die Magengegend. Mit einem weiteren Schritt brachte er sich auf dessen Kehrseite, sodass die Sonne ihn nicht mehr blendete, und schlug mit der flachen Seite gegen den Rücken.
Der junge Mann ging fluchend in die Knie und Lancelot lachte amüsiert auf. »Dein Bruder hat dich sehr geschont, wie ich merke.«
Beschämt stand der Junge mit dem wirren hellbraunen Haar auf, seine Wangen vor Scham gerötet. »Du hattest einen Vorteil.«
Nochmals lachte Lancelot. »Welchen Vorteil? Du hattest die Sonne im Rücken, ich stand mit geschlossenen Augen vor dir. Du hättest nur einmal zustechen müssen, aber du hast gezögert.«
»Er hatte nur Respekt vor deinem Alter«, warf eine amüsierte Stimme von außerhalb des Übungsplatzes ein.
Lancelot richtete die stumpfe Spitze des Holzschwertes in jene Richtung. »Komm nur, Gawain, du bist nicht viel jünger als ich.«
Sein Vetter mit dem nicht minder wirren Haar und den grünen Augen der Tintagel-Familie kletterte behände über das Gatter und schlenderte zu ihnen, die Handflächen nach oben gerichtet. »Ich bin nicht bewaffnet.«
»Du kannst mein Übungsschwert haben«, entgegnete sein jüngerer Bruder allzu schnell.
Lancelot wartete grinsend, bis Gawain von Gaheris das Holzschwert entgegengenommen hatte, seinen neuen Kontrahenten nicht aus den Augen lassend. »Was dein Bruder dir nicht beigebracht hat«, rief er Gaheris nebenbei zu, »nutze jede Gelegenheit. Zögere niemals, nicht einmal bei einem Freund.«
»Denn morgen schon könnte er dein Feind sein«, vollendete Gawain seine Worte. »Natürlich habe ich es ihn gelehrt. Der Dummkopf hat es nur vergessen.«
»Ich bin nicht dumm«, widersprach Gaheris in jugendlichem Eifer.
Gawain nickte ihm zu. »Sieh zu und lerne.«
Lancelot wartete nicht, bis Gawain in Stellung gegangen war. Mit zwei Schritten war er bei ihm und schlug zu. Sein Gegner schaffte es gerade noch, die Holzwaffe zu heben und den Schlag abzuwehren.
Gawains grüne Augen funkelten herausfordernd. »Nicht so ungestüm, mein Freund. Du kannst es wohl kaum erwarten, von mir eine verpasst zu bekommen.«
Lancelot tippte sich mit der Schwertspitze an die Schläfe. »Nicht zögern, mein Freund.«
Tatsächlich hatte es lange keinen Übungskampf mehr zwischen ihnen gegeben. Und Lancelot merkte erst jetzt, wie sehr er den Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner vermisst hatte. Sein Nacken kribbelte. Er lockerte den Griff um das Holzschwert und umfasste es in einer guten Haltung.
Gawain war kein Gegner, der sich Kraft, Technik oder Reichweite zu eigen machte. Er war eine Handbreit kleiner als Lancelot. Sein Vorteil war seine Schnelligkeit, gepaart mit einem gewitzten Einfallsreichtum. Deswegen verzichtete er im Nahkampf auf einen Schild, der seine Bewegungen eingegrenzt hätte, und kämpfte stattdessen mit zwei Kurzschwertern.
»Worauf wartest du?«, provozierte Gawain grinsend. »Blendet dich erneut die Sonne?«
Lancelot schritt auf ihn zu und holte mit dem Schwert aus. Natürlich wich sein Kontrahent geschickt zur Seite und vollführte eine Halbdrehung, um den Schlag zu parieren.
»Das sieht nicht wie Kämpfen aus«, lachte Lancelot. »Willst du mit mir tanzen?«
Gawain hob das Kinn. »Tanzschritte und Kampfschritte sind sich nicht ganz unähnlich.« Er tänzelte zur Seite und machte einen Knicks.
Gelächter erscholl von der Absperrung. Sie hatten mittlerweile Zuschauer, was Gawain gefiel. Er ließ es sich nicht nehmen, ihnen zuzuwinken.
Lancelot schüttelte gespielt tadelnd den Kopf und startete den nächsten Angriff. Diesmal sah er voraus, was Gawain vorhatte, nämlich zur anderen Seite auszuweichen, und drehte sich selbst mit ihm. Holzschwert gegen Holzschwert sahen sich die Vettern in die Augen. Sein Gegner gab nicht nach, legte sein ganzes Gewicht in seinen Schwertarm. Lancelot hielt dagegen.
»So ungern ich euch unterbreche«, rief jemand unter den Zuschauern ihnen zu. Lancelot erkannte Cais Stimme. Der Ziehbruder des Königs klang ernst wie je. »Aber Artus erwartet euch in der großen Halle. Wir haben Gäste.«
»Wer auch immer es ist, kann warten«, rief Gawain zurück.
Sie standen so nah beieinander, dass sein Atem Lancelots Gesicht streifte. Sein Gegner hatte wohl Fisch zum Mittag gehabt.
Lancelot rümpfte die Nase. »Himmel, wie alt war der Fisch?«
Gawain hauchte ihn hingebungsvoll an. »Hätte ich geahnt, dass ich Aug in Aug mit dem großen Lancelot stehen würde, hätte ich selbstverständlich mit Kräutersud nachgegurgelt.«
»Es ist Bernhard von Astolat mit seinen beiden Söhnen und seiner Tochter«, rief Cai ihnen zu, um die Wichtigkeit zu erläutern.
»Der Sachse, der seine Festung golden nennt?«, versicherte sich Gawain.
»Der König von Astolat«, berichtigte Cai überflüssigerweise den Titel.
»Und seine Tochter ist im heiratsfähigen Alter, nehme ich an?«
»Selbstverständlich.« Nun konnte man ein Schmunzeln in Cais Worten hören. »Ihr Name ist Elayne.«
Nur einen kurzen Blick warf Lancelot dem älteren Recken zu. Eine Unachtsamkeit, die er sofort bereute, besonders da Elayne doch ein beliebter Name war. Gawain gab dem Druck seines Schwertes nach, brachte seinen Schenkel hinter Lancelots Standbein und ihn so zu Fall.
Der Aufprall ruckte durch seinen ganzen Körper. Lancelot fluchte, als Gawain auch noch den Fuß auf seine Brust stellte wie auf ein erlegtes Wild.
»Lektion zwei: Niemals ablenken lassen.«
Lancelot packte Gawains Fuß, drehte ihn und richtete sich dabei auf. Sein Kontrahent knurrte vor Schmerz und landete seinerseits mit dem Hinterteil im Dreck.
Die Zuschauer lachten und klatschten Beifall.
Ruhig stand Lancelot auf und klopfte sich die Erde von der Kleidung. »Wenn wir einem König gegenübertreten, sollten wir uns wohl zuerst waschen.« Er reichte Gawain schmunzelnd die Hand, der sie dankbar ergriff und sich aufhelfen ließ.
»Lektion drei«, seufzte Gawain. »Unterschätze niemals Lancelot vom See.«
Sein jüngerer Bruder sammelte die Übungswaffen ein. »Viel gelernt habe ich von eurem Kampf irgendwie nicht«, meinte er spitzbübisch.
»Möchtest du im Pferdetrog landen?«, drohte Gawain und packte seinen Bruder am Kragen, um sein wirres Haar noch mehr durchzuwuscheln.
»Wenn wir uns nicht beeilen, steckt Cai uns alle drei in den Pferdetrog«, raunte Lancelot den Brüdern zu.