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Auf Sylt will Samaya Bachner ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch "Mr. Right" und der Fund einer Jungenleiche wirbeln ihren Neustart auf. Sylt, früher Morgen: Ein Jugendlicher bricht tot am Strand zusammen. War es ein Unfall oder Mord? Schnell gerät die Hotelangestellte Samaya in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen, da bei ihr illegale Aufputschmittel gefunden werden. Solche sollen zum Tode des Jungen geführt haben. Samaya bestreitet die Vorwürfe, doch die Beweislage scheint erdrückend. Der charmante Marc Nahringer stellt sich auf ihre Seite. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen? Als sie sich in Sicherheit glaubt, holen die Schatten der Vergangenheit sie wieder ein. Und ein weiterer Mord geschieht …
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Seitenzahl: 316
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Sibylle Narberhaus
Schattenmeer
Sylt-Krimi
Narberhaus, Sibylle: Schattenmeer. Sylt-Krimi. Hamburg, acabus Verlag 2019
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-708-4
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-707-7
Print: ISBN 978-3-86282-706-0
Lektorat: Laura Künstler, Hannah Göing, acabus Verlag
Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: © Leuchtturm von GEYER ARTWORX
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
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© acabus Verlag, Hamburg 2019
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Prolog
Die Temperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt. Es war Ende November, und die Dunkelheit hatte sich schleichend über den Tag gelegt und somit sein nahendes Ende unverkennbar eingeläutet. Wenn er noch lange hier stehen würde, würde er sich eine dicke Erkältung einhandeln, vielleicht eine Grippe oder sogar eine Lungenentzündung. Automatisch griff er mit der rechten Hand in seine Jackentasche und tastete nach dem Nasenspray. Er inhalierte zwei Stöße und ließ es zurück in die Tasche gleiten. Gleich fühlte er sich besser. Langsam wurden seine Füße kalt. Mittlerweile hatte es obendrein zu regnen begonnen. Er trat von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Zehen, damit sie warm wurden, machte jedoch keine Anstalten, seinen Posten aufzugeben. Regen tropfte vom Schirm seiner Mütze. Seinen Blick hielt er auf das Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerichtet. Das Haus lag in einer ruhigen Wohngegend am Stadtrand mit hübsch angelegten und gepflegten Gärten. Die Hecken waren selbst jetzt im Winter akkurat in Form gebracht worden. Plötzlich nahm er eine Bewegung wahr. Sein Warten wurde belohnt. Licht erhellte eines der zur Straßenseite hin gelegenen Fenster. Dann sah er sie. Ein wohliges Kribbeln breitete sich in seiner Körpermitte aus. Er konnte erkennen, wie Sie vor dem Fenster auf- und abwanderte und dabei telefonierte. Zwischendurch lachte sie immer wieder. Es fiel ihm schwer, sich an ihrem Anblick sattzusehen. Was war sie für ein wundervolles Wesen, geradezu von göttlicher Schönheit. Sie bewegte sich mit einer Grazie, die er selten bei einer Frau gesehen hatte. Dazu dieses mitreißende Lachen! Eines Tages würde sie ihm gehören, es brauchte nur Geduld. Allein diese Vorstellung war der Motor für den Antrieb und die Kraft, sein Ziel unbeirrt zu verfolgen. Doch im Augenblick war es zu früh, sich ihr vollkommen zu offenbaren. Der Moment musste wohl überlegt sein, alles musste perfekt sein. So wie sie. Als sie plötzlich mitten in der Bewegung abrupt stehen blieb und in seine Richtung blickte, fühlte er sich ertappt und trat sofort ein paar Schritte tiefer in den Schutz der Dunkelheit. Hatte sie ihn womöglich gesehen? Hatten ihn seine Träumereien unvorsichtig werden lassen? Während er grübelte, drehte sie ihm den Rücken zu, ohne die Vorhänge zuzuziehen. Erleichterung machte sich mit jedem Zentimeter, den sie sich bewegte, in ihm breit. Nun konnte er erkennen, dass das Gespräch offenbar beendet war, denn sie hielt das Telefon nicht länger an ihr Ohr. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld, der Raum blieb jedoch erleuchtet. Gerade als er überlegte, den Rückzug anzutreten, tauchte sie erneut am Fenster auf. Sie hatte sich zwischenzeitlich umgezogen und trug jetzt ein Nachthemd, unter dem sich ihre Rundungen deutlich abzeichneten, und das lange Haar fiel ihr in blonden Wellen über den Rücken. Wie gebannt starrte er durch das Fenster. In Gedanken fuhr er mit den Fingern durch die seidenen Locken und umfasste mit seinen Händen ihre festen Brüste. Er musste unwillkürlich schlucken, und trotz der Kälte, die ihn umgab, wurde ihm glühend heiß. Umgehend zerrte er an seinem Schal, den er fest um den Hals gewickelt hatte, denn ihn überkam gleichzeitig das Gefühl zu ersticken. Bevor seine Fantasie überhandnehmen konnte, zog sie die Vorhänge zu.
»’Nabend!«
Als er durch eine Stimme neben sich aus seinen Träumereien gerissen wurde, erschrak er beinahe zu Tode. Tief in Gedanken hatte er die Welt um sich herum gänzlich ausgeschaltet. Die Begrüßung kam von einer Frau, die mit ihren beiden Zwergpudeln einen abendlichen Spaziergang machte. Widerwillig erwiderte er ein »Guten Abend« und machte sich dann auf den Heimweg. Morgen war auch noch ein Tag. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, klemmte er eilig eine rote Rose hinter den Scheibenwischer ihres Wagens, auch auf die Gefahr hin, dass die empfindliche Blume bis zum nächsten Morgen durch die Kälte Schaden nehmen würde. Er näherte sich seinem Ziel Stück für Stück.
* * *
»Das letzte Mal Sport mit der 8b«, murmelte sie vor sich hin, als sie morgens kurz vor 7.30 Uhr die Umkleidekabinen der Turnhalle aufschloss. Dabei wurde sie von einem Anflug von Wehmut erfasst. Mit dem klappernden Schlüsselbund in der Hand marschierte sie den langen Gang entlang bis zu der schweren Doppeltür, hinter der sich die eigentliche Sporthalle befand. Als sie die Tür öffnete wie jeden Morgen, schlug ihr der typische Geruch von Bohnerwachs in Kombination mit Desinfektionsmitteln in einem gewaltigen Schwall entgegen. Eine abscheuliche Mischung, doch heute entlockte ihr dieser Chemiecocktail lediglich ein schwaches Lächeln. Zielstrebig steuerte sie auf die verglaste Front zu und betätigte die Schalter der automatischen Fensteröffner, um frische Luft hereinzulassen. Schließlich wollte sie vermeiden, dass ihre Schüler gleich mit Beginn der ersten Stunde in Ohnmacht fielen. Als nächstes schloss sie die Metallschränke auf und holte das Netz mit den Volleybällen hervor. In ein paar Tagen begannen die Sommerferien, und das alte Schuljahr war beendet. Für sie würde nicht nur ein Schuljahr mit zu korrigierenden Klausuren, anstrengenden Elternabenden und -sprechtagen sowie nicht enden wollenden Zeugniskonferenzen zu Ende gehen, sondern auch ihre berufliche Schullaufbahn. Nach reiflicher Überlegung hatte sie sich dazu entschlossen, den Schuldienst an den Nagel zu hängen. Noch war sie jung genug, um einen Neustart zu wagen. Irgendwann war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass man nicht aufhören sollte, seinen Zielen und Wünschen zu folgen. Doch je älter man wurde, desto mehr verließ einen der Mut. Das hatte sie oft bei ihren Mitmenschen beobachtet. Begriffe wie Sicherheit und Gewohnheit, letztendlich auch Bequemlichkeit rückten immer weiter in den Fokus und spielten am Ende eine entscheidende Rolle. Diese Attribute ergriffen zunehmend Besitz von einem und machten ein Stück weit träge. Vermutlich mischte sich zu alledem auch eine Portion Feigheit, die Angst vor der Ungewissheit. Aus dem gewohnten Trott auszubrechen, kostete eine Menge Entschlossenheit, das stand außer Frage. Prinzipiell mochte sie ihre Arbeit und auch die meisten ihrer Schüler, aber sie war in der letzten Zeit nicht mehr richtig glücklich gewesen. Damals war sie mit klar definierten Vorstellungen in diesen Beruf gegangen, hatte jedoch im Laufe der Zeit feststellen müssen, dass die Realität ernüchternd anders aussah. Manchmal hatte sie das Gefühl, gegen eine dicke Wand aus Ignoranz und Sturheit anzurennen, die sich nicht durchbrechen ließ, so sehr sie sich anstrengte. Es mangelte an Spielraum für eigene Ideen, jedenfalls an ihrer Schule. Oft lag die Ursache dafür schlichtweg am fest definierten Lehrplan, was wiederum sehr frustrierend war. Für sie gab es jetzt kein Zurück mehr, aber sie war überzeugt, ihre Entscheidung niemals bereuen zu werden. Eine Gruppe Schüler, die in die Turnhalle geschlurft kam, riss sie aus ihren Grübeleien.
»Morgen, Frau Bachner«, grummelten einige Teenager vor sich hin. Sie wirkten alles andere als ausgeschlafen. Immerhin nahmen sie ihre Lehrerin überhaupt zur Kenntnis. Sie konnte sich glücklich schätzen und honorierte diese Zuwendung mit einem Schmunzeln. Erwachsene zu grüßen – von Lehrern einmal ganz zu schweigen – galt bei einigen Jugendlichen als uncool und war etwas für Streber und Schleimer. Davon abgesehen empfanden sie Schule ohnehin als ätzend und obendrein als pure Zeitverschwendung. Alles, was man fürs Leben wissen musste, konnte man sich jederzeit bequem vom heimischen Sofa aus über das Internet aneignen. Wozu sollte man sich also den ganzen Tag in einem öden Klassenzimmer aufhalten? Diese Auffassung musste sie sich ein ums andere Mal anhören.
»Guten Morgen, ihr könnt euch schon warm machen. Zehn Runden einlaufen, hopp«, trieb sie die müde Meute vorwärts, und stellte die Musikanlage an, die auf ihr Bestreben hin für die Schule angeschafft worden war. Sie versuchte, ihre Schüler stets zu motivieren, was nicht immer einfach war, daher untermalte sie den Sportunterricht gerne mit aktueller Musik. Leider rückte das Interesse für sportliche Aktivitäten für einige Schüler weit in den Hintergrund. Das galt im Übrigen für beide Geschlechter. Viele Jugendliche verbrachten ihre Freizeit auf dem Sofa vor dem Fernseher oder Computer und stopften sich mit Chips oder Süßigkeiten voll.
Das Klingeln zur ersten Stunde ertönte und zwischenzeitlich war die gesamte Klasse vollzählig eingetrudelt. Die Schüler liefen brav ihre Runden, bis auf einige, die ihre Sportsachen vergessen hatten oder eine mehr oder weniger glaubwürdige Entschuldigung der Erziehungsberechtigten vorlegen konnten. Als ihre Lehrerin kannte sie die Ausreden, ohne die Entschuldigungsschreiben überhaupt lesen zu müssen. In den meisten Fällen waren es ohnehin immer dieselben Gesichter, die am Rand saßen. Doch heute, unmittelbar vor den Ferien, wollte sie sich nicht mehr darüber ärgern.
»Handys weg!«, forderte sie die vier Turnbeutelvergesser auf, die seitlich an der Wand wie die Hühner auf der Stange auf der Bank saßen.
»Ach, Mensch, Frau Bachner«, maulte einer von ihnen.
»Handys in die Taschen! Sofort! Wir befinden uns noch immer im Unterricht, auch wenn ihr nicht aktiv daran teilnehmt. Ihr könnt aber gerne eine Theorieaufgabe bekommen, wenn euch das lieber ist«, stellte sie klar und versuchte dabei, eine strenge Miene aufzusetzen, um ihrer Autorität mehr Ausdruck zu verleihen. Da sie trotz ihrer Ende zwanzig sehr jugendlich wirkte, wurde ihr manchmal von den Schülern nicht der nötige Respekt entgegengebracht. »Das gilt auch für dich, Janette! Los!«
»Schon gut, bleiben Sie mal hübsch geschmeidig!«, erwiderte das Mädchen demonstrativ gelangweilt und zog eine Grimasse. Trotzdem zeigte die Androhung Wirkung und die heiß geliebten Smartphones wurden, wenn auch nur widerwillig und unter Murren, in den Rucksäcken verstaut.
Nachdem die Doppelstunde zu Ende war, schickte sie die Schüler zum Duschen. Aber auch das sollte in Zukunft nicht mehr ihre Sorge sein. Sie war froh, sich nicht länger um die Lücken kümmern zu müssen, die in der häuslichen Erziehung entstanden waren. Einige Eltern waren augenscheinlich nicht in der Lage, ihren Sprösslingen die grundlegenden Werte mit auf den Weg zu geben. Und das bezog sich nicht nur auf das Thema Körperpflege. Sie atmete tief durch und verließ die Turnhalle.
Nach der großen Pause genoss sie eine Freistunde, bevor sie in einer der zehnten Klassen Deutschunterricht gab. Sie saß allein im Lehrerzimmer und trank einen Becher des schwarzen Gebräus, das den Namen Kaffee nicht annähernd verdient hatte. Möbelbeize wäre wohl die treffendere Beschreibung. Keine Ahnung, wer ihn heute Morgen aufgesetzt hatte. Die Person war entweder mit dem falschen Fuß aufgestanden oder wollte sich an den Kollegen rächen – wofür auch immer. Sie war gerade in einen Artikel über Trendsportarten in einer Zeitschrift vertieft, als die Tür aufflog und ihr Kollege Achim Wagner hereinpolterte. Er trug wie immer eine ausgewaschene Jeans mit ausgebeulten Knien sowie ein schlabbriges Sweatshirt, das sie höchstens zur Gartenarbeit anziehen würde. Auf sein Äußeres legte er nie besonders viel Wert, hielt sich aber trotz allem für unwiderstehlich mit seiner lässigen Art, die er täglich aufs Neue unter Beweis zu stellen versuchte. Bei den Schülern genoss er nicht sonderlich viel Sympathie. Die Resonanz auf sein Verhalten im Lehrerkollegium hielt sich die Waage. Sein krampfhaftes Bemühen, cool und jugendlich zu wirken, überschritt regelmäßig die Grenze zum Peinlichen. Doch das schien ihn in keiner Weise zu verunsichern, geschweige denn zu stören.
»Hallo, Samaya, wie fühlt man sich kurz vor der Entlassung in die freie Welt?«, fragte er mit spöttischem Unterton und ließ seine uralte Ledertasche, die an einigen Stellen speckig glänzte, laut auf den Tisch knallen. Achim war der einzige unter den Kollegen, der sie durchweg mit ihrem vollen Vornamen ansprach. Sonst wurde sie von allen nur Sam genannt. Achim Wagner war ihr von der ersten Minute an unsympathisch gewesen. »Was liest du da?«, erkundigte er sich mit gerunzelter Stirn.
»Hallo, Achim! Nichts, was dich interessieren würde. Und ehrlich gesagt, kann ich es kaum erwarten, Leute wie dich nicht länger ertragen zu müssen«, entgegnete sie, ohne von ihrer Zeitschrift aufzusehen. Endlich konnte sie auf die aufgesetzte Freundlichkeit, mit der sie ihm stets begegnet war, verzichten. Nicht mehr lange und er gehörte ebenfalls ihrer Vergangenheit an. Sie sehnte den Augenblick herbei, da dieser Mann endgültig aus ihrem Leben verschwand.
»Oh, was sind wir bloß heute wieder gereizt, Engel«, ließ er nicht locker, nahm Platz und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Dann zog er ein Nasenspray aus der Tasche und nahm lautstark zwei Züge. »Was hatten wir für eine schöne Zeit!«, seufzte er theatralisch.
Er verschränkte beide Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sah sie herausfordernd mit seinem selbstgefälligen Grinsen an. Sie versuchte, sich nicht von seinem provokanten Verhalten beirren zu lassen.
»Weißt du was, Achim?« Sie drehte sich zu ihm um. »Lass mich einfach in Ruhe, okay? Ich dachte, das Thema hätten wir endgültig geklärt. Und nenn mich nicht Engel!«, setzte sie nach.
Er lachte übertrieben. »Sieh dich an! Deine blauen Augen und dein blond gelocktes Haar! Das ist doch engelsgleich. Obwohl dein Wesen eher das Gegenteil verkörpert.« Er deutete mit seinen Zeigefingern zwei Teufelshörner an.
Sie verspürte eine unangenehme Kälte in seinem letzten Satz, ging jedoch nicht darauf ein, sondern verstaute wortlos die Zeitschrift in ihrer Tasche, hängte sich diese über die Schulter und marschierte an ihm vorbei nach draußen. Im Vorbeigehen schlug ihr der Geruch seines aufdringlichen Rasierwassers entgegen, das sie in der Nase kitzelte.
»Denk dran, man sieht sich immer zweimal im Leben, Engel!«, rief Achim ihr laut lachend hinterher, aber sie tat, als wären seine Worte nicht mehr bis zu ihr vorgedrungen. Sie wusste nur eines, sie brauchte dringend frische Luft. Im Türrahmen stieß sie beinahe mit einem weiteren Kollegen zusammen: Thilo Moll.
»Hoppla! Wohin so eilig?«, fragte er und wich ihr in letzter Sekunde aus.
Doch sie rauschte wortlos an ihm vorbei. Thilo sah ihr verwundert nach. Gleich darauf tat es Sam leid, dass sie ihm kaum Beachtung geschenkt hatte, aber sie war zu wütend gewesen. Er war die Unscheinbarkeit in Person und es vermutlich gewohnt, des Öfteren übersehen zu werden, aber niemals von ihr. Thilo Moll war einer der stillen Vertreter seiner Zunft. Stets um die Sympathien und das Wohlwollen seiner Mitmenschen bemüht – wenn auch erfolglos, unterrichtete er Physik und Chemie an der Schule. Nicht gerade die absoluten Lieblingsfächer, mit denen er wenigstens in dieser Hinsicht hätte punkten können. Thilo versuchte, mit jedem gut auszukommen. Im Gegensatz zu Achim Wagner reizte er Sam nicht ständig mit Machosprüchen oder zweideutigen Bemerkungen – im Gegenteil –, er versuchte, sie zu unterstützen, wo er konnte. Zuweilen empfand sie diese kollegiale Fürsorge jedoch als regelrecht erdrückend, auch wenn seine Absicht lediglich freundlich gemeint war. Schließlich war sie kein kleines Mädchen mehr, das sich nicht allein in der Welt zurechtfand und an die Hand genommen werden musste. Böse Zungen behaupteten, Thilo hätte noch nie eine Freundin, geschweige denn überhaupt jemals etwas mit einer Frau gehabt.
»Was ist denn in unsere Kollegin gefahren?«, erkundigte sich Thilo Moll bei Achim, der mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl lümmelte.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat sie ihre Tage«, brummte Achim, zog ein Schulheft aus dem Stapel neben sich und durchblätterte es desinteressiert.
»Weil außer dir niemand anwesend ist, und es nicht das erste Mal wäre, dass du sie bis aufs Blut reizt. Lass sie doch endlich in Ruhe und akzeptiere, dass sie nichts mit dir zu tun haben will.« Thilo nahm einige Unterlagen aus seinem Fach an der Wand. Dabei fiel sein Blick auf das schwarze Brett daneben, auf dem mit Hilfe von Reißzwecken neben diversen Kleinanzeigen und Ankündigungen auch jede Menge Fotos des gesamten Kollegiums angebracht waren. Auf einem der Bilder lachte Sam an der Seite eines anderen Kollegen in die Kamera. Das Foto war beim letzten Lehrerausflug entstanden, erinnerte sich Thilo. Wie fröhlich und wunderschön sie darauf aussah. Es wunderte ihn nicht, dass sie bei ihren Schülern außerordentlich beliebt war.
»Oh, spielst du mal wieder ihren Retter in der Not, edler Ritter?« Achim deutete eine Verbeugung an. »Gib dir keine Mühe, die ist eine Nummer zu groß für dich. Außerdem ist sie sowieso bald weg. Ich befürchte, das wird sehr hart für dich werden, oder, Thilo? Jeder weiß doch, dass du bis über beide Ohren »heimlich« in sie verknallt bist, oder glaubst du, das hätte niemand bemerkt? Du scharwenzelst doch ständig um sie herum wie ein dressiertes Hündchen. Und was ist die Gegenleistung? Na? Sie macht sich letztendlich lustig über dich.«
»Hör auf, Achim! Du weißt, dass das nicht wahr ist. Das ist völliger Quatsch!«, protestierte Thilo und merkte, wie er rot wurde.
»Ach nein? Woher willst du das wissen? Kennst du sie so gut?«, versuchte Achim seinen Kollegen aus der Reserve zu locken.
»Ich … ich weiß es eben«, begann Thilo, hilflos zu stottern, und fühlte sich in die Enge getrieben.
Jetzt kribbelte es zu allem Überfluss heftig in seiner Nase, sodass er ein Niesen nicht länger zurückhalten konnte. Dieser Heuschnupfen plagte ihn zusehends und wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Krampfhaft suchte er nach seinem Nasenspray.
»Allergie, was? Das Problem kenn’ ich zur Genüge!« Achim hielt ihm sein Spray hin.
»Danke, aber ich habe mein eigenes. Irgendwo muss es sein.« Er durchsuchte seinen Rucksack.
»Siehst du, wie leichtgläubig du bist? Du glaubst ernsthaft, ich hätte dir von meinem Spray gegeben? Pfui Teufel! Aber so ist es mit unserer Kollegin auch. Für dich mag Samaya vielleicht ein Engel sein, aber Frauen ihres Kalibers brauchen keine weichgespülten Schlaumeier wie dich, sondern echte Kerle, die ihr auch mal zeigen, wo es lang geht.«
»Tatsächlich? Und du bist so einer, ja? Komisch nur, dass sie regelmäßig die Flucht ergreift, sobald du in ihrer Nähe auftauchst«, setzte sich Thilo zur Wehr. Was glaubte sein Kollege, wer er war, dass er derartige Urteile fällte?
»Träum schön weiter, Thilo! Irgendwann kommt das böse Erwachen. Garantiert. Wir werden ja sehen, wer am Ende recht behält«, versicherte Achim seinem Lehrerkollegen. Dann erhob er sich, klemmte sich den Stapel Hefte unter den Arm und schlurfte aus dem Lehrerzimmer.
Nach der sechsten Stunde hatte Sam unterrichtsfrei. Das passte hervorragend in ihren Zeitplan, da sie nachmittags einen Termin mit ihrem Vermieter bezüglich der Wohnungsübergabe hatte. Herr Schöff hatte ihre Kündigung mit außerordentlichem Bedauern entgegengenommen. Eine derart korrekte und ruhige Mieterin habe er selten gehabt, hatte er mehrfach betont, als sie ihn von ihren Umzugsplänen in Kenntnis gesetzt hatte. Ihre Möbel konnte sie zum größten Teil verkaufen oder an die Nachmieter weitergeben. Besonders erleichtert war sie, dass sie die Küche, die sie erst vor einem knappen Jahr angeschafft hatte, zu einem guten Preis verkaufen konnte. In ihrer neuen Wohnung war bereits eine Küche vorhanden, und auch der Rest der Wohnung war möbliert. Die Umzugskartons mit den restlichen persönlichen Sachen waren größtenteils fertig gepackt und würden in den nächsten Tagen abgeholt werden. Es handelte sich ohnehin nur um eine Handvoll Kisten. Ihre jetzige Wohnung war nicht besonders groß, aber umso gemütlicher, und auch ihr neues Heim hatte nur wenige Quadratmeter mehr. Sie verfügte zusätzlich über einen Balkon und einen separaten Vorratsraum neben der Küche.
In vier Tagen sollte es endlich so weit sein. Dann würde sie in ihr neues Leben starten. Viele ihrer Mitmenschen hielten sie für komplett verrückt, da sie ihre sichere Anstellung als Lehrerin an den Nagel gehängt und gegen eine ungewisse Zukunft eingetauscht hatte. Das spürte sie deutlich, auch wenn es kaum jemanden gab, der sie direkt auf das Thema ansprach. Dennoch war sie fest entschlossen und bereit, das Risiko einzugehen. Was am Ende dabei herauskam, wusste sie nicht, aber das wusste schließlich niemand im Voraus, ermutigte sie sich selbst. Einen Versuch war es allemal wert. Und jetzt war es ohnehin zu spät für einen Rückzieher. Im Lehrerkollegium hatte sie absichtlich niemandem erzählt, wo genau sie hinging und was zukünftig ihre Aufgabe sein würde. Sie hatte auf Fragen immer ausweichend geantwortet. In erster Linie wollte sie mit dieser Taktik verhindern, dass Leute wie Achim, um die sie lieber einen weiten Bogen machte, erfuhren, wo sie demnächst ihre Zelte aufschlagen würde.
Die nächsten Tage zogen sich wie Kaugummi, und die Unterrichtsstunden plätscherten gemächlich vor sich hin. Alle fieberten nur einem Ziel entgegen – den großen Ferien. Sam begegnete ihrem Kollegen Achim nur ab und zu in den großen Pausen im Lehrerzimmer, wo sie glücklicherweise nie mit ihm allein war. Meistens war Thilo ebenfalls anwesend. Er konnte zuweilen anstrengend sein mit seiner Besserwisserei und Fürsorge, aber das war ihr immer noch lieber als Achims Überheblichkeit und seine zweideutigen Anspielungen. Unter den Lehrkräften herrschte eine entspannte und ausgelassene Stimmung. Man konnte regelrecht spüren, wie der Stress der vergangenen Wochen mit jedem Tag nachließ. Die Zensuren standen lange fest, die Zeugnisse waren geschrieben und es gab keine Konferenzen mehr. Im Grunde ging es nur noch darum, die verbleibende Zeit mit den Schülern möglichst sinnvoll zu nutzen. Am letzten Schultag betrat Sam mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend das Schulgelände. Bewusster als gewöhnlich betrachtete sie ein letztes Mal die Umgebung. Wenn man tagein, tagaus die gleichen Wege benutzte, verkümmerte am Ende der Blick für Kleinigkeiten. Damit war vermutlich die allgemeine Betriebsblindheit gemeint, überlegte sie, als sie an einem Kondomautomaten unweit der Toiletten vorbeikam. Sie stutzte für einen Augenblick. Hing der schon länger da? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals bewusst wahrgenommen zu haben. Dass es diese Automaten an einigen Schulen seit Kurzem gab, hatte sie gehört, aber auch an ihrer Schule? Diese Tatsache war ihr augenscheinlich entgangen.
An der Schule war es Tradition, dass sich Lehrer und Schüler nach der Zeugnisübergabe gemeinsam in der Aula trafen. Der Rektor hielt seine mit Anekdoten des vergangenen Schuljahres gespickte Ansprache und entließ anschließend alle in schöne und erholsame Ferien. Dieses Jahr gab es jedoch eine kleine Programmänderung. Nach der üblichen Rede hatten ihre Schüler anlässlich ihres Abschiedes eine kleine Vorführung in Form eines Poetry-Slams einstudiert. Obwohl Sam ihre Gefühle meistens gut unter Kontrolle hatte, konnte sie die Tränen der Rührung nicht zurückhalten. Im Anschluss verabschiedeten sich die Kollegen mehr oder weniger rührend von ihr und wünschten alles Gute für die Zukunft. Auf eine gesonderte Abschiedsfeier im Kollegenkreis hatte sie bewusst verzichtet. Sie hatte in der vergangenen Woche einen Kuchen gebacken und ihn neben ein paar anderen Süßigkeiten ins Lehrerzimmer gestellt. Sie war kein Freund von großen Abschieden. Sam trennte ihr Privatleben generell strikt vom Berufsleben, auch wenn sie dadurch manchmal auf Unverständnis stieß und gelegentlich als Sonderling abgestempelt wurde. Nun stand sie beinahe ganz allein in der leeren Aula. Der eben noch gewaltige Geräuschpegel war vollständig verhallt. Sie nahm ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg, erleichtert darüber, alles überstanden zu haben. Sie überquerte ein letztes Mal den Parkplatz, stieg in ihr Auto, das sie bereits am Morgen fertig gepackt hatte, und startete den Motor. Sie verließ diesen gewohnten Ort mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wobei Ersteres überwog. Mit eingeschaltetem Radio fuhr sie auf die Autobahn Richtung Norden. Gleich an der Auffahrt stand ein junger Mann, der per Anhalter unterwegs war. Sein Ziel war Kiel, wie ein quadratisches Pappschild verriet, das er demonstrativ vor dem Körper hielt. Um seine Chancen auf eine kostenfreie Mitfahrgelegenheit zu steigern, hatte er es um den Zusatz »habe Kekse« ergänzt. Sam musste schmunzeln. Der Typ sah sympathisch aus, aber sie nahm grundsätzlich keine Anhalter mit, selbst keine mit Humor. Über ein gesundes Misstrauen verfügte vermutlich jeder Mensch, ihres dagegen war – milde formuliert – äußerst ausgeprägt.
Nach knapp drei Stunden Fahrt erreichte sie die Verladestation des Sylt Shuttle in Niebüll. Nur noch die Überfahrt mit dem Autozug nach Westerland und ihr Ziel rückte in greifbare Nähe. Ihr neues Zuhause war Sylt – die beliebte Ferieninsel, der nördlichste Zipfel Deutschlands und einer der schönsten Plätze der Welt, wie sie fand. Mit der Insel verband sie viele schöne Kindheitserinnerungen, aber auch einen schmerzlichen Abschied. An der Verladestation war es erwartungsgemäß sehr voll, da die Ferien in einigen Bundesländern zeitgleich begonnen hatten und alle Welt sich auf den Weg in den Urlaub machte. In zähem Tempo quälte sich die Blechlawine zu den Terminals. Als Sam an der Reihe war, wählte sie an dem Fahrkartenautomaten eine Hinfahrt ohne Rückfahrt. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit, gleichzeitig aber ein gutes. Nachdem der Automat ihre EC-Karte und das Ticket ausgespuckt hatte, öffnete sich die Schranke, sodass sie hindurchfahren und sich in die vierte Spur einreihen konnte. Eine elektronische Anzeigetafel zeigte, dass circa eine Stunde Wartezeit bis zur nächsten Verladung vor ihr lag. Die Zeit bis dahin nutzte sie, um sich in dem angrenzenden Bistro »Port Sylt« ein Brötchen und einen Kaffee sowie eine Tageszeitung zu kaufen. Da es bewölkt, aber angenehm warm war, hielten sich die meisten der wartenden Fahrgäste außerhalb ihrer Autos auf. Alt und Jung wuselten umher, aßen Eis oder Pommes, suchten die Toiletten auf oder führten ihre Hunde zwischen den wartenden Autos spazieren. Es herrschte eine entspannte Atmosphäre trotz der langen Wartezeit, da alle dem Urlaub entgegenfieberten. Als Sam mit Kaffeebecher und Brötchen bewaffnet zu ihrem Wagen zurückkehrte, fiel ihr in einer der Wartereihen ein großer, schwarzer SUV mit Münchner Kennzeichen und verdunkelten Scheiben auf. In seiner Nähe hatte sich eine Handvoll junger Frauen positioniert, die aufgeregt durcheinanderschnatterten und ständig ihre Handys hochhielten, um irgendetwas oder irgendjemanden fotografieren oder filmen zu können. Vielleicht war es auch nur ein neuer Trend, Selfies zu machen, überlegte Sam. Wenn für eine Woche der Strom ausfallen würde, würde eine ganze Generation Amok laufen, dachte sie, während sie herzhaft in das belegte Brötchen biss. Mittlerweile knurrte ihr Magen derart laut vor Hunger, dass man sie zweifelsohne für eine Bauchrednerin halten konnte. Während sie kaute und die Zeitung studierte, drang plötzlich ein hysterisches Kreischen an ihr Ohr. Neugierig blickte sie in Richtung des SUV, dessen Türen sich geöffnet hatten. Vier Männer mit dunklen Sonnenbrillen waren ausgestiegen und wurden sogleich von der Horde junger Frauen umringt. Sie hatten Schwierigkeiten, sich ihren Weg durch den aufdringlichen Fanclub zu bahnen. Sam konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Die Frauen schienen es besonders auf einen von ihnen abgesehen zu haben. Er war groß, breitschultrig und trug eine braune Lederjacke und Jeans. Der Trubel um seine Person schien ihm unangenehm zu sein, denn er zog den Schirm seiner Baseballkappe tief ins Gesicht. Mit eiligen Schritten verschwand die Männertruppe in Richtung der Waschräume. Sie konnten von Glück reden, dass ihnen die weibliche Fangemeinde nicht bis auf die Herrentoilette folgte. Vielleicht, ging es Sam durch den Kopf, handelte es sich bei den Männern um Popstars oder etwas in der Art, anders konnte sie sich das Verhalten der Frauen nicht erklären. Mit einem gleichgültigen Schulterzucken schob sie sich den letzten Bissen Brötchen in den Mund und widmete sich wieder der Tageszeitung. Mittlerweile war der Kaffee in dem braunen Pappbecher so weit abgekühlt, dass sie ihn gefahrlos trinken konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde endlich die Auffahrt auf den bereitstehenden Autozug freigegeben. Sam bedauerte ein bisschen, dass sie mit ihrem Wagen im unteren Teil des Zuges stehen musste. Sie hätte gerne den Blick von der Etage darüber genossen. Doch die oberen Plätze waren den Besitzern von hohen Fahrzeugen und solchen mit Dachgepäckboxen oder Fahrrädern vorbehalten. Auch der dunkle SUV der vier Männer aus München wurde vom Bahnpersonal nach oben dirigiert. Was soll’s, sagte sich Sam, schließlich konnten nicht alle oben stehen. Zwischenzeitlich hatte sich die Sonne hinter den dicken Wolken hervorgekämpft. Während der Fahrt über den Hindenburgdamm, der das Festland mit der Insel Sylt verbindet, konnte man den weiten Blick auf das Wattenmeer genießen. Sam öffnete die Scheibe ihres Wagens, streckte den Kopf ein Stück heraus und sog mit geschlossenen Augen die würzige Nordseeluft ein. Der Fahrtwind blies ihr kräftig ins Gesicht. Ein wundervolles Gefühl. Dann öffnete sie die Augen wieder und ließ den Blick über die scheinbar unendliche Weite des Wattenmeeres schweifen. Mit einem Schlag fühlte sie sich frei und unbeschwert, sämtlicher Ballast der vergangenen Zeit sowie die letzten Zweifel an ihrer Entscheidung wurden mit dem Wind in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Auf dem Wasser, das sie umgab, kräuselten sich hier und da kleine Wellen, je nachdem, in welche Richtung der Wind sie trieb. Die aufkommende Flut bedeckte den nackten Meeresboden, und die Strahlen der Sonne glitzerten auf der Wasseroberfläche. Dichte Schwärme von Seevögeln demonstrierten am Himmel eindrucksvoll ihre Formationskünste. Schafe, deren Felle mit roten und blauen Farbmarkierungen versehen waren, wanderten gemächlich auf dem Deich und dem angrenzenden Weideland umher. Einige von ihnen hatten sich hingelegt und kauten nunmehr mit stoischer Gelassenheit vor sich hin, gänzlich unbeeindruckt vom Rattern des vorbeifahrenden Zuges. In der Ferne war der schwarz-weiße Leuchtturm von Kampen zu erkennen, wie er stolz im Licht der hochstehenden Sonne strahlte, eingebettet in sattgrüne Wiesen. Jetzt hatte der Zug den Hindenburgdamm hinter sich gelassen und die Insel Sylt erreicht. Sam atmete tief ein und blickte aus dem Fenster. Auf den Feldwegen rund um den Ort Morsum waren unzählige Fahrradfahrer und Spaziergänger unterwegs. Dazwischen standen Pferde auf den Weiden rechts und links des Bahndammes, zupften das saftige Grün oder dösten in der Sonne. Dabei wehten ihre langen Mähnen und Schweife im Wind.
Als der Zug in Westerland sein Ziel erreichte und endgültig zum Stehen kam, wurden sogleich die Motoren der Wagen angelassen. Ein Rumpeln verriet, dass in der oberen Reihe die Autos nacheinander vom Zug rollten. Nur vor Sam herrschte Stillstand. Nichts bewegte sich. Bei heruntergelassener Scheibe steckte sie den Kopf aus dem Fenster, um nach dem Grund dieser Zwangspause zu sehen. Sie sah einen Bahnangestellten, der gerade im Begriff war, irgendein Gerät zur Seite zu rollen. Kurz darauf setzten sich die Autos vor ihr ebenfalls in Bewegung und verließen eines nach dem anderen den Zug. Alles deutete darauf hin, dass eines der vorderen Fahrzeuge Starthilfe benötigte und somit den kurzen Stau verursacht hatte. Sam fuhr in Richtung Norden nach List, den am nördlichsten gelegenen Ort der Insel. Dort wartete ihr neues Zuhause auf sie. Ihr Navigationsgerät führte sie direkt vor ein gepflegtes Mehrfamilienhaus, in dem sie eine von vier Wohnungen gemietet hatte. Sam hatte unglaubliches Glück gehabt und war durch eine Bekannte ihres Bruders an diese für Sylter Verhältnisse bezahlbare und möblierte Wohnung gekommen. Das Problem, Dauerwohnraum auf Sylt zu bekommen, war nicht neu, und die Situation hatte sich in den letzten Jahren nicht grundlegend verbessert – eher das Gegenteil war der Fall. Sam parkte ihren Wagen auf einem der Stellplätze vor dem Haus und stieg aus. Mit dem Schlüssel, den ihr die Vermieterin vor ein paar Tagen per Kurierdienst hatte zukommen lassen, öffnete sie die Haustür und betrat den Eingangsbereich. Drinnen empfing sie der frische Geruch von Putzmitteln und kitzelte ihr in der Nase. Augenscheinlich war hier vor Kurzem frisch gewischt worden, denn an einigen Stellen schimmerten die Fliesen noch feucht. Links neben dem Eingang entdeckte Sam eine große Magnettafel. Auf ihr waren diverse Zettel und Informationsblätter der Hausverwaltung befestigt. Sam nahm sich vor, sie in den nächsten Tagen in aller Ruhe zu studieren. Jetzt war sie einfach nur gespannt auf ihre neue Bleibe. Was sie bislang gesehen hatte, gefiel ihr ausgesprochen gut, das Haus machte einen freundlichen und gepflegten Eindruck. Sie nahm ihre Umgebung weiter in Augenschein, denn bislang kannte sie sie ausschließlich von Fotos, die sie per E-Mail erhalten hatte. Die Zweizimmerwohnung, die Sam gemietet hatte, lag im ersten Obergeschoss. Durch den Balkon auf der Südseite schien ihr die Sonne entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete. Sie stellte ihr Gepäck im Flur ab und ging direkt ins Wohnzimmer, wo sie den hauchdünnen Vorhang beiseitezog und die Balkontür öffnete. Als sie hinaustrat, bot sich ihr ein herrlicher Ausblick auf das Meer, gefolgt von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, das sie durchströmte. Sie konnte kaum glauben, dass sie diesen Ausblick ab sofort jeden Tag würde genießen können. Eine kreischende Möwe zankte sich auf der unter ihr gelegenen Rasenfläche mit einem Artgenossen um ein Stück Brötchen und riss Sam aus ihren Gedanken. Nachdem sie noch einen Moment die wärmenden Sonnenstrahlen genossen hatte, ging sie hinein, um sich den Rest der Wohnung genauer anzusehen. Auf dem kleinen Esstisch, um den vier Stühle standen, waren eine Flasche Sekt und ein hübscher Blumenstrauß mit den besten Grüßen der Vermieterin platziert. Welch nette Begrüßung, dachte Sam, und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. Insgesamt gefiel ihr die Wohnung in der Realität sogar um einiges besser als auf den Bildern. Ihr neues Zuhause war kaum größer als ihr altes und völlig ausreichend, befand Sam. Dazu kam die unmittelbare Nähe zum Meer, die durch nichts zu toppen war. Nachdem sie sich einen ersten Eindruck verschafft hatte, begann sie, ihre Taschen auszupacken und ihre Sachen in die Schränke und Schubladen einzuräumen. Die Umzugskartons mit ihrem sonstigen Hausrat sollten morgen im Laufe des Vormittages eintreffen, hatte sie von der Spedition am Morgen mitgeteilt bekommen.
Es war kurz nach 18.00 Uhr, als Sam mit allem fertig war. Sie beschloss, nach Westerland zu fahren, um sich in einem Supermarkt mit Lebensmitteln und allem anderen einzudecken, was sie fürs Erste benötigte. Als sie dort ankam, herrschte reger Betrieb, und sie ergatterte nur mit Mühe und Not einen freien Parkplatz. Wie es schien, waren die Menschen den Tag über unterwegs gewesen und kamen erst am frühen Abend zum Einkaufen. Nachdem Sam sich durch unzählige Gänge geschoben und alles zusammengesucht hatte, steuerte sie mit ihrem vollen Einkaufswagen auf die Kassen zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit war sie endlich wieder auf dem Parkplatz und verstaute die Einkäufe im Kofferraum ihres Autos. Noch immer hatte sie das Piepsen der Kassenscanner im Ohr. Im Anschluss an einen Abstecher zu einem Drogeriemarkt fuhr sie zurück nach List.
Die erste Nacht in ihrer neuen Wohnung hatte Sam hervorragend geschlafen. Sie wurde vom Geschrei der Möwen geweckt. Schlaftrunken wankte sie zum Fenster und zog das Rollo hoch. Der Himmel war blau und wolkenlos. Der Tag versprach, schön zu werden, obwohl man sich an der See niemals sicher sein konnte, denn das Wetter war oft unberechenbar und konnte von einer Minute auf die andere wechseln. Mit einer Tasse heißem Kaffee und einer Schale Müsli setzte sie sich auf den Balkon. Im Schatten war es noch recht kühl, aber in ihrem dicken Fleecepulli trotzte sie der morgendlich frischen Nordseeluft. Gerade als sie das Frühstück beendet hatte, klingelte es an der Wohnungstür. Die Leute von der Spedition standen davor, um Sam ihre Umzugskartons zu bringen. Sie bat die Männer, die Kisten zunächst im Flur zu stapeln, bis sie endgültig entschieden hatte, wohin sie im Einzelnen sollten. Nachdem die Speditionsmitarbeiter gegangen waren, machte sich Sam auf den Weg nach Westerland, um sich beim Ordnungsamt umzumelden und den damit verbundenen Papierkram schnellstmöglich zu erledigen. Glücklicherweise traf sie dort auf keine langen Warteschlangen. Eine hilfsbereite Angestellte hieß sie zunächst auf der Insel freundlich willkommen und versorgte sie anschließend mit allen notwendigen Formularen. Nach einer halben Stunde war Sam sozusagen eine offizielle Sylterin, jedenfalls auf dem Papier. Denn sie würde immer eine Zugezogene bleiben, darüber war sie sich im Klaren.
Sam ließ ihren Wagen auf einem Parkplatz in Westerland stehen und ging zu Fuß über die Flaniermeile, die Friedrichsstraße, zur Westerländer Promenade ans Meer. In der Friedrichstraße wimmelte es von Touristen, und auch am Strand waren die meisten Strandkörbe längst besetzt. Ein weiterer Urlaubstag war in vollem Gange. Nur das Meer hatte sich vom Trubel zurückgezogen, es herrschte Ebbe. Sam schlenderte die Promenade entlang und kaufte sich eine Limonade an der »Crepêrie am Meer«. Damit nahm sie auf einer der weißen Bänke Platz und ließ ihren Blick zufrieden über den Strand und die Nordsee schweifen. Plötzlich hörte sie in ihrer Tasche das Handy brummen. Sie zog es hervor und sah auf das Display. Die Sonne blendete stark, aber sie konnte trotzdem erkennen, dass eine Textnachricht ihres Bruders eingegangen war. Statt zurückzuschreiben, rief sie ihn kurzerhand an.
»Hi, meine Süße, wie geht es dir? Hast du schon Heimweh?«, fragte er, nachdem es höchstens zweimal geklingelt hatte.
»Hallo, Tom, mir geht es total gut. Ich sitze gerade auf einer Bank in der Sonne und schaue aufs Meer. Was will man mehr? Aber wie es scheint, hast du bereits Sehnsucht nach mir.«
»Ich mache mir eben Sorgen um meine kleine Schwester, das wird doch wohl erlaubt sein«, sagte er, und sie konnte sein schelmisches Grinsen regelrecht vor sich sehen.
»Die Bedenken kannst du dir sparen. Ich komme gut zurecht. Die Fahrt war problemlos, und die Wohnung ist ein absoluter Glückstreffer. Vorhin habe ich mich sogar schon umgemeldet. Du siehst, ich habe alles im Griff. Und am Montag ist mein erster Arbeitstag.«
»Freut mich zu hören. Bist du stark aufgeregt?«
»Ja, natürlich bin ich nervös«, gab sie zu.
»Du wirst sehen, alles wird gut laufen. Du hast die richtige Entscheidung getroffen, davon bin ich felsenfest überzeugt.«
»Das sagst du so einfach.«
»Ja, weil ich dich kenne und weiß, was dir guttut. Übrigens habe ich in nächster Zeit ein paar Tage in Flensburg zu tun. Vielleicht kann ich es so arrangieren, dass ich anschließend einen Abstecher zu dir nach Sylt machen kann. Was hältst du von der Idee?«
»Das wäre großartig!«, freute sich Sam. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Wann kommst du denn?«
»Das entscheidet sich erst in den nächsten Tagen. Außerdem hängt es davon ab, wie schnell wir mit den Vertragsverhandlungen vorankommen«, erklärte er und verfiel in einen geschäftsmäßigen Ton.
»Sag mir rechtzeitig Bescheid, okay? Dann überlege ich mir etwas Schönes, was wir machen können. Du wirst staunen, wie viel sich auf der Insel verändert hat. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich hier war.« Die Melancholie gemischt mit tiefem Schmerz in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Sam? Alles okay?«
»Ja, sicher«, wiegelte sie schnell ab.
»Du hörst von mir, sobald ich den Termin festgemacht habe. Also, Süße, halt die Ohren steif und alles Gute für Montag. Ich denke an dich. Du packst das!«
»Danke, mach es auch gut!« Dann war das Gespräch zu Ende.