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Beim traditionellen Ringreiter-Wettbewerb wird der Sylter Unternehmer Eike Bleicken tot aufgefunden. Schnell gerät Jan Hansen unter dringenden Mordverdacht, die Beweislage scheint erdrückend. Während die Polizei alles daransetzt, den Fall zeitnah aufzuklären, wird die Insel von einer Reihe Raubüberfälle heimgesucht. Ein weiterer, rätselhafter Mord geschieht. Besteht womöglich eine Verbindung zwischen den Taten? Als Anna unfreiwillig Zeugin eines Überfalls wird, spitzt sich die Situation dramatisch zu.
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Seitenzahl: 320
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Sibylle Narberhaus
Syltschwur
Kriminalroman
Verschwörerisch Begeistert verfolgen Einheimische und Gäste den traditionellen Ringreiter-Wettbewerb im beschaulichen Dorf Archsum, als der Sylter Unternehmer Eike Bleicken tot im Stallgebäude aufgefunden wird. Schnell gerät Jan Hansen, der Ehemann von Annas bester Freundin Britta, unter dringenden Mordverdacht. Die Beweislage scheint erdrückend, denn er lag mit dem Opfer im Streit. Während die Polizei alles daransetzt, den Fall zeitnah aufzuklären, wird die Insel von einer ganzen Reihe Raubüberfälle heimgesucht. Ein weiterer Mord geschieht, der die Beamten zunächst vor ein Rätsel stellt. Besteht womöglich eine Verbindung zwischen den Taten? Als Anna unfreiwillig Zeugin eines Überfalls wird, spitzt sich die Situation dramatisch zu.
Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Hauptberuflich arbeitet sie bei einem internationalen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zum Meer und insbesondere zu der Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen für Geschichten rund um die Insel.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © TheGRischun-Rafael Peier / photocase.de
ISBN 978-3-8392-7774-4
Zehn Jahre zuvor
An diesem Septemberabend fegte ein ungewöhnlich kräftiger Sturm über die Küste. Die tief hängenden Wolken rasten über den Himmel und führten peitschenden Regen im Gepäck. Axel Silling saß mit seiner Frau und den Kindern am Küchentisch beim Abendbrot.
»Gibst du mir mal die Butter rüber?« Auf ihre Bitte hin reichte er seiner Frau die Butterdose. »Ganz schön windig für die Jahreszeit, findest du nicht auch?«, sagte sie mit Blick aus dem Fenster, gegen das die Regentropfen unaufhaltsam prasselten.
»Es wird Herbst, das geht jetzt erst richtig los«, erwiderte er und strich seiner kleinen Tochter über den Kopf, die mit sorgenvoller Miene aus dem Fenster blickte. »Du brauchst keine Angst zu haben, Süße, der Sturm zieht vorbei und dann scheint bald wieder die Sonne.«
»Ich habe keine Angst, aber Minzi ist irgendwo da draußen. Sie mag keinen Regen. Bitte, Papa, du musst sie suchen und retten! Du bist doch Polizist!« Das Mädchen sah ihren Vater mit einem flehenden Gesichtsausdruck an, dem er nicht widerstehen konnte.
»Ja, das stimmt. Wir essen zu Ende, und dann gehe ich sie suchen. Einverstanden?«
»Au ja!« Erleichtert widmete das Kind seine Aufmerksamkeit wieder seinem Essen.
»Bestimmt hat sie sich wieder bei den Bergers in der Garage rumgetrieben und kommt allein nicht mehr raus. Die ist so blöd!«
»Minzi ist nicht blöd!«, protestierte die Kleine, boxte ihrer älteren Schwester kräftig gegen den Oberarm und zog anschließend einen Schmollmund.
»Sag mal, spinnst du? Das tat weh!«, empörte sich diese umgehend und rieb sich demonstrativ über den Arm.
»Schluss jetzt, ihr beiden! Auf der Stelle!«, gebot Mareike Silling ihren Töchtern Einhalt. »Jetzt wird erst gegessen, und anschließend geht Papa die Minzi suchen.«
Nach dem Essen löste Axel Silling sein Versprechen ein und begab sich trotz des unfreundlichen Wetters auf die Suche nach der vermissten Katze. Weder in der angrenzenden Garage der Bergers noch im Gartenschuppen der Nachbarn am anderen Ende der Straße war er fündig geworden. Bestimmt ist sie längst zu Hause, während ich durch den Regen renne, kam es ihm in den Sinn, als er gerade einen großen Bogen um eine Pfütze machte. Der Regen peitschte ihm gnadenlos ins Gesicht, der Sturm riss ihm mehrmals die Kapuze vom Kopf. Nach einer Dreiviertelstunde brach er durchnässt und durchgefroren die Suche nach dem Tier ab und machte sich auf den Heimweg. Zu allem Überfluss war inzwischen ein Gewitter aufgezogen und hatte die Temperatur in den Keller stürzen lassen. Blitze, gefolgt von lautem Donnergrollen, zuckten am nachtschwarzen Himmel. Das war definitiv kein Wetter, um sich länger als nötig im Freien aufzuhalten. Als Axel Silling um die nächste Häuserecke bog, hatte er den Eindruck, in dem gegenüberliegenden Geschäft einen Lichtschein gesehen zu haben. Er blieb kurz stehen und sah hinüber. Nichts. Alles schien dunkel und ruhig. Wahrscheinlich hatte er sich bloß getäuscht, und das Licht war auf einen der Blitze zurückzuführen, der sich in einer der Scheiben gespiegelt hatte. Nein, da war es wieder. Er hatte sich nicht geirrt. Das war kein Blitz. Der Schein einer Taschenlampe zappelte nervös hinter der Scheibe hin und her. Offensichtlich hatte sich jemand unerlaubt Zutritt zu dem Elektronikgeschäft verschafft, denn um diese Zeit war der Laden längst geschlossen. Axel griff in die Jackentasche nach seinem Handy, um die Kollegen der Streife zu verständigen, als er zu seinem Verdruss feststellen musste, dass er es vorhin nicht mitgenommen hatte. Für diese Nachlässigkeit hätte er sich im Nachhinein ohrfeigen können. Kurzerhand überquerte er die Straße, um nachzusehen, was im Inneren des Ladens vor sich ging. Ein Kleinwagen mit einem auswärtigen Kennzeichen stand wenige Meter entfernt am Straßenrand im Halteverbot. Er steuerte auf den Seiteneingang zu, dessen Tür nur angelehnt war. Deutliche Spuren eines gewaltsamen Eindringens waren zu erkennen. Nach kurzem Zögern schlüpfte er hindurch. Für einen kurzen Augenblick tauchte ein Blitz die Umgebung in helles Licht, unmittelbar gefolgt von einem krachenden Donner. Gleich darauf konnte er hören, wie etwas zu Boden fiel. Langsam bewegte er sich auf den Raum zu, aus dem die Geräusche kamen. In der Dunkelheit konnte er schemenhaft die Umrisse zweier Personen erkennen, die damit beschäftigt waren, Handys und andere technische Geräte in großen Taschen zu verstauen. Er hatte genug gesehen und entschied, sich schnellstens zurückzuziehen, um Verstärkung anzufordern, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm. Blitzschnell drehte er sich um. In diesem Augenblick spürte er, wie sich kaltes Metall durch seine dünne Regenjacke in seine Körpermitte bohrte. Entsetzt sah er an sich herunter, bevor er zu Boden sank und im nächsten Moment von tiefer Schwärze verschlungen wurde.
»Wenn Sie mich heute nicht mehr brauchen, würde ich gern früher Feierabend machen. Die Kartons mit den Schrauben und Schläuchen kann ich morgen früh gleich zu Ende auspacken. Ist das okay?«
»Die Wellen rufen, habe ich recht? Der Wind steht gut.« Joon Andresen zwinkerte dem jungen Mann mit den blonden Locken zu, der mit einem Leuchten in den Augen nickte.
»Dachte ich mir. Die Kartons laufen nicht weg. Hauptsache, die bestellten Räder stehen für den morgendlichen Ansturm parat und die Akkus für die E-Bikes sind aufgeladen. Wir wollen schließlich unsere Kundschaft nicht verärgern.« Der alte Mann schob seine Mütze ein Stück nach hinten und rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Aye, aye, Käpt’n! Fahrräder sind einsatzbereit.« Der Junge schlug die Hacken zusammen und salutierte wie zu einem militärischen Gruß.
»Quatschkopp! Hau’ schon ab! Aber werd’ nicht übermütig. Das Meer verzeiht keine Fehler, wenn es auch noch so freundlich erscheinen mag«, gab Joon Andresen seinem jungen Angestellten einen ernst gemeinten Rat mit auf den Weg.
»Keine Sorge, Herr Andresen, ich pass’ auf mich auf. Bislang bin ich noch mit jeder Welle fertig geworden! Tschüss und danke noch mal!« Mit diesen Worten verließ der junge Mann eilig den Laden.
Der alte Mann schüttelte lachend den Kopf und sah ihm nach.
»Die Jugend«, murmelte er vor sich hin und dachte mit einem Anflug von Wehmut an die Zeit zurück, in der er es selbst nicht hatte abwarten können, nach Feierabend endlich auf sein Surfbrett zu steigen. Draußen auf dem Meer fühlte man sich frei, konnte neue Energie tanken und eins mit der Natur sein. Gedankenverloren verließ er den Verkaufsraum und begab sich in die nur durch einen Vorhang getrennte Werkstatt. Dort warf er einen Blick auf die alte Wanduhr über der Werkbank. Die Zeiger zeigten kurz vor 18 Uhr. So spät am Tag würde niemand mehr kommen, um sich ein Fahrrad bei ihm auszuleihen. Das konnte er aus seiner langjährigen Erfahrung mit Sicherheit sagen. Daher beschloss er, ebenfalls den Feierabend einzuläuten. Seine Frau würde es gewiss begrüßen, wenn er einmal früher als üblich nach Hause kam. Er könnte die Gelegenheit nutzen und noch schnell den Rasen mähen. Für den nächsten Tag waren Schauer angesagt, da wäre es passend, das zuvor erledigt zu haben. Obwohl sich das Wetter hier oben an der Nordseeküste selten an die Vorhersagen hielt. Zufrieden mit seinem Entschluss ging er zurück in das Ladengeschäft, hängte das Schild mit der Aufschrift »Nu is zu« an die Scheibe und schloss ab. Anschließend entnahm er der Kasse die Tageseinnahmen, als ihn plötzlich ein schepperndes Geräusch aus der Werkstatt aufhorchen ließ. Hatte Patrick, seine Aushilfe, etwas vergessen und war zurückgekommen, oder hatte sich Oskar, der neugierige Kater seiner Nachbarin, heimlich in die Werkstatt geschlichen, stets auf der Suche nach etwas Fressbarem? Dabei machte er auch vor Joons in die Jahre gekommener Blechdose mit den selbst gemachten Friesenkeksen seiner Frau nicht Halt. Joon Andresen schob den Vorhang ein Stück auf und spähte durch den Spalt, konnte jedoch weder Oskar noch Patrick noch sonst jemanden erblicken. Vermutlich hatte er sich getäuscht und das Poltern kam irgendwo von draußen. Vielleicht hatten sich die Möwen an den Mülltonnen zu schaffen gemacht. Diese Vögel wurden immer dreister und erfindungsreicher, wenn es um die Nahrungsbeschaffung ging. Zudem war sein Gehör nicht mehr das Beste. Seine Frau lag ihm seit längerer Zeit damit in den Ohren, den Laden aufzugeben und sich zur Ruhe zu setzen. Ruhe! Ausruhen konnte er sich auf dem Friedhof. Was sollte er, statt in den Laden zu gehen, den lieben langen Tag machen? Vor dem Fernseher sitzen? Kreuzworträtsel lösen? Nein, er brauchte eine sinnvolle Beschäftigung. Fahrräder zu reparieren und zu verleihen, war seine Leidenschaft und sinnvoll dazu. Aber wesentlich mehr als seine Arbeit würde ihm der Kontakt zu den Menschen fehlen. Solang seine Gesundheit mitspielte, würde er nicht im Traum daran denken, das Geschäft aufzugeben und sich auf die faule Haut zu legen. Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln steckte er die Scheine und Münzen in die Geldtasche. Plötzlich nahm er hinter sich eine Bewegung wahr. Er drehte sich um und stand einer fremden Person gegenüber, die ihr Gesicht hinter einer schwarzen Maske verbarg. Erschrocken taumelte er ein Stück zurück.
»Was wollen Sie?«, stotterte er.
»Her mit der Kohle!«, erwiderte der Fremde und wollte nach der Geldtasche greifen, als Andresen sie geistesgegenwärtig an sich presste.
»Das könnte dir so passen! Verschwinde besser ganz schnell, wenn du keinen Ärger willst.«
Irritiert zog der Angreifer die Hand zurück. Mit dem Widerstand seines Gegenübers hatte er offenbar nicht gerechnet. Einen Wimpernschlag lang erweckte es den Anschein, als geriete er aus dem Konzept. Doch dann zog er einen Pistole aus dem Hosenbund und richtete ihn geradewegs auf den alten Mann.
»Zum letzten Mal: her mit der Kohle!«, wiederholte er seine Forderung mit Nachdruck.
»Nur über meine Leiche!«, schrie Andresen, tastete im selben Moment nach der Spardose auf dem Verkaufstresen und schleuderte sie mit voller Wucht dem Maskierten entgegen. Dieser wich geschickt zur Seite aus, sodass das Wurfgeschoss sein Ziel verfehlte und stattdessen gegen die Wand prallte, wo es in unzählige Teile zerbrach. Das Krachen wurde jedoch von dem Lärm des Schusses übertönt.
»Moin, Nick! Danke, dass du so schnell kommen konntest.«
»Was ist passiert?« Sein Blick wanderte zu der leblosen Person, über die sich gerade eine Polizeibeamtin beugte, um die Details fotografisch zu dokumentieren.
»Alles deutet auf einen Raubüberfall hin. Das Geld ist jedenfalls weg.« Uwe zeigte auf die geöffnete Kasse, in der sich nur wenige Ein- und Zweieuromünzen befanden.
»Den Scherben nach zu urteilen, ist es im Vorfeld zu einer Auseinandersetzung gekommen. Wahrscheinlich wollte der Mann das Geld nicht kampflos herausgeben.« Nick deutete zu den unzähligen Scherben, die verteilt auf dem Boden lagen.
»Ja, vermutlich wäre es schlauer gewesen, Geld Geld sein zu lassen. Der Täter hat nicht lange gefackelt und ihn niedergeschossen.«
»Wer ist der Tote?«
»Bei dem Opfer handelt es sich um den Ladenbesitzer. Sein Name lautet Joon Andresen«, bestätigte Uwe. »Diesen Laden gab es schon in meiner Kindheit.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Nach dem Schuss scheint er noch eine Weile gelebt zu haben. Sieh dir das an!« Nick folgte Uwe ein paar Schritte. An einer Stelle in unmittelbarer Nähe der Leiche fanden sich Krakeleien auf dem Boden.
»Sieht aus, als hätte er eine Art Botschaft hinterlassen wollen.« Nick drehte den Kopf, um das Ganze aus einer anderen Perspektive zu begutachten.
»Ja, mit seinem eigenen Blut. Kannst du etwas damit anfangen?«
»Hm. Ich denke, das sollen Buchstaben darstellen. Das könnte beispielsweise ein O sein. Und das sieht wie ein J oder ein kleines Q aus«, versuchte Nick, das Geschriebene zu entziffern.
»Für mich sieht das eher nach einem Y aus. Ich werde jedenfalls auf den ersten Blick nicht schlau daraus.«
»Gibt es Zeugen, die etwas mitbekommen haben?«, erkundigte sich Nick, während er Fotos von der Zeichnung mit seinem Handy machte.
»Eine Frau will einen Schuss gehört und jemanden weglaufen gesehen haben. Ansgar nimmt gerade ihre Zeugenaussage auf.«
»Wer hat den Notruf abgesetzt?«
»Der junge Mann dort drüben, Patrick Schwedder. Er hat den Toten gefunden und umgehend die Rettungskräfte alarmiert. Leider konnte der Notarzt nichts mehr für den alten Mann tun. Andresen war bereits tot, als er eintraf.«
»War dieser Patrick zufällig hier? Kennt er das Opfer näher?« Nick sah zu dem jungen Mann.
»Nach eigenen Angaben arbeitet er seit zwei Jahren regelmäßig als Aushilfe bei Herrn Andresen. Du kannst gerne selbst mit ihm sprechen, ich sehe mich derweil ein bisschen um. Vielleicht lassen sich erste Hinweise auf den Täter finden.«
Während Uwe sich in der Werkstatt im hinteren Teil umsah, ging Nick zu dem jungen Mann, der auf einer umgedrehten Holzkiste saß, den Kopf auf den Händen abgestützt und vor sich hinstarrend.
»Herr Schwedder?« Der Angesprochene sah auf. In seinen Augen spiegelten sich Trauer und Betroffenheit wider. »Mein Name ist Nick Scarren. Ich bin von der Kripo Westerland und würde Ihnen gern einige Fragen stellen.«
»Ja«, krächzte der junge Mann und räusperte sich.
»Sie haben Herrn Andresen gefunden? Ist das korrekt?«
»Ja, das stimmt.« Er antwortete, ohne Nick dabei direkt anzusehen. Stattdessen hielt er den Blick vor sich auf den Boden gerichtet.
»Wann genau war das?«
»Vor ungefähr einer Dreiviertelstunde. Auf die Minute genau weiß ich das nicht mehr. Warten Sie, ich kann Ihnen aber sagen, wann ich den Rettungswagen angerufen habe.« Er war im Begriff, sein Handy hervorzuholen.
»Lassen Sie, ist schon gut. Was wollten Sie in dem Laden?«
»Ich bin eher zufällig hergekommen.«
»Wie darf ich das verstehen?« Nick zog fragend eine Augenbraue nach oben.
»Ich hatte eigentlich schon Feierabend. Herr Andresen …« Sein Blick wanderte flüchtig zu dem Toten. »Er hat mich heute früher gehen lassen.«
»Warum? Hatten Sie etwas vor?«
»Ich war mit Kumpels zum Surfen verabredet. Am Brandenburger Strand«, erklärte er und nahm die Antwort auf Nicks nächste Frage gleich vorweg.
»Warum sind Sie zurückgekommen?«, hakte Nick nach, während er sich nebenbei Notizen machte.
»Ich hatte meinen Pulli liegen lassen und bin deshalb noch mal zurück. Als ich gesehen habe, dass vorne abgeschlossen war, bin ich zum Hintereingang. Der führt direkt in die Fahrradwerkstatt, wo unter anderem die Leihfahrräder gelagert werden«, erklärte er bereitwillig und mit monotoner Stimme.
»Haben Sie keinen Schlüssel für den Vordereingang? Sie arbeiten doch hier.«
»Sicher«, erwiderte der junge Mann zögerlich.
»Aber?« Nick blieb beharrlich.
»Weiß auch nicht. Herr Andresen ist normalerweise sehr lange im Laden, selbst wenn offiziell schon geschlossen ist. Deshalb bin ich zum Hintereingang gegangen.« Er zuckte die Achseln. »Kann ich jetzt gehen? Ich fühle mich nicht so gut.«
»Eine Frage habe ich noch. Ist Ihnen auf dem Weg zum Hintereingang etwas aufgefallen?« Als Nick in das fragende Gesicht des jungen Mannes blickte, wurde er konkreter. »Haben Sie beispielsweise etwas Ungewöhnliches bemerkt oder haben Sie jemanden weglaufen sehen?«
Patrick Schwedder überlegte angestrengt und schüttelte anschließend den Kopf. »Nein, da war nichts. Gesehen habe ich auch niemanden. Die Tür stand allerdings weit offen. Das war ein bisschen merkwürdig.«
»Warum? Ist sie sonst geschlossen?« Nick wurde hellhörig.
»In der Regel bringt niemand mehr nach 18 Uhr sein Rad zurück, geschweige denn holt eines ab. Daher ist die Tür ab spätestens 18 Uhr geschlossen. Wenn Herr Andresen abends die Abrechnung gemacht hat, hat er nie die Werkstatttür einfach so offen gelassen.«
»Was haben Sie dann gemacht? Je genauer Sie sich erinnern, desto besser.«
Der junge Mann blickte angestrengt vor sich auf den Boden, als fiele es ihm auf diese Art leichter, sich seine Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen.
»Ich bin rein und habe ein paar Mal nach Herrn Andresen gerufen. Als er nicht geantwortet hat, bin ich durch den Vorhang nach vorne in den Laden, um dort nach ihm zu sehen. Er hat in letzter Zeit ein bisschen schlecht gehört.« Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und da sah ich ihn liegen. Alles war voller Blut! Die Kasse stand offen, da dachte ich mir, was passiert ist. Ich habe sofort die Polizei gerufen.« Noch einmal blickte er zu der Stelle, an der Joon Andresen lag. »Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen«, sagte er dermaßen leise, dass Nick ihn kaum verstand.
»Wie meinen Sie das?« Nick legte die Stirn in Falten.
»Na, weil ich ausgerechnet heute mit meinen Freunden zum Wellenreiten verabredet war. Der Wind, die Wellen, optimale Bedingungen! Deshalb hat er mich eher gehen lassen. Wenn ich länger geblieben wäre, dann wäre das alles nicht passiert und Herr Andresen noch am Leben. Es ist allein meine Schuld.« Sein hilfloser Blick blieb an Nick hängen, der den Kopf schüttelte.
»Nein, das war nicht Ihre Schuld. Niemand kann sagen, was passiert wäre oder wie der Täter reagiert hätte, wenn Sie vor Ort gewesen wären«, versuchte Nick, Patricks Schuldgefühle aus dem Weg zu räumen.
Uwe kam zurück und gesellte sich zu ihnen. »Können Sie ungefähr sagen, wie viel Geld in der Kasse war?«
Der junge Mann dachte kurz nach. »Nicht wirklich. Die Abrechnung gehörte nicht zu meinen Aufgaben. Ich weiß bloß, dass der Umsatz dienstags nie berauschend war. Am Wochenende werden die meisten Räder ausgeliehen. Bettenwechsel und so.« Er lächelte verlegen. »Brauchen Sie mich noch?«
»Vorerst nicht, haben Sie vielen Dank, Herr Schwedder«, erwiderte Nick, sehr zum Unverständnis seines Kollegen Uwe. »Wir benötigen Ihre Aussage noch in schriftlicher Form. Dazu würde ich Sie bitten, morgen im Laufe des Tages bei uns im Revier vorbeizukommen.« Nick reichte ihm seine Karte. »Melden Sie sich bitte unten am Empfang.«
»Klar, mache ich.« Patrick schwang sich seinen Rucksack über die Schulter und strebte dem Ausgang zu. Nach ein paar Schritten hielt er inne und drehte sich um.
»Weiß Frau Andresen, was passiert ist?«
»Die Kollegen kümmern sich darum«, erklärte Uwe mit skeptischer Miene.
»Danke«, murmelte er und verließ mit hängenden Schultern das Geschäft.
»Warum hast du den Jungen so schnell gehen lassen?« Uwe stand neben Nick am Verkaufstresen, der das Auftragsbuch neben der Kasse durchblätterte.
»Ich habe ihn nicht schnell gehen lassen. Warum sollte ich ihn länger als nötig festhalten? Dafür bestand kein Grund.« Nick wunderte sich über die Frage des Kollegen.
»Ich traue ihm nicht.« Uwe strich nachdenklich seinen Vollbart glatt.
»Und wieso? Verrätst du mir den Grund für dein Misstrauen?«
»Ist nur ein Gefühl«, brummte Uwe missmutig. »Jaja, ich weiß schon, was du sagen willst. Für uns zählen ausnahmslos Fakten, von Gefühlen sollten wir uns nicht leiten lassen.«
»Eben. Mir wirfst du regelmäßig vor, ich solle bei Ermittlungen mein Bauchgefühl aus dem Spiel lassen«, feixte Nick.
»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem musst du zugeben, dass die Sache ein bisschen seltsam klingt.«
»Inwiefern? Ich kann in Bezug auf den Jungen keine Ungereimtheiten feststellen, außerdem hat er auf mich einen ehrlichen Eindruck gemacht. Er scheint den alten Mann gemocht zu haben«, hielt Nick dagegen.
»Überlege doch mal! Ausgerechnet heute macht der Junge früher Feierabend. Dann kommt er angeblich extra wegen eines vergessenen Pullis noch einmal zurück? Es ist Sommer. Momentan herrschen selbst abends hochsommerliche Temperaturen, den Pullover hätte er genauso gut zu einem späteren Zeitpunkt abholen können. Er macht auf mich nicht gerade den Eindruck, als wäre er eine Frostbeule. Surfer gehören eher zu der Kategorie ›hartgesotten‹. Du musst zugeben, das klingt schon ein wenig sonderbar.«
»Ich fürchte, du bist auf dem Holzweg, wenn du den Jungen für den Überfall und den Tod von Andresen verantwortlich machen willst. Auf mich hat er einen ehrlichen Eindruck gemacht. Er stand dem alten Herrn nahe und war sichtlich betroffen«, hielt Nick dagegen.
»Wer sagt denn, dass er selbst die Kasse geleert und den Inhaber erschossen hat? Er könnte ebenso gut einen Komplizen gehabt haben. Er kennt sich bestens aus. Nach der Tat kommt er wie zufällig zum Tatort, um den Verdacht auf den großen Unbekannten zu lenken.«
»Derart abgebrüht ist er nicht. Da liegst du mit deiner Vermutung vollkommen daneben. Das macht überhaupt keinen Sinn«, dementierte Nick. »Wäre er auf das Geld scharf gewesen, hätte er durchaus andere Möglichkeiten gehabt, sich zu bedienen. Vergiss nicht, dass er im Besitz eines Schlüssels für den Laden ist. Damit hätte er sich jederzeit Zutritt verschaffen können.«
»Warten wir ab, was die Spurensicherung ans Licht bringt und wer am Ende von uns beiden recht behält. Ich bin gespannt, was sich zu der Tatwaffe sagen lässt. Wer von uns informiert Staatsanwalt Achtermann?«
»Ich war davon ausgegangen, du hättest das längst erledigt. Dann immer der, der fragt«, gab Nick mit einem schelmischen Grinsen zurück.
»Super!«, stöhnte Uwe. »Und was machst du?«
»Ich höre mir an, was Ansgar von der Zeugin erfahren hat.«
»Typisch. Ich bekomme regelmäßig die unangenehmen Aufgaben.«
»Du Armer! Ach, Uwe?« Nick hielt mitten in der Bewegung inne.
»Was denn nun noch?«
»Schöne Grüße an Achtermann!« Nick zwinkerte ihm im Gehen zu.
»Witzig«, brummte Uwe bärbeißig und wählte die Nummer des Staatsanwaltes.
»Das klingt toll! Klar, lassen wir uns dieses Ereignis nicht entgehen!«, versprach ich meiner Freundin Britta am Telefon.
»Ehrlich gesagt, war ich zunächst nicht sonderlich begeistert von der Idee. Jan hat seit Jahren nicht mehr am Ringreiten teilgenommen. Ich weiß gar nicht, ob er sich überhaupt noch auf einem Pferd halten kann.«
»Ach, Reiten ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht«, gab ich zurück, um ihre Bedenken auszuräumen.
»Wenn du das als erfahrene Reiterin sagst, sollte etwas dran sein.« Sie lachte. »Wann warst du zum letzten Mal hoch zu Ross unterwegs, Anna?«
»Lass mich nachdenken.« Ich legte absichtlich eine kleine Denkpause ein. »Letzten Herbst, als mich eine Kundin quasi dazu genötigt hat. Sie hat zwei Pferde und wollte mir unbedingt Sylt aus einer anderen Perspektive zeigen.«
»Und?«
»Nichts und. Es war fantastisch, am Strand entlang zu galoppieren und sich dabei den Wind um die Nase wehen zu lassen. Diesen Ausritt werde ich lange im Gedächtnis behalten. Vor allem die Erinnerung an den Muskelkater, der mich die nächsten Tage begleitet hat. Ich weiß noch, dass ich kaum sitzen konnte. Trotz allem würde ich es bei nächster Gelegenheit wieder tun.«
»Offenbar hat dich dieses Pferdevirus nie ganz losgelassen.« In Brittas Stimme war ein deutliches Schmunzeln zu erkennen. »Willst du wieder mit dem Reiten anfangen?«
»Vielleicht irgendwann, aber momentan fehlt mir definitiv die Zeit dafür. Mit welchem Pferd geht Jan an den Start?«
»Er leiht sich eines der Pferde seiner Schwester.«
»Aha. Reitet Wiebke nicht auch mit?«
»Ich sehe schon, in puncto Ringreiten bist du nicht sonderlich sattelfest.« Sie lachte.
»Ich gebe zu, viel Ahnung habe ich tatsächlich nicht. Eigentlich gar keine.«
»Erstens reiten Männer und Frauen getrennt voneinander. Das ist von jeher Tradition. Auf Sylt gibt es insgesamt acht Vereine, davon drei für Frauen und fünf für Männer. Wettkämpfe werden ebenfalls nach Geschlechtern getrennt ausgetragen«, klärte sie mich auf.
»Interessant. Und zweitens?«
»Zweitens wird Wiebke diese Saison wohl oder übel pausieren müssen.« Nun klang Brittas Stimme mitfühlend.
»Warum? Ist sie erneut schwanger?«
»Nein. Sie ist letzte Woche unglücklich gestürzt und hat sich den Arm gebrochen.«
»Oh, das tut mir leid, das wusste ich nicht. Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesprochen oder gesehen«, stellte ich in diesem Zusammenhang fest.
»Du könntest dieses Jahr ihren Platz einnehmen. Jan würde sicherlich ein gutes Wort für dich einlegen.«
»Oh nein, das halte ich für keine gute Idee. Bestimmt geht das nicht ohne Weiteres. Ich begnüge mich mit der Rolle der Zuschauerin und überlasse den Rest lieber den Profis. Schließlich will ich mich nicht vor allen Leuten blamieren, wenn ich in hohem Bogen aus dem Sattel fliege.« Lachend schüttelte ich den Kopf. »Jan drücke ich jedenfalls ganz fest die Daumen für den Sieg.«
»Jetzt stell dein Licht nicht unter den Scheffel! Ich meine das mit der Teilnahme durchaus ernst. Du warst immer eine hervorragende Reiterin und verfügst über reichlich reiterliche Erfahrung. Reiten verlernt man nicht, das hast du vor wenigen Minuten selbst gesagt.«
»Danke, Britta, aber lass gut sein! Nick würde mich für verrückt halten, wenn ich plötzlich bei einem Turnier mitmachen würde, von meinen Eltern einmal ganz abgesehen.« Ich konnte den vorwurfsvollen Blick meiner Mutter im Geiste vor mir sehen. »Außerdem würde meine Mutter mir sofort vorhalten, wie gefährlich das ist, schließlich hätte ich eine große Verantwortung gegenüber Christopher, meiner Familie und so weiter.« Ein unbeabsichtigter Seufzer entsprang meiner Kehle.
»Deine Mutter mischt sich grundsätzlich in deine Angelegenheiten ein, vollkommen egal, was du tust. Das ist wirklich nichts Neues und sollte kein Hindernis darstellen, das dich von deinen Plänen abhält. Und was Nick angeht, der hat früher viel abenteuerlichere und gefährlichere Sachen gemacht, dagegen ist Reiten ein harmloses Kinderspiel«, entgegnete Britta.
»Zu der Zeit war er kein Familienvater, außerdem kennst du die Hintergründe«, rief ich ihr in Erinnerung.
»Wie du meinst. Dann sehen wir uns Sonntag auf dem Archsumer Festplatz. Ich freue mich auf euch! Hoffentlich macht uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung. Bei Regen endet das nämlich in einer elenden Schlammschlacht.«
»Es soll die nächsten Tage trocken und sonnig bleiben. Ich bin sehr auf Jans Reitkünste gespannt. Vielleicht holt er sogar den Titel. Seine Majestät, König Jan, nebst Gattin, Königin Britta – klingt irgendwie gut. Oder?« Ich konnte mir bei dem Gedanken ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Gott bewahre! Das fehlte mir gerade noch! Du weißt doch, ich habe es nicht so mit der Monarchie.« Britta schien sich für meinen Vorschlag wenig begeistern zu können.
»Na, mal sehen, ob dein Mann das auch so sieht.«
»Alles okay? Du hast heute Abend kaum etwas gegessen und machst einen nachdenklichen Eindruck. Ist irgendwas? Geht es dir nicht gut, Nick?«, fragte ich, als wir am späten Abend gemeinsam auf dem Sofa saßen. Christopher schlief längst tief und fest.
»Mit mir ist alles in Ordnung. Ich hatte bloß keinen Hunger.« Er schenkte mir ein Lächeln, das gründlich misslang.
»Der Überfall auf den Fahrradhändler lässt dich nicht los, habe ich recht?« Ich rückte näher an ihn heran und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter, worauf er einen Arm um mich legte.
»Ja, das stimmt. Ein alter Mann, der sein Leben lang hart und leidenschaftlich gearbeitet hat, musste wegen ein paar lächerlicher Euros sterben. Nur weil irgendein Vollidiot …« Nick beendete den Satz nicht, sondern stieß einen verächtlichen Laut aus. Er beugte sich vor und griff nach seinem Glas auf dem Couchtisch. Eine derart verbitterte und emotionale Reaktion in Bezug auf seine Arbeit hatte ich selten an ihm erlebt.
»Habt ihr erste Hinweise auf den oder die Täter? Gibt es Zeugen, die etwas beobachtet haben?«, versuchte ich, mehr über die näheren Umstände in Erfahrung zu bringen.
»Nein. Den vorliegenden Spuren nach zu urteilen, haben wir es mit einem Einzeltäter zu tun. Bei der Schusswaffe handelt es sich um eine Pistole, Kaliber neun Millimeter. Sie ist nicht registriert. Das ist leider bislang alles, was wir wissen.« Nick fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Gibt es keine Überwachungskamera in dem Geschäft? Darauf müsste der Täter doch zu erkennen sein«, zog ich in Erwägung.
»In einem Fahrradverleih? Erfahrungsgemäß ist das eher unüblich, jedenfalls für Sylt, zumal in dem Laden pure Nostalgie herrscht. Uwe kennt den Laden sogar noch aus Kindertagen. Selbst die Kasse stammt mit Sicherheit aus dem vorherigen Jahrhundert. Moderne Technik sucht man dort vergeblich.«
»Hm, dann gehen mir leider die Ideen aus. Vielleicht meldet sich noch ein Zeuge, der etwas gesehen hat.« Ich lehnte meinen Kopf auf Nicks Brust und lauschte seinem beruhigenden Herzschlag. »Übrigens hat Britta heute angerufen und gefragt, ob wir am Sonntag zum Ringreiten nach Archsum kommen. Stell dir vor, Jan wird dieses Jahr nach langer Zeit wieder mitmachen«, berichtete ich nach einer Weile.
»Echt? Ich wusste gar nicht, dass er sich aktiv für Pferdesport interessiert.« Nick wirkte erstaunt.
»Wohl eher der Tradition zuliebe, obwohl er früher öfter geritten ist. Britta hat mir das damals erzählt, kurz nachdem sie sich kennengelernt haben. Ich bin sehr gespannt, wie er sich am Sonntag schlagen wird. Warst du mal beim Ringreiten auf Sylt?«
»Ja, in Morsum. Ist lange her und bloß als Zuschauer, wenn du das meinst. Pferde sind mir nicht geheuer. Zu groß und zu unberechenbar.«
»Das überrascht mich jetzt. Ich dachte immer, wer sich von Klippen ins Meer stürzt, für den gäbe es nichts, wovor er sich fürchten würde.« Amüsiert beobachtete ich ihn.
»Ich fürchte mich nicht vor ihnen, sondern habe lediglich Respekt vor diesen Tieren. Grundsätzlich mag ich Pferde«, fügte Nick erklärend hinzu.
»Kommst du trotzdem mit? Ich habe zugesagt.«
»Wenn nichts Dienstliches dazwischenkommt, lasse ich mir das selbstverständlich nicht entgehen. Jetzt lass uns schlafen gehen. Ich bin hundemüde. Außerdem tun mir der Nacken und die Schultern weh. Ich muss unbedingt wieder regelmäßiger zum Sport.«
»Ich könnte dich massieren«, stellte ich ihm mit einem verheißungsvollen Augenaufschlag in Aussicht.
»Diesem Angebot kann ich unmöglich widerstehen«, raunte er mir zu und nahm mein Gesicht in seine Hände. Dann begann er, mich leidenschaftlich zu küssen.
Jan hatte gerade die Schiebetür seines Vans geschlossen und wollte einsteigen, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Wagen hielt. Der Fahrer öffnete die Fahrertür und kletterte schwerfällig hinter dem Lenkrad hervor.
»Papa? Willst du zu uns?«
»Jan! Gut, dass ich dich erwische!« Hansen senior überquerte die Straße und kam auf seinen Sohn zu. An seinem ungleichmäßigen Gang war abzulesen, dass er von Schmerzen geplagt wurde.
»Alles okay mit dir? Du gehst so komisch«, erkundigte sich Jan mit sorgenvollem Gesichtsausdruck.
»Die Hüfte, das alte Kriegsleiden. Kein Grund zur Beunruhigung«, wiegelte er mit einer entsprechenden Geste ab.
»Wann gehst du mit der Sache endlich zum Arzt?«
»Damit liegt mir deine Mutter auch ständig in den Ohren. Was kann der schon machen? Das Alter bringt das eine oder andere Zipperlein mit sich. So ist das eben. Früher sind die Leute mit Ende 60 gestorben. Für eine längere Laufzeit sind wir nicht gemacht.«
»Früher gab es auch Pest und Cholera. Ehrlich, Papa, die moderne Medizin …«, hielt Jan dagegen, doch sein Vater winkte erneut ab.
»Lass gut sein, Junge! Ich habe kein Interesse daran, dass man an mir herumschnippelt und ich letztendlich als lebendes Ersatzteillager herumlaufe. Und Tabletten greifen den Magen an und machen die Leber kaputt. Solang ich mich einigermaßen bewegen kann, ist alles in Ordnung.«
»Du musst es ja wissen.« Jan verzichtete auf weitere gut gemeinte Ratschläge. In diesem Punkt war sein alter Herr äußerst beratungsresistent.
»Bist du auf dem Sprung?«
»Ja, ich will zur Baustelle und anschließend frische Ware in Keitum abholen.«
»Wie weit seid ihr?«, erkundigte sich Jans Vater.
»Die Arbeiten laufen nach Plan. Die Eröffnung soll spätestens in diesem Herbst stattfinden. Britta hat längst mit den Planungen begonnen.«
»Können wir kurz in dein Büro gehen? Ich muss dringend mit dir sprechen, das würde ich ungern auf der Straße tun. Ehe ich es vergesse, du möchtest bitte unbedingt deine Mutter anrufen. Sie will irgendetwas von dir.« Jan schenkte seinem Vater einen fragenden Blick. »Sieh’ mich nicht so an, ich habe keine Ahnung, worum es geht. Am besten rufst du sie an«, setzte er nach.
Kurz darauf saßen Vater und Sohn in Jans Büro.
»Also, Papa, was gibt es so Wichtiges zu bereden?«
»Marten Bleicken hat mich heute Morgen angerufen«, begann Enno Hansen, während er die schwere Glaskugel, in deren Inneren eine gedrehte Muschel eingeschlossen war, betrachtete. »Hübsch.«
»Was wollte er? Papa?«
»Ordentlich schwer.« Hansen senior wog das gläserne Kunstwerk in seiner Hand und legte es dann zurück auf die Schreibtischplatte.
»Ist ein Briefbeschwerer«, entgegnete Jan knapp, ohne näher darauf einzugehen. Ihn beschlich das ungute Gefühl, gleich mit einer schlechten Nachricht konfrontiert zu werden. »Sag endlich, was er von dir wollte!«
»Bleicken?«
»Ja, sicher. Also?« Jan wurde zusehends ungeduldiger.
»Es geht im Grunde um Eike.«
»Oh, steckt sein Sprössling zum wiederholten Male bis zum Hals in Schwierigkeiten?« Jan verzog das Gesicht zu einer vielsagenden Grimasse.
»Wie man es nimmt. Es geht um das Grundstück.« Enno Hansen legte bewusst eine Pause ein, um die Reaktion seines Sohnes abzuwarten.
»Ah, langsam dämmert es mir. Es geht um die Baugenehmigung? Stimmt’s?«
Jans Vater nickte bedächtig. »Vielmehr um sein Grundstück.«
»Unser Grundstück, Papa. Mittlerweile gehört es uns, Eike hat daran keinerlei Anteil mehr«, stellte Jan unmissverständlich klar.
»Das weiß ich. Allerdings ist das Thema nach wie vor aktuell.«
»Ich verstehe nicht? Was willst du damit andeuten?«
»Soweit ich Marten verstanden habe, will Eike von dem Kaufvertrag zurücktreten, notfalls will er vor Gericht ziehen. Offenbar hat er bereits einen Anwalt eingeschaltet, der sich der Sache angenommen hat. Du dürftest in Kürze Post bekommen.« Der alte Hansen zog seine grauen buschigen Augenbrauen zusammen, worauf sich sein Gesichtsausdruck verfinsterte.
»Der spinnt! Das geht nicht, der Vertrag ist absolut wasserdicht, und außerdem ist die Widerrufsfrist längst verstrichen. Alles hat seine Richtigkeit. Darüber hinaus haben die Bleickens für das Grundstück eine beachtliche Summe kassiert. Was denkt der sich?«
»Das alles habe ich Marten natürlich gesagt. Ich fürchte bloß, das will Eike nicht einsehen.«
»Vor gar nicht langer Zeit wollte er das Grundstück unbedingt loswerden. Und jetzt, wo wir es gekauft haben, will er es zurückhaben? Woher kommt der plötzliche Sinneswandel? Vermutet er eine Ölquelle darauf?« Jan schnaubte verächtlich.
»Den genauen Grund kann ich dir leider nicht sagen. Marten hat lediglich durchblicken lassen, dass Eikes Pläne sich geändert haben.« Er zuckte ratlos mit den Schultern.
»Ich kann dir sagen, warum er das Grundstück zurückbekommen will: weil wir erstens eine Baugenehmigung bekommen haben und zweitens die Preise für Bauland explosionsartig gestiegen sind. Dieses geldgierige Pack! Das kann Eike schön vergessen, damit kommt er niemals durch. Nicht mit mir!«, echauffierte sich Jan, sprang auf und tigerte rastlos vor dem Fenster auf und ab.
»Reg’ dich nicht auf, Junge. Meiner Meinung nach hat er keine Chance, das Grundstück zurückzuerlangen. Ich wollte dich nur vorwarnen, da er oder zumindest sein Anwalt mit Sicherheit in den nächsten Tagen auf dich zukommen werden.« Jans Vater stützte sich beim Aufstehen mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. Mit einem unterdrückten Stöhnen und leicht zusammengekniffenen Augen stand er schließlich vor seinem Sohn.
»Danke, dass du mich vorgewarnt hast, Papa. Bist du sicher, dass du nicht doch lieber zum Arzt gehen solltest?«, schlug Jan in Hinblick auf den hölzernen Bewegungsablauf seines Vaters vor.
»Ich bin eben nicht mehr der Jüngste, aber Unkraut vergeht nicht. Mach dir um mich keine Sorgen.« Trotz des deutlichen Schmerzes blitzte ein spitzbübisches Lächeln auf seinem wettergegerbten Gesicht auf. »Ich werde mich jetzt besser auf den Rückweg machen, sonst schickt deine Mutter am Ende einen Suchtrupp nach mir los.« Er lachte, und seine stahlblauen Augen funkelten amüsiert. »Grüß Britta und die Kinder von mir. Wäre wirklich schön, wenn ihr uns demnächst besuchen kommen würdet.«
»Momentan ist Hochsaison, und die Jungs …«, holte Jan zu einer Rechtfertigung aus, wurde von seinem Vater jedoch unterbrochen.
»Ich weiß, ich weiß. Vergiss aber bitte nicht, deine Mutter anzurufen. Du weißt doch, wie sehr sie sich freut, von euch zu hören.«
»Mache ich, Papa, versprochen. Wir sehen uns spätestens beim Ringreiten am Sonntag. Ihr kommt doch?«
»Habe schon von Wiebke gehört, dass du nach langer Zeit wieder an den Start gehst. Sie zählt auf dich. Finde ich gut. Traditionen müssen erhalten und gepflegt werden. Natürlich kommen wir, das lassen wir uns unter keinen Umständen entgehen, wenn du die anderen vom Platz fegst.« Er schmunzelte, während sein Sohn verlegen wirkte.
»Mein oberstes Ziel wird sein, im Sattel zu bleiben. Seit meiner letzten Teilnahme sind einige Jahre ins Land gegangen.« Jan rieb sich das Kinn.
»Ach was, Reiten verlernt man nicht. Und wegen der Grundstückssache: Mach dir keinen Kopf. Du weißt doch, Eike ist als Hitzkopf bekannt. Der kommt wieder zur Besinnung, wenn ihm sein Anwalt erst mal erklärt hat, dass die Sache für ihn aussichtslos ist.«
»Hoffentlich. An dem Projekt hängt nicht nur Brittas ganzes Herz, sondern auch ein gehöriger Batzen Geld.«
»Moin, Frau Scarren! Sie können gleich im Sprechzimmer 2 Platz nehmen, der Doktor kommt sofort«, wurde ich von der Zahnarzthelferin mit einem freundlichen Lächeln empfangen, kaum hatten Christopher und ich die Praxis betreten.
»Das geht aber schnell. Habe ich mich in der Zeit geirrt?«
»Nein, nein. Sie haben sich nicht getäuscht. Zwei Patienten vor Ihnen haben kurzfristig abgesagt. Heute hagelt es förmlich Terminabsagen, ich weiß auch nicht, was los ist.«
»Das könnte an der Sommergrippe liegen, die momentan grassiert. Der Kindergarten ist deswegen für die nächsten zwei Tage komplett geschlossen«, brachte ich an und deutete zu Christopher, der sich verschüchtert an meine Hand klammerte.
»Das wäre zumindest eine Erklärung. Soll sich der Doc die Zähne des jungen Mannes gleich mit ansehen?«, fragte die Sprechstundenhilfe und beugte sich über den Tresen zu meinem Sohn, der mich mit großen Augen ansah und sogleich heftig den Kopf schüttelte.
»War mit Papa«, versicherte er und blickte skeptisch zu der Frau hinter dem Tresen auf.
»Das stimmt. Christopher war vor Kurzem mit meinem Mann hier«, pflichtete ich ihm bei.
»Soso, na dann ist heute bloß deine Mama an der Reihe«, sagte die Sprechstundenhilfe. Dann deutete sie auf das große Glasgefäß neben ihr auf dem Tresen, in dem sich Gummienten in den unterschiedlichsten Farben und Ausführungen befanden. »Möchtest du eine?«
Christopher nickte zaghaft. Daraufhin griff sie mit beiden Händen nach dem Glas, kam hinter ihrem Tresen hervor und streckte es ihm entgegen.
»Bitte! Du darfst dir eine aussuchen!«
Nach kurzem Zögern steckte er seine kleine Hand in die Öffnung und zog eine Ente mit einer schwarzen Augenklappe und einem rot gestreiften Halstuch heraus.
»Wow, eine Piratenente!«, stellte die Helferin fest, worauf er nickte und das Gummitier in seiner Hand eingehend betrachtete.
»Und? Was sagt man?«, flüsterte ich Christopher zu.
»Danke«, sagte er, während er seine neueste Errungenschaft keine Sekunde aus den Augen ließ.