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Kurz vor Weihnachten erhält Anna Bergmann eine Einladung zu einer Testamentseröffnung, die sie nach Sylt führt. Auf der Insel hält eine Einbruchserie die Polizei in Atem, bei der bereits ein Mann ums Leben gekommen ist. Sind die Täter in den eigenen Reihen zu finden? Und wer ist der Tote auf dem Parkplatz? Auch Anna gerät in eine brenzlige Situation, denn die unverhoffte Erbschaft entfacht Begierden, die zur tödlichen Bedrohung werden. Und zu guter Letzt muss sie sich zwischen zwei Männern entscheiden. Ein Spiel mit dem Feuer!
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Seitenzahl: 422
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Sibylle Narberhaus
Syltfeuer
Kriminalroman
Heiß begehrt Kurz vor Weihnachten erhält Anna Bergmann eine Einladung zu einer Testamentseröffnung, die sie nach Sylt führt. Die Reise verbindet Anna mit einem Besuch bei ihrer langjährigen Schulfreundin Britta, die seit Jahren auf der Insel lebt. Nach einer hindernisreichen Anreise wird sie auf der Insel unmittelbar in einen Verkehrsunfall verwickelt, bei dem sie die flüchtige Bekanntschaft mit dem gleichermaßen attraktiven wie geheimnisvollen Polizisten Nick Scarren macht.
Zeitgleich hält eine Einbruchserie auf der Insel die Polizei in Atem, bei der bereits ein Mann zu Tode gekommen ist. Sind die Täter in den eigenen Reihen zu finden? Kurz darauf wird eine weitere Leiche entdeckt. Wer ist der Tote auf dem Parkplatz? Auch Anna gerät in eine brenzlige Situation, als ihre Erbschaft zur tödlichen Bedrohung wird. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf und zu guter Letzt muss sich Anna zwischen zwei Männern entscheiden. Eines steht fest – Annas Leben wird sich grundlegend verändern!
Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Sie lebte einige Jahre in Frankfurt und Stuttgart und zog schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Als gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Versicherungsfachwirtin arbeitet sie bei einem großen Konzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zur Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem herrlichen Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen ihre Ideen für neue Geschichten rund um die Insel.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Syltstille (2018)
Syltleuchten (2017)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © egerer-fotografie / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6150-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sylt
Die Nacht war kalt, und der blasse Mond wurde durch die vorbeiziehenden Wolken verdeckt, die selten eine größere Lücke freigaben. Der eisige Ostwind, der stetig durch die kargen Bäume und Sträucher wehte, ließ das vertrocknete Laub einer Buchenhecke leise rascheln. Das Dröhnen der Züge, die tagsüber in regelmäßigen Abständen an- und abfuhren, war verstummt. Der nächste Zug fuhr erst in den frühen Morgenstunden. Die Häuser am Üp Klef waren zu dieser Jahreszeit überwiegend unbewohnt. Einige von ihnen lagen durch Kiefern oder andere Gehölze schwer einsehbar auf großzügigen Grundstücken, viele davon mit unverbaubarem Wattblick. Nur sehr vereinzelt brannte in manchen Fenstern Licht. Im Großen und Ganzen lag die Gegend im Dunkel. An der Ecke Üp Klef/Am Jölbröch endete nicht nur der asphaltierte Weg, sondern mit ihm die Straßenbeleuchtung. Eines der Anwesen lag ein Stück zurückgesetzt, in unmittelbarer Nähe zum Watt. Auch hier deutete alles darauf hin, dass seine Bewohner nicht zu Hause waren, da in der Einfahrt kein Fahrzeug parkte. Das Grundstück war mit einem für die Insel typischen Friesenwall eingefasst, einer Mauer aus Findlingen, die mit Heckenrosen und niedrigen Kieferngewächsen bepflanzt war. Ein silbrig glänzender Fahnenmast ragte in die Nacht. Der Wind ließ das Seil zur Befestigung der Flagge rhythmisch gegen das Metall schlagen. Plötzlich war ein Knirschen zu hören, ähnlich dem von Schritten auf Kies. Eben noch friedlich grasende Kaninchen stoben bei dem Geräusch blitzschnell in alle Richtungen auseinander, um im nahegelegenen Dickicht der Sträucher Zuflucht zu suchen. Ihre weißen Blumen leuchteten in der Dunkelheit auf wie funkelnde Sterne. Dunkle Schatten wanderten an der Hauswand entlang und bewegten sich zielsicher zur Rückseite des Hauses.
»Was hast du mit dem Stein vor?«
»Überleg mal. Du bist doch sonst so schlau!«
Dann durchschnitt das Geräusch von splitterndem Glas die Nacht. Scherben fielen klirrend zu Boden. Unmittelbar im Anschluss schob sich eine Hand geschickt durch die geborstene Scheibe und umschloss den Messinggriff. Die Terrassentür öffnete sich beinahe lautlos.
»Passt auf, wo ihr hintretet!«
Der Schein einer Taschenlampe bildete einen hellen Lichtkegel auf dem grauen Steinfußboden und wanderte nervös hin und her bis er an einem Bild an der Wand hängen blieb.
»Bist du verrückt? Mach sofort die Lampe aus!«, zischte eine Stimme, worauf das Licht augenblicklich erlosch und den Raum erneut in tiefes Dunkel hüllte.
»Schon gut«, kam es murrend zurück. »Aber man sieht nix.«
»Los, nach oben«, erklang der knappe Befehl.
Gleich darauf konnte man die Stufen der gewundenen Holztreppe unter der Belastung der Schritte ächzen hören, gefolgt von einem lauten Scheppern, das aus dem oberen Stockwerk ertönte.
»Verdammt, pass doch auf!« Ein nervöser Blick wanderte zum Treppenabsatz. »Alles okay da oben?«
»Ja, bloß was umgefallen«, erfolgte die prompte Meldung aus dem oberen Stockwerk.
»Seid leise! Mit dem Lärm weckt ihr die gesamte Nachbarschaft auf.«
»Beruhig dich, Mann. Hier ist weit und breit keiner, der uns hören könnte. Die anderen Häuser stehen leer.«
»Das weiß man nie.«
»Vertrau mir!«
»Du musst es ja wissen.«
»Sag ich doch.«
Sogleich konnte man hören, wie Schubladen hektisch aufgezogen und Schranktüren knarrend geöffnet wurden. Alles dauerte nur wenige Minuten.
»Seid ihr fertig da oben?«
»Ja, wir kommen runter.«
»Und? Was gefunden?«
»Ich denke schon. Was hast du?«
»Ich glaube, ich habe ein Auto gehört.«
»Blödsinn, da war nichts. Du täuschst dich.«
»Hm. Ich bin hier unten jedenfalls auch durch. Lasst uns abhauen. Hey, wo willst du hin?«
»Ich will nur noch kurz hinter diese Tür sehen.«
»Das ist bloß die Abstellkammer. Komm!«
Plötzlich war von draußen ein leises Klappern zu hören, dem ein Klacken folgte.
»Hört ihr das? Verdammt, schnell weg!«
Die Haustür wurde geöffnet. Nur eine Sekunde später blitzte blankes Metall auf, gefolgt von einem dumpfen Schlag und einem leisen Stöhnen. Kurz darauf hatte sich die nächtliche Stille ihren Platz im Haus zurückerobert.
Hannover
Draußen war es stockdunkel, als ich unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Vor dem Haus ertönte das durchdringende Schrillen der Alarmanlage eines geparkten Autos. Ich brauchte einen Moment, bis ich meine Gedanken sortiert hatte. Mein verschlafener Blick wanderte zu meinem Wecker auf dem Nachttisch neben mir. Es war 6.30 Uhr. Heute war Donnerstag, aber ich musste nicht aufstehen, um zur Arbeit zu fahren, denn es war mein erster Urlaubstag. Ich würde bis zum Jahreswechsel ausspannen können – über fünf Wochen. Mit diesem herrlichen Gedanken ließ ich mich zurück in mein Kissen sinken. Nachdem ich einige Zeit vor mich hingedöst hatte, ohne erneut einschlafen zu können, stand ich auf und ging in die Küche, um mir mein Frühstück zuzubereiten. Mit einem dampfenden Becher Tee und einer Schale Müsli setzte ich mich – noch immer im Nachthemd – an den Küchentisch und begann, die Tageszeitung zu studieren, die mir meine Nachbarin täglich vor die Wohnungstür legte, wenn sie frühmorgens mit ihrem Hund spazieren ging. Die Zeitung ausgiebig beim Frühstück zu lesen war zu einem liebgewonnenen Ritual geworden, das ich mir jedoch lediglich an den Wochenenden gönnte. Unter der Woche bestimmten ständiger Zeitdruck und Hektik mein Leben. Die erste Tasse Tee trank ich meistens erst im Büro und auch dort blieb manchmal kaum Zeit dafür.
Das gesamte Jahr über hatte ich ausgesprochen viel gearbeitet und meinen letzten großen Auftrag vor knapp einer Woche erfolgreich fertiggestellt. In der Winterzeit gab es für Landschaftsarchitekten kaum etwas zu tun, von Neuaufträgen ganz zu schweigen. Diesbezüglich konnte ich meinen Chef verstehen, als er uns gebeten hatte, verbleibenden Urlaub zu nehmen und die angehäuften Überstunden abzubauen. Zuletzt hatte ich mich durch einen gewaltigen Berg Ablage, der meinen Schreibtisch nahezu vollständig bedeckte, gekämpft. Je länger ich darüber nachdachte, desto verlockender erschien mir die Aussicht auf eine Auszeit. Endlich würde sich die Gelegenheit ergeben, Dinge zu erledigen, die ich bereits das gesamte Jahr vor mir herschob. Meine Wohnung bedurfte dringend einer grundlegenden Umgestaltung. Ich hatte sie vor eineinhalb Jahren gekauft und bislang nicht viel investiert, bis auf einige wenige Möbel, die ich für unbedingt notwendig erachtete. Mehr Energie hatte ich noch nicht aufbringen können, um es wohnlich und gemütlich zu gestalten. Entweder mangelte es an Zeit oder ich hatte einfach nicht das Richtige gefunden, was meinen Vorstellungen entsprach. Mein Sofa brauchte dringend ein paar Kissen, damit es heimeliger wirkte. Für die nackte Wand über dem Esstisch war ich seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem passenden Bild. Eine konkrete Vorstellung hatte ich allerdings nicht, was dort hängen sollte. Außerdem wollte ich nach einer Lampe Ausschau halten, die ich auf die Fensterbank im Wohnzimmer stellen wollte. Ich liebte es, eine Lichtquelle im Fenster stehen zu haben. Das gefiel mir gut und ich fand, dass es dem gesamten Raum eine angenehme Atmosphäre verlieh. Und so gab es darüber hinaus weitere Stellen in meiner Wohnung, die es zu verbessern galt. Zu Beginn war es mir schwergefallen, mich mit dem Alleinsein anzufreunden. Damals hatte ich mich nach langer Zeit von meinem Freund Marcus getrennt. Eigentlich hatte er sich von mir getrennt und war letztlich mit einer blutjungen Blondine durchgebrannt. Aber das war ein Kapitel meiner Geschichte, das ich mir nur ungern in Erinnerung rief. Wir hatten vorgehabt, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Auf einen solch abrupten Richtungswechsel in meinem Leben war ich nicht vorbereitet gewesen – und somit traf mich die Erkenntnis ohne Vorwarnung. Zunächst hatte ich mich völlig in mein Schneckenhaus zurückgezogen, um mich anschließend so in meine Arbeit zu stürzen, dass es schon exzessive Züge annahm. Der einzig positive Nebeneffekt an der Sache war, dass ich letztendlich gelernt hatte, auf eigenen Füßen zu stehen. Marcus hatte mir immer unterschwellig suggeriert, ich wäre ohne ihn nichts, und irgendwann hatte ich beinahe selbst daran geglaubt. Nüchtern betrachtet war ich auf dem besten Wege, meine eigene Persönlichkeit in Frage zu stellen.
In der Zwischenzeit war es draußen hell geworden. Allerdings versprach dieser letzte Tag im November erneut einer der trüben Sorte zu werden. Nachdem ich in Ruhe zu Ende gefrühstückt und die Zeitung gelesen hatte, begab ich mich ins Bad, um mich fertig zu machen. Als ich gerade aus der Dusche kam, klingelte es an der Tür. Wer konnte das um diese Zeit sein? Ich wickelte mir schnell ein Handtuch um, hastete barfuß mit nassen Füßen in den Flur und spähte durch den Spion in der Tür. Ein Postbote stand davor und sah durchgefroren aus.
»Guten Morgen, sind Sie Frau Anna Bergmann?«, begrüßte er mich durch den engen Türspalt.
»Ja, die bin ich.«
»Ich habe hier ein Einschreiben mit Rückschein für Sie. Würden Sie mir das bitte quittieren?«
Ich nahm das Dokument entgegen und setzte meine Unterschrift an die Stelle, die er mit einem Kreuz markiert hatte.
»Danke und schönen Tag noch!« Mit diesen Worten eilte er das Treppenhaus nach unten.
Meinen Blick neugierig auf den Brief gerichtet ließ ich mich, halbnackt wie ich war, im Wohnzimmer auf das Sofa nieder. Wasserperlen aus meinem nassen Haar liefen kitzelnd meinen Nacken hinab, aber ich ignorierte sie, denn ich war damit beschäftigt, den Brief zu öffnen. Der Absender war eine Anwaltskanzlei auf Sylt. Der Name sagte mir nichts. Ich faltete den Brief auseinander und begann zu lesen. Was ich dort las, machte mich traurig und sprachlos zugleich. Kaum war ich im Bad fertig und hatte mich angezogen, griff ich mir das Telefon und rief meine beste Freundin Britta an, die mit ihrer Familie auf der Insel lebte.
»Hallo, Britta! Hier ist Anna.«
»Hallo, Anna! Das ist ja nett, dass du dich meldest.«
Ihre heitere Stimme am anderen Ende der Leitung verströmte sogleich gute Laune.
»Ist etwas passiert?«, erkundigte sie sich.
»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte ich, da ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. »Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Und Jan? Wie läuft das Hotel?«
»Uns geht es allen prächtig. Langsam beginnt die ruhige Zeit hier auf der Insel«, antwortete sie. »Wie sieht es aus? Hättest du nicht Zeit und Lust, uns zu besuchen? Sylt ist auch im Winter äußerst reizvoll. Im Job dürftest du momentan eher wenig zu tun haben. Vielleicht kannst du ein paar Tage freinehmen. Wir haben uns unendlich lange nicht mehr gesehen. Ich würde gerne mal wieder ausgiebig mit dir quatschen. Außerdem täte dir ein Tapetenwechsel sicherlich gut. Du könntest ganz in Ruhe deine Weihnachtseinkäufe erledigen und gleichzeitig ein bisschen ausspannen. Was hältst du von dem Vorschlag?«, versuchte Britta mit aller Überzeugungskraft, mir die Sache schmackhaft zu machen. In der Disziplin Leute zu überzeugen, war sie wahrlich Weltmeisterin.
»Ob du es glaubst oder nicht, das überlege ich wirklich.«
»Dann ist das Gedankenübertragung«, erwiderte Britta fröhlich. »Oder gibt es einen speziellen Anlass?«
»Den gibt es tatsächlich«, seufzte ich. »Ich habe vorhin einen Brief erhalten. Johannes von Waldenbach ist gestorben.«
»Tut mir leid, aber der Name sagt mir im Moment nichts«, gestand Britta ehrlicherweise.
»Der Musiker. John Woodbrook ist sein Pseudonym«, half ich meiner Freundin auf die Sprünge.
»Ja natürlich! Jetzt erinnere ich mich. Der bekannte Filmmusiker. Du hast damals dieses Stipendium bei ihm gewonnen und mehrere Monate in den USA verbracht«, erinnerte sich Britta. »Einschließlich der Sommerferien, während ich bei meinen Eltern in der Backstube schuften musste.«
»Es war eine tolle und aufregende Zeit. Ich habe wahnsinnig viel gelernt.«
»Hatte er sich nicht vor Kurzem ein Haus auf Sylt gekauft?«
»Das ist bereits zwei Jahre her«, korrigierte ich sie.
»Meine Güte! Wie die Zeit vergeht! Aber was stand nun in dem Brief? Spann mich nicht länger auf die Folter!«
»Er stammt von einem Notar aus Keitum. Dr. Herdenrodt heißt er. Kennst du ihn?«
»Nie gehört. Vielleicht kennt Jan ihn.«
»Außer dem Termin der Beerdigung liegt dem Brief eine Einladung zur Testamentseröffnung beim Nachlassgericht in Niebüll bei.«
»Echt?« fragte Britta erstaunt. »Was bedeutet das? Wann ist die Beerdigung?«
»Was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Die Beerdigung ist übermorgen.«
»Oh! Gehst du hin?«, wollte Britta wissen.
»Ich denke schon. Ich hatte zwar keinen besonders engen Kontakt zu Johannes, aber irgendwie mochte ich ihn und vor allem seine Musik. Wir haben uns meistens zu den Geburtstagen und zu Weihnachten geschrieben, mehr nicht. Auf Sylt habe ich ihn nie besucht.«
»Du bist seit über zwei Jahren nicht mehr hier gewesen«, bestätigte Britta. »Also, frag deinen Chef, ob du Urlaub bekommst, und dann mach dich auf den Weg. Du kannst selbstverständlich bei uns wohnen.«
»Heute ist mein erster Urlaubstag. Ich muss erst wieder Anfang Januar arbeiten.«
»Das klingt geradezu perfekt!«, rief Britta begeistert aus. »Worauf wartest du? Fang an, deinen Koffer zu packen! Wann wirst du ungefähr da sein?«
»Ich werde gleich meine Eltern anrufen und sie bitten, während meiner Abwesenheit nach meiner Wohnung zu schauen. Den wahren Grund meiner Reise werde ich ihnen vorerst nicht unter die Nase reiben. Du kennst meine Mutter, ich werde sonst keine freie Minute haben bis sie weiß, was es mit der Angelegenheit auf sich hat. Morgen um die Mittagszeit könnte ich auf Sylt sein, wenn es euch passt.«
»Na klar, passt das! Das wird großartig! Ich wünsche dir eine gute Fahrt und freue mich auf morgen. Fahr vorsichtig! Ruf am besten an, wenn du auf dem Autozug stehst. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf dich freue, Anna!«
»Ich freue mich auch.«
Eine halbe Stunde später rief ich bei meinen Eltern an, um sie über meine spontanen Reisepläne in Kenntnis zu setzen. Meine Mutter versicherte mir, sich um meine Pflanzen zu kümmern und die Post aus dem Kasten zu nehmen. Ich sollte mir keine unnötigen Gedanken machen, sie hätte alles im Griff. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass sie sich um meine Wohnung kümmern würde, während ich nicht zu Hause war. Meine Eltern wohnten lediglich eine Viertelstunde mit dem Auto von mir entfernt. Dennoch sahen wir uns nicht regelmäßig. Ich legte viel Wert auf meine neu gewonnene Eigenständigkeit, was vor allem meine Mutter zähneknirschend akzeptierte. Obwohl sie es sicherlich gut meinte, war ihre elterliche Fürsorge manchmal erdrückend. Aber wahrscheinlich blieb man aus Sicht seiner Eltern immer das Kind. Trotz allem verstand ich mich ausgesprochen gut mit meinen Eltern, und es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie für mich da waren und umgekehrt natürlich auch.
Im Anschluss an das Telefonat begann ich, meine Sachen zu packen. Ich flitzte in den Keller und kramte meinen Koffer zwischen allen möglichen Gegenständen hervor. Dabei stellte ich ernüchternd fest, dass ich den Kellerraum auch dringend entrümpeln musste. Dann schleppte ich den Koffer nach oben in meine Wohnung. Während ich ihn mit den unterschiedlichsten Kleidungsstücken füllte, wurde mir klar, dass Britta recht hatte. Wir hatten uns in den letzten zwei Jahren nicht gesehen, zumindest aber des Öfteren miteinander telefoniert. Vor allem nach der Trennung von Marcus war Britta für mich eine unersetzliche Stütze gewesen. Geduldig hörte sie sich meinen Kummer und meine Sorgen an, und ich erntete Trost und Zuspruch. Zuletzt hatte ich Britta und ihren Mann Jan besucht, als sie zu ihrer großen Eröffnungsfeier nach dem Hotelanbau geladen hatten. Das war über zwei Jahre her. Ich konnte mich gut daran erinnern, wie stolz die beiden waren. Besonders Britta hatte viel Energie in den Anbau gesteckt. Ursprünglich sollte Marcus mich zu der Feier begleiten, aber er musste plötzlich an einem Ärztekongress in Köln teilnehmen, der zeitgleich stattfand. Ich hatte damals bereits ein komisches Gefühl, denn sonst waren ihm diese Kongresse eher zuwider und er war für jede Ausrede dankbar, nicht daran teilnehmen zu müssen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war er tatsächlich nach Köln gefahren, traf sich aber dort mit einer anderen Frau. Das hatte ich per Zufall erfahren. Marcus beteuerte reumütig, das alles wäre ein einmaliger Ausrutscher gewesen, eine Dummheit, die nie wieder vorkäme. In meiner Gutgläubigkeit und grenzenlosen Naivität nahm ich ihm die Geschichte ab und vergab ihm.
Ich wühlte in meiner Kommode im Schlafzimmer nach meinem Badeanzug, den ich auf alle Fälle mitnehmen wollte. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, in die »Sylter Welle«, dem Freizeitbad von Westerland,zu gehen. Er fiel mir in die Hände, und ich stopfte ihn in den vollen Koffer, bevor ich ihn endgültig zuklappte. Es bedurfte einiger Kraftanstrengungen, da er zum Bersten gefüllt war. Obwohl ich mich von Minute zu Minute mehr auf Familie Hansen und die spontane Reise an die Nordseeküste freute, machte mich der Gedanke an den Abschied von Johannes von Waldenbach traurig. Allerdings wunderte ich mich, warum ich zur Testamentseröffnung eingeladen wurde. Ich gehörte weder zur Familie noch zum engeren Freundeskreis. Alles Grübeln war zwecklos, ich musste mich in Geduld üben. Besonders freute ich mich auf Brittas und Jans Zwillinge, Tim und Ben, die mittlerweile acht Jahre alt waren und längst in die Schule gingen. Zur Einschulung hatte ich leider nicht fahren können, da ich mitten in einem wichtigen Projekt steckte und von meinem Chef nicht freibekam. Er hatte für solch Festivitäten nichts übrig, denn er hasste Familienfeiern generell. Mir war es nicht gelungen, ihn umzustimmen, obwohl ich die Patentante der beiden Jungen war. Ich kannte Britta seit der ersten Schulklasse. Damals waren meine Eltern mit mir gerade in die Nähe von Hannover gezogen, und ich musste mir in meinem neuen Umfeld erst Freunde suchen. Mein Vater war beruflich versetzt worden und bekam die Leitung einer großen Bankfiliale im Herzen Hannovers. Da meine Mutter als freiberufliche Übersetzerin tätig war, war es für sie kein Problem gewesen umzuziehen. Sie arbeitete ausschließlich von zu Hause aus. Britta hatte sich im Klassenzimmer neben mich gesetzt und mich mit ihren fröhlich wachen Augen neugierig angesehen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch gewesen, und über all die Jahre war daraus eine enge Freundschaft erwachsen. Wir hatten Höhen und Tiefen durchlebt und gemeistert, von Trennungen von Partnern bis hin zu Verlusten von geliebten Menschen, Freundschaften und Jobs. Das alles hatte uns umso enger zusammengeschweißt, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.
Nach der gemeinsamen Schulzeit begann ich ein Studium der Landschaftsarchitektur in Lüneburg, und Britta absolvierte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau auf Sylt. Ihre Eltern besaßen eine Bäckerei und waren enttäuscht, als Britta verlauten ließ, dass sie nicht in deren Fußstapfen treten wollte. Sie hatten fest damit gerechnet, eines Tages den Betrieb an ihre Tochter zu übergeben, da Britta ihr einziges Kind war. Doch Britta hatte ihre eigenen Vorstellungen vom Leben und daran gab es nichts zu rütteln. Auf Sylt lernte sie nach kurzer Zeit ihren Mann, Jan Hansen, kennen. Seine Eltern führten in Westerland ein kleines Hotel, in dem Britta oft aushalf. Als sie mir eines Tages am Telefon von ihm erzählte, war sie dermaßen aufgeregt gewesen, dass sie mich nicht zu Wort kommen ließ. Eine Woche später teilte sie mir mit, dass Jan und sie ein Paar wären und sie auf der Insel bleiben würde. Mittlerweile führte Jan das Hotel, das in den vergangenen Jahren zusehends größer geworden war und einen exzellenten Ruf auf der Insel genoss, woran Britta ein erheblicher Teil anzurechnen war. Vor acht Jahren wurden die Zwillinge geboren, und Britta kümmerte sich seitdem vorrangig um Kinder und Familie und weniger um den Hotelbetrieb. Sie blieb trotz allem der gute Geist des Hauses, verbreitete gute Laune und hatte stets ein offenes Ohr für die Anliegen der Gäste und Mitarbeiter. Wo sie auftauchte, wurde aus einem schweren Sturm eine leichte Brise und aus einem heftigen Unwetter ein erfrischender Sommerregen. Um ihre positive Lebenseinstellung und Energie hatte ich sie ein um das andere Mal beneidet, denn ich war eher pessimistisch veranlagt. Ständig hatte ich Angst, etwas könnte schiefgehen oder ich könnte jemanden enttäuschen. Mir fehlte schlichtweg gesagt eine Portion Selbstbewusstsein und Zuversicht, auch wenn sich das seit der Trennung von Marcus leicht gebessert hatte. Britta bewunderte im Gegenzug mein Perfektionsstreben und meinen ungebremsten Enthusiasmus, wenn ich mich erst richtig in eine Sache verbissen hatte. Mit diesen beiden Eigenschaften im Gepäck war mein Leben nicht immer einfach, vor allem mit meinem Streben nach Perfektion stand ich mir regelmäßig selbst im Weg.
Rein äußerlich hätten Britta und ich nicht unterschiedlicher sein können. Britta war mit ihren 1,65 Metern fast zehn Zentimeter kleiner als ich. Mit ihren blauen Augen und dem halblangen blonden Haar, das sie stets offen trug, passte sie ausgezeichnet in den hohen Norden. Ich dagegen war eher der mediterrane Typ mit grünen Augen und langem dunklen Haar, das ich meist zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Aber genau diese Kombination aus Feuer und Wasser war offensichtlich Garant für unsere lang anhaltende Freundschaft.
Am nächsten Morgen machte ich mich in aller Frühe auf den Weg nach Sylt, um den obligatorischen Baustellenstaus und dem freitäglichen Feierabendverkehr rund um Hamburg zu entgehen. Leichter Regen hatte eingesetzt und blieb die gesamte Fahrt mein treuer Begleiter. Jedenfalls war das besser als Glatteis, sagte ich mir. Während ich gen Norden unterwegs war, kreisten meine Gedanken um meine Arbeit. Im Geiste ging ich erneut meine Unterlagen durch und überlegte, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte. Mein Chef konnte mich praktisch rund um die Uhr über mein Mobiltelefon erreichen, denn ich hatte ihm eines Tages leichtsinnigerweise in einem Anflug von Gutmütigkeit und übertriebenem Arbeitseifer meine private Handynummer für Notfälle gegeben. In dieser Hinsicht fackelte er selten lange, sie zu nutzen – der Begriff Notfall unterlag dabei keiner festen Definition. Soweit ich mich erinnern konnte, gab es in der vergangenen Zeit kaum einen Urlaub oder freien Tag, an dem er mich nicht wenigstens einmal angerufen hatte. Deswegen war es umso verwunderlicher, dass er sich bislang nicht gemeldet hatte.
Nach dreieinhalb Stunden Fahrt ohne nennenswerte Verzögerungen erreichte ich schließlich die Autoverladestation des »SyltShuttle« in Niebüll. In den Reihen vor den Fahrkartenschaltern standen nur wenige Fahrzeuge, sodass ich zügig an einem der Automaten ein Ticket kaufen und mich anschließend in die erste Spur einreihen konnte. Eine große Anzeigetafel teilte den Reisenden mit, dass die nächste Verladung in 15 Minuten beginnen würde. Daher nutzte ich die verbleibende Zeit, um die Toilette aufzusuchen und mich im angrenzenden Bistro mit einem Getränk und etwas Essbarem zu versorgen. Die Überfahrt dauerte für gewöhnlich 35 Minuten. Da ich bislang nichts gefrühstückt hatte, überkamen mich Hunger und Durst.
Jedes Mal, wenn ich auf dem Autozug stand und er sich in Bewegung setzte, erwachte in mir ein wahres Urlaubsgefühl. Ich machte es mir in meinem Auto bequem und erwartete jeden Moment, dass es losging. Doch der Zug bewegte sich nicht von der Stelle. Nichts rührte sich. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet, dass wir längst hätten abfahren müssen. Waren eventuell technische Probleme der Grund für die verspätete Abfahrt? Nach weiteren zehn Minuten Stillstand knisterte die kleine Lautsprecherbox, die direkt neben mir am Zug angebracht war. Aber statt der üblichen Begrüßung »Moin, moin, willkommen auf dem SyltShuttle, …« und den nachfolgenden Sicherheitshinweisen erklang eine tiefe Männerstimme, die uns mitteilte, dass sich unsere Abfahrt aufgrund eines Böschungsbrandes entlang der Bahnstrecke auf unbestimmte Zeit verschieben würde.
Das sind in der Tat großartige Aussichten, seufzte ich innerlich. Hungrig begann ich, das Käsebrötchen zu essen, das in seiner Plastikverpackung schon etwas zäh geworden war, und hätte mir um ein Haar die Zunge an dem noch heißen Tee verbrannt. Was für ein Start in den Urlaub!
Während die Zeit unaufhaltsam verstrich, saß ich im Auto, hörte Radio und blickte aus dem Fenster, ohne dass irgendetwas passierte, das auf ein baldiges Ende der Zwangspause hindeutete. Überall in den Autos warteten die Reisenden darauf, dass der Zug endlich seine Fahrt aufnehmen würde. Der Regen war stärker geworden, und ich beobachtete die Regentropfen, wie sie um die Wette an der Scheibe herunterliefen und letztendlich von der Fensterdichtung aufgehalten wurden und verschwanden. Auf der Motorhaube perlten sie ab und bildeten dicke Tropfen. Sie ähnelten den dicken Glasperlen, die ich zu Hause um die Kerze in einem meiner Windlichter dekoriert hatte. Sobald sich der Wagen bewegte oder eine kräftige Windböe aufkam, fanden sie auf der glatten Oberfläche keinen Halt mehr und rutschen hinunter. Mein Vater hatte meinen Wagen neulich frisch gewachst, was den Effekt verstärkte. Er hatte darauf bestanden, diese Maßnahme in jedem Fall noch vor dem Winter durchzuführen.
»Das schützt den Lack. Allein wegen des vielen Streusalzes, das demnächst wieder ohne Sinn und Verstand tonnenweise auf die Straßen geschüttet wird«, fügte er mit verdrießlichem Gesichtsausdruck hinzu.
Langsam begann ich zu frösteln, denn im Inneren meines Wagens wurde es kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Winterjacke bis zum Anschlag zu und rieb mit den Handflächen über meine Oberschenkel. Draußen herrschten auch Anfang Dezember keine arktischen Temperaturen, aber wohlige Wärme fühlte sich anders an, zumal die Heizung bei ausgeschaltetem Motor nicht funktionierte. Nach einer Stunde erwachte der Lautsprecher neben mir endlich wieder zum Leben und uns wurde mitgeteilt, dass der Zug in Kürze abfahrbereit sei. Alle Fahrzeuginsassen wurden gebeten, sich anzuschnallen. Kurz darauf setzte sich der Zug tatsächlich in Bewegung.
Nachdem wir knapp fünf Minuten unterwegs waren, verlangsamte er seine Fahrt jedoch und blieb erneut stehen. Gleich darauf knisterte es verheißungsvoll im Lautsprecher und die mittlerweile vertraute Männerstimme ließ uns wissen, dass wir momentan nicht weiterfahren könnten. Das hatte ich bereits selbst festgestellt, und langsam war meine Geduld am Ende. Was war nun vorgefallen? Man versprach uns nähere Informationen, sobald diese vorlägen. Weitere zehn Minuten verstrichen, dann ertönte wieder die Stimme aus dem Lautsprecher und erklärte, dass ein Unfall mit Personenschaden an einem Bahnübergang die Ursache für unseren neuerlichen Halt wäre. Die Strecke sei bis auf Weiteres in beide Richtungen voll gesperrt. In Kürze würde unser Zug von einer Lokomotive zurück nach Niebüll gezogen.
»Das glaube ich jetzt nicht«, stöhnte ich vor mich hin, denn mir schmerzte zusehends der Rücken vom langen, unbequemen Sitzen. Zurück an der Verladestation konnte man erkennen, dass sich zwischenzeitlich eine lange Autoschlange bis weit zurück zu den Fahrkartenterminals gebildet hatte. Den Reisenden wurde gestattet, die Fahrzeuge zu verlassen, und sogleich strömten die Massen zu den Toiletten und in das Bistro, das für diesen Ansturm von Fahrgästen nicht gewappnet war. Ich ergatterte mit Mühe und Not eine kleine Flasche Cola – das Mineralwasser war mittlerweile ausverkauft – sowie eine Illustrierte, die ich unter normalen Umständen niemals gekauft hätte. Aber ich wollte mir die Wartezeit, von der ich nicht wusste, wie lange sie dauern würde, damit vertreiben. In meinem Auto sitzend, blätterte ich in der Zeitschrift und erfuhr die neuesten Modetrends, studierte ausgiebig einen Diätplan, der die Low-Carb-Ernährung favorisierte, und las mein Horoskop. Unerwartete Ereignisse und eine schicksalhafte Begegnung, die mein bisheriges Leben komplett verändern sollten, wurden mir prophezeit.
»Sicher«, murmelte ich vor mich hin, »was für ein Blödsinn. Was die alles wissen wollen!«
Nachdem ich die Illustrierte beinahe auswendig kannte und seit meiner Ankunft vier Stunden vergangen waren, meldete sich der knisternde Lautsprecher zu Wort. Die Unfallstelle sei nun geräumt, und der Zug würde in Kürze die Weiterfahrt aufnehmen. Alle Fahrgäste sollten sich bitte umgehend zu ihren Fahrzeugen begeben und darin Platz nehmen. Schlagartig herrschte allgemeine Betriebsamkeit. Das Öffnen und Schließen von Autotüren und Heckklappen war unüberhörbar. Dann kontrollierte ein Bahnangestellter, ob alle Autos besetzt waren. Der schwarze Geländewagen hinter mir war nach wie vor verwaist. Von dem Fahrer war weit und breit nichts zu sehen. Nach fast zehn Minuten tauchte er, ein wie aus einem Modekatalog gekleideter junger Mann, endlich auf. Er setzte sich in Seelenruhe mit einem Kaffeebecher in der Hand und einer Zeitung unterm Arm in sein Fahrzeug, ohne eine Spur von schlechtem Gewissen zu zeigen. Einige Autofahrer verschafften ihrem Ärger durch wütende Ausrufe Luft. Ich bedachte ihn ebenfalls mit einem bösen Blick in meinen Rückspiegel. Doch das nahm er vermutlich überhaupt nicht zur Kenntnis oder es prallte schlichtweg an ihm ab. Ich aber fühlte mich dadurch wesentlich besser.
Nachdem der ratternde Zug Häuser und Felder hinter sich gelassen hatte und das Bild von der Unfallstelle, die wir passiert hatten, in meinem Kopf langsam verblasste, richtete sich mein Blick auf das vor mir liegende, scheinbar unendliche Wattenmeer. Ich spürte plötzlich ein Gefühl der inneren Ruhe und Freiheit in mir aufsteigen. Es hatte aufgehört zu regnen. Am Horizont blinzelte die Sonne zwischen grauen Wolkenfetzen zögerlich hervor und ihre vereinzelten Strahlen ließen das Watt metallisch glänzen. An der Nordsee wechselte das Wetter rasch, auf Regen folgte blauer Himmel und umgekehrt. Das Wattenmeer lag ruhig rechts und links des Hindenburgdamms, der Sylt mit dem Festland verband, und Hunderte von Seevögeln stiegen beim Herannahen des Zuges in die Luft und beeindruckten mit den unterschiedlichsten Flugformationen. Unzählige Schafe standen oder lagen auf den angrenzenden Salzwiesen, grasten oder kauten gemächlich vor sich hin, völlig unbeeindruckt von dem Lärm, den der »SyltShuttle« verursachte. Am Horizont konnte ich den schwarz-weißen Leuchtturm von Kampen und St. Severin, die Kirche von Keitum, erkennen. Ein paar Minuten später tauchte das Morsumkliff rechter Hand vor uns auf, und der Zug hatte die Insel endgültig erreicht. Kurz bevor wir Keitum passierten, verlangsamte sich die Fahrt. Wir hielten im Bahnhof von Keitum an, jedoch nur, um einem entgegenkommenden Zug die Durchfahrt zu gewähren. Anschließend setzte sich der »SyltShuttle« erneut in Bewegung. In Westerland kamen wir endgültig zum Halten und nach und nach wurden die Motoren der Autos gestartet, die Bremsleuchten blendeten auf und ein Wagen nach dem anderen rollte von der Rampe. Ich hatte es geschafft.
Hamburg
Die schwere Tür öffnete sich und ein Mann im Anzug, Anfang 40, betrat das großzügige Büro, von dessen Fensterfront aus man einen herrlichen Blick auf die Elbe und die vorbeifahrenden Schiffe genießen konnte. Hinter einem mächtigen Schreibtisch aus Mahagoni mit verspielt geschwungenen Beinen, auf dem sich lediglich eine moderne Telefonanlage, eine silberne Schale mit einem Füllfederhalter sowie ein sorgfältig aufgeschichteter Stapel Mappen befanden, saß eine gepflegte Dame in einem grauen Kostüm und heller Seidenbluse, deren Kragen eine filigrane Brosche zierte. Ihr halblanges, blondes Haar war perfekt frisiert.
Als der Mann vor ihr stehen blieb, blickte sie lediglich kurz auf: »Guten Morgen.« Dann galt ihre Aufmerksamkeit wieder der Unterschriftenmappe, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
»Guten Morgen, Mutter«, erwiderte der Mann. »Ich habe eben ein Telefonat geführt, das dich sehr interessieren dürfte.« Er wartete auf die Reaktion seiner Mutter, aber sie erwiderte nichts. Daher fuhr er fort: »Dr. Brettschneider hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass Onkel Johannes vor knapp einem Monat verstorben ist.«
»Gut«, entgegnete sie beiläufig, als hätte man sie lediglich über den aktuellen Wetterbericht unterrichtet. Während sie eine Unterschrift auf ein Dokument in der Mappe vor sich setzte, fragte sie: »Und? Hat er gesagt, wann der Termin für die Testamentseröffnung ist? Die Beerdigung hat hoffentlich bereits stattgefunden. Das ist ohnehin Zeitverschwendung.«
Jetzt blickte sie auf und ihre eisgrauen Augen sahen ihren Sohn erwartungsvoll an.
»Ein Notar aus Keitum auf Sylt hat sich bereits mit Dr. Brettschneider wegen des Nachlasses in Verbindung gesetzt. Den Namen habe ich vergessen, aber er hat eine Überraschung angedeutet.«
Sie verzog keine Miene und überlegte.
»Weshalb ein Notar aus Keitum, und welche Überraschung soll es geben? Könntest du dich bitte etwas genauer ausdrücken, Georg? Ich habe weder die Zeit noch Muße für Ratespiele dieser Art. Die Situation ist eindeutig: Außer uns existieren keine rechtmäßigen Erben. Wozu dann diese Geheimniskrämerei?«
Sie runzelte die Stirn und blickte ihren Sohn mit durchdringendem Blick an.
»Ich weiß es doch auch nicht, Mutter. Übermorgen ist die Testamentseröffnung in Niebüll. Und dieser Brief ist vorhin für dich abgegeben worden«, erklärte er und reichte seiner Mutter ein verschlossenes Kuvert.
»Dann finde es heraus. Worauf wartest du? Ruf diesen Notar an! Oder muss ich das selbst machen? Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob du überhaupt irgendetwas allein kannst«, entgegnete sie unwirsch und nahm den Brief an sich.
Als ihr Sohn den Raum mit gesenktem Kopf verlassen hatte, griff sie nach dem langen Brieföffner, der die Form eines Dolches besaß und am Griff mit blauen Steinen besetzt war. Damit schlitzte sie den Briefumschlag mit einer ruckartigen Bewegung auf. Sie entnahm dem Kuvert ein beschriebenes Stück Papier und faltete es ungeduldig auseinander. Das Briefpapier war von edler Qualität, und der Text darauf war handschriftlich in blauer Tinte verfasst worden. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick. Instinktiv straffte sie die Schultern, setzte sich ihre Brille auf, die an einer langen Goldkette um ihren Hals baumelte, und begann zu lesen.
Luisa,
sehr lange Zeit haben wir nichts mehr voneinander gehört. Eine Ewigkeit, wie es scheint. Wenn Dich dieser Brief erreicht, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Ich sehe Dich zufrieden lächeln, aber damit ist nicht alles vorbei.
Ich habe Dich all die Jahre nicht aus den Augen gelassen. Ich weiß, wer für den Tod von Marla und Albert verantwortlich ist, und ich kann und werde es beweisen. Auch jetzt noch, nach meinem Tod. Das bin ich den beiden schuldig. Erst dann werde ich meinen Frieden finden können.
Es sei Dir versichert, Luisa, dass ich alle notwendigen Schritte eingeleitet habe. Mein ganzes Leben habe ich Schuldgefühle mit mir herumgetragen. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich hätte es viel früher tun müssen.
Eigentlich wollte ich Dich ein letztes Mal persönlich aufsuchen, aber das war mir bedauerlicherweise nicht vergönnt.
Dieses Mal wirst Du nicht ungeschoren davonkommen, Luisa, darauf gebe ich Dir mein Wort.
Johannes
»Elender Narr!« Mit diesen Worten setzte sie die Brille ab und zerriss den Brief in Hunderte kleine Stücke.
Sylt
Wer das erste Mal nach Sylt kam, fragte sich beim Anblick der schmucklosen Hochhäuser und Wohnblocks in Westerland sicherlich, was an Sylt so besonders sei. Denn diese Ansicht wirkte alles andere als idyllisch und einladend. Der Ausspruch, dass es sich um die Insel der Reichen und Schönen handeln sollte, verblasste bei diesem Anblick eher zu einem Mythos.
Um Westerland herum herrschte das reine Verkehrschaos, was dem langen Ausfall des kompletten Zugverkehrs geschuldet war. Im Sommer wäre es wahrscheinlich noch schlimmer gewesen, denn dann quälte sich eine nicht enden wollende Autoschlange von Hörnum nach List und umgekehrt. Ich folgte der Straße quer durch Westerland in Richtung Süden. Nach wenigen Minuten erreichte ich das Ortsschild von Rantum und hatte mein Ziel in Kürze erreicht.
Als ich vor dem reetgedeckten Haus der Familie Hansen parkte, öffnete sich sogleich die Haustür, und Tim und Ben kamen herausgestürmt.
»Hallo, Tante Anna!«, riefen sie begeistert, als ich ausstieg. »Da bist du ja endlich! Mama wartet schon auf dich! Willst du unsere neuen Zimmer sehen? Und Ben hat ein neues Fahrrad. Sein altes wurde geklaut.«
»Hallo, ihr beiden! Ja, da bin ich endlich. Mensch, aus euch sind richtig große Jungs geworden!«, stellte ich fest. »Na klar, schaue ich mir alles an.«
Britta, in Jeans und blauem Pullover, kam strahlend aus dem Haus und rief ihren beiden Sprösslingen hinterher: »Das hat doch bis später Zeit, lasst sie doch erstmal richtig ankommen!«
Britta begrüßte mich herzlich.
»Wie schön, dass du da bist, Anna. Hattest du eine gute Fahrt?«
»Die Fahrt an sich war nicht das Problem«, präzisierte ich. »Ich habe über fünf Stunden auf dem Autozug verbracht. Das ist kaum zu glauben! Mir tut jetzt noch alles weh vom langen Sitzen. Dummerweise habe ich kein Buch eingepackt, weil ich mir erst hier eins kaufen wollte. Ich wollte dich anrufen, aber der Akku meines Handys war leer. Wenn es draußen kalt ist, gibt er schneller als sonst den Geist auf.«
Britta nickte betreten und sagte: »Ich habe im Radio gehört, dass es einen Unfall gegeben hat und eins und eins zusammengezählt. Du Arme! Aber jetzt komm rein, bestimmt möchtest du etwas trinken und essen.«
»Oh gerne! Ich hatte unterwegs bloß einen faden Tee, eine lauwarme Cola und ein Brötchen zäh wie Gummi.« Ich verzog übertrieben das Gesicht, worauf Britta lachte.
»Na, dann ist ein Stück Friesentorte mit einer Tasse kräftigem Tee genau das Richtige für dich.«
»Klingt perfekt!« Ich folgte Britta, während die Kinder bereits ins Haus vorgelaufen waren.
»Meine Güte sind die beiden groß geworden«, wiederholte ich an Britta gewandt.
»Stimmt, da merkt man, wie schnell die Zeit vergeht.« Britta musterte mich und fuhr fort: »Ehrlich, Anna, du siehst toll aus, vielleicht ein bisschen müde, aber in nächster Zeit kannst du dich wunderbar erholen und ausspannen. Du wirst sehen, du wirst dich wie neu geboren fühlen.«
»Das kann ich gut gebrauchen, das war ein hartes Jahr«, bestätigte ich. »Du siehst aber auch super aus. Wie machst du das bloß mit Kindern, Mann, Hotel?«
Sie lachte und zuckte die Schultern. Wir betraten die Küche, und Britta bot mir einen Platz am gedeckten Küchentisch an, auf dem eine gläserne Kanne Tee auf einem Stövchen und Friesentorte auf uns warteten.
»Ist Jan auch zu Hause?«, erkundigte ich mich und nahm Platz.
»Jan ist im Hotel, er kommt später zum Abendessen. Wir haben die Handwerker vor Ort. Da ist es besser, wenn jemand von uns für Rückfragen da ist. Der Winter eignet sich hervorragend, um die Spuren der letzten Saison zu beseitigen und sich auf den Ansturm zu Weihnachten und Silvester vorzubereiten«, machte Britta deutlich, schenkte mir Tee ein und bugsierte ein Stück Torte auf meinen Teller.
Friesentorte aß ich für mein Leben gern. Ich hatte einmal versucht, diese typisch nordfriesische Tortenspezialität selbst zu backen, war aber bereits bei der Herstellung des Blätterteigs kläglich gescheitert. Letztendlich war es ein unansehnlicher Haufen aus Sahne, Pflaumenmus und matschigem Teig geworden, der nicht annähernd an das Original erinnerte.
»Danke, Britta. Das sieht hervorragend aus! Hast du sie selbst gemacht?«
»Oh, nein, die ist gekauft. So gut bekomme ich das nie hin, die Hoffnung habe ich schon lange begraben. Man muss sich schließlich nicht selbst demütigen.«
»Ich weiß, was du meinst. Sag mal, habt ihr viele Buchungen zum Jahresende?«, wollte ich wissen und steckte mir mit der Kuchengabel ein Stück Friesentorte in den Mund. Sie schmeckte himmlisch.
»Wir sind komplett ausgebucht wie jedes Jahr. Die Zeit über Weihnachten und Silvester ist für uns ebenso wichtig wie der Sommer. Dann ist Hauptsaison, und die Insel erwacht während dieser Zeit zu neuem Leben, bevor sie anschließend bis Ende Februar in den Winterschlaf fällt. Bis zu den Feiertagen kannst du in einem der Apartments wohnen, danach finden wir eine Lösung. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dich im Hotel unterzubringen. Unser Gästezimmer hier im Haus ist ein bisschen klein. So kannst du dich freier bewegen und hast mehr Ruhe. Natürlich bist du auch hier jederzeit gern gesehen.«
»So lange wollte ich euch nicht belästigen«, entgegnete ich scherzhaft. »Weihnachten wollte ich spätestens zu Hause sein. Du kennst meine Eltern, den 24. Dezember muss ich bei ihnen verbringen, daran führt kein Weg vorbei, sonst bricht für meine Mutter eine Welt zusammen.«
»Ja, das alljährliche Gezerre zu Heiligabend. Meistens muss einer von uns ohnehin ins Hotel. Aber so ist das eben. Allerdings haben wir seit einiger Zeit einen neuen Mitarbeiter, der ist wirklich klasse. Er wird Weihnachten den Dienst übernehmen. Ein wahrer Glücksgriff, sage ich dir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es ist, heutzutage qualifiziertes Personal zu finden.«
»Das habe ich des Öfteren gehört.«
»Hast du eigentlich mittlerweile eine Idee, was es mit der Testamentseröffnung auf sich haben könnte?«
»Nein. Ich habe lediglich dem Notar mitgeteilt, dass ich nach Sylt komme. Übermorgen treffe ich ihn, allerdings nicht in seiner Kanzlei in Keitum. Er hat mir eine Adresse in Morsum gegeben. Mehr wollte er am Telefon nicht sagen.«
»Merkwürdige Sache«, überlegte Britta. Dann sah sie auf ihre Armbanduhr. »Oh, ich muss gleich rüber ins Hotel. Auf dem Weg bringe ich die Jungs zum Fußball. Wollen wir uns gleich dort treffen? Dann zeige ich dir deine Unterkunft«, schlug Britta vor.
»Prima Idee! Vorher mach ich einen Abstecher zum Supermarkt und bevorrate mich mit allem, was ich für die nächsten Tage brauche. Ich habe nämlich nicht viel mitgenommen. Ich glaube, ich bin noch nie derart spontan verreist.«
»Okay, dann sehen wir uns im Hotel. Oh, Anna, ich freue mich, dass du da bist! Wir werden bestimmt eine tolle Zeit haben.«
»Ganz sicher. Ich freue mich, dass es nach langer Zeit geklappt hat«, erwiderte ich und trank schnell meine Tasse aus.
Der letzte Sonnenstrahl des Tages hatte sich in schwachem Rosa am Horizont verabschiedet. Dunkelheit lag über der Insel, und ein leichter Westwind ließ mich frösteln, als ich zu meinem Auto ging. Ich fuhr zurück nach Westerland und parkte meinen Wagen auf dem Parkplatz eines großen Supermarktes. Im Laden schlenderte ich durch die Gänge und legte alles in meinen Einkaufswagen, was mir für eine Ferienwohnung-Grundausstattung wichtig erschien. Natürlich landete mehr im Einkaufswagen, als ich benötigte, darunter eine Tafel Schokolade und eine Tüte Gummibärchen. Ich mochte Gummibärchen, aber Schokolade liebte ich abgöttisch. Ich war ein regelrechter Schokoladenjunkie. Als krönenden Abschluss fand eine Packung Zimtsterne ebenfalls den Weg in meinen Einkaufswagen. Die gehörten in der Weihnachtszeit unbedingt dazu. Zu meiner Freude gab es keine langen Warteschlangen an den Kassen. Ich konnte mir sogar aussuchen, an welcher Kasse ich die Kassiererin von ihrer Langeweile befreien durfte. Gut gelaunt und bepackt mit meinen prall gefüllten Einkaufstüten steuerte ich auf mein Auto zu. Was mich dort allerdings erwartete, ließ meine gute Laune schlagartig schwinden. Neben meinem Auto stand eine ältere Dame umgeben von zwei Polizeibeamten und wedelte aufgeregt mit den Armen, als wolle sie einen Schwarm Moskitos vertreiben, der es auf sie abgesehen hatte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend näherte ich mich dem Trio.
»Hallo!«, sagte ich, und mir erschloss sich augenblicklich der Grund dieser Zusammenkunft.
Der rechte hintere Kotflügel meines Wagens sowie ein Teil des Stoßfängers waren bei einem Parkversuch erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden.
»Ach nein, nicht schon wieder«, seufzte ich.
Vor drei Wochen war mir eine junge Frau beim Rückwärtsfahren in den vorderen linken Kotflügel gefahren. Sie hatte eine freie Parklücke entdeckt, blitzartig den Rückwärtsgang eingelegt und zurückgesetzt, ohne sich zu vergewissern, ob jemand hinter ihr stand. Der Jemand war ich. Sie entschuldigte sich vielmals, und die Versicherung regulierte den Schaden anschließend schnell und unbürokratisch.
»Moin, sind Sie die Halterin dieses Fahrzeuges?«, fragte mich der vollbärtige Beamte. Er war die Ruhe selbst. Für ihn gehörten Schadensszenarien wie dieses vermutlich zum Alltag, und er blieb deshalb gelassen. Außerdem handelte es sich nicht um seinen Wagen, der etwas abbekommen hatte.
»Ja, der Wagen gehört mir. Was ist passiert? Ich stehe ganz korrekt in der Parklücke«, rechtfertigte ich mich und deutete in Richtung der beiden weißen Begrenzungslinien.
Ehe der Polizist antworten konnte, meldete sich die ältere Dame aufgeregt zu Wort. Das wäre ihr noch nie passiert, es täte ihr leid und sie käme selbstverständlich für den Schaden auf, jammerte sie. Sie hätte beim Ausparken zu weit ausgeholt und meinen Wagen touchiert. Während der bärtige Polizist versuchte, die aufgeregte Frau zu beruhigen, kam der zweite Beamte auf mich zu. Er war schätzungsweise 1,90 Meter groß und jünger als sein Kollege.
»Na«, stellte er mit Blick auf mein demoliertes Auto fest, »wenigstens ist er fahrtüchtig.«
»Das ist eher ein schwacher Trost, finden Sie nicht?«, erwiderte ich und stellte meine Einkaufstüten ab, denn die Henkel schnitten mir in die Finger und drohten obendrein jeden Augenblick zu reißen.
»Darf ich Sie um Ihre Personalien bitten?«, fuhr der Polizist, ohne eine Miene zu verziehen, fort.
Seine Art konnte man nicht als unhöflich bezeichnen, aber er verhielt sich reservierter als sein Kollege mit Bart.
»Ja, natürlich, mein Name ist Anna Marietta Bergmann.«
Er sah mir direkt in die Augen, was meinen Herzschlag rapide beschleunigte. Seine dunklen Augen und das schwarze Haar verliehen ihm eine attraktive Ausstrahlung, wie ich feststellen musste, und ich hoffte inständig, nicht im Handumdrehen rot anzulaufen. Seine Gegenwart machte mich nervös. Polizeibeamte machten mich generell nervös, obwohl ich mir noch nie etwas zuschulden hatte kommen lassen. Es bestand also kein Grund, in irgendeiner Weise in Hektik zu verfallen.
Um Fassung bemüht fügte ich – überflüssigerweise – hinzu: »Marietta ist mein Zweitname. Das ist der Name meiner Oma und steht bloß im Ausweis, ich werde nur Anna gerufen.«
Er sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. Daraufhin plapperte ich weiter. »Ich mache zurzeit Urlaub bei meiner besten Freundin hier auf der Insel und bin erst vorhin angekommen. Ich wollte bloß einige Sachen einkaufen. Das eine oder andere braucht man schließlich in einem Apartment. Ich wohne im Hotel Syltstern.«
Er machte sich Notizen und bat mich anschließend um die Fahrzeugpapiere und den Führerschein. Während er sich meinen Papieren widmete, blickte ich in Richtung der Unfallverursacherin. Sie redete unaufhörlich auf den bärtigen Polizeibeamten ein, als sie plötzlich schneeweiß wurde und in sich zusammensackte. Der Polizist konnte sie im letzten Moment auffangen, sonst wäre sie zu Boden gegangen.
»Nick«, rief er seinem Kollegen zu, »ruf einen Rettungswagen, schnell!«
Der Rettungswagen war binnen weniger Minuten vor Ort, und die Sanitäter kümmerten sich um die Frau. Da ich nicht mehr gebraucht wurde und alle Formalitäten erledigt waren, konnte ich ins Hotel fahren. Zum zweiten Mal an diesem Tag musste ich Britta warten lassen.
Mit Verspätung kam ich im Hotel an, wo Britta mich besorgt an der Rezeption empfing.
»Anna, ist alles in Ordnung? Wir haben uns Sorgen gemacht, wo du bleibst. Hast du den gesamten Laden leer gekauft?«, zwinkerte sie mir zu.
»Nein, das war nicht der Grund«, versicherte ich. »Könnte ich wohl einen Schnaps bekommen?«
In diesem Augenblick gesellte sich Brittas Mann Jan zu uns.
»Um diese Zeit?«, grinste er und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Hallo, Anna, schön, dich wiederzusehen!«
Er umarmte mich herzlich. Auf Brittas Drängen hin gab ich eine kurze Zusammenfassung von dem, was mir gerade widerfahren war.
»Welches Pech! Jetzt setz dich erst mal. Ich hole dir etwas auf den Schreck«, sagte Britta und verschwand in einem angrenzenden Raum.
»Ich werde bei Ole in der Werkstatt anrufen«, bot Jan an. »Deinen Wagen kriegen wir schnell wieder flott. Ich sehe mir das nachher an.«
»Um den Blechschaden mache ich mir keine großen Sorgen. So schlimm ist es nicht. Mit der Versicherung dürfte es keine Probleme geben«, entgegnete ich. »Mir tut die Frau leid. Sie hat sich derart aufgeregt, dass ein Rettungswagen kommen musste.«
»War bestimmt nur der Kreislauf, das kommt bei älteren Leuten vor«, erklärte Jan in seiner typischen Art, während er sein Handy nach der Telefonnummer der Werkstatt durchsuchte.
Britta kam mit einem Glas in der Hand zurück. »Trink das, das hilft.«
»Was ist das?«, fragte ich mit einem skeptischen Stirnrunzeln und roch vorsichtig an der braunen Flüssigkeit.
»Sylter Nationalgetränk, trink!«, forderte Jan mich auf und zwinkerte seiner Frau zu.
Pflichtbewusst setzte ich das Glas an meine Lippen und tat wie mir geheißen.
»Oh Gott, das brennt einem ja die Mandeln weg!«, presste ich hervor und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Ich hatte das Gefühl, eine Feuerwalze würde meine Speiseröhre entlanglaufen, und Tränen standen mir in den Augen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg.
Jan und Britta konnten sich vor Lachen kaum halten. In diesem Augenblick ging die Tür auf und der große Polizeibeamte, mit dem ich kurz zuvor auf dem Parkplatz des Supermarktes gesprochen hatte, betrat die Rezeption.
»Moin«, grüßte er in die Runde.
»Moin, Nick, lange nicht gesehen, wie geht’s?«, erwiderte Jan die Begrüßung. Ihm standen noch immer Lachtränen in den Augen.
»Gut«, entgegnete Nick.
»Seid ihr weiter, was die Einbruchserie angeht? Die tanzen euch scheinbar auf der Nase herum«, erkundigte sich Jan.
»Nein, keine neuen Hinweise«, erklärte er kopfschüttelnd und wandte sich dann an mich. »Ich glaube, das hier brauchen Sie noch.« Er hielt mir meine Fahrzeugpapiere vor die Nase.
»Oh, danke!«, erwiderte ich und nahm die Dokumente an mich. In dem ganzen Durcheinander hatte ich völlig vergessen, sie einzustecken. »Wie geht es der älteren Dame?«, erkundigte ich mich.
Meine Stimme klang leicht krächzend und mein Hals fühlte sich wund an. Ich konnte den Weg, den sich die hochprozentige Flüssigkeit durch meinen Körper genommen hatte, deutlich nachvollziehen.
»Sie wurde vorsorglich ins Krankenhaus gebracht. Vermutlich eine Kreislaufschwäche.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab und steuerte auf den Ausgang zu. »Tschüss.«
»Kreislaufschwäche! Habe ich doch gleich gesagt«, triumphierte Jan, aber weder Britta noch ich gingen darauf ein.
Ich blickte Nick durch das Fenster nach, wie er draußen in den wartenden Streifenwagen stieg und wegfuhr. Britta beobachtete mich mit einem amüsierten Gesichtsausdruck.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Ach, nichts«, wiegelte sie mit scheinheiliger Miene ab.
»Ich weiß, was du denkst. Vergiss es!«, gab ich zurück.
Bevor sie antworten konnte, meldete sich Jan erneut zu Wort. »Den kannst du getrost vergessen, Anna. An unserem ›Eismann‹ hat sich schon manche Frau die Zähne ausgebissen. Die Mühe kannst du dir sparen! Ich gehe mir mal deinen Wagen ansehen.«
»Jan! Also wirklich!«, empörte sich Britta.
Doch dieser war bereits auf dem Weg nach draußen.
»Was meint Jan? Wieso nennt er ihn ›Eismann‹?«, verlangte ich nach einer Erklärung von meiner Freundin.
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir ein anderes Mal, okay? Jetzt zeige ich dir deinen Unterschlupf für die Zeit auf Sylt. Ich bin gespannt, wie er dir gefällt.«
Britta hielt mir demonstrativ einen Schlüssel vor die Nase. Ich griff nach meiner Tasche, ließ meine Fahrzeugpapiere darin verschwinden und folgte ihr.