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Während überall auf der Insel die traditionellen Biikefeuer brennen und die Menschen ausgelassen feiern, kommt eine junge Frau auf grausame Weise zu Tode. Die Sylter Polizei nimmt umgehend die Ermittlungen auf und stößt kurze Zeit später auf eine zweite Frau, die ebenfalls brutal ums Leben kam. Treibt womöglich ein Frauenmörder sein Unwesen auf dem beschaulichen Eiland? Als Anna für den Titel der Sylter Unternehmerin des Jahres nominiert wird, gerät auch sie in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 337
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Sibylle Narberhaus
Syltmond
Kriminalroman
Rachsüchtig Währendüberall auf der Insel die traditionellen Biikefeuer brennen und Landschaftsarchitektin Anna Scarren mit ihrer Familie ausgelassen den Abschied vom Winter feiert, kommt eine junge Frau auf grausame Weise zu Tode. Im Rahmen ihrer Ermittlungen stößt die Sylter Polizei kurze Zeit später auf die Leiche einer zweiten Frau, die ebenfalls brutal ermordet wurde. Besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Opfern? Treibt womöglich ein Frauenmörder sein Unwesen auf dem beliebten Eiland? Sowohl der eben aus der Haft entlassene Sönke Brodsen, als auch der Chefarzt der Nordseeklinik, Dr. Frank Gustafson, geraten in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Unterstützung erfahren die Sylter Beamten von zwei Kollegen des LKA, was die Ermittlungsarbeit allerdings nicht unbedingt erleichtert. Auch in Annas Leben stehen einige Veränderungen an. Ihre Freude über die Nominierung zur Sylter Unternehmerin des Jahres verblasst schlagartig, als auch sie in Lebensgefahr gerät.
Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Hauptberuflich arbeitet sie bei einem internationalen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zum Meer und insbesondere zu der Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem herrlichen Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen für Geschichten rund um die Insel.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © YesPhotographers / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-6988-6
Der Bahnhof von Niebüll lag in dichten Nebel gehüllt, der sämtliche Geräusche der Umgebung zu verschlucken schien. Es war Ende Februar, aber selbst der nahende meteorologische Frühlingsanfang schien in Anbetracht der Kälte in weite Ferne gerückt. Der Winter hatte das Land mit seinen eisigen Krallen seit Wochen fest im Griff. Über Nacht hatte der strenge Frost die kahlen Bäume und Sträucher mit Raureif überzogen. Selbst um den kleinsten Zweig lag ein filigraner weißer Stachelpanzer. Lediglich eine Handvoll Fahrgäste wartete auf dem beinahe verwaist anmutenden Bahnsteig auf den nächsten Zug. Wenige Stunden zuvor hatte es an diesem Ort von Pendlern, die mit der Bahn zu ihrem Arbeitsplatz auf die Insel fuhren, nur so gewimmelt. Er griff in die rechte Jackentasche, und seine Finger tasteten nach der Zigarettenschachtel. Obwohl er vor einem Monat mit dem Rauchen aufgehört hatte, war dieses Verhaltensmuster nach wie vor tief in ihm verankert. Doch auch diese Angewohnheit würde er im Laufe der Zeit ablegen. Schritt für Schritt würde er ein neues Leben beginnen und die Vergangenheit hinter sich lassen – so gut es eben ging. Einen konkreten Plan, wie sich seine nahe Zukunft gestalten sollte, hatte er bislang nicht. Eher eine vage Vorstellung, die von einigen nicht unerheblichen Faktoren abhing, die es im Vorfeld zu klären gab. Nachdenklich ließ er seinen Blick über den nahezu menschenleeren Bahnsteig schweifen, bis seine Augen auf einer jungen Frau hängen blieben, die wenige Meter von ihm entfernt ihre Aufmerksamkeit vollends auf das Smartphone in ihrer Hand gerichtet hatte. Bekleidet war sie mit einer gesteppten Winterjacke und einem dicken Wollschal, den sie fest um den Hals gewickelt hatte. Sie schien zu frieren, denn sie trat mit hochgezogenen Schultern von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, denn sie drehte ihren Kopf direkt in seine Richtung und sah zu ihm herüber. Ihre dunklen Augen hielten seinem Blick für einige Sekunden stand, und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit erneut ihrem Smartphone widmete. Sie besaß ein ausgesprochen hübsches Gesicht und langes Haar, das sich durch die Feuchtigkeit in der Luft zu Locken kringelte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt mit einer Frau mehr als drei Worte gewechselt hatte, geschweige denn mit einer näher zusammen war. Würde es ihm jemals gelingen, sich ein weiteres Mal ernsthaft auf eine Frau einzulassen? War es überhaupt eine gute Idee, auf die Insel zurückzukehren nach allem, was passiert war? Bei diesem Gedanken spürte er eine eisige Kälte in sich emporkriechen, was nicht allein der Witterung geschuldet war. Umgehend stellte er den Kragen seiner Jacke auf. Erneut schenkte er der jungen Frau neben sich einen verstohlenen Seitenblick. Sollte er sie ansprechen? Ganz unverfänglich, nur ein belangloses Gespräch unter Reisenden. Ehe er seinen Gedanken nachhängen konnte, tauchte wie aus dem Nichts der einfahrende Zug auf und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Mit einem Zischen öffneten sich die Türen automatisch. Er schwang sich seinen Seesack über die Schulter und stieg ein. Der Zug war kaum besetzt, sodass er mühelos einen freien Sitzplatz fand. Er stellte sein Gepäck auf den leeren Platz ihm gegenüber ab und ließ sich schließlich entgegen der Fahrtrichtung in seinen Sitz sinken. Draußen auf dem Bahnsteig sah er, wie sich zwei Frauen voneinander verabschiedeten. Eine der beiden hatte einen Koffer bei sich, während die andere außer einer Handtasche kein Gepäck mit sich führte. Sie winkte der anderen nach, die nunmehr den bereitstehenden Zug bestieg. Für die nächsten Minuten schloss er die Augen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er sich mit jedem Meter Schiene mehr und mehr seiner Heimat näherte. Er konnte die Reaktionen einiger bestimmter Personen auf sein Auftauchen kaum erwarten. Niemand wusste von seiner Rückkehr, die er bewusst für sich behalten hatte, denn es gab noch eine offene Rechnung zu begleichen. Diese Vorstellung entlockte ihm ein kurzes Lächeln. Dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück, schloss erneut die Augen und ließ seine Gedanken vom gleichmäßigen Schaukeln des Zuges treiben.
Auf dem Heimweg vom Kinderschwimmen mit Christopher machte ich einen Abstecher zur Schokoladenmanufaktur in das Gewerbegebiet von Tinnum, um Kuchen und einige der köstlichen Trüffeln zu erstehen, von denen ich nie genug bekommen konnte. Für den Nachmittag hatte sich überraschend meine Freundin Britta angekündigt, die eine hochwichtige Neuigkeit zu vermelden hatte, wie sie am Telefon betont hatte. Alle meine Bemühungen, ihr dieses ominöse Geheimnis vorab zu entlocken, waren erfolglos geblieben. In dieser Hinsicht kannte Britta keine Gnade, da half auch nicht die Aussicht auf feinste Schokolade. Bereits beim Betreten des Ladens lief mir das Wasser im Mund zusammen, als ich an dem Kühlschrank mit den aufwendig verzierten Eistorten vorbeikam. Dieser Laden ließ jedem Schokoladenliebhaber das Herz höherschlagen. Das Sortiment reichte von unzähligen Tafeln Schokolade in den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, die in einem riesigen Regal an der Wand drapiert waren, über Trüffeln, diversen Trinkschokoladen bis hin zu Kuchen und anderen Leckereien. Da ich es heute besonders eilig hatte, steuerte ich direkt auf die Auslage mit dem Kuchenangebot zu.
Zu Hause angekommen, bereitete ich für Christopher das Mittagessen zu, um ihn anschließend schlafen zu legen, was in der jüngsten Vergangenheit immer seltener von Erfolg gekrönt war. Erfahrungsgemäß meldete er sich spätestens nach 20 Minuten lautstark. Doch im Anschluss an das Schwimmen war er meistens derart müde, dass er schnell einschlief. Während er oben in seinem Kinderzimmer ruhte, deckte ich im Erdgeschoss den Kaffeetisch, da ich in Kürze mit Brittas Erscheinen rechnete. Ich hatte den Kuchen gerade ausgepackt und den Tee aufgesetzt, als unser Labradormischling Pepper bellend zur Haustür in die Diele stürmte.
»Warum habt ihr die Klingel nicht längst ausgebaut!«, schlug sie mit einem Lachen vor und umarmte mich. »Moin, meine Liebe!«
»Hallo, Britta! Gute Frage. Für den Fall, dass die lebendige einmal nicht zur Stelle sein sollte. Komm rein!«
Pepper umkreiste neugierig meine Freundin, während ich ihr die Jacke abnahm und an die Garderobe hängte.
»Brr, das ist verdammt kalt heute. Sicher bekommen wir bald Schnee. Die Luft riecht förmlich danach«, mutmaßte sie und rieb die Handflächen gegeneinander.
»Meinst du? Das wäre schön. Ich liebe den Anblick der verschneiten Küste. Ein Spaziergang am verschneiten Strand ist einfach herrlich.«
»Ich weiß, du bist eine hoffnungslose Romantikerin.« Sie zwinkerte mir zu.
»Noch haben wir Winter, da darf man ein bisschen von Schnee träumen. Weihnachten bei sieben Grad Plus und Nieselregen war enttäuschend genug, findest du nicht?«, erinnerte ich Britta. »Komm mit ins Wohnzimmer. Da kannst du dich am Kaminfeuer bei einer Tasse Tee aufwärmen. Im Keitumer Teekontor habe ich eine neue Sorte entdeckt, du wirst sie mögen, davon bin ich überzeugt. Außerdem habe ich uns vorhin Kuchen besorgt und ein paar deiner Lieblingstrüffel.«
»Das klingt einerseits verlockend, andererseits auch äußerst kalorienreich. Auf diese Weise werde ich meinen Winterspeck nie los!« Britta stieß einen kleinen Seufzer aus und legte demonstrativ eine Hand an ihren Bauch.
»Ach was, bei der Kälte braucht der Körper eine Extraportion Energie«, versuchte ich, ihre Bedenken zu zerstreuen. »Setz dich!«
»Wo ist Christopher?«, erkundigte sich Britta und streichelte Pepper, der sich fest an ihr Bein gedrückt und seine Schnauze auf ihrem Oberschenkel abgelegt hatte.
»Er schläft. Nach dem Schwimmen ist er immer total erledigt. Selbst Peppers Gebell vermag ihn dann nicht aus seinen Träumen zu holen«, erklärte ich mit einem Lachen. Wie auf ein Kommando konnte ich ihn oben in seinem Zimmer rufen hören.
»Na, so tief waren die Träume dann doch nicht«, grinste Britta und kraulte Pepper am Ohr, der genüsslich die Augen geschlossen hielt.
Nun saßen wir zu dritt im Wohnzimmer, Christopher spielte mit seiner Holzeisenbahn, und ich goss dampfenden Tee in unsere Tassen.
»Jetzt erzähl endlich, was du mir nicht am Telefon sagen wolltest, sonst platze ich vor Neugierde«, forderte ich sie auf und lehnte mich mit der Tasse in der Hand entspannt zurück.
Sie straffte die Schultern und setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »Wie du weißt, vergibt der Unternehmerverein alljährlich einen Preis für Sylter Geschäftsleute. Dieses Jahr soll die Wahl auf eine Frau fallen.«
»Gute Idee«, bemerkte ich beiläufig und steckte einen Trüffel in den Mund, um ihn genüsslich auf meiner Zunge zergehen zu lassen.
»Die Jury hat insgesamt 15 Geschäftsfrauen ausgewählt und letztlich fünf nominiert. Eine davon bist du!«, offenbarte sie mir mit leuchtenden Augen. »Ist das nicht super?«
»Ich? Bist du sicher?« Vor Schreck hätte ich mich beinahe an dem Trüffel verschluckt und trank schnell einen Schluck. »Wie kommen die auf mich? Und woher weißt du das?«
Britta schien sich über mein verdutztes Gesicht zu amüsieren, denn sie lehnte sich mit einem Grinsen entspannt zurück, bevor sie mir eine Antwort gab. »Erstens bist du eine Sylter Unternehmerin mit deinem Landschaftsarchitekturbüro und zwar eine äußerst erfolgreiche, und zweitens weiß ich das von meinem Schwiegervater. Er ist langjähriges Mitglied in dem Verein, falls du dich erinnerst. Freust du dich?«
»Natürlich, ich fühle mich außerordentlich geehrt, aber bislang ist nichts entschieden.«
»Das ist wieder einmal typisch für dich, Anna! Ich bin überzeugt, dass du dieses Jahr das Rennen machst«, ließ sie mich wissen und aß von ihrem Schokoladenkuchen.
»Kennst du die anderen Nominierten?« Im Grunde war es irrelevant, aber neugierig war ich trotz allem.
»Monika Klaasen, Ellen Seiler, Patricia Trieschmann und Swantje Burkhardt«, erklärte Britta kauend.
»Ich muss gestehen, die Namen sagen mir allesamt nichts«, gab ich zerknirscht zu.
»Swantje betreibt ein Schmuckatelier in Kampen. Von ihr stammt meine Kette, die ich vergangenes Jahr von Jan zum Geburtstag bekommen habe. Sie hat ein Händchen für ausgefallene Stücke, ohne dass sie protzig oder überkandidelt wirken.« Sie griff sich an den Hals.
»Das stimmt, die Kette ist schlicht und trotzdem ein absoluter Hingucker.«
»Moni betreibt das Fitnessstudio in Westerland. Die müsstest du eigentlich kennen, sie war letztes Jahr auf meiner Geburtstagsfeier. Eine Gertenschlanke mit ganz kurzen schwarzen Haaren«, versuchte Britta, meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
»Momentan habe ich kein Bild vor Augen, tut mir leid.«
»Egal. Dann bleiben noch die Anwältin Ellen Seiler und die Immobilienmaklerin Patricia Trieschmann. Die beiden kenne ich allerdings nicht persönlich. Wenn du mich fragst, hast du die besten Chancen auf den Titel.« Beherzt griff Britta in die Schale mit den Trüffeln und ließ eine rosafarbene Kugel in ihrem Mund verschwinden. »Hm, fantastisch!« Genussvoll schloss sie die Augen.
»Ach, Britta! Das sagst du nur, weil ich deine Freundin bin.«
»Nein, sondern weil du in kurzer Zeit ein florierendes Unternehmen aufgebaut hast, auf das du sehr stolz sein kannst. Dass du meine Freundin bist, spielt bloß eine untergeordnete Rolle«, betonte Britta mit einem Augenzwinkern.
Ich musste schmunzeln. »Danke für dein Vertrauen. Warten wir ab, zu welchen Gunsten die Wahl ausgeht. Ich kann es ohnehin nicht beeinflussen«, stellte ich klar und schenkte Britta Tee nach.
»Danke, Anna, der schmeckt wirklich gut. Mehr sollte ich allerdings nicht trinken, sonst muss ich ständig aufs Klo.« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Bleibt es dabei, dass wir uns heute Abend zum Biikebrennen treffen? Um 18 Uhr ist Startschuss für den Fackelzug am Parkplatz Nösse.« Sie sah mich erwartungsvoll an und platzierte ihre Kuchengabel auf dem leeren Teller.
»Ja, wie vereinbart. Möchtest du noch ein Stück?«, fragte ich.
»Oh nein, vielen Dank. Ich muss ein bisschen auf meine Linie achten.« Sie verzog gequält den Mund.
»Kommen Tim und Ben auch? Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.«
»Nein, dieses Jahr werden wir auf die beiden Jungs verzichten müssen. Das heißt, Ben ist mit seinen Freunden in List zur Biike verabredet, und Tim ist bei der Jugendfeuerwehr im Einsatz, allerdings in Morsum. Ihn werden wir vermutlich zu Gesicht bekommen, bevor er mit seinen Kumpels feiern geht. Sie werden allmählich flügge, ob ich es will oder nicht.« Ein Anflug von Wehmut mischte sich in ihre Stimme.
»Das ist der Lauf der Zeit, meine Liebe! Da siehst du, wie es unseren Eltern mit uns ergangen sein muss. Bei meiner Mutter habe ich bis heute das Gefühl, dass sie nicht loslassen kann. Ehrlich gesagt, vermisse ich sie manchmal. Auf der anderen Seite gibt es Situationen, in denen ich über unseren räumlichen Abstand froh bin, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich kann dich gut verstehen, schließlich kenne ich deine Mutter lange genug. Aber glaube mir, sie meint es bloß gut.«
»Genau das ist das Problem. Ich bin heilfroh, dass sie nicht immer alles hautnah mitbekommt, sonst würde sie oft vor Sorge um uns keine Nacht in den Schlaf finden.«
Britta begann zu lachen. »Da gebe ich dir recht. Diesbezüglich fällt mir die Episode mit dem Segelkurs im vergangenen Jahr ein, von der sie erst im Nachhinein erfahren hat.«
»Stimmt, anschließend hat sie sich wochenlang Vorwürfe gemacht, dass sie mir den Kurs überhaupt geschenkt hat, als ob sie etwas dafür gekonnt hätte.«
»Du hast dich jedenfalls meisterlich geschlagen, meine Liebe. Rückblickend betrachtet, ist deine Mutter sicherlich mächtig stolz auf dich.«
Plötzlich hob Pepper den Kopf, spitzte die Ohren und stürmte auf der Stelle zur Tür. Gleich darauf ertönte die Klingel. Mit einem Brief in der Hand kehrte ich zurück ins Wohnzimmer.
»Das war der Postbote.«
Britta beäugte mich neugierig, während ich den Umschlag öffnete.
»Bestimmt ist das die Einladung zur Preisverleihungsfeier? Mach auf!«, drängelte sie und rutschte vor bis an die Sofakante.
»Sei nicht so ungeduldig!« Ich faltete das Papier auseinander und überflog das Schreiben in meiner Hand.
»Nun sag schon!« Brittas Hals wurde immer länger, während sie versuchte, einen Blick auf das Schriftstück zu erhaschen.
»Tatsächlich. Sie gratulieren mir zur Nominierung und laden mich herzlich zur Preisverleihung ein. Wie du gesagt hast. Die Veranstaltung findet in der ›Sylt Quelle‹ in Rantum statt.«
»Hast du angenommen, ich mache Witze?«
»Nein, natürlich nicht. Was sagt man dazu?« Ungläubig ließ ich das Stück Papier sinken. Nun hielt ich die kleine Sensation schwarz auf weiß in meinen Händen.
»Darauf sollten wir unbedingt anstoßen«, schlug Britta mit leuchtenden Augen vor. »Hast du Prosecco?«
»Damit lass uns lieber warten. Vorerst bin ich lediglich nominiert«, warf ich ein.
»Was heißt denn lediglich? Typisch, Anna!« Sie zog einen Schmollmund. »Eine Nominierung ist bereits eine großartige Auszeichnung, finde ich. Überhaupt unter die letzten fünf zu kommen, ist doch toll«, leistete Britta unermüdlich Überzeugungsarbeit.
»Okay, ein Gläschen wird auf keinen Fall schaden«, ließ ich mich letztendlich breitschlagen, sehr zur Freude von Britta, die sich mit hochzufriedener Miene die Hände rieb.
»Kommen deine Eltern dieses Jahr nicht zur Biike? Hat es ihnen letztes Jahr nicht gefallen?«, rief sie mir auf dem Weg in die Küche hinterher.
»Doch. Bei unserem letzten Telefonat war meine Mutter diesbezüglich äußerst zurückhaltend. Das letzte Wort sei noch nicht gesprochen oder so ähnlich, hat sie sich ausgedrückt. Sie wirkte irgendwie merkwürdig«, erinnerte ich mich, als ich mit einer Flasche gekühltem Prosecco und zwei Gläsern vor dem Sofa stand.
»Oh, oh! Wer weiß, was sich da im Hause Bergmann zusammenbraut«, unkte Britta und sah mich mit nach oben gezogenen Augenbrauen amüsiert an.
»Mach mir bitte keine Angst! Wahrscheinlich hat meine Mutter sich vorher über die neuen Nachbarn geärgert. Die scheinen sie furchtbar aufzuregen.« Ich rollte mit den Augen und reichte Britta ein Glas mit perlendem Inhalt.
»Neue Nachbarn?«
»Ach«, winkte ich ab. »Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Besonders spannend ist das nicht, wenn du mich fragst.«
»Momentan gibt es ohnehin Wichtigeres.« Sie zwinkerte mir aufmunternd zu und hielt mir ihr Glas entgegen. »Prost, meine Liebe! Auf deine Nominierung! Ich bin richtig aufgeregt.«
»Leidest du unter Hitzewallungen oder warum reißt du bei dieser Eiseskälte das Fenster sperrangelweit auf?«, beschwerte sich Uwe beim Betreten des Büros und steuerte zielstrebig auf das geöffnete Fenster zu, um es augenblicklich zu schließen. »Da holt man sich den Tod«, murmelte er währenddessen griesgrämig.
»Ein bisschen Sauerstoff hat bislang niemandem geschadet?«, entgegnete Nick, dem der eigenartig hölzerne Gang seines Kollegen nicht verborgen blieb. »Alles okay? Du bist spät dran heute. Ich habe mir Sorgen gemacht, ob du eventuell krank bist.«
Uwe winkte kopfschüttelnd ab, während er ungewöhnlich behutsam auf seinem Bürostuhl Platz nahm, auf den er sich normalerweise derart heftig plumpsen ließ, dass man befürchten musste, das Möbelstück würde jeden Augenblick unter seinem Gewicht zusammenbrechen. Ehe Nick nachhaken konnte, verriet das Rascheln von Papier, dass Uwe im Begriff war, eine Bäckereitüte zu öffnen. Wie jeden Tag hatte er sich einen Snack beim nahegelegenen Bäcker gekauft, den er im Laufe des Vormittags zu sich nahm. Ein strenger Geruch nach Wurst und Käse erfüllte in Sekundenschnelle den eben noch frisch gelüfteten Raum.
»Oh Gott, was hast du dir denn da gekauft?« Nick verzog angewidert das Gesicht und hielt sich demonstrativ die Nase zu.
»Salamibrötchen mit Käse überbacken. Das Spezialangebot des Tages«, fügte Uwe mit zufriedener Miene hinzu, ohne seine Errungenschaft aus den Augen zu lassen.
»Das glaube ich sofort, wahrscheinlich ist das Verfalldatum seit Wochen überschritten. Das ist ja nicht auszuhalten!« Nick presste sich die Hand vor Mund und Nase und eilte in Richtung Fenster, um abermals Frischluft hineinzulassen.
»Übertreib nicht«, brummte Uwe und biss in das Brötchen. Kaum hatte er den ersten Bissen im Mund, ließ er es zurück in der Papiertüte verschwinden.
»Na, ist wohl doch nicht so lecker?«, spottete Nick mit skeptischem Blick.
»Schon, aber ich habe irgendwie keinen Appetit, vielleicht später.«
»Keinen Hunger? Sollte ich an dieser Stelle anfangen, mir ernsthafte Sorgen um dich zu machen?«, erkundigte sich Nick, dem Uwes Verhalten äußerst suspekt vorkam.
Sein Kollege und Freund aß für sein Leben gern, am liebsten rund um die Uhr, was ihm bedauerlicherweise deutlich anzusehen war. Seine Körperfülle hatte bereits zu etlichen Diskussionen geführt, sowohl mit Uwes Frau Tina, als auch im Freundes- und Kollegenkreis. Jedoch waren jegliche Ermahnungen und gut gemeinte Ratschläge stets im Sande verlaufen.
»Hm«, brummte Uwe mit vollem Mund. Dann schluckte er den Bissen zügig hinunter, bevor er erneut ansetzte. »Mich plagen seit Tagen üble Rückenschmerzen. Heute Nacht waren sie kaum auszuhalten, egal, welche Schlafposition ich ausprobiert habe. Selbst die Schmerztabletten helfen nicht mehr, davon bekomme ich höchstens Magenschmerzen. Ich möchte wirklich wissen, woher das kommt.« Er fasste sich mit der Hand an den unteren Rücken.
»Hast du dich verlegen oder verhoben? Könnte ein Hexenschuss sein oder eine extreme Verspannung?«, zählte Nick einige mögliche Ursachen auf.
Uwe schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das fühlt sich anders an. Zugluft habe ich ebenfalls nicht bekommen, daran würde ich mich erinnern. Na ja, so wie es gekommen ist, wird es auch verschwinden.« Er lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück und kniff schmerzhaft die Augen zusammen.
»Das sieht wirklich nicht gut aus, Uwe. Du solltest dringend einen Arzt aufsuchen und dir eine Spritze geben lassen«, schlug Nick vor.
Auf Uwes Stirn bildete sich eine tiefe Längsfalte, als er die Augenbrauen zusammenzog. »Bist du verrückt? Das habe ich einmal gemacht, danach ging es mir schlechter als je zuvor. Nein danke! Ich traue diesen Quacksalbern ohnehin nicht über den Weg. Die Beschwerden sind von allein gekommen, die gehen auch von allein. Mittlerweile solltest du meine Meinung in puncto Ärzten kennen«, betonte er entschieden und erklärte das Thema seinerseits für erledigt.
»Du musst selbst wissen, was dir guttut oder nicht. Bist ja alt genug«, gab Nick mit einem Schulterzucken auf. Er wusste aus der Vergangenheit, dass es vollkommen zwecklos war, Uwe in Gesundheitsfragen in irgendeiner Weise überzeugen zu wollen.
»Eben. Seid ihr heute Abend bei der Biike in Morsum dabei?«, fragte Uwe, um vom leidigen Thema Rückenschmerzen abzulenken.
»Sicher, das lassen wir uns nicht entgehen. Anna freut sich seit Tagen auf das Ereignis. Wir sind mit Britta und Jan verabredet. Im Anschluss gibt es traditionell Grünkohl bei Jans Eltern. Seine Mutter macht den besten Grünkohl auf der ganzen Insel. Ihr seid doch auch dabei, oder etwa nicht?«
Uwe nickte. »Klar, Tina lässt sich das Ereignis auf keinen Fall entgehen. Sie freut sich ebenfalls seit Wochen darauf.« Er wollte eine bequemere Sitzposition einnehmen und stöhnte laut auf, als ihm der Schmerz wie ein Blitz durch den gesamten Körper fuhr. Sein Gesicht war leichenblass und kleine Schweißperlen tanzten auf seiner Stirn. »Verdammt, tut das höllisch weh!«, fluchte er verhalten und atmete schwer.
»Mal im Ernst, Uwe.« Nick warf seinem Kollegen einen besorgten Blick zu, bevor er auf seine Armbanduhr sah. »Wir haben Freitagmittag. Du solltest schleunigst einen Arzt aufsuchen, bevor du dich das gesamte Wochenende vor lauter Schmerzen nicht mehr rühren kannst. Das macht keinen Sinn, den harten Kerl zu mimen. Soll ich dich fahren?«
»Nee, lass mal.« Uwe blieb stur und biss die Zähne aufeinander, als er sich in Zeitlupe auf seinem Stuhl zurücklehnte.
»Im Grunde hast du bloß Schiss vor der Spritze, habe ich recht? Kannst du ruhig zugeben. Ich bin auch jedes Mal froh, wenn es vorbei ist.« Nicks linker Mundwinkel hob sich amüsiert nach oben, während er auf die Reaktion seines Gegenübers wartete.
»Lass gut sein, Nick. Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber die Schmerzen werden in ein paar Tagen der Vergangenheit angehören. Das Beste wird sein, wenn ich nach Hause gehe und mir eine Wärmflasche mache. Die Wärme und ein bisschen Ruhe haben bislang immer geholfen, lästige Rückenschmerzen loszuwerden. Du wirst sehen, am Montag bin ich fit wie ein Turnschuh.« Uwe war bemüht, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen, was deutlich misslang.
Das letzte Stück von der Bushaltestelle bis zu dem Haus ging er zu Fuß. Er brauchte die Bewegung, außerdem konnte er unterwegs seine Gedanken ordnen. Der Nebel hielt sich nach wie vor zäh, sodass man keine 50 Meter weit sehen konnte, den Weg aber hätte er selbst mit verbundenen Augen gefunden. Als er sein Ziel erreicht hatte, zögerte er kurz und sah sich um. Ringsherum war niemand zu erblicken. Dann atmete er tief durch, straffte die Schultern und drückte schließlich beherzt die Türklinke nach unten. Wie eh und je war die Haustür nicht verschlossen, sondern ließ sich ohne Weiteres öffnen. Drinnen roch es genauso wie damals. Auch die Einrichtung hatte sich kaum verändert, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die alten Dielen unter seinen Füßen knarrten bei jedem seiner Schritte.
»Hallo? Jemand zu Hause?«, rief er in die Stille, erhielt jedoch keine Antwort. Es herrschte absolute Ruhe bis auf das gleichmäßige Geräusch der alten Standuhr, deren Pendel unermüdlich im Takt schlug. An der Garderobe hing eine dunkelgrüne Jacke, der man deutlich ansehen konnte, dass sie ihrem Besitzer seit langer Zeit ein treuer Begleiter sein musste. Er ging die Treppe hinauf. Vor einer verschlossenen Zimmertür blieb er stehen, dann öffnete er sie. Die Luft in dem Raum roch muffig, als wäre seit ewigen Zeiten nicht gelüftet worden. Sein Blick fiel zunächst auf das große Bett, auf dem eine glatt gezogene Tagesdecke lag, als hätte heute Morgen jemand das Bett frisch gemacht. Er sah sich weiter in dem Zimmer um und hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, von denen er sich gewünscht hätte, sie für immer aus seiner Erinnerung zu löschen. Ein Geräusch aus dem Erdgeschoss ließ ihn aufhorchen. Es waren Schritte, gefolgt von einer leisen weiblichen Stimme. Als er sie erkannte, entspannte er sich und machte sich auf den Weg nach unten. Auf einer der letzten Stufen blieb er abrupt stehen, denn am Fuße der Treppe stand ein imposanter Schäferhund und fixierte ihn neugierig.
»Na, wer bist du denn?«, sprach er das Tier an.
»Isco, komm her! Futter!«, hörte er zeitgleich aus der Küche rufen. Gleich darauf näherten sich abermals Schritte. »Da steckst du, was …« Augenblicklich blieb sie wie angewurzelt stehen. »Sönke!«, hauchte sie und fasste sich mit der Hand an den Hals.
Er nickte. Zögerlich näherte sie sich ihm und betrachtete ihn, als stehe ein Gespenst vor ihr. In ihren Augen standen Tränen. Zaghaft berührte sie ihn am Arm, als müsse sie prüfen, ob nicht alles bloß ein Traum wäre.
»Ich kann es kaum glauben, dass du es wirklich bist.«
»Moin, Mutter. Ja, es ist lange her«, erwiderte er und bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle.
»Ich habe nicht gewusst, dass du heute kommen würdest«, räumte sie ein.
»Das wusste niemand. Ich will nur ein paar Sachen holen, dann bin ich verschwunden«, unterbrach er sie, und sein Ton klang barscher als beabsichtigt.
»Warum willst du wieder gehen?« Verständnislos sah sie ihren Sohn an.
»Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich bleiben würde.« Er nahm die letzten drei Stufen und stand nun unmittelbar vor ihr. Der Hund schnupperte an seinen Hosenbeinen, während er ihm den Kopf kraulte.
»Sonderbar, er ist Fremden gegenüber sonst nicht so zutraulich.« Im selben Moment, da sie die Worte aussprach, bemerkte sie die unglücklich gewählte Formulierung und versuchte, sie umgehend zu korrigieren. »Ich meine Menschen, die er nicht kennt.«
»Ich verstehe schon. Ein sehr schönes Tier. Hast du ihn schon länger?«
»Seit einem knappen Jahr. Früher hatten wir immer Hunde auf dem Hof, es war an der Zeit.«
»Ich dachte, Rieke hätte eine Tierhaarallergie?« Auf seine Frage erhielt er lediglich ein müdes Achselzucken.
»Bitte bleib, Sönke. Meinetwegen musst du nicht gehen. Falls es mit deinem Vater zu tun haben sollte, brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Er legte fragend seine Stirn in Falten. »Er ist tot.«
»Seit wann?« Die Nachricht überraschte ihn nicht sonderlich, da sein Vater seit Langem gesundheitliche Probleme hatte.
»Seit zwei Monaten. Ich weiß, ich hätte dich informieren müssen, aber ich wusste nicht, wie«, gestand sie.
Seine Miene wirkte wie versteinert. »Da, wo ich herkomme, gibt es sogar Telefon.« Der gleichermaßen zynische wie anklagende Ton in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Es tut mir sehr leid, Sönke«, sagte sie leise und senkte schuldbewusst den Kopf. »Dein Vater hat dich sehr geliebt.«
»Seltsame Art, das zu zeigen. Wo ist Ole?«, erkundigte sich Sönke und richtete seinen Blick durch das Fenster nach draußen in die Hofeinfahrt.
»Dein Bruder ist heute früh auf das Festland gefahren, um sich mit einem potenziellen Abnehmer für die Schafwolle zu treffen. Seine Frau begleitet ihn.« Als sie sah, wie ihr Sohn die Augenbrauen nach oben zog, fügte sie erklärend hinzu: »Friederike und er haben im vergangenen Jahr geheiratet.«
»Ich merke, während meiner Abwesenheit hat sich eine Menge verändert. Wie gesagt, ich wollte nur schnell ein paar Sachen von mir abholen, sofern sie nicht längst entsorgt wurden. Dann werde ich euch nicht länger mit meiner Anwesenheit belästigen.«
»Aber Junge, natürlich habe ich all deine Sachen aufgehoben. Bitte, Sönke, gehe nicht gleich wieder weg, es gibt so viel zu sagen«, bat sie ihn und legte ihre Hand auf seinen Unterarm.
»Nicht jetzt, Mutter. Ein anderes Mal vielleicht. Ich brauche Zeit«, entgegnete er, wobei seine Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde Milde ausstrahlten, bevor sie abermals zu Stein wurden.
»Dann komm wenigstens heute Abend zum Essen, es gibt Grünkohl so wie früher. Den mochtest du immer gern.«
»Nichts ist mehr wie früher, Mutter.«
»Bitte, Sönke! Mir zuliebe.« Sie sah ihn flehend an und hätte sich am liebsten fest an ihn geklammert.
»Ich kann es nicht versprechen.«
»Wo willst du jetzt hin? Hast du eine Bleibe?«
»Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme zurecht«, beruhigte er sie und löste sich von ihr. Er hatte vorhin mit seinem alten Freund Lorenz telefoniert, der ihm eine Unterkunft organisieren wollte. Für die kommende Nacht hatte er sich ein Zimmer in einer günstigen Pension gemietet. Dort kannte man ihn nicht, und niemand stellte unnötige Fragen.
»Nick? Bist du soweit? Wir müssen los!«
»Komme schon!«, tönte seine Stimme aus dem Obergeschoss, gefolgt von dem Knarren der alten, hölzernen Stufen, als Nick die Treppe herunterkam.
»Dein Daddy ist heute nicht der Schnellste«, sagte ich zu unserem kleinen Sohn Christopher, während ich ihm seine Mütze aufsetzte und anschließend den Reißverschluss seines Anoraks hochzog.
»Also, ich wäre startklar«, bestätigte Nick hinter mir und schlüpfte in seine Jacke.
»Dann kann es ja endlich losgehen. Nein, Pepper, du kannst nicht mitkommen. Pass schön auf unser Haus auf«, sagte ich zu unserem Labradormischling, der mich mit seinen treuen Augen erwartungsvoll ansah. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen und sah zu Nick.
»Nein, Anna, er bleibt hier. Ich dachte, wir waren uns einig, dass dort kein Ort für einen Hund ist«, erstickte er umgehend meine Zweifel im Keim.
»Da hörst du, was Herrchen gesagt hat, Pepper. Wir sind bald zurück«, tröstete ich ihn, streichelte ihm über den Kopf und reichte ihm zum Abschied einen Hundekeks, den er nahm und damit zufrieden abschob. Nicks Mundwinkel zuckten belustigt, als ich zu ihm sah.
»Was ist?«
»Ach, nichts«, erwiderte er und schloss hinter uns ab.
Auf unserer Fahrt begegneten wir Horden von Menschen, die zu Fuß dem Feuerplatz am Morsumkliff entgegenströmten.
»Hier ist ja der Teufel los«, brummte Nick mehr zu sich selbst und passierte eine Gruppe Personen, die einen voll beladenen Bollerwagen hinter sich herzogen.
»Solange alle gut gelaunt und friedlich bleiben, ist es doch in Ordnung.« Ich schenkte ihm einen Seitenblick.
»Hoffen wir es.«
»Oh nein, ich glaube, wir müssen umdrehen«, stellte ich fest, als der Parkplatz in Sichtweite kam.
»Warum? Hast du etwas vergessen? Pepper geht es gut, er kennt das Alleinsein.«
Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, erklang ein fröhliches »Peppa Hause!« aus dem Kindersitz auf der Rückbank, von dem aus sich Christopher zu Wort meldete.
»Nein, beim Biikebrennen sind Hunde fehl am Platz, das sehe ich genauso wie du. Ich habe vergessen, Christophers Kopfhörer einzupacken. Die laute Musik des Fanfarenzuges ist zu laut für junge Ohren.«
»Entspann dich, Sweety. Sie liegen seit gestern im Kofferraum.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Du bist ein wahrer Schatz!«, sagte ich, lehnte mich zu ihm rüber und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange, als ein lautes Hupen ertönte. Gleich darauf riss der Fahrer vor uns die Wagentür auf, lehnte sich halb aus dem Auto und brüllte dem Fahrzeug vor ihm wütend etwas hinterher.
»Die Schlacht um die Parkplätze ist in vollem Gang. Steigt schon mal aus, ich parke vorne an der Straße und komme dann nach«, entschied Nick beim Anblick des überfüllten Parkplatzes.
Kurz darauf sah ich Nick hinterher, wie er wendete und den Weg ein ganzes Stück zurückfuhr, wo er den Wagen auf dem seitlichen Grasstreifen abstellen wollte. Während ich wartete, zogen immer mehr Menschen an uns vorbei, und ich hatte das Gefühl, als würde der Strom kein Ende nehmen.
»Moin, ihr beiden!« Meine Freundin Britta mit ihrem Mann Jan tauchte plötzlich neben uns auf.
»Moin, Britta! Hallo, Jan! Ich habe euch gar nicht kommen sehen.«
»Wir standen dort hinten. Wo ist Nick?«
»Er kommt gleich nach, er parkt den Wagen an der Straße, hier war es ihm zu voll«, erklärte ich.
»Dieses Mal ist wirklich viel los.« Sie ließ ihren Blick über die Menschenansammlung schweifen.
»Auf jeden Fall ist es gehörig kalt heute.« Jan setzte seine Mütze auf und zog dicke Handschuhe über die Hände. »Wie gemacht fürs Biikebrennen, da schmeckt und wärmt der Glühwein wenigstens ordentlich«, feixte er.
»Und erst der Grünkohl im Anschluss«, ergänzte Nick.
»Daddy!«, krähte Christopher und streckte seine kleinen Ärmchen nach seinem Vater aus, der ihn sogleich auf den Arm nahm.
»Hey, Nick! Da bin ich ganz bei dir. Allein bei dem Gedanken bekomme ich Hunger«, bestätigte er mit einem Lachen. Dann wanderte sein Blick zum Himmel. »Ich glaube, wir bekommen heute noch Schnee.«
»Was du nicht sagst. Bist du neuerdings unter die Meteorologen gegangen oder schmerzt die alte Kriegsverletzung?«, erkundigte sich Britta mit einem Augenzwinkern.
»Sehr witzig. Nein, das spüre ich.«
»Soso, das ist ja höchst interessant, mein Wettergott«, erwiderte Britta belustigt und hakte sich bei ihm unter.
»Mach dich nur lustig über mich. Laut meiner WetterApp zieht ein Niederschlagsgebiet direkt auf uns zu. Hier, überzeuge dich selbst, wenn du mir nicht glaubst!« Er zog den Handschuh aus und wischte über das Display seines Smartphones, bevor er es demonstrativ in die Runde hielt.
»Na, lassen wir uns überraschen. Wo bleiben eigentlich Uwe und Tina? Sie wollten sich mit uns treffen, aber ich kann sie nirgends entdecken.« Suchend sah ich mich auf dem überfüllten Platz nach unseren Freunden um.
»Sie werden sicher jeden Augenblick kommen. Sieh dir die Autoschlange an, die sich den schmalen Weg entlang wälzt. Höchstwahrscheinlich stecken sie mittendrin«, vermutete Nick, als sein Handy klingelte.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte er mit Blick auf das Display und hielt sich das Gerät ans Ohr. Während er zuhörte, zog er die Augenbrauen zusammen, sodass sich zwei senkrechte Falten in seine Stirn gruben. »Ich bin unterwegs, bis gleich!« Mit diesen Worten war das Gespräch beendet.
»Sag schon, was ist los!«, erkundigte sich Jan, dessen Augen neugierig aufblitzten.
»Das war Uwe. Offenbar gibt es ein Problem auf dem Feuerplatz.«
»Ein Problem?«, wiederholte ich und versuchte, in Nicks Gesicht zu lesen.
»Lass mich raten: Die Jungs von der Feuerwehr haben dem Glühwein bereits im Vorfeld den Garaus gemacht und es gibt keinen Nachschub. Richtig?«, scherzte Jan.
»Nein, leider nicht«, entgegnete Nick, dem offensichtlich alles andere als zum Scherzen zumute war. »Die Feuerwehr hat einen anonymen Hinweis erhalten«, fuhr er stattdessen mit ernster Miene fort.
»Ein anonymer Hinweis? Nun rück raus mit der Sprache und spann uns nicht länger auf die Folter!« Britta sah ihn erwartungsvoll an.
»Uwe hat vage Andeutungen gemacht, dass mit dem aufgeschichteten Haufen etwas nicht stimmt. Genaueres weiß ich wirklich nicht, aber ich treffe mich gleich mit ihm vor Ort.«
»Wir kommen mit«, entschied Britta kurzerhand.
»Nein.« Nick schüttelte vehement den Kopf. »Ich gehe allein. Wenn wir wissen, was los ist, und grünes Licht geben, kommt ihr mit dem Fackelzug hinterher. Wir treffen uns bei den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr am Glühweinstand.« Er gab mir einen Kuss, übergab mir Christopher und bahnte sich den Weg durch die dicht gedrängte Menschenmenge.
»Pass auf dich auf!«, rief ich ihm nach, was jedoch vom allgemeinen Stimmengewirr verschluckt wurde.
»Was stimmt mit dem Feuerhaufen nicht?«, überlegte Britta laut vor sich hin.
»Das weiß ich nicht, aber Nicks Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wird es sich nicht um eine Lappalie handeln.«
»Das klärt sich bestimmt. Ich hoffe nur, dass sich das Ganze nicht allzu sehr verzögert, mir ist nämlich verdammt kalt.« Britta rieb trotz Handschuhen demonstrativ die Hände gegeneinander und trat von einem Fuß auf den anderen. »Wo ist Jan geblieben? Er war eben noch hier.«
»Er hat einen Bekannten entdeckt.« Ich deutete nach rechts, wo sich Jan ein paar Meter von uns entfernt angeregt mit einem Mann in einer abgewetzten Wachsjacke unterhielt.
»Ach, das ist Kai! Kai Paulsen, der Weltenbummler. Den habe ich ewig nicht gesehen«, zeigte sich Britta beim Anblick des Gesprächspartners ihres Mannes hocherfreut.
»Weltenbummler?«
Britta grinste. »Ich nenne ihn so, weil er beinahe überall auf der Welt gewesen ist. Ein echter Weltenbummler eben. Erst vor Kurzem ist er zurück nach Sylt gekommen. Kai ist ein alter Schulfreund von Jan und hat mehrere Jahre im Ausland gearbeitet, unter anderem in den USA, Südamerika und Indien. Er ist Softwareentwickler oder etwas in der Art. Ganz genau habe ich es nicht verstanden. Jedenfalls war er neulich bei uns und hat eine Menge Geschichten erzählt. Er führt mit Sicherheit ein aufregendes Leben, aber für mich wäre das nichts. Außerdem bin ich mit meinem Leben äußerst zufrieden, auch ohne um den gesamten Erdball getingelt zu sein. Wir leben auf Sylt, was will man mehr! Oder was meinst du? Anna?«
»Was?«
»Hörst du mir eigentlich zu?«
»Entschuldige, Britta, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Was sagtest du?«
»Vergiss es!«
»Nun sei nicht eingeschnappt.«
»Bin ich nicht. War nicht so wichtig«, wiegelte sie ab. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie eine Strähne aus ihrem Sichtfeld streichen, dabei legte sie leicht den Kopf in den Nacken. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie beleidigt war.
»Eben ist ein Rettungswagen zum Feuerplatz gefahren«, begründete ich meine vorübergehende Ablenkung. »Vielleicht ist etwas passiert?«
»Das will ich nicht hoffen!«
Mittlerweile war es nach 18 Uhr, und alle Anwesenden warteten voller Ungeduld darauf, dass sich der Fackelzug endlich in Bewegung setzte. Obendrein wurde mir trotz warmer Kleidung zusehends kälter und Christopher langweilig. Er machte seinen Unmut deutlich, indem er zu nörgeln begann und ständig an meiner Jacke zupfte. Von Nick hatte ich seit seinem Weggang nichts gehört. Nahezu unbemerkt hatte sich die Dunkelheit über die Insel gelegt.
»Ich hoffe, es geht bald los, bevor ich vollkommen steif gefroren bin«, sagte ich an Britta gewandt, deren Gesicht beinahe vollständig von ihrer dicken Fellkapuze verschluckt wurde. Lediglich ihre blauen Augen blitzten munter hervor.
»Dein Flehen wurde erhört. Da drüben werden die ersten Fackeln entzündet. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es losgeht«, bemerkte sie und zauberte ein Feuerzeug aus ihrer Jackentasche hervor. »So, dann wollen wir mal. Gib mir deine Fackel!«
Die Flamme griff gierig nach der mit einer brennbaren Flüssigkeit getränkten Fackel, die umgehend mit hellem Lichtschein zu brennen begann. In kürzester Zeit befanden wir uns inmitten eines Lichtermeeres aus orange-gelben, unruhig zappelnden Feuerpunkten. Seit Tagen wurden auf der Insel in den meisten Geschäften Fackeln verkauft, oder man erhielt sie als kostenlose Zugabe beim Einkaufen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr, in dem bis zum letzten Moment nicht feststand, ob die Biiken aufgrund des stürmischen Windes überhaupt stattfinden konnten, herrschte heute fast Windstille. Nun gab der Anführer des Musikzuges das Signal zum Aufbruch. Ein Trommelwirbel erklang, und gleich darauf setzte sich der lange Fackelzug, bestehend aus Einheimischen und Gästen, in Richtung des Feuerplatzes am Morsumkliff mit Trommeln und Trompeten in Bewegung. Der Marsch, begleitet von der Musik und den vielen Lichtern, bescherte mir regelmäßig eine Gänsehaut. Seitdem ich meinen Lebensmittelpunkt nach Sylt verlegt hatte, verstand ich erst die Leidenschaft für das Ereignis, mit dem die Menschen in Nordfriesland diesem Brauchtum begegneten, und wollte es selbst nicht mehr missen. Diese tief verwurzelte Tradition, um die sich zahlreiche Geschichten ranken, symbolisiert nicht nur das Ende des eisigen Winters, der mithilfe der Feuer vertrieben werden soll, sondern steht für die nordfriesische Heimatliebe und das ehrliche Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Einheimischen. Im Jahre 2014 erhielt dieser Brauch sogar einen Platz im nationalen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Unter die Einheimischen mischte sich von Jahr zu Jahr eine stetig steigende Anzahl an Gästen, die eigens zum 21. Februar anreisten, um den Feuern beizuwohnen.
Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichten wir den Feuerplatz und positionierten uns vor dem gigantischen Berg aus aufgeschichteten Tannenbäumen, Gestrüpp und Stroh. Etwas weiter abseits standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, davor war für den Glühweinverkauf ein langer Tresen aufgebaut worden, an dem mehrere Mitglieder der ortsansässigen Feuerwehr die Getränke verkauften. Wie im vergangenen Jahr wurde der Glühwein aus Mehrwegbechern mit Pfand ausgeschenkt, um einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Der eine oder andere Becher mit dem Logo der Feuerwehr landete mit Sicherheit als Erinnerungsstück im Gepäck einiger Touristen, vermutete ich.
»Ich möchte behaupten, der Berg ist im Vergleich zum letzten Jahr um einiges größer geworden«, bemerkte Jan beim Anblick des aufgeschichteten Stapels.
»Da! Mann oben!« Christopher zeigte aufgeregt mit dem Finger auf die menschengroße Stoffpuppe, die an einem langen Holzpfahl befestigt war. Sie war von den Kindern der Jugendfeuerwehr Morsum angefertigt worden.
»Ja, da baumelt der Pidder, mit Latzhose und Gummistiefeln«, erklärte Britta lachend und strich ihrem Patenkind über die Wange.