Schattenspiel in Moll und Stillleben Blutrot - Kerstin Lange - E-Book

Schattenspiel in Moll und Stillleben Blutrot E-Book

Kerstin Lange

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Beschreibung

Zwei Kriminalromane in einem Band mit dem Journalisten Konstantin Degen. In Schattenspiel in Moll wird ein berühmter Pianist ermordet, bevor er dem Journalisten Konstantin Degen ein Interview geben kann. Als ein weiterer Mord passiert, ist sich Degen sicher, dass die Gründe in der Vergangenheit liegen. In Stillleben Blutrot tauchen verschollene Gemälde eines verstorbenen Künstlers auf. Unschön, dass eine Frauenleiche aufgefunden wird, die wie ein Motiv des Malers aussieht. Degen kommt einer Betrügerei auf die Schliche, die weitaus weiter reicht, als er dachte.

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Für Sven

Kerstin Lange, Jahrgang 1966, schreibt seit vielen Jahren erfolgreich Kriminalromane mit regionalem Bezug. Ihr erster Roman Schattenspiel in Moll erschien 2011. Stillleben Blutrot folgte zwei Jahre später. Im frischem Gewand und komplett überarbeitet sind nun beide Titel in einem Band überall im Buchhandel erhältlich.

Weitere Informationen: www.kerstinlange.com

Weitere Titel der Autorin:

Stromschwimmer, emons VerlagRiesling und ein Mord, emons VerlagSpeyerer Geheimnisse, emons VerlagGrasträume, Wurdack VerlagRebenfluch, Wurdack Verlag

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Schattenspiel in Moll: Konstantin Degens 1. Fall

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Stillleben Blutrot: Konstantin Degens 2. Fall

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Schattenspiel in Moll

Konstantin Degens 1. Fall

Prolog

Juni 1960

Ich schleiche aus dem Haus. Niemand bemerkt etwas, darauf achte ich. Es ist nicht weit bis zu der Schrebergartensiedlung. Dort will er mich sehen. Endlich reagiert er auf meine Briefe und traut sich. In der Milchbar ist immer seine Freundin dabei, aber heute haben sie sich gestritten. Er hat Hemmungen, sich zu mir zu bekennen, weil ich noch so jung bin. Das ist für mich kein Problem und ihn werde ich überzeugen. Meine Eltern werden einer Heirat nie zustimmen, aber womöglich laufen wir gemeinsam weg? Ich werde für ihn sorgen, für ihn kochen, und er spielt für mich. Seine Tourneen bringen uns in jeden Winkel der Welt, ich manage die Termine. Er wird mich den Journalisten und Bewunderern als die Frau vorstellen, der er alles verdankt und ohne die sein Leben nicht lebenswert wäre. Was soll ich mit einer Schulausbildung, auf die meine Mutter so viel Wert legt? Ich brauche das nicht.

Jedes Mal überkommt mich ein Schauer, wenn er Mozarts Sonata Facile spielt. So viel Gefühl in seinen Händen. Wie es wohl ist, wenn er mich berührt, mich küsst? Vielleicht werde ich es heute erfahren! Ganz bestimmt sogar, wenn nicht er den ersten Schritt macht, dann ich! Da steht er. Ich gehe auf ihn zu, bin etwas verlegen, weiß nicht, was ich sagen soll. Wie gut er aussieht!

»Hallo, schön, dass du da bist«, begrüßt er mich. Er streicht durch mein Haar, in meinem Bauch fliegen Schmetterlinge und meine Knie werden weich. Wie aufmerksam er ist! Er zieht mich auf das Sofa. Diese unerwartete körperliche Nähe nimmt mir den Atem, ich bekomme kaum Luft. Seine Zärtlichkeiten und Berührungen fühlen sich gut an, auch wenn mir das alles unheimlich ist. Ich möchte nicht, dass er mich für zu jung hält, wenn er das mit seiner Freundin gemacht hat, wird es nicht verboten sein. Ich will zu ihm gehören! Plötzlich werden seine Bewegungen hastig, ungestüm. Er nestelt an meinem Rock, ich versuche ihn wegzuschieben. Doch er lässt nicht von mir ab, wirkt roh und brutal. »Stell dich nicht so an, du willst es doch auch«, sagt er.

Ich verstehe nicht, was passiert, sein Gesicht verzerrt sich zu einem Lachen — ich will schreien und nur noch weg. Er hält mich fest, steckt mir ein Taschentuch in den Mund. Meine Schreie ersticken, finden nur noch in Gedanken statt. Er liegt auf mir, und die Nähe, die ich mir am Nachmittag so sehr gewünscht habe, kann ich nun nicht ertragen. Ich würge, mein Magen rebelliert, mein ganzer Körper schreit: Nein. Tränen schießen mir in die Augen, vor Scham, Angst und Schmerz. Bewegungslos verharre ich, wartend, was passiert. Er reißt meine Beine auseinander und ein brennender Schmerz durchfährt meinen Körper. Ich liege da und lasse geschehen. Auf einmal spüre ich nichts mehr. Stehe neben dem Sofa, sehe mich dort liegen, beobachte das Geschehen. Das bin nicht ich, der das passiert. Ich sehe ein dummes Mädchen — still liegt sie da, hat jede Gegenwehr aufgegeben. Er stößt und keucht, es klingt wie ein Grunzen. Irgendwann lässt er von ihr ab. Sie hört Kleidung rascheln und einen Reißverschluss.

»Ich war der Erste? War mir ein Vergnügen!« Er legt zwei Münzen auf den Tisch. »Für einen Milchshake.« Dann geht er. An der Tür dreht er sich noch einmal um, hält inne. »Ach ja, deine Briefe.« Er nimmt sie aus der Jackentasche und legt sie neben die Geldstücke.

Langsam werde ich wieder eins, verschmelze mit dem Mädchen auf dem Sofa. Liege immer noch da — Minuten, Stunden? — ich weiß es nicht. Ich reiße das Taschentuch aus dem Mund, würge erneut und endlich kommt etwas heraus, bittere, gelbgrüne Galle. Ich bin wieder ich, kann mich bewegen und denke nur: Ganz schnell weg von hier. Etwas Warmes läuft mir die Beine entlang.

Es ist bereits dunkel, dennoch mache ich mich klein, damit mich niemand sieht. Plötzlich steht Richard vor mir. Ich weiche zurück, verstehe nicht, was er mir sagt. Bin ich die, die schreit? Er geht nicht fort, redet weiter auf mich ein, ich beruhige mich. Er weiß, was passiert ist. Er nimmt sein Sakko, legt es um meine Schultern und bringt mich nach Hause. Wir reden kein Wort und ich bin dankbar dafür. Ich funktioniere, automatisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Nicht denken — nicht fühlen. Ich will nach Hause, ins Bad, mich waschen und dann ins Bett. Die Decke über den Kopf ziehen, nie wieder aufstehen.

Meine Mutter steht vor der Tür. Sie sieht mich an, als wenn sie wüsste, was passiert ist. Bitte, wünsche ich, nimm mich in den Arm. Tröste mich, sag mir, dass alles gut wird. Vergeblich. Sie wendet sich ab, geht ins Haus, ohne ein Wort zu sagen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen. Ihre Körpersprache spricht Bände. Ich bin schlecht, ein böses Mädchen.

Und alles ist ganz allein meine Schuld.

1

»Das war der letzte Mist! Den Artikel konnte ich nicht nehmen. Was ist in dich gefahren, so einen Unsinn zu verzapfen, Konstantin! Langweilig, monoton. Als wenn das junge Leser anlockt.« Oskar Müller, der Chefredakteur der Niederrheinischen Morgenpost. warf Konstantin einen vernichtenden Blick zu und fuhr mit seinem Monolog fort. »Dein Vater hätte es tausendmal besser gemacht! Selten so einen schlecht aufbereiteten Artikel gelesen! Babla, Blabla, nur bedeutungsloser, nichtssagender Unsinn.«

Konstantin sackte in sich zusammen, während die morgendliche Redaktionssitzung weiterging. Cybermobbing war sein Thema gewesen, doch ihm war nichts Gescheites eingefallen. Klar, mein Vater hätte auch daraus eine Bombenstory gestrickt, dachte er. Richard Degen, der Starreporter! Bin halt nicht wie er, gingen seine Gedanken weiter, noch nie gewesen.

Es gab kaum Gemeinsamkeiten zwischen ihm und seinem verstorbenen Vater, außer der Körpergröße: ein Meter und sechsundneunzig Zentimeter Länge. Charakterlich konnten sie jedoch nicht unterschiedlicher sein. Niemals könnte er den Erwartungen gerecht werden, die man an den Sohn des bekannten Neusser Journalisten, Richard Degen, stellte. Die ständigen Vergleiche der Kollegen mit seinem Vater zermürbten ihn: Richard Degen hatte einen Umweltskandal aufgedeckt und dafür eine Auszeichnung erhalten. Kurz: Er hatte Stadtgeschichte geschrieben. Sein früher Tod hatte ihn unsterblich gemacht — es gab keine Gelegenheit mehr zum Versagen. Konstantin seufzte.

Müller änderte seinen Tonfall und wendete sich einem jungen Mann zu. »Darf ich euch den neuen Kollegen vorstellen? André Gruber. Unser neuer Volontär. Er wird sich um die lokalen Nachrichten in Dormagen kümmern. Ich hoffe, ihr heißt ihn herzlich willkommen.«

Alle blickten den gut aussehenden jungen Mann an, der sich, während Müller seinen Namen nannte, erhob.

»Guten Tag zusammen. Ich freue mich auf eine kollegiale Zusammenarbeit. Ich werde nur sporadisch hier im«, er lächelte, »Hauptquartier erscheinen. Mein Platz ist in der Dormagener Redaktion.«

Was für ein Selbstbewusstsein, dachte Konstantin. Was für ein Auftritt! Trotz des schwülen Augusttages trug André Gruber einen hellgrauen Anzug, italienische Slipper und ein sportlich geschnittenes Hemd und keine Krawatte. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen. Alle schauten ihn neugierig an. Jeder kannte ihn, zumindest seinen Namen. Er war der Sohn des Geschäftsführers Josef Gruber.

Konstantin hingegen schwitzte, was nicht zu übersehen war. In den Achselhöhlen bildeten sich dunkle Flecke. Die Handinnenflächen waren feucht und unter der Baseballkappe bildeten sich Schweißperlen. Seine Kleidung war leger, fast ein bisschen nachlässig — das Gegenteil von Grubers Outfit. Ausgeleierte Jeans, ein blauweiß kariertes Hemd, dazu Sneakers und Baseballkappe. Er wünschte, er hätte sich am Morgen anders gekleidet, um weniger unprofessionell zu wirken. Heimlich wischte er sich die Handinnenflächen an der Jeans ab. Wie der Gruber müsste man sein, dachte er, weltgewandt, stilsicher und selbstbewusst.

Die Anwesenden wandten sich den Themen für die morgige Ausgabe zu. »Hans, wie sieht es mit der Umgestaltung des Jahnstadions aus? Klaus, ich brauche den Artikel über das Rhein-Parkcenter. Wie sieht es auf der Rennbahn aus? Rainer, du kümmerst dich um die Sonderbeilage für das Schützenfest, wie weit bist du?«

Routine, Konstantin hörte nur mit einem Ohr hin, bis er die Stille bemerkte und sich umschaute. Alle Augen ruhten auf ihm.

»Träumst du, Konstantin? Hältst du es noch nicht einmal für nötig zuzuhören?« Müllers Gesicht färbte sich gefährlich rot.

»Ich will Dich in einer halben Stunde in meinem Büro sehen. Sei gefälligst pünktlich!«

Er schaute jedem Mitarbeiter ins Gesicht, eine Eigenart, mit der er jede Sitzung beendete und marschierte aus dem Raum. Nach und nach verschwanden auch die Kollegen in ihre Büros.

Konstantin saß auf seinem Stuhl und ärgerte sich über sich selbst. Der Tag begann ja großartig. Am liebsten würde er wieder nach Hause fahren, sich in sein Zimmer verkriechen und laute Musik hören. Metal, zum Abreagieren.

»Hallo Konstantin, es ist doch in Ordnung, wenn ich dich duze, oder? Wir sind ja ungefähr gleichalt. Wo ist denn das Problem mit deinem Artikel?«

Konstantin erschrak und zuckte zusammen. Wer störte? Er blickte in das Gesicht André Grubers. Sein süffisantes Lächeln und der spöttische Blick jagten ihm einen Schrecken ein. Das hat ihm noch gefehlt. Dieser Schnösel hatte keine Skrupel, ihn anzusprechen. Warum auch. André Gruber hatte nichts zu verlieren. Ganz im Gegenteil zu Konstantin, der von einem zusätzlichen Volontär wenig begeistert war. Seine Karten standen ohnehin nicht gut. Und gegen den Gruber hatte er keine Chance. Er sah seine Felle davon schwimmen, fühlte sich außerstande mit dem Neuen zu sprechen, ohne eine völlig erbärmliche Figur abzugeben. »Ich…, wir, wir duzen uns alle.« Jetzt bitte nicht stottern, oder erröten, ermahnte er sich. »Hab, hab kein Pro – Problem. Al–all–alles gut.«

Im gleichen Moment spürte er, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Was für ein verpatzter Auftritt. »Sorry, muss weg!«, brachte er noch heraus und hechtete aus dem Raum.

Er lief den Gang entlang und suchte den einzigen Ort im Haus auf, wo er seine Ruhe hatte. Die Toilettenräume. Ein kühles Ambiente, weiße Fliesen, vom Boden bis zur Decke. Weiße Sanitäranlagen. Neonröhren. Desinfektionsmittel. Irgendjemand hatte einen Raumduft aufgestellt. Der Geruch von klinischer Reinheit und karibischem Flair wollte nicht miteinander harmonieren. Ruhe. Einen Moment Einsamkeit und Stille. Konstantin drehte den Wasserhahn auf und lauschte dem Rauschen. Allmählich beruhigte er sich. Er streckte seine Handgelenke unter den Strahl und ließ das kühlende Wasser darüber laufen. Eine Wohltat. Nur noch ein paar Minuten bis zu dem Termin mit seinem Chef. Zum Schluss spritzte er sich noch Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel. Als sein Teint das Rot verloren und sich sein Puls normalisiert hatte, machte er sich auf den Weg in Müllers Büro.

Die Tür stand offen, Müller saß in seinem Sessel und wartete auf ihn. »Komm rein und schließ die Tür.«

Graugrüne Augen blickten ihn durchdringend an. Konstantin nahm langsam auf einem der Besucherstühle Platz. Wie immer trug Oskar Müller das schlohweiße, bis an die Ohrläppchen reichende Haar, nach hinten gekämmt und mit Frisiercreme fixiert. »Du weißt, wer André Gruber ist?«

»Natürlich. André E. Gruber, eigentlich legt er großen Wert auf das E. Der Sohn vom Chef, Josef Gruber.« Konstantin verdrehte genervt die Augen.

»Richtig. Aber auch der kriegt von mir keine Sonderbehandlung.« Müller verzog keine Miene und sprach weiter. »Deine Mutter hat sich mächtig ins Zeug gelegt, damit du das Volontariat hier bekommst. Der Ruf deines Vaters eilte Dir voraus, du weißt, dass ich ihn sehr mochte. Genau wie deine Mutter und selbstverständlich auch dich«, erklärte Müller.

»Sah grad nicht so aus«, brachte Konstantin trotzig hervor.

»Du wirst deshalb nicht bevorzugt behandelt, ganz im Gegenteil. Dein Vater war ein hervorragender Journalist. Für das, was du heute abgeliefert hast, würde er sich schämen. Ganz schlecht recherchiert. Ich versteh gar nicht, wie das passieren konnte!« Er strich mit der Handfläche das Haar hinter dem rechten Ohr glatt. »Mir fallen sofort ein paar Medien ein, wo du dich hättest informieren können. Es gibt zuhauf Links im Internet. Blogs von Betroffenen und Einrichtungen, die Hilfe anbieten. Wieso bist du so ideenlos?«

Konstantins Rechtfertigung fand nur in Gedanken statt. Alles nicht so einfach, wollte keiner mit mir reden. Die Internetadresse kenn ich noch gar nicht. Er blieb stumm und knetete nervös seine Fingerknöchel.

»Eine Chance hast du noch. Ich hoffe, du kriegst den Artikel hin. Wenn nicht, spielst du dem Gruber in die Hände. Überlass ihm nicht das Feld. Hier, ich habe mal ein paar Dinge aufgeschrieben, die Cybermobbing interessant erscheinen lassen. Daraus müsstest du was machen können. Wenn es nichts Handfestes gibt, stell Fragen. Wie läuft das im Internet? Du bist doch pfiffig und fantasievoll. Schau hinter die Kulissen. Frag nach Auswirkungen! Was macht das mit unseren Kindern? Suche Kontakt zu Lehrern, evtl. bei der Polizei. Schmück es aus, ist doch nicht so schwer.«

Ausschmücken? Konstantin wollte nicht fantasieren. Schaumschlägereien lagen ihm nicht. Er wollte recherchieren, Behauptungen auf den Grund zu gehen, hinterfragen, Fakten präsentieren. »Bis zur nächsten Ausgabe für die Jugendbeilage hast du etwas Brauchbares«, hörte sich Konstantin sagen. Woher nahm er nur plötzlich diese Sicherheit? Er fühlte sich alles andere als selbstbewusst. Ganz im Gegenteil: Die Selbstzweifel nagten beharrlich an ihm. Müller schien ihn zu durchschauen.

»Gib mir den Artikel vorab zum Prüfen«, forderte er Konstantin auf. »Du weißt, dass ich es gut mit dir meine.«

Nachdenklich blickte er ihm nach, als Konstantin den Raum verließ. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Ihn beschlich die dunkle Vorahnung, dass unruhige Zeiten mit den beiden Volontären bevorstanden.

2

André E. Gruber lächelte vor sich hin. Die Sitzung war gut gelaufen, er war zufrieden mit sich. Er schnippte eine Fluse von seiner Bügelfalte. Und die Gedanken, die er sich über diesen Konstantin gemacht hatte, waren grundlos. Was für eine Witzfigur! Den würde er ohne Probleme in die Tasche stecken, selbst ohne die Unterstützung seines Vaters. Den musste er nur überzeugen, sich einmal aus seinem Leben herauszuhalten. Es wurde Zeit erwachsen zu werden und ohne den Einfluss seines Vaters zurechtzukommen. Das schien ihm zu gelingen. Er würde sich mal über Mobbing im Internet informieren, war ja kein Fehler, über die Themen seines Gegners Bescheid zu wissen. Schaden konnte es jedenfalls nicht. Und was er an Wissen zu wenig hatte, würde er mit Reden kaschieren. Schwätzen konnte er. Er würde selbst einen Eskimo überzeugen, einen Kühlschrank zu kaufen.

Den Rest des Tages suchte er die anderen Kollegen auf. Informierte sich über ihre Aufgaben, fragte nach ihren Hobbys und Vorlieben. Erkundigte sich nach Familie und Haustieren. Er wusste, wie gerne die Menschen über sich selber reden wollten und er bekam Informationen, die ihm — irgendwann — nützen konnten. Kurz nach siebzehn Uhr, als sich die meisten auf den Weg nach Hause machten, stieg er in seinen Porsche und war zufrieden mit sich. Er lächelte selbstgefällig, als er an Konstantin, der sich auf einem alten Fahrrad abstrampelte, vorbei fuhr. Seine Sonnenbrille zurechtrückend hob er seinen Arm für einen Gruß.

Konstantin erkannte ihn zu spät und sah nur noch die Rücklichter des Sportwagens. Instinktiv hatte auch er den Arm gehoben. Jetzt kam er sich lächerlich vor, wie er auf seiner Rostlaube einem Porsche hinterherwinkte. Er war zu sehr mit sich und seinen Problemen beschäftigt gewesen. Auf der Suche nach etwas Positivem war er in Gedanken den Tag noch einmal durchgegangen. Ohne Erfolg. GAU, Katastrophe, Albtraum, Desaster und totales Fiasko fielen ihm nur ein.

Nach der misslungenen Besprechung und dem Zusammenstoß mit André Gruber hatte er die Bürostunden mit Routinearbeiten verbracht und aufgepasst, dass er dem Gruber aus dem Weg ging. Kaum zeigte seine Uhr Feierabend, verabschiedete er sich von den Kollegen und war weg.

Draußen empfing ihn eine drückende Schwüle. Es war Ende August, trotzdem erreichten die Temperaturen seit Tagen dreißig Grad. Der dunkle Himmel versprach kühlenden Regen — jeden Moment konnte es so weit sein.

Na, hoffentlich komme ich trocken nach Hause, dachte Konstantin, und trat weiter kräftig in die Pedale. Bis nach Hause waren es knapp fünf Kilometer, etwas weniger, wenn er die Verkehrsregeln missachtete und über die Oberstraße am Clemens-Sels-Museum und dann die Fußgängerzone entlang radelte. Er beobachtete ständig den wolkenverhangenen Himmel und hoffte, dass dieses Unwetter ihn heute verschonte. Er schaffte es gerade noch unter das Vordach der Haustür, als die ersten Tropfen auf den Asphalt fielen.

»Hallo mein Junge«, begrüßte ihn seine Mutter Sybille. Konstantin stellte sein Rad ab und verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn ihn seine Mutter an der Haustür begrüßte. Meist überfiel sie ihn mit Nichtigkeiten, die sie im Laufe des Tages erlebt hatte. Keine Post oder der Braten war angebrannt. Immer uninteressante Dinge. Mittlerweile platschen die Regentropfen aufs Pflaster und er lief an seiner Mutter vorbei ins Haus.

»Elli ist hier!«

Konstantin hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich zu ihr um. »Druckt ihr Computer mal wieder nicht?«, fragte er genervt.

Er mochte Elli, die Nachbarin, aber heute wollte er seine Ruhe haben. Das fehlte ihm nach diesem Tag noch: Blöde Fragen beantworten. Seit Elli diesen Laptop hatte, stand sie regelmäßig vor der Tür, wenn damit ein Problem auftauchte. Er sehnte sich nach Ruhe, einer Kleinigkeit zu essen, vielleicht einem Bier. Sich vom Fernsehprogramm berieseln zu lassen, erschien ihm eine traumhafte Abendbeschäftigung. Nicht denken, nicht grübeln. Und schon gar nicht nach dummen Anwendungsfehler einer Computeranalphabetin suchen.

»Verdreh nicht die Augen Konstantin, ihr geht es wirklich schlecht«. Seine Mutter blickte ihn bittend an. »Wir müssen sie aufbauen!«

»Ja, ja, hab es verstanden. Dass sie sich das mit dem Computer auch immer so zu Herzen nimmt ist albern. Sie weiß doch, dass ich ihr immer helfe.«

Er ging ins Wohnzimmer und erschrak. Elli saß zusammengesunken auf dem Sofa und blickte verängstigt auf, als er den Raum betrat. Ihr Gesicht glich einer Totenmaske, die dunklen Augenränder wirkten gespenstisch. Eingefallene Wangen, gerötete Augen zeigten, dass sie stundenlang geweint und zu wenig geschlafen hatte.

Auf Wiedersehen Bier und Fernseher — das sah nach einer langwierigen Geschichte aus. Was hatte sie bloß mit dem Computer angestellt? »Was ist denn mit dir los, Elli? Alles kein Beinbruch, glaub mir, kriegen wir alles hin mit dem blöden Ding. Es gibt nichts, was man nicht reparieren kann«, versuchte Konstantin sie aufzumuntern.

Seine Mutter war ihm gefolgt und mischte sich ein. »Es geht doch nicht um diesen blöden Computer.« Sie schüttelte den Kopf. »Klaus wird Vater!«

»Wie bitte?«, entfuhr es ihm. Er musste sich verhört haben, das konnte nicht wahr sein! Klaus war Ellis Ehemann, seit fast vier Jahrzehnten, war aber vor ein paar Monaten urplötzlich ausgezogen. Die Familien pflegten keine enge Freundschaft, aber eine gute Nachbarschaft. Mal ein gemeinsamer Grillabend oder ein Fußball-Länderspiel zusammen schauen. Man half sich, wenn es nötig war. Klaus´ Auszug war aus heiterem Himmel erfolgt. Ein lapidares Hab mich verliebt und zieh aus! Und weg war er.

Wochen später kam heraus, dass seine Neue eine junge Frau in Konstantins Alter war. Alle waren geschockt. Elli erlitt einen Zusammenbruch, Kreislauf und Nerven versagten. Konstantin erinnerte sich noch gut an das Gespräch, das Dr. Reisig, Hausarzt und Freund der Familie Degen, mit seiner Mutter führte. »Ich halte deine Nachbarin für suizidgefährdet, Sybille. Ein Klinikaufenthalt wäre angebracht, doch sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Gegen ihren Willen würde ich sie ungern einweisen. Wenn ich wüsste, dass du dich um sie kümmerst, würde mir das reichen.«

»Ach Hannes, natürlich, liebend gerne! Dass ich da nicht selbst darauf gekommen bin!«

Voller Elan und Begeisterung, hatte sich Sybille Degen ihrer Nachbarin angenommen. Konstantin wusste, was das bedeutete. Seine Mutter brauchte etwas Neues, was sie angehen konnte. Projekt Ehe, Projekt Sohn und dann Projekt Elisabeth Gärtner — Nachbarschaftshilfe.

Die Menschen in der Umgebung rühmten stets Sybilles Hilfsbereitschaft. Konstantin wunderte sich immer, dass noch niemand seine Mutter durchschaut und das fehlende Mitgefühl bemerkt hatte. Für seine Mutter stand nie das Helfen im Mittelpunkt, sondern immer sie selbst. Auch jetzt blitzten ihre Augen vor Unternehmenslust: eine neue Aufgabe.

Sie berührte Konstantins Arm, als wolle sie ihn festhalten und flüsterte ihm zu: »Die nächste Zeit werde ich mich um sie kümmern müssen, die Arme. Habe mir schon ein Programm für sie überlegt!«

Erschüttert über Klaus´ Vaterschaft und der Begeisterung seiner Mutter, setzte er sich neben Elli und drückte ihre Hand. Er wusste von ihrem Kinderwunsch, der sich nie erfüllt hatte. Wie alt war sie jetzt? Dreiundsechzig? Nein, vierundsechzig Jahre musste sie sein. Sie sprach immer von einem großen Fest, das sie zu ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag im nächsten Jahr feiern wollte.

»Es ist so ungerecht, oder?«, flüsterte sie. »Ich habe mir so sehr Kinder gewünscht. Selbst in den letzten Jahren habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben. Diese Zeitungsberichte von Spätgebärenden haben mir so viel Mut gemacht. Wie diese Frau in Bayern, die mit vierundsechzig noch ein Baby bekommen hat. Für Klaus war das nie so wichtig, eine Adoption kam für ihn nicht infrage. Hat immer gesagt, dass man das Schicksal nicht beeinflussen sollte. Hat mich sogar ausgeschimpft, als mir dieser Wunderheiler vor drei Jahren noch versprochen hat, dass er mir helfen könnte. Was man für einen Unsinn glaubt, wenn man verzweifelt ist! Kein Wunder, dass Klaus gegangen ist, als sich diese Schlange bei ihm eingeschleimt hat.«

Ihr Lachen klang schrill. »Kinder, vier fünf hätte ich gerne gehabt. Stell dir das Leben in unserem Haus vor! Aber ich bin eigennützig, ich wollte, dass ein Teil von mir in ihnen weiterlebt. Aber von mir bleibt nichts, nur von Klaus bleibt etwas zurück.«

Wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht. Konstantin überraschte sich selbst, als sich seine Hand wie von alleine hob, um ihre Tränen wegzuwischen.

»Du bist ein lieber Junge. Es war so schön, dich aufwachsen zu sehen. Manchmal habe ich mir vorgestellt, ich wäre deine Mutter.«

Erneut drückte er ihre Hand, weil ihm die Worte fehlten. Ich mir auch, dachte er. Elli war es gewesen, die mit ihm Laternen zu Sankt Martin gebastelt und ihm das Schwimmen beigebracht hatte. Seine Mutter war mit irgendwelchen Projekten beschäftigt gewesen.

Immer noch lag ihre Hand in seiner, als sie weitersprach. »Die Ärzte, die ich aufgesucht habe, waren sich alle einig: ›Nein, Frau Gärtner sie können keine Kinder bekommen, es tut uns leid!‹ Und die, die mir Hoffnung machten, haben sich dumm und dämlich verdient. Ach, was erzähle ich dir!« Elli zerknüllte das Taschentuch in ihren Händen. Eine fröhliche Melodie summend betrat Sybille das Zimmer.

»Jetzt schaut mal, was ich gebacken habe! Einen Trostkuchen, mit ganz viel Schokolade. Erst gestern habe ich in einer Frauenzeitschrift gelesen, wie gut Schokolade tut. Elli, du musst etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Sie klapperte mit den Tellern, dem Besteck, deckte den Tisch und summte weiter diese Melodie. In diesem Moment fühlte Konstantin eine ohnmächtige Wut auf seine Mutter.

»Es reicht!«, brüllte er. »Halt endlich Deinen Mund.« Sein Ausbruch überraschte selbst ihn. Für einen kleinen Moment hätte man die Fliege an der Wand atmen hören können, so still war es.

Sybille zeigte sich unbeeindruckt. »Das Wetter ist schuld. Da muss man ja aggressiv werden. Diese Schwüle ist unerträglich. Aber Essen hält Leib und Seele zusammen, das hat meine Großmutter schon immer gesagt.« Sie lächelte. »Leider ist sie viel zu früh gestorben, du hast sie gar nicht mehr kennengelernt, Konstantin.«

Sie deckte den Tisch, als hätte es seinen Ausbruch nie gegeben. Er schüttelte den Kopf, antwortete nicht. Seine Mutter erwartete keine Erwiderung. Hatte sie sich jemals über jemand anderen als Sybille Degen Gedanken gemacht? Er bezweifelte es stark. Seine Wut verflog, verwandelte sich in Resignation.

An Elli gewandt, sagte er: »Es tut mir so leid«. Etwas Geistreicheres fiel ihm nicht ein. Ob sie wieder an Suizid dachte? Würde Sybille ihr tatsächlich helfen können? Auf jeden Fall musste Dr. Reisig informiert werden. Mit ihm konnte man ehrlich reden, er wüsste, was zu tun wäre.

Das Telefonklingeln riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich gehe schon!«, rief seine Mutter und schob ihren Stuhl zur Seite. »Degen«, hörten sie im Esszimmer den Hörer abnehmen. »Ja, wirklich, wie schön. Das ist ja wunderbar.« Konstantin und Elli blickten sich an, wagten nicht zu sprechen.

»Selbstverständlich, wie schön. Natürlich, ich richte es ihm aus. Er wird sich freuen, dass du das tust!«

Wieder Stille.

»Konstantin wird begeistert sein, glaube mir, er ist der Beste. Du wirst es nicht bereuen, bis dann. Tschüsi.«

Die Hände in die Hände klatschend kam sie zurück. Sie wirkte aufgedreht wie ein Teenager. »Er kommt!«, rief sie und ihr Lächeln reichte von einem Ohrläppchen zum anderen. Ihre Wangen glänzten rot und ihre Augen leuchteten. »Das ist fantastisch, grandios, wunderbar, ohne Worte.«

»Wer kommt?«, fragte Konstantin verdutzt.

»Eugen, Eugen Hausmann kommt nach Neuss. Hatte ich das nicht erzählt?«

Konstantin konnte sich nicht erinnern. Er ignorierte häufig ihr Gerede, war es leid, den ständigen Wiederholungen ihres Geplappers zuzuhören. Das mit Eugen hatte er verpasst. Er kannte ihn, er war ein Jugendfreund seines Vaters und ein berühmter Pianist. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre seine Konzerte in der ganzen Welt verfolgt und Reportagen und Fotos aus den Zeitungen gesammelt. Seit ein paar Jahren trat er nicht mehr auf, hatte sich komplett aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Keine Interviews, keine Fotos, keine Skandale. Er lebte in Berlin und war, soweit Konstantin wusste, das letzte Mal zur Beerdigung seines Vaters in Neuss gewesen — vor einundzwanzig Jahren. Jetzt kam er nach Neuss? Was hatte das zu bedeuten?

»Wieso, wohin und wann?«, fragte er.

»Du fragst schon wie ein Reporter, mein Junge. Eugen zieht in die Seniorenresidenz am Jachthafen. Er hat die Nase voll von Berlin und möchte zurück in seine Geburtsstadt. ›Back to the roots‹ nennt man das doch, oder?«

Sybilles war völlig aus dem Häuschen. »Und ich habe noch andere Neuigkeiten!«, triumphierte sie.

Wusste ich doch, dass da noch mehr ist, dachte Konstantin.

»Er tut es. Er tut mir den Gefallen«, sagte sie.

»Was denn, Mutter? Jetzt sprich doch endlich mal in ganzen Sätzen!«

Sybille schluckte ein weiteres Mal. »Er bricht sein Gelübde und macht für den Sohn seines alten Freundes eine Ausnahme. Du darfst ihn interviewen. Das hast du mir zu verdanken. Ist das nicht phänomenal?«

Jetzt schluckte Konstantin. Das war tatsächlich eine Sensation. Der medienscheue Star traf sich generell nicht mit Journalisten, ein Gespräch mit ihm wäre ein Hauptgewinn. Er stellte sich die verblüfften Gesichter seiner Kollegen vor, wenn er ihnen von dieser Neuigkeit erzählte.

»Kommenden Dienstag, neun Uhr. Morgens natürlich. Am Jachthafen. Das schaffst du doch, oder? Aber natürlich. Du hast ja mich, ich wecke dich rechtzeitig. Ich habe in deinem Namen zugesagt.«

Trotz dieser guten Nachricht fühlte er erneut Wut in sich aufsteigen. Typisch, dachte er verstimmt. Ohne mit mir vorher zu reden, hat sie zugesagt. Über meinen Kopf entschieden und bestimmt. Wenn ich sie darauf anspreche, weiß sie garantiert nicht, was mein Problem ist. Sie versteht es einfach nicht, hat keinerlei Empathie.

Sybille schmiedete bereits Pläne, von denen sie Elli begeistert erzählte. »Elli, das wird toll. Du kennst Eugen gar nicht, nicht wahr? Ein toller Mann. Groß und unglaublich gut aussehend. Charismatisch. Er hat das bestimmte Etwas, wenn du weißt, was ich meine. Er wird dir gefallen! Ihr seid ja erst nach Richards Tod hierher gezogen. Damals war er hier, der Eugen. Hatte sogar für uns ein kleines Klavierkonzert gegeben. Ach, ein Gott an den Tasten! Ich stelle dich ihm vor, wir besuchen ihn am Jachthafen. Das wird wunderbar. Sicher wird er auch da spielen. Wie herrlich! Ein bisschen weltstädtisches Flair in Neuss, wie ich mich freue!«

Sybille plapperte unaufhörlich. Konstantin überhörte ihre Pläne, gedanklich war er damit beschäftigt, seiner Mutter zu erklären, dass er ihre Bevormundung satthatte. Bis ihn ein Schmerz aus seinen Tagträumen riss. Ellis eiskalte Hand lag noch immer in seiner und ihre Fingernägel krallten sich in sein Fleisch.

»Au!« stieß er aus, bevor er in Ellis Gesicht blickte. Sie sah noch blasser aus, was er vor ein paar Minuten nicht gedacht hatte, dass das möglich wäre. »Entschuldige«, rief er. »Wie dumm von uns, Elli. Wir reden von Interviews, Erfolg und dich quälen ganz andere Dinge. Es tut mir leid.« Er war wirklich betroffen. Wie gedankenlos!

Sie stand auf, versuchte ein Lächeln. Es misslang. Ihre Stimme klang gepresst. »Entschuldige, Konstantin. Das Leben geht weiter, nicht wahr? Alles ist gut, alles ist in Ordnung. Ich gehe jetzt nach Hause und leg mich hin. Danke.«

»Bist du sicher?«, fragte Konstantin. Sorgenvoll zog er die Stirn kraus und spürte eine tiefe Zuneigung. Er hatte Elli sehr gern, sogar mehr als seine Mutter. Er dachte an die Nachmittage, an denen sie ihm vorgelesen hatte, während Sybille mal wieder unterwegs war.

»Soll ich vielleicht mitkommen?«, fragt er.

Ihr plötzliches Lachen erschreckte ihn. Sie straffte ihre Schultern, warf den Kopf zurück und lachte, nicht fröhlich, sondern zynisch. »Nein, danke. Macht euch keine Sorgen. Ich werde das mit Klaus verkraften. Es ist nicht so schlimm wie damals, als er mich verlassen hatte. Eine Schlaftablette wird helfen. Danke für alles, ihr beiden.«

Bevor er etwas erwidern konnte, sprang seine Mutter an Ellis Seite. »Ich bringe dir nachher etwas zu essen rüber. Deinen Schlüssel habe ich ja, falls du noch schläfst, stelle ich dir einen Teller in die Küche und du kannst dir das Essen in der Mikrowelle warm machen, ja? Wir päppeln dich auf. Wäre ja gelacht, wenn wir das nicht wieder hinkriegen würden!«

»Das klingt wirklich gut. Wir sehen uns. Bis später vielleicht, sonst bis morgen!« Ohne sich noch einmal umzublicken, ging sie. Die Tür fiel ins Schloss.

Konstantin beobachtete seine Mutter, wie sie den Tisch abdeckte, den Kuchen in eine Frischhaltedose packte. Sie war die Einzige gewesen, die von dem Trostkuchen gegessen hatte. Er horchte in sich hinein, um festzustellen, was er für seine Mutter empfand. Unverständnis, Befremden — jeder Versuch sie zu verstehen, misslang.

»Ich habe ihm gesagt, dass du in die Fußstapfen deines Vaters getreten bist. Und ein genauso guter, wenn nicht sogar ein besserer Journalist geworden bist. Dann hat er es ganz von alleine angeboten. Er gibt sonst keine Interviews, wie du sicher weißt. Er hat noch gefragt, wie du jetzt aussiehst, ob du deinem Vater ähnlich bist. Er hat dich das letzte Mal als kleinen Jungen gesehen und kann nicht wissen, dass es zwischen dir und Richard keine Ähnlichkeit gibt.«

Sybille holte tief Luft, um weiter zu reden, doch Konstantin unterbrach ihren Redefluss mit einem kräftigen Faustschlag auf den Tisch.

»Schluss! Ende! Aus! Hör endlich auf damit!«, rief er aus. »du bist unerträglich. Es gibt auch noch anderes im Leben als Essen und Interviews.«

»Was ist denn los mit dir?«

Er konnte nicht antworten. Zu viele Gedanken auf einmal. Aber sie gab sich selbst eine Erklärung für seinen Ausbruch.

»Du bist überarbeitet, überreizt, kein Wunder. Vielleicht solltest du dich auch hinlegen?«

Plötzlich überkam Konstantin eine bleierne Müdigkeit. Es war sinnlos. Er wollte seiner Mutter nicht wieder etwas von Emotionen erklären, was sie sowieso nicht verstand. Resignierend, mit leiser Stimme sagte er: »Ruf Dr. Reisig an, damit er mal nach Elli schaut. Das letzte Mal hatte er ihr auch wunderbar helfen können.«

»Oh, ja. Eine gute Idee. Du hast natürlich recht. Wie dumm von mir, wie konnte ich nur so gedankenlos sein! Meinst du, ich sollte noch einmal kurz zu ihr gehen? Ich werde mich entschuldigen. Und Dr. Reisig informieren, aber eigentlich wirkte sie doch ziemlich gefasst, oder? Was möchtest du denn essen? Ich könnte dir ein paar Kartoffeln kochen und außerdem habe ich noch ein Schnitzel übrig. Oder lieber einen Salat bei der Hitze?«

Konstantin fehlten die Worte. Warum war seine Mutter so? War sie schon immer so gewesen? Das konnte nicht sein, unmöglich, dass sich sein Vater in diese gefühlskalte Frau verliebt hatte! Er drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer.

Erschöpft legte er sich aufs Bett und sehnte sich nach einer von Ellis Tabletten, um alles zu vergessen. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Lag seine berufliche Zukunft bei der Zeitung? Warum fiel es ihm so schwer, sich über die Chance zu diesem Volontariat zu freuen? Nach seinem Abitur hatte er rumgelungert, seinen Zivildienst absolviert und war dann völlig ahnungslos gewesen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Seine Mutter fand, dass Journalist der richtige Beruf für ihn wäre und hatte ihm ein Jahren-Volontariat bei der Niederrheinischen Morgenpost organisiert. Eigentlich hätte er glücklich und dankbar sein müssen. Dennoch fühlte er nur Trotz. Sie hatte mal wieder über ihn bestimmt, ohne seine Wünsche zu berücksichtigen. Manchmal fantasierte er von einer Karriere als Polizist, Kommissar. Daran fände er Gefallen. Bösewichte jagen, undurchsichtige Todesfälle aufklären. Neuss war zwar nicht New York, aber ganz so großstädtisch musste es ja nicht sein. Vielleicht könnte er mit Eugen Hausmann darüber reden. Ihm als Außenstehendem fiel möglicherweise etwas ein, wie er seine Situation ändern könne. Vielleicht wäre erst mal eine eigene Wohnung in der Nähe ein guter Anfang. Ein bisschen jobben, kellnern oder so.

Sybille hätte immer noch Elli und Eugen, um die sie sich kümmern konnte. Mit Eugen könnte sie stundenlang über die Vergangenheit und seinen Vater reden. Konstantin seufzte. Wenn seine Mutter wenigstens verstände, dass er nicht wie sein Vater war. Richard Degen war ein großer, stämmiger, muskulöser dunkelhaariger Mann gewesen, der allein mit seinem Auftreten Autorität versprüht hatte. Seine Stimme, dunkel und kraftvoll, hatte vertrauensvoll gewirkt. Konstantins Aussehen hingegen war nichtssagend und unauffällig: blondes, fast weißes, dünnes Haar, einen durchsichtigen Teint, schmächtige Figur. Keine Muskeln, sehr große Hände und Füße. Im Verhältnis zu seinem Oberkörper wirkten die Arme zu lang und meist wussten sie nicht, was sie packen sollten und schlackerten nur hin und her. Trotz allem hielt seine Mutter ihn für ein Genie, was seine Kollegen und sein Chef ganz anders sahen. Kommissar oder Reporter – was für Luftschlösser er bauen konnte! Er war ein Nichts, ein Niemand. Unsicher, unsichtbar, und wusste nicht, wie er das ändern konnte. Vielleicht lag seine Chance in diesem Interview?

Sein Kopf fiel aufs Kissen und er begann von dem neuen Neusser Starreporter zu träumen, ein schüchterner junger Mann mit blassem Teint.

3

Juli 1960

Mutter beobachtet mich. Ständig. Sie hat nicht ein Wort über den Abend verloren. Sie spricht ohnehin nur das Nötigste mit mir. Sie fragt nicht, was mit mir los ist, wenn ich früh zu Bett gehe. Manchmal ertappe ich sie, wie sie mich betrachtet und den Kopf schüttelt.

Sie kocht und wäscht, benimmt sich eigentlich wie immer. Nur dass sie noch schweigsamer ist und ihr Mund noch verkniffener wirkt.

So gerne würde ich ihr von ihm erzählen. Dass er Gründe für sein Benehmen hatte. Sicherlich hat er so viel zu tun, deshalb hat er sich nicht gemeldet und sich erkundigt, wie es mir geht. Seit ich morgens nichts mehr bei mir behalten kann, fragt Mutter nach Rücken- oder Bauchschmerzen, und sogar, ob mir der Busen schmerzt. Was soll da wehtun, ist ja nicht viel da. Dann bringt sie mich zu dieser Frau. Sagt nicht warum, und als ich nachfrage, werde ich angeraunzt.

»Halt den Mund. So ist es das Beste.« In dem Zimmer stinkt es, auch die Frau riecht ungewaschen, trägt einen schmutzigen Kittel. Ich verstehe nicht, über was die beiden reden, es ist mir auch egal. Ich muss mich auf eine Liege legen und sie drückt auf meinem Bauch herum. Es ist unangenehm und tut weh, doch eigentlich will ich nur, dass mich alle in Ruhe lassen. Mir ist schon wieder schlecht.

Die Stimme meiner Mutter klingt heiser. »Nächste Woche, dass ist gut. So schnell wie möglich. Wieviel?« Ich verstehe die schreckliche Frau nicht, doch für meine Mutter scheint alles klar zu sein. Schreckliche Frau lacht laut und das jagt mir einen Schauer über den Rücken, weil es so böse klingt.

»Einverstanden«, höre ich Mutter sagen und dann gehen wir nach Hause. Ich habe aufgegeben, irgendetwas aus ihr herauszubekommen und lasse mich von ihr führen.

»Wage es nicht, darüber zu reden! Kein Wort zu Niemand!«, sagt sie wieder und wieder, wie ein Mantra.

Wir laufen am Quirinus-Münster vorbei und sie bleibt einen Moment unentschlossen stehen. Sie geht hinein und zieht mich mit. Vor der Heiligen Mutter Gottes kniet sie nieder und betet. Um meiner Mutter zu gefallen, tue ich es ihr nach. Sie bleibt stumm, verzieht nur das Gesicht. Kann ich denn nichts richtig machen?

Eine Woche später nimmt sie mich an die Hand. Ermahnt mich wieder: »Kein Wort, zu niemandem!«

Wir gehen zu der stinkenden Frau. Niemals hätte ich gedacht, dass mir meine Mutter das antun könnte. Die Schmerzen sind schlimm, schlimmer als alles was ich je erlebt habe. Niemand tröstet mich, niemand ist für mich da. Warum meldet er sich nicht? Er kann nicht so böse sein, er hat Gründe, er muss gute Gründe haben.

»Stell dich nicht so an, du hast doch deinen Spaß gehabt!«, schimpft die dreckige Frau und lacht höhnisch.

Was passiert mit mir? Ich habe keine Ahnung. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich etwas ganz Schlimmes getan haben muss. Ich, ich bin die, die schuldig ist. Nicht die Anderen, nicht er, nicht die Frau. Ganz allein ich und das hier ist meine Strafe, meine Buße.

Ich weiß nicht, wie wir nach Hause gekommen sind. Ich blute weiter, es hört gar nicht mehr auf. Und zum ersten Mal schöpfe ich Hoffnung, vielleicht sterbe ich endlich und alles hat ein Ende. Mein Körper kämpft seit Tagen, ein Gefühl als würde ich innerlich brennen. Der Arzt ist besorgt. Wenigstens einer, denke ich. Die Blicke, die er meiner Mutter zuwirft, sind voller Vorwürfe. Er traut sich was! Mutter wirkt erschrocken, zum ersten Mal sehe ich sie ängstlich und nicht mehr wütend..

»Wir müssen das Fieber senken, es ist ernst, sehr ernst«, höre ich den Arzt sagen.

4

»Seit wann weißt du es?«

Gerlinde Gruber schaute ihren Mann verzweifelt an. Josef Gruber blieb mit dem Rücken zu ihr stehen und schaute aus dem Fenster.

»Vor einer Stunde rief mich der Sekretär an. Es ist final. Er weiß auch nicht, was er damit bezweckt. Dieses sentimentale Gefasel über Heimatgefühle glaubt er auch nicht. Dahinter muss etwas anderes stecken. Wir wissen ja, dass er nichts ohne Hintergedanken plant.«

»Ich habe Angst. Was machen wir, wenn er ihn aufsucht? Wenn er nur deshalb nach Neuss kommt?«

»Das ist nicht die Frage: Er wird auf jeden Fall Kontakt mit ihm aufnehmen. Wir müssen es ihm sagen. Er ist ein guter, intelligenter Junge und wird es verkraften.«

»Muss er alles wissen?« Gerlindes Stimme wurde immer leiser. »Ich habe gedacht, ich brauche mich nicht mehr erinnern. Jetzt ist alles wieder da, als wäre es gestern gewesen.« Sie schluchzte.

»Nein. Die reinen Fakten reichen.«

»Ich kann nicht verstehen, warum das Schicksal so grausam ist. Ich sehe sie wieder vor mir. Dieses Gesicht. Mein Gott, ich habe sie so gerne gehabt! So viel Leben war in ihr und plötzlich …« Sie machte eine Pause. »Das hatte sie nicht verdient. Dieses Schwein!«, brach es aus ihr heraus.

»Gerlinde, bitte. Lass nicht zu, dass dich die Vergangenheit einholt. Das hier und jetzt ist wichtig. Nicht, was war. Schau nach vorne. Alles andere hilft uns nicht weiter.«

»Ich habe ihn immer geliebt. Und tue es noch. Was machen wir denn, wenn er sich gegen uns wendet? Wenn er nichts mehr von uns wissen will? Soll denn alles umsonst gewesen sein?« Sie brach erneut in Tränen aus.

Josef Gruber fiel es schwer, seine Frau weinen zu sehen. Ihr gemeinsames Leben lang hatte er sie vor allen Schwierigkeiten bewahrt. Jetzt war er machtlos. Auch er hatte Angst vor dem, was vor ihnen lag. Warum konnte die Vergangenheit nicht ruhen? Er nahm einen großen Schluck und wiederholte noch einmal: »Er ist ein guter Junge, er liebt uns und hat uns viel zu verdanken. Das weiß er. Alles wird gut.«

Gerlinde sah ihn herausfordernd an. »Und wenn ich ihn aufsuche? Vielleicht ändert er seine Pläne. Ein Versuch wäre es doch wert, oder?«

»Du kennst ihn, das würde ihn nicht abhalten, sein Vorhaben durchsetzen. Ganz im Gegenteil.« Er trat einen Schritt auf seine Frau und nahm ihren Kopf in seine Hände.

»Hab Vertrauen, alles wird gut. Gerlinde.«

»Hoffentlich hast du recht. Ich habe so große Angst.«

5

An diesem Morgen herrschte nur ein Thema die Redaktionssitzung: Eugen Hausmann hatte die Stadt Neuss für seinen Lebensabend auserkoren! Chefredakteur Müller schlug mit seiner Faust auf den Schreibtisch: »Das wäre es: Die Niederrheinische Morgenpost bringt ein Exklusivinterview mit Eugen Hausmann! Unser Blatt wäre in aller Munde! Doch der Manager blockt jede Anfrage ab.«

Konstantin räusperte sich, erst leise, dann doch etwas lauter. Los, mach schon, das ist deine Chance, feuerte er sich an. Er wischte sich die Handflächen an seiner Jeans ab und meldete sich zu Wort: »Ich könnte ihn interviewen!« Niemand nahm ihn wahr. Erneut, diesmal lauter, rief er: »Ich kann ihn interviewen!«

Es wurde still. Müller schaute ihn entgeistert an. Er war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Was sagst du da?«

»Ich kenne Eugen Hausmann, er hat mir, eigentlich hat er meiner Mutter, also, sie hat es …«

Konstantin verlor den Faden, er begann zu stottern. Es machte ihn nervös, dass alle ihn anstarrten. Reiß dich zusammen, schimpfte er mit sich und tatsächlich formulierte er in normaler Lautstärke den Satz: »Eugen Hausmann ist bereit, sich von mir interviewen zu lassen« heraus.

Die eintretende Stille war unheimlich. Alle Augen lagen auf ihm und ihm wurde heiß. Schon wieder werde ich rot, dachte er und stammelte weiter. »Er war ein Jugendfreund meines Vaters und hat sich bei meiner Mutter gemeldet. Er wäre bereit mir, aber nur mir allein, ein Interview zu geben.«

»Konstantin, du Goldstück, das ist ja sensationell!« Müller kam näher und tätschelte wohlwollend mit seiner rechten Hand Konstantins Schulter. »Großartig, wann?«

»Morgen früh, um neun, würde ihm gut passen«, antwortete Konstantin stolz.

Für den Rest der Sitzung sonnte sich Konstantin in dem Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Die neidvollen Blicke der Kollegen waren Balsam auf seiner verwundeten Seele. Das Desaster mit dem Artikel über Cybermobbing war vergessen. Er träumte vor sich hin und sah sich bereits als der zukünftige Star der Zeitung. Müller sprach das Schlusswort, schaute jedem in die Augen und entließ die Anwesenden an ihre Schreibtische. Er wandte sich noch einmal Konstantin zu. »In mein Büro!«

Einige Kollegen, die den Raum verließen, schlugen ihm anerkennend auf den Rücken. Selbst André E. Gruber zwang sich zu einem Lächeln und reichte ihm die Hand. »Ich wünsche viel Erfolg«, sagte er, bevor er den Raum verließ.

Das Gefühl war überwältigend. Vergessen waren Zweifel und Minderwertigkeitsgefühle. Zum ersten Mal fühlte sich Konstantin den anderen Kollegen gegenüber ebenbürtig. Beschwingt ging er in Müllers Büro.

»Konstantin, das ist gut. Das ist besser als gut! Fein. Das ist deine Chance, dich gegen den Gruber durchzusetzen. Das Interview bringt dich ganz weit nach vorne. Komm wir gehen noch ein paar wichtige Punkte durch, wie sieht es mit einem Fotografen aus? Ich schlage Guido vor.«

Auf dem Weg zurück an den Schreibtisch dankte Konstantin im Stillen, wenn auch widerwillig, seiner Mutter.

6

Eugen Hausmann stand an der geöffneten Terrassentür, blies den Rauch genüsslich in den Park und beglückwünschte sich zu der Entscheidung, nach Neuss zu ziehen.

»Fantastisch, hier kann man es aushalten«, murmelte er, während er an der Zigarre zog. Rauchen war streng verboten in der Seniorenresidenz ›Schöne Aussicht‹, aber an solche Vorschriften hielt er sich nicht. Gemäß seinem Leitspruch: Jeder ist käuflich, es kommt nur auf den Preis an, ließ er sich niemals von Regeln einengen.

Eine gute Idee hierher zu ziehen! Berlin war ihm in letzter Zeit zu laut und unruhig geworden, trotzdem empfand er sein Leben eintönig. Vor neun Jahren hatte er sich zurückgezogen, gab weder Konzerte noch Interviews. Er hasste alle Journalisten, doch auf diesen Konstantin war er gespannt. Ob er Richard glich?

Da war immer noch diese Rechnung offen, vielleicht könnte er sich am Sohn rächen. Väter und Söhne, dachte er plötzlich. Der Hauptgrund, warum er hier war. Sein Leben versprach, spannend zu werden. Das Geld hatte er heute persönlich von der Bank geholt, sein Manager Spranger musste nicht alles mitbekommen.

Und dieser Detektiv machte am Telefon einen guten Eindruck, hatte schon einiges herausgefunden. Letztendlich war der Vaterschaftstest ausschlaggebend. Es gab da ein privates Institut, was nicht ganz legal war, jedoch schaffte auch hier sein Geld andere Regeln.

Wenn es tatsächlich wahr wäre, und alle Anzeichen sprachen dafür, müsste er einiges überdenken. Auch das Testament. Spranger ging davon aus, dass er einen dicken Batzen von Hausmanns Vermögen erben würde - nach dreiundzwanzig Jahren Eugen-Hausmann-Zugehörigkeit hatte sich der Sekretär das auch verdient.

»Und wenn ich es jetzt ändere?« Einem Impuls folgend ging er zum Schreibtisch und schaute, ob Briefpapier vorhanden war. Er malte sich für einen Moment das Gesicht von Walter Spranger aus, wenn er feststellte, dass das von ihm aufgesetzte Testament, durch ein neues ersetzt worden war. Was für ein Spaß! Nur schade, dass er das entgeisterte Gesicht nicht sehen könnte, wenn er tot war. Aus der Laune heraus setzte er sich an das antike Möbelstück und öffnete die Packung Mozartkugeln, die darauf lag.

Nette Willkommensgeste vom Haus, dachte Eugen.

Doch wie begann man mit seinem Testament? Mein Letzter Wille! »Keine Frau mit Brille«, murmelte er und kicherte albern. »Ich, Eugen Hausmann, im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten …« Formulierte man das so? Oder doch geistigen Kräfte? »Hinterlasse mein gesamtes Vermögen …«

Vielleicht sollte er es besser aufteilen. Er schob sich eine weitere Praline in den Mund. »Vermache meinem langjährigen Sekretär Walter Spranger fünfzigtausend Euro.«

Das reicht, dachte Eugen. Für den Rest seiner Spielschulden müsste er selbst aufkommen.

»Des Weiteren bekommt Frau Gabriele Küsters ebenfalls fünfzigtausend Euro für ihre wunderbare Seniorenresidenz. Den Rest meines Vermögens vermache ich ...«

Er zögerte. Meinem Sohn zu schreiben klang für ihn fremd. Seltsam. Waren das Vatergefühle? Nein, definitiv nicht. Er schüttelte den Kopf und schrieb nur Vor- und Nachname seines vermeintlichen Sohnes nieder. Aber er überlegte voller Spannung an den Konsequenzen, wenn das Ergebnis positiv war. Nicht auszudenken, dieser Skandal in Neuss! Er rieb sich die Hände und freute sich auf die kommenden aufregenden Wochen. Er aß noch eine der süßen Kugeln.

Sein Testament offen liegen zu lassen, damit es sein Manager am nächsten Morgen fand, hielt er für eine gute Idee. Er stellte sich Sprangers Gesicht vor und lachte lauft auf. Schadenfreude war doch die schönste Freude. Jedoch war es wichtig, zunächst das Ergebnis des Vaterschaftstests abzuwarten. Er brauchte Beweise. Und dann war er gespannt, was das für ein Kerl war, der sein Sohn sein sollte.

Er griff nach einer weiteren Praline, die er genüsslich in den Mund schob, und lehnte sich zufrieden zurück.

In den frühen Morgenstunden weckten ihn heftige Bauchkrämpfe. Er hatte mit den Süßigkeiten übertrieben und viel zu viel gegessen. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Hektisch drückte er die Notrufklingel für die Schwester. Dafür war sie da, sollte sie ihm doch eine Tablette geben.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Reaktionen seines Körpers beunruhigten ihn. Statt besser wurde es schlimmer. Das war keine harmlose Magenverstimmung. Schweißausbrüche und Krämpfe, die nicht enden wollten. Dazu diese bestialischen Schmerzen. Was war los mit ihm? Und warum kam diese verdammte Schwester nicht? Er brüllte. Seine Eingeweide brannten. In seinem Innern kämpfte ein Inferno. Er übergab sich, war unfähig, aufzustehen. Das Wasserglas stand in Reichweite, nur eine Armlänge entfernt. Durst meldete ihm sein Hirn, befahl zu trinken, doch er konnte sich nicht bewegen. Sein Schließmuskel versagte den Dienst. Ich liege in meiner eigenen Scheiße, dachte er nur, ohne etwas daran ändern zu können.

Er nahm den Geruch wahr, ekelte sich. Die Vorstellung, dass ihn die Schwester so fand, war erniedrigend. Das dufte niemand wissen, sie würde schweigen, dafür würde er sorgen. Wo blieb sie denn?

Endlich vernahm er ein Geräusch. Hilfe nahte. Was machte die blöde Kuh denn? Wieso schrie sie nur und verschwand dann wieder? Sie sollte ihm endlich was geben, damit das aufhörte. Aber es nahm kein Ende. Ein neuer Krampf nahm ihm den Atem und er verlor er das Bewusstsein.

7

»Es sieht wieder nach Regen aus, nimm den Schirm.« Sybille stand an der Haustür, um ihn zu verabschieden. Sie geizte nicht mit Tipps und Ratschlägen. »Bestell Eugen einen schönen Gruß! Ich werde ihn besuchen kommen, sobald er sich eingelebt hat.«

Sie wirkte lächerlich in ihrem Frotteemorgenmantel aus den siebziger Jahren, dem Haarnetz und der übergroßen Brille. In der Sackgasse, in der sie wohnten, verirrte sich kaum jemand. Niemand sah sie, außer vielleicht Elli, wenn sie zufällig aus dem Fenster schaute. Doch die stand nicht vor neun Uhr auf. Sybille winkte noch einmal, bevor sie wieder im Haus verschwand, um sich dem Haushalt zu widmen.

Sie ist meine Mutter und meint es bestimmt gut, dachte er. Aber ich muss da raus!

Er winkte zurück, obwohl sie nicht mehr zu sehen war und hoffte, dass das Auto ansprang. Sybille hatte es im aufgedrängt. Mit seinem Fahrrad könne er unmöglich zu Hausmann fahren, meinte sie. Er wusste, wie sehr sie den alten Mini liebte und dass es sie Überwindung kostete, ihn selbst ihrem Sohn zu überlassen. Sein Vater hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt, es war das letzte Geschenk vor seinem Tod gewesen.

Seitdem stand der Wagen meist in der Garage, sie hatte ihn nie gefahren, ab und zu durfte Konstantin ihn mal benutzen. Eigentlich fuhr er lieber mit seinem Rennrad. Aber es gefiel ihm, wenn er als Riese in dem kleinen grünen Wagen, mit weißen Ralleystreifen, durch Neuss fuhr, und die Menschen ihm zulächelten, manche sogar winkten.

Mit großer Sorgfalt hatte er seine Kleidung ausgewählt. Stoffhose und Poloshirt vermittelten einen sportlichen Charakter und wirkten etwas gepflegter als seine sonstige Kluft. Selbst bei den Turnschuhen hatte er sich für eine Ledervariante entschieden.

Nur ein leises Röcheln des Motors war zu hören, als er den Schlüssel drehte, das dann erstarb. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Er blickte zur Uhr, die Zeit reichte keinesfalls um auf das Fahrrad oder den Bus umzusteigen. Beim zweiten Versuch röchelte der Motor erneut, bis er ein sattes Rumoren von sich gab.

»Na bitte«, entfuhr es ihm und er wischte sich über die Stirn. Hoffentlich verlief jetzt alles nach Plan.

Seine Mutter hatte ihn vor Hausmann gewarnt. »Dein Vater hat immer behauptet, dass Eugen ein sehr, sehr pünktlicher Mensch ist. Der erwartet das auch von seinen Mitmenschen.« Er durfte es nicht vermasseln. Das Interview war die Chance für seinen Durchbruch!

Er fuhr durch die schmalen Seitenstraßen und folgte den Umleitungsschildern. Wann die hier wohl fertig werden, dachte er genervt. Wenn nichts Unvorhergesehenes — Unfall, Panne oder ein Selbstmörder, der sich vor sein Auto werfen würde — geschähe, käme er rechtzeitig am Sporthafen an, um sich mit Guido abzustimmen.

Konstantins Handflächen waren feucht vor Aufregung und Neugier auf den Mann, der mit seinem Vater bekannt war. Was er bisher über Eugen herausgefunden hatte, entsprach alles andere als einem sympathischen Menschen, mit dem man gerne befreundet war. Umso mehr wunderte es ihn, dass sein Vater mit ihm eine innige Freundschaft verbunden haben sollte. Konstantin seufzte. Er hatte sich viel vorgenommen mit dieser Aufgabe, schob jedoch die düsteren Gedanken zur Seite. Jetzt galt es, sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren und einen guten Job zu machen. Positiv denken!

Er blickte wieder zur Uhr. Noch zwanzig Minuten, alles war gut. Er fuhr auf die Rheintorstraße, am Hessentordamm und Europadamm vorbei. Als er eine Konstantinstraße entdeckte, lächelte er. Wie sympathisch: eine Spielstraße mit gepflegten Reihenhäusern. Bei Gelegenheit würde er hier mal halten müssen. Nach dreihundert Metern bog er nach links, in die Zielstraße.

Er suchte die Parkplätze des Seniorenheims. Ein Hinweisschild lenkte ihn auf einen schmalen Schotterweg, der zur Toreinfahrt führte. Er stellte seinen Mini in die einzig freie Parklücke, öffnete behutsam die Wagentür und stieg vorsichtig aus. Auf keinen Fall wollte er den Oldtimer links neben ihm beschädigen. Er pfiff anerkennend, als er einen Blick ins Innere der Pagode warf, die so neu wirkte, als wäre sie erst gestern aus einem Autohaus gerollt. Die Marke des rechts stehenden Sportwagens kannte er nicht, doch die vier Auspuffrohre am Heck ließen viel Kraft vermuten. Guido Mann, der Fotograf, wartete bereits. Sie gingen zum Eingang, immer wieder die Augen bewundernd nach rechts und links schwenkend.

»Das ist mal ´ne andere Liga, was? So viel Kohle kann doch kein Mensch auf legale Art und Weise verdienen, um sich diesen Lebensabend leisten zu können, oder?«

»Wie immer sprühst du vor Zynismus!«

Beide lachten leise, eingeschüchtert durch das imposante Gebäude. Das Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert hatte ein Fabrikant gebaut und nach seinem Tod seiner Enkelin vererbt. Gabriele Küsters hatte sich gegen sämtliche Zweifler und Schwarzseher durchgesetzt, ihre Pläne verwirklicht und die Villa mit viel Liebe zum Detail in eine Seniorenresidenz umbauen lassen. Nichts erinnerte an ein Altenheim, eher an ein Fünf-Sterne-Luxus-Hotel. Konstantin ging hocherhobenen Hauptes zur Rezeption und fragte freundlich nach Herrn Hausmann.

Die Empfangsdame, Emilia Herkenrath las er auf dem Namensschild aus Messing, musterte ihn von oben bis unten. Konstantin fühlte, dass er hier trotz Stoffhose und Poloshirt immer noch nicht standesgemäß gekleidet war. Vielleicht sollte er sich doch mal einen Anzug zulegen. So einen wie der Gruber trug, der war schick. Wer weiß, dachte er, wenn das heute gut läuft, dann gibt es vielleicht einen Bonus, von dem ich mir einen Anzug leisten kann.

»Nehmen Sie Platz, ich werde Frau Küsters Bescheid geben«, befahl Frau Herkenrath mit nasaler Stimme.

Kaum saß er in einem der weichen Ledersessel ging er in Gedanken noch einmal seine Fragen durch, die er Hausmann stellen wollte. Er war gespannt, was für ein Mensch der Pianist tatsächlich war. Die Jugendfotos, die seine Mutter ihm gegeben hatte, zeigten einen großen, gut aussehenden Mann. Ein bisschen wie Clark Gable. Wie er wohl heute aussah? Grauhaarig? Es gab keine aktuellen Fotos, trotz seines Bekanntheitsgrades hatte er es geschafft, zurückgezogen zu leben.

Wieder schweiften Konstantins Gedanken zu seinen Kollegen und seinem Job. Gab ihm dieses Interview den nötigen Rückhalt im Team? Wobei, von Team konnte keine Rede sein, mehr ein Haifischbecken. Erst recht seit der Ankunft von diesem Schnösel! André E. Gruber. Wofür wohl das E. stand? Ekel oder eitler Angeber wären passend.

Nervös legte er sein Diktafon auf den Glastisch vor sich. Die Uhr zeigte bereits zehn Minuten nach neun, und weder Herr Hausmann noch Frau Küsters waren zu sehen. Das wollte nicht zu Mutters Aussage passen, dass Hausmann ein Pünktlichkeitsfanatiker war. War etwas geschehen? Wo blieb denn die Leiterin, Frau Küsters? Nervös stand er auf und schritt vor dem Panoramafenster, das ihm einen wundervollen Blick auf den Rhein und einen rauchenden Guido bot, auf und ab.

»Herr Degen?« Eine attraktive Mittvierzigerin betrat mit ernstem Gesichtsausdruck die Eingangshalle. Sie reichte ihm die Hand.

»Ich bin Gabriele Küsters. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das Treffen mit Herrn Hausmann heute ausfallen muss. Er wurde in der Nacht überraschend ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Ins Krankenhaus? So plötzlich? Wieso? Er war doch kerngesund, soweit ich weiß. Meine Mutter hat mit ihm gesprochen, sie ist eine sehr gute Bekannte von Herrn Hausmann.« Er betonte den letzten Satz, als ob es helfen könnte.

»Es kam für uns alle sehr überraschend. Plötzlicher Schwächeanfall. Mehr kann ich Ihnen im Moment auch nicht sagen.«

Fassungslos blickte Konstantin in das Gesicht der Frau und suchte nach Anzeichen eines Scherzes. Es konnte sich nur um ein Versehen handeln.

»Sobald ich mehr weiß, kann ich mich ja bei Ihnen in der Redaktion melden. Sie kommen doch von der Morgenpost? Lassen Sie mir Ihre Karte da. Ich kenne einige Kollegen von Ihnen. Ist Herr Müller noch da?« Während sie sich in Smalltalk übte, legte sie ihre Hand auf seine Schultern und führte ihn zielstrebig nach draußen.

Guido war gerade im Begriff seinen Zigarettenfilter im Kies zu begraben, was ihm einen tadelnden Blick von Frau Küsters einbrachte. »Kein Interview?«, fragte er.

Konstantin schüttelte den Kopf. »Er liegt im Krankenhaus, ein plötzlicher Schwächeanfall«, antwortete er monoton.

»Na dann. Das war´s. Fahr dann mal wieder.« Guido lächelte verlegen. »Kann ja immer passieren, bei den alten Leutchen. Hab noch einen anderen Termin, als Freiberufler muss man sehen, wo man bleibt! Tschüss, bis die Tage vielleicht, mach´s gut, Konstantin.« Er schlurfte zu seinem Auto, die Kamera baumelte über seine Schulter.

Konstantin wandte sich Frau Küsters zu. »So ein Pech. Geht es ihm sehr schlecht? Glauben Sie, das Interview kann zeitnah wiederholt werden? Und wohin haben sie ihn gebracht? Ins Lukas?«

Frau Küsters nickte nachsichtig. »Ja, ins Lukaskrankenhaus. Es tut mir wirklich leid für Sie, aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben!«

Konstantin ging zu seinem Wagen und schüttelte immer noch ungläubig seinen Kopf. Als er sein Handy aus der Jackentasche nahm, um Müller Bescheid zu geben, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

»Konstantin? Konstantin Degen?« Überrascht blickte er in ein hübsches, aber fremdes Gesicht.

»Du bist doch Konstantin?« Eine gut aussehende Frau in einem weißen Kittel stand vor ihm, er schätzte sie so alt wie sich selbst. Blaue Augen blickten ihn fragend an. Wer war sie? Woher wusste sie seinen Namen?

»Ich«, stotterte er. Diese Augen hatte er schon mal gesehen, nur wo? »Hallo«. Er überlegte noch immer krampfhaft, wer sie sein könnte. »Ich bin Konstantin Degen. Es tut mir leid, kennen wir uns?«

»Du weißt nicht, wer ich bin, oder? Es ist ein paar Jahre her. Sandra, Sandra Becker. Kannst du dich nicht erinnern? Quirinus-Gymnasium? In der achten Klasse bin ich zu euch gestoßen. Die Neue.«

»Sandra? Sandra Becker?« Er überlegte einen Moment, sah sich als Vierzehnjährigen am Schultisch sitzen und tatsächlich blitzten auch andere Erinnerungen in ihm auf. »Ja, natürlich, Sandra!« Er lächelte, als er an den Tag dachte, an dem die Neue einfach so mit dem Klassenlehrer ins Zimmer kam. Alle Jungs waren sofort in sie verliebt, während die Mädchen sie von Anfang an nicht leiden konnten. Sie war so hübsch, wirkte bereits damals erwachsen und ließ die anderen Mädchen wie Kinder erscheinen.

Dass sie sich an ihn nach all den Jahren erinnerte. Und ihm ausgerechnet hier über den Weg lief. Seltsamer Zufall. Wobei er nicht an Zufälle glaubte.

»Ja, so doll habe ich mich doch nicht verändert, oder? Was machst du hier? Ich nehme nicht an, dass du hier einziehen willst. Und deine Mutter ist doch sicher auch noch fit.« Konstantin brauchte kein Wort heraus, betrachtete sie mit offenem Mund. Sandra Becker stand vor ihm, sein Schwarm aus Teenagertagen. Während er sie anstarrte, sprach sie weiter.

»Ich habe gerade Pause. Hast du Zeit für einen Kaffee? Wir könnten ins Bistro gehen.« Sie schritt voran, sein Einverständnis voraussetzend und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Ihr Pferdeschwanz wippte, und selbst der unförmige Kittel verbarg nicht ihre schlanke Figur. Als sie an einem Tisch im Garten saßen, schauten sie sich einen Moment stumm an, bevor plötzlich beide zu sprechen begannen.

»Lange nicht gesehen.«