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Eine junge Frau sucht nach ihren Wurzeln. Ein Kommissar sehnt den Ruhestand herbei. Der Suizid einer ehemaligen Leistungssportlerin am Leipziger Völkerschlachtdenkmal und der Tod eines stadtbekannten Arztes führen beide zusammen. Hat ein Todesengel seine Finger im Spiel? Oder hängt alles mit der mysteriösen Vergangenheit der Selbstmörderin zusammen? Kommissar Staufenberg stellt sich seinem letzten Fall und muss die wichtigste Entscheidung seines Lebens treffen.
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Seitenzahl: 262
Kerstin Lange, Jahrgang 1966, geboren in einer oberbergischen Kleinstadt, aufgewachsen im Sauerland, hat viele Jahre am Niederrhein gelebt. Leipzig ist eine ihrer Lieblingsstädte. Es hat sie gereizt, einen Krimi zu schreiben, der Leipzig mit ihrer niederrheinischen Heimat verbindet. Als besondere Ehre empfand sie es, dass das Manuskript 2012 als eins von fünf Werken für den Leipziger Krimipreis nominiert wurde.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/suze
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-410-8
Originalausgabe
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1
Elke Schönherr stieg die Stufen hoch. Mit der rechten Hand stützte sie sich an den rauen Mauersteinen ab. Die Wendeltreppe zur Aussichtsplattform war schmal und steil. Sie keuchte. Nach drei Schritten blieb sie stehen, schnappte nach Luft. Ihre Lungen brannten, der Hals schmerzte. Wie viele Stufen musste sie noch erklimmen? Sie wusste es nicht. Bei der fünfundfünfzigsten war sie gestolpert, hatte innehalten müssen und war durcheinandergeraten. Zählen, Keuchen, Luft holen und Achtgeben, dass sie die Füße hoch genug hob – das war zu viel auf einmal gewesen. Mit nach vorn gebeugtem Oberkörper und geschlossenen Augen hatte sie ihre Kräfte gesammelt, sich auf ihr Ziel konzentriert und war weitergegangen. Einatmen – eins, zwei. Ausatmen – eins, zwei, drei. Es war wichtig, dass sie diesen Rhythmus beibehielt.
Von der Krypta bis zur Aussichtsplattform waren es dreihundertvierundsechzig Stufen. Es hatte Zeiten in ihrem Leben gegeben, in denen ihr diese Zahl keine Angst eingeflößt hatte. Die vielen Stufen hätten ihr nichts ausgemacht und wären ein ideales Trainingsprogramm gewesen. Elke wäre hoch- und runtergelaufen, hätte die Prozedur vermutlich sogar mehrfach wiederholt. Doch jetzt machte ihr Körper nicht mehr mit. Ihre Muskeln waren verschwunden, hatten Fettgewebe Platz gemacht. Sie verfügte kaum noch über Kraft. Natürlich hätte sie den Aufzug nehmen können, doch heute wollte sie nicht den leichtesten Weg gehen. Ein letztes Mal wollte sie diesen unbändigen Stolz fühlen, der sich einstellte, wenn man den Kampf gegen den eigenen Körper gewonnen, etwas Unmögliches geschafft hatte. Sie lächelte, trotzte den Schmerzen. Dass selbst Treppensteigen für sie zum Hochleistungssport werden würde, wäre ihr als Teenager nie in den Sinn gekommen. Damals war ihr Weg vorgezeichnet gewesen.
Elke hatte nie etwas anderes gewollt als Schwimmen. Sie hatte getan, was man ihr sagte, geschluckt, was man ihr gab. Die Veränderungen ihres Körpers abgetan, alle Warnhinweise ignoriert und sich über die immer besser werdenden Wettkampfzeiten gefreut. Ein Lob des Trainers war wichtiger als Familie, Freunde oder andere Freizeitaktivitäten. Alles drehte sich um den Sport.
Das Internat war ihr wie das Paradies erschienen, obwohl der Drill immens gewesen war. Ihr Ziel war immer nur Olympia. Sie hatte auf dem Treppchen stehen, ihren Fans zuwinken und so erfolgreich wie ihr Idol Barbara Krause werden wollen.
Wieder musste sie innehalten, um Luft zu holen. Den Schwindel in ihrem Kopf missachtete sie. Stattdessen versuchte sie, sich an die Parolen des Trainers zu erinnern. »Elke, du schaffst es. Du kannst es! Du bist die Beste.«
Sie lächelte, liebte ihre Erinnerungen. An das Internat, an die Gemeinschaft. Auch wenn sie Konkurrentinnen im Kampf um die besten Zeiten gewesen waren, waren sie dennoch ein Haufen kichernder und schwätzender junger Mädchen. Britt, Gabi, Esther und sie. Trotz der Rivalität um die besten Zeiten und die Aufmerksamkeit des Trainers waren sie fast Freundinnen gewesen.
»Schlimmer als ein Nest voller Jungvögel. Lerchen, weil wir hier in Leipzig sind«, hatte der Trainer immer gelacht.
Damals war sie ein Mensch gewesen, den sie selbst gemocht hatte. Die Leute um sie herum hatten sie so genommen, wie sie war. Ein gutes Gefühl – eines, das ihr vorher nicht bekannt gewesen war. Die Zukunft hatte rosig vor ihr gelegen. Alles war gut, solange sie schwimmen konnte. Im Wasser fühlte sich Elke leicht und elegant. Geschmeidig glitten die Arme ins kühle Nass, teilten es und brachten sie schnell ans andere Ende des Beckens. Anschlag, Rolle und zurück. Bahn für Bahn. Selbst jetzt, wenn sie die Augen schloss und daran dachte, spürte sie ihren federleichten Körper und das Gefühl von Schwerelosigkeit.
Elke blieb stehen, ignorierte das schmerzhafte Seitenstechen und hielt die Augen noch immer geschlossen. Sie tauchte ab in ihre Erinnerungen an die schönste Zeit in ihrem Leben. Das Wasser rauschte, sie genoss die sanften Wellenbewegungen auf ihrer Haut, nahm sogar einen leichten Chlorgeruch wahr. Sie hörte den Applaus der Zuschauer, spürte die breite Brust des Trainers, der sie an sich drückte. Roch nach all den Jahren sein Rasierwasser. Plötzlich waren Arme und Beine leicht und schmerzlos.
Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Ich muss es zu Ende bringen«, murmelte sie und öffnete die Augen. Sie sah die weiße Wendeltreppe wie einen Eisberg vor sich, holte tief Luft und stieg Stufe für Stufe weiter hinauf.
Den ersten Anzeichen hatte sie damals keine Beachtung geschenkt. Die Pillen gegen die vielen kleinen Wehwehchen halfen. Am Tag des entscheidenden Wettkampfes tat sie die Kopfschmerzen als Zeichen von Nervosität ab. Ebenso das Magendrücken. Der Trainer gab ihr etwas gegen den Stress, was sie dankbar schluckte. Wie sie alles nahm, was er ihr gab. Wichtig war nur, dass sie an diesem Tag die Beste war. Alles andere war unwichtig. Als der Startschuss ertönte, sprang sie ins Wasser und schwamm los.
An das, was dann passierte, erinnerte sie sich nur schemenhaft. Rechts und links von ihr zogen die Mädchen vorbei. Sosehr sie sich auch anstrengte, die anderen waren schneller. Als nach zweihundert Metern der Wettkampf beendet war, lag sie an fünfter Stelle. Sie hielt sich kraftlos am Beckenrand fest, begriff nicht, was geschehen war. Ihr Körper wog Tonnen. Niemand nahm Notiz von ihr.
Elke sah, wie ihr Trainer der Siegerin, ausgerechnet Britt, gratulierte, sie drückte und in den Arm nahm. Dann verwischte die Welt zu undeutlichen Bildern, alles lag im Nebel. Ein junger Mann kam auf Elke zu, bat sie, aus dem Wasser zu kommen. Sie blieb stumm und bewegungslos. Er war es, der bemerkte, dass mit ihr etwas nicht stimmte, und den Arzt rief.
Erst im Krankenhaus kam Elke wieder zu sich. Diagnose: totaler Zusammenbruch. Ihr Körper wehrte sich. Gegen Amphetamine, gegen Hormone, gegen die Überbelastung. Eine Schwester sagte ihr, dass sie sich glücklich schätzen könne, weil es ein gutes Ende genommen habe. Mit leistungssteigernden Mitteln sei nicht zu spaßen, Organversagen und Schlimmeres folgten normalerweise.
Aber Elke wäre lieber tot gewesen.
Nach Wochen durfte sie das Krankenhaus verlassen. Die Internatsleitung teilte ihr mit, dass sie nicht mehr berechtigt war, das Sportinstitut zu besuchen. Sie ging wieder in eine normale Klasse auf einer ganz normalen Schule in der Nähe ihres Wohnortes. Elke fand keine Freundin. Es gab niemanden, der ihre Gesellschaft suchte. Sie stieg nie wieder in ein Schwimmbecken. Vom Abtrainieren hatte ihr niemand etwas gesagt. Von hundert auf null.
Trost fand sie im Essen. Heimlich hortete sie Süßigkeiten. Schokolade, Kuchen und Kartoffelchips. Milkshakes, Eis und Pizza. Ihr Körper veränderte sich. Es gab keinen Sport mehr, die Muskeln verschwanden, dafür nahm sie Kilo für Kilo zu. Monat für Monat. Weder der Trainer noch eine der angeblichen Freundinnen hatten sich jemals wieder bei ihr gemeldet.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Jetzt werde ich auch noch wehleidig, dachte sie zornig. Aber da sonst niemand um sie trauern würde, war es egal. Erneut zwang sie der Schwindel, stehen zu bleiben. Um ans Ziel zu gelangen, musste sie ihn ignorieren.
»Elke, du schaffst es. Du kannst es! Du bist die Beste«, spornte sie sich an.
Sie musste diesen Kampf gewinnen. Ihren letzten. Ein kaputter Körper kämpfte gegen einen kaputten Geist. Gut, dass niemand sie sah. Schon gar nicht ihre ehemaligen Kolleginnen. Statt Neid stände nur Spott in ihren Augen. Was sie wohl heute machten? Den großen Sprung nach ganz oben hatte keine von ihnen geschafft.
Noch eine Stufe. Sie hievte ihren Leib, der nicht zu ihr zu gehören schien, hoch, blieb erneut stehen.
Sie fragte sich, warum sie nicht liebenswert war. Ihre Gedanken wanderten zu Tanja. Bis gestern hatte Elke gedacht, dass sie ihre Freundin wäre. Nach anfänglicher Skepsis hatte sie Vertrauen zu der schlanken, hübschen Person gefasst, die immer gut gelaunt war. Jemand, der das Leben nicht so ernst nahm und Elke mitriss. So einen Menschen konnte man nur lieben.
Wäre alles anders gekommen, wenn sie Tanja mit der Figur einer Spitzensportlerin begegnet wäre? Muskulös, kraftvoll, mit breiter Brust und mit der Kondition einer Löwin? Sie verneinte. Es war egal, vorbei und die Frage unsinnig.
Sie würde Tanja vermissen. Ihr Lachen, ihren Optimismus. Ihre Offenheit. Tanja war in der Lage, fremde Menschen ohne Scheu anzusprechen. War sofort mit jedem befreundet. Elke dachte an die Spaziergänge mit ihr. Auch an den ersten, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Sie waren im Palmengarten gewesen, hatten erzählt und gelacht. Bis zum Wehr waren sie gekommen. Ab da ging nichts mehr. Elke blieb stehen, starrte aufs Wasser. Alles um sie herum verschwamm, sie hörte nur das Rauschen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren, konnte keinen Meter weitergehen. Wie angewurzelt stand sie da, nicht in der Lage, den Blick vom Wasser zu nehmen. Bis Tanja sie sanft am Arm berührte und vorsichtig wegzog. Sie an der Hand nahm und gemeinsam mit ihr den Weg zurückging. Erst ein paar Meter weiter, als nur noch Wiesen und Büsche zu sehen waren, entspannte sich Elke.
»Du musst nichts sagen oder erklären. Nicht jetzt. Vielleicht irgendwann einmal. Damit ich dich besser verstehen kann.«
Tanjas sanfte Stimme klang noch immer in Elkes Ohr. Sie liebte sie. Von Tanja waren nie ein verständnisloser Blick oder eine hochgezogene Augenbraue zu erwarten. Der erste Mensch, der Elke nahm, wie sie war, ohne etwas von ihr zu erwarten.
Der Schmerz in der Magengegend wurde stärker. Sie presste ihre Hand auf den Unterbauch. Aus Angst, nicht wieder hochzukommen, ignorierte sie den Drang, sich zu setzen. Mit zittrigen Fingern kramte sie in ihrer Handtasche nach den Tabletten und drückte zwei Stück aus dem Blister. Sie sammelte den Speichel in ihrem Mund – an eine Wasserflasche hatte sie nicht gedacht. Die Wirkung der Medikamente ließ immer früher nach, darum erhöhte sie seit Wochen die Dosis.
Was für ein Teufelskreislauf.
Schweißperlen rannen ihren Rücken entlang, das T-Shirt klebte auf der Haut, und das Herz klopfte bis zum Hals. Ihr Ziel. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren! Drei Atemzüge später setzte sie ihren Anstieg fort.
Ihre Hand wanderte zu der Gesäßtasche ihrer Hose. Sie spürte das Papier, hörte das leise Knistern. Die nächste Stufe. Im Nacken kräuselte sich das nass geschwitzte Haar, der Schweiß drang mittlerweile aus allen Poren, tropfte in ihre Augen. Elke blinzelte. Wann war sie oben? Weit konnte es nicht mehr sein. Wieder ein tiefer Atemzug, und endlich kam der Treppenabsatz in Sicht.
Wider Erwarten war sie nicht die einzige Besucherin um diese Zeit. Ein älterer Herr stand am Geländer und genoss die Aussicht auf die Stadt. Er streifte sie mit einem Blick, setzte zu einer Begrüßung an, beließ es dann aber bei einem Kopfnicken und ging.
Elke lehnte sich erschöpft an die Mauer. Sie wartete, bis sich der Herzschlag beruhigte und der Schwindel verflog. Ihr Kreislauf war am Limit. T-Shirt und Haare nass, selbst die Unterhose klebte. Trotzdem lächelte sie. Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig – der perfekte Ort.
Ihr Blick wanderte zum Krematorium, das inmitten der Wiesen stand. Tod. Einsamkeit. Trauer. Ob auch jemand um sie trauern würde? Ihre Mutter sicher nicht, aber vielleicht Tante Miriam. Und hoffentlich Tanja.
Wie viele zerstörte Träume hielt ein Mensch aus?
Sie nahm Tanjas Brief aus der Gesäßtasche und zerriss ihn in kleine Fetzen. Schaute den weißen Schnipseln nach, wie sie vom Wind weit fortgetragen wurden. Ein leichter Windstoß kühlte ihre Haut.
Ein letztes Mal schaute sich Elke um. Der Mann war fort, sie war allein. Es war niemand da, der sie abhalten konnte. Sie kletterte auf das Geländer und blickte in die Tiefe. Ihre Knie zitterten ein wenig, doch es gab kein Zurück. Die Papierreste waren fort. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, als der Wind auffrischte. Fast wie früher, dachte sie und lächelte. Es war ein guter Plan. Der beste, den sie seit langer Zeit gefasst hatte. Fliegen wie ein Vogel statt schwimmen wie ein Fisch.
Sie breitete die Arme aus und ließ sich fallen.
2
Tom Meyer stieß einen Laut des Erstaunens aus. »Das ist ja interessant. Das Obduktionsergebnis von Elke Schönherr liegt vor. Jetzt haltet euch fest.«
Er überflog die Zeilen, leise vor sich hin murmelnd, bevor er zusammenfasste: »Der Körper von Elke Schönherr war ein Wrack. Sie war viel zu dick, ihr Cholesterinwert zu hoch. Aber das war ja offensichtlich. An Leber, Nieren und Milz wurden toxisch bedingte Veränderungen festgestellt. Die rechte Herzkammer weist eine starke muskuläre Wandverdickung auf, elf Millimeter. In absehbarer Zeit hätte das Herz aufgehört zu schlagen. Sie muss ständig Schmerzmittel geschluckt haben. Obwohl erst dreiunddreißig Jahre alt, war ihr Körper der einer alten Frau. Der Arzt schreibt, dass das typische Folgen von jahrelangem Anabolikamissbrauch seien. Allem Anschein nach hat sie früher mal gedopt.« Tom schaute in die Runde. »Wisst ihr da etwas drüber?«
Camilla Grunewald antwortete: »Sie lebte bei ihrer Mutter hier in Leipzig. Sie scheinen kein gutes Verhältnis gehabt zu haben. Die Mutter erzählte bei der ersten Begegnung, dass Elke früher geschwommen ist und wohl recht gut war. Allerdings reichte es nicht für eine Karriere im Schwimmsport, also hat sie nach der Schule eine Lehre als Verkäuferin gemacht. Im Moment hatte sie jedoch keinen Job, wegen der Depressionen. Deswegen war sie auch in Behandlung. Von körperlichen Krankheiten oder Schmerzmitteln hat die Mutter nichts erzählt. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Elke Schönherr hat sehr zurückgezogen gelebt und ihre Zeit hauptsächlich zu Hause vor dem Fernseher verbracht.«
»Steht in dem Bericht irgendetwas darin, dass ihr Tod kein Suizid war?« Zum ersten Mal meldete sich Hauptkommissar Lorenz Staufenberg zu Wort.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, Fremdverschulden wird ausgeschlossen. Unsere Ermittlungen haben ja auch nichts anderes ergeben. Der Mann auf dem Denkmal war der Letzte, der sie gesehen hat, und schwört, dass niemand anderes oben und er allein im Aufzug war. Als er unten angekommen ist, hat er sie auf dem Boden liegen gesehen. Sie ist gesprungen, eindeutig.«
»Was sagt der Mann außerdem? Wie heißt er noch mal?«
Camilla pustete sich die Ponyfransen aus der Stirn. »Karl Weidkamp. Der ist fix und fertig. Hätte nie gedacht, dass sie hinunterspringen würde. Er glaubte sogar, dass sie sich das Treppensteigen als Trainingsprogramm zum Abnehmen ausgedacht hatte. War ja nicht zu übersehen, dass sie zu viel auf den Rippen hatte. Das waren seine Worte«, fügte sie hinzu, als sie die bösen Blicke ihrer Kollegen sah. »Er kann sich nicht verzeihen, dass er so danebengelegen hat. Sie schwitzte, hatte aber einen so energischen Zug um den Mund. Er sagte, den kenne er von seiner Frau, wenn sie einen Entschluss gefasst hat. Wieder Originalton.« Camilla schaute ihrem Chef eindringlich ins Gesicht.
Gedankenverloren sortierte dieser Prospekte, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Seit Wochen ließ er sich Gartenkataloge ins Büro schicken und plante in jeder freien Minute, welche Pflanze er an welcher Stelle in seinem Schrebergarten setzen würde. Ende des Monats wurde er pensioniert, und dann hätte er endlich Zeit dafür. Er registrierte nicht, was er tat, sondern starrte an einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand. »Tja, diesen Anfangselan kennen wir alle, oder? Jemand sollte noch einmal mit der Mutter sprechen und ihr mitteilen, dass sie ihre Tochter beerdigen kann«, sagte er und blickte dann Camilla nachdenklich an. »Ihre Tochter ist in deinem Alter gewesen, oder?«
»Ja, dreiunddreißig, ein halbes Jahr jünger.«
»Am besten ist, ich fahre gleich hin. Sie wohnt in der Karl-Tauchnitz-Straße, oder?«
»Genau, in der Nähe vom Johannapark, im Bachviertel. Willst du allein hingehen?«
Staufenberg nickte. »Ja. Lass mich mal. Vielleicht der letzte solcher Besuche für mich. Hoffe ich zumindest. Ich mag nicht mehr. Zu viele Tote. Zu viele Schicksale für ein Leben«, sagte er mit belegter Stimme und berührte wieder die Prospekte. »Ich sehne mich danach, in meiner Laube zu sitzen, den Pflanzen beim Wachsen zuzuschauen und mich nur für sie verantwortlich zu fühlen. Ich werde keine Zeitungen lesen und keinen Fernseher haben. Vielleicht einmal in der Woche irgendwo Nachrichten sehen. Ich glaube, das reicht bis zu meinem Ende.«
Camilla sah betroffen aus. »Chef, sprich nicht so! Das macht mir Angst. Außerdem wirst du uns fehlen. Ich komm dich ganz oft in deiner Laube besuchen. Nasche Erdbeeren und Tomaten. Pflanzt du auch Stachelbeeren? Ich liebe Stachelbeeren. Dann wirst du mich garantiert nicht mehr los.«
Sie lächelte ihn an, und auch seine Mundwinkel wanderten nach oben.
»Schauen wir mal. Ich freu mich, wenn du mich tatsächlich besuchst.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, so schnell, wie es erschienen war. Staufenberg machte auf dem Absatz kehrt und ging in sein Büro, und der traurige Blick kehrte in seine Augen zurück. Er schloss die Tür und lehnte sich ein paar Sekunden mit hinter seinem Rücken verschränkten Händen dagegen. Es war ihm egal, dass Camilla und Tom nun über ihn redeten. Er wusste, dass sie sich Sorgen um ihn machten. So ein Quatsch, dachte er. Er hatte einfach keine Lust mehr. Weder auf Verbrecher noch auf die nervtötende Bürokratie oder auf die nachrückenden Kollegen, die den Begriff ›Menschlichkeit‹ für ein Relikt aus uralten Zeiten hielten. Die beiden waren jung genug, um die zukünftigen Veränderungen anzunehmen. Er war zu alt dafür. Wenn er nur an die vielen E-Mails dachte! Was waren das für gemütliche Zeiten gewesen, als er noch eine richtige Sekretärin gehabt hatte, die ihn mit Kaffee verwöhnte.
Er atmete ein paarmal tief durch und horchte in sich hinein. Sein Magen blieb ruhig. Ein Blick auf die Uhr – schon zehn, und er hatte noch keine Tablette gebraucht. Das autogene Training half tatsächlich. Damit hätte er früher beginnen sollen. Nicht erst jetzt, kurz vor Ende seiner Dienstzeit, wo sich seine Beschwerden nicht allein auf Sodbrennen beschränkten. Er hatte zu viel gesehen, mehr ertrug er nicht. Weder diejenigen, die sich selbst umgebracht hatten, noch die, die getötet wurden. Und schon gar nicht Mörder, die vor ihm hockten und Absolution oder Verständnis von ihm erhofften. Er war es leid, hatte es satt. Das war nicht mehr seine Welt.
Er setzte sich an den Schreibtisch. Sein Blick blieb auf dem Wandkalender hängen. Ein rotes Kreuz markierte den 21. April. Nur noch ein paar Tage. Diesen Arzttermin würde er wahrnehmen. Zweimal hatte er bereits abgesagt und dringende Ermittlungen als Entschuldigung vorgeschoben. Nur sich selbst gestand er ein, dass er Angst vor dem Ergebnis hatte. Er hoffte voller Inbrunst, dass seine Magenschmerzen psychischer Natur waren. Jeden anderen Gedanken verbot er sich.
Alles würde besser werden, wenn er nie wieder dem Tod begegnen müsste. An diesem Mantra hielt er fest. Selbst sein eigenes Ableben musste warten, mindestens bis er sich den Traum vom Schrebergarten erfüllt hatte. Er würde sich um Tomaten, Zucchini und Kräuter kümmern. Und natürlich um Stachelbeeren – für Camilla.
3
Es gab nichts, was ich noch tun konnte. Es war vorbei. Die Erde rieselte nieder. Leise, gedämpft durch die bereits aufliegende Schicht auf dem Sarg. Ich hatte mich für das billigste Modell entschieden. Kiefer, ohne Schnitzereien. Es war mir unsinnig vorgekommen, viel Geld für einen Kasten aus Holz auszugeben, der in der Erde verschwand und verwitterte. Mutter hätte es nicht anders gewollt. Auch wenn Gerda anderer Meinung war.
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