Schatz der Armada - J. H. Gelernter - E-Book

Schatz der Armada E-Book

J. H. Gelernter

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Beschreibung

Der Captain auf einem gefährlichen Streifzug durch die Karibik Eine schier unmögliche Mission bringt den besten Spion des britischen Geheimdienstes in die unbekannten Gewässer der Karibik – der mitreißende dritte Teil der Abenteuerreihe. England, 1804: Spanien muss England den Krieg erklären, um ein Geheimabkommen mit Frankreich zu erfüllen, das Spanien von Napoleons geplanten Europafeldzug verschont. Um den Krieg zu finanzieren, müssen die Spanier einen wertvollen Schatz aus ihren Kolonien in Südamerika über den Atlantik herbeischaffen. Die einzige Hoffnung des britischen Empires, den drohenden Krieg zu verhindern, besteht darin, die spanische Armada zu versenken oder zu kapern. Für diese schwierige Mission kommt nur einer infrage: der beste Spion des Geheimdienstes Seiner Majestät, Captain Thomas Grey. So begibt er sich auf eine gefährliche Reise in die unbekannten Gewässer der Karibik und muss um das Schicksal seines Heimatlandes kämpfen. Actionreich und hochspannend – perfekt für Fans von Bernard Cornwell Alle Bände der ›Spion Captain Grey‹-Reihe: Band 1: Jagd nach Vergeltung Band 2: Spiel des Deserteurs Band 3: Schatz der Armada

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Seitenzahl: 382

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Über das Buch

England, 1804. Um ein Geheimabkommen mit Napoleon zu erfüllen, muss Spanien England den Krieg erklären. Um diesen zu finanzieren, müssen die Spanier einen wertvollen Goldschatz aus ihren Kolonien in Südamerika herbeischaffen. Die einzige Hoffnung des britischen Empires, den drohenden Krieg zu verhindern, besteht darin, die spanische Armada zu versenken oder zu kapern. Für diese schwierige Mission kommt nur einer infrage: der beste Spion des Geheimdienstes Seiner Majestät, Captain Thomas Grey. Und so setzt er die Segel für eine gefährliche Reise in die unbekannten Gewässer der Karibik, denn es geht um nicht weniger als das Schicksal seines Heimatlandes.

 

 

Von J.H. Gelernter sind bei dtv außerdem erschienen:

Jagd nach Vergeltung

Spiel des Deserteurs

J.H. Gelernter

Schatz der Armada

Ein Captain-Grey-Roman

Aus dem Englischen von Susanne Just

Dieses Buch widme ich

meinen geliebten New Jersey Devils.

Wann zieht ihr Jungs denn endlich mal

Sergei Brylins Rückennummer aus dem Verkehr?

Prolog

16. Februar 1804An der Mündung zum Hafen von Tripolis

Nachdem die Vereinigten Staaten als Gewinner aus ihrer Revolution hervorgegangen waren, verloren sie die Protektion der Königlichen Marine und ihre Handelsflotte wurde schnell zum Spielball für Piraten. Aus Rücksicht auf den öffentlichen Wunsch, kein einsatzbereites Militär jeglicher Art zu unterhalten, wurde die amerikanische Marine klein gehalten und kam nur selten zum Einsatz. Doch dann, im November 1803, kaperten Barbaresken-Piraten eines der wenigen amerikanischen Kriegsschiffe, die USS Philadelphia, und verwandelten es in eine schwimmende Batterie im Hafen von Tripolis. Die Vereinigten Staaten hätten es den europäischen Mächten zwar gleichtun können – alle von ihnen hatten Schiffe und Besatzungen an die Barbaresken-Piraten verloren – und entweder den Tribut an die Paschas zahlen oder die Männer der Philadelphia der Sklaverei überlassen können. Stattdessen gab die beschämende Einnahme der Philadelphia den entscheidenden Ausschlag, und die Vereinigten Staaten beschlossen, nicht mehr länger die andere Wange hinzuhalten.

Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beschränkte sich die amerikanische Seemacht im Großen und Ganzen auf nur sechs in Amerika gebaute Fregatten mit mehreren bewaffneten Decks. Wegen dieser kleinen Marine beschlossen die Vereinigten Staaten, den Tripolitanern mit ihrem Trumpf zu Leibe zu rücken: mit irregulärer Kriegsführung. Die Aufgabe, sich um Tripolis zu kümmern, wurde dem Gefolge der dritten dieser sechs Fregatten überlassen, der USSConstitution. Um die Tripolitaner zu besiegen, brachte die Constitution acht Marinesoldaten ans Ufer von Tripolis, östlich der eigentlichen Stadt, und schickte dann eine einzige Ketsch in den Hafen. Der Auftrag der Marinesoldaten lautete, einen Überraschungsangriff von hinten auszuführen. Die Aufgabe der Ketsch – namens Intrepid, unter dem Kommando von Stephen Decatur – war es hingegen, die Philadelphia in die Luft zu jagen und so die Stadt für ein Schiffsbombardement von vorne zu öffnen.

Als die Intrepid also die Mole passierte und in den inneren Bereich von Tripolis’ Hafen einfuhr, übergab Decatur seinem Malteser Steuermann das Ruder. Mit einer einzigen ausgerollten Bahn des kleinen Großsegels kamen sie nur langsam voran. Decatur wartete, bis die Intrepid nur noch ein paar Dutzend Yards von den Rüsten des Hauptmasts der Philadelphia entfernt war, dann signalisierte er dem Malteser Steuermann, dass er rufen könne.

»Ahoi an die Fregatte«, rief der Steuermann auf Arabisch. »Wir sind gerade durch einen schrecklichen Sturm gesegelt« – das stimmte tatsächlich; im südlichen Mittelmeer hatte ein Dreckswetter geherrscht – »und wir haben unseren Buganker verloren. Können wir unser Schiff bis zum Tagesanbruch mit Ihrem vertäuen?«

Gedämpfte Laute einer Diskussion wehten vom Achterdeck der Philadelphia herunter. Von einem amerikanischen Geheimdienstmann in Tripolis wusste Decatur vom voll bestückten Waffenlager der Philadelphia und dass ihre Kanonen bemannt und bereit zum Ausfahren waren. Wenn deren Mannschaft auch nur den Hauch eines Verdachts schöpfte, was die Intrepid im Schilde führte, würde sie aus der kleinen Ketsch augenblicklich Splitter und Treibholz machen.

Nach einem kurzen Wortwechsel kam jedoch die Antwort vom Achterdeck, dass die Intrepid sich mit der Philadelphia vertäuen dürfe. Beim näheren Heransegeln konnte Decatur sehen, dass die Geschützpforten der Philadelphia offen standen.

Die Philadelphia warf der Intrepid ein Tau zu, sodass sie sich parallel an sie heranziehen konnte. Gleichzeitig rief eine Stimme etwas auf Arabisch. Decatur sprach zwar kein Arabisch, allerdings schnappte er das Wort »Americanos« auf.

Mit ruhiger und fester Stimme erteilte Decatur den Befehl: »Haltet euch gut fest, Männer. Wartet auf mein Kommando.« Darauf folgten zehn sehr lange Sekunden, in denen die Tripolitaner die Kanonen ausfuhren und die Amerikaner die Intrepid immer näher an den Schiffsrumpf der Philadelphia heranzogen. Das dumpfe Schrammen von Holz an Holz war zu hören, dann schrie Decatur: »Jetzt, Jungs! Schnappen wir sie uns!«

Er war der erste Mann, der von der Intrepid an die Außenseite der Philadelphia sprang, sich an den Rüsten des Hauptmasts festklammerte und sich nach oben zog – das Hauptdeck der Philadelphia lag zwar gut dreieinhalb Meter höher als das der Intrepid, doch Decaturs Männer, mit den Fähigkeiten geübter Matrosen, kletterten blitzschnell wie Affen an ihrer Bordwand hinauf. Einige kamen durch die Geschützpforten ins Innere, andere über das Dollbord und innerhalb von Sekunden hatte sich das Schiff in ein wildes Schlachtfeld verwandelt. Um die Angelegenheit so leise wie möglich zu halten, trugen die Amerikaner keine Schusswaffen bei sich. Es wurde mit bloßen Händen und Säbel gegen Krummsäbel gekämpft, und zwar brutal. In einer verzweifelten, blutigen Schlacht, die weniger als fünf Minuten dauerte, töteten die Amerikaner zwanzig Tripolitaner und nahmen einen Gefangenen. Der Rest ging über Bord, schwamm Richtung Land und rief nach Hilfe und Gegenwehr. Decatur erkannte ein Boot beim Hafendamm, das mit Palastwachen bemannt wurde, sah es ablegen und auf sie zurudern. Bald würden sie also Enterer abwehren müssen. Hinter ihm wurden Laternen von der Intrepid hochgereicht, acht an der Zahl. Sie wurden verteilt und Decatur gab den Befehl: »Feuermannschaften, los.«

Acht Teams bestehend aus je zwei Männern eilten die Ladeluken hinunter. Alle Männer hatten Zeichnungen des Schiffs studiert und wussten genau, wo sie hinmussten. Fünf Teams zu den Laderäumen, eines zum Geschützraum, eines zum Ankerdeck und eines in die Plicht. Jedes Feuerteam hatte sein eigenes Feuer – eine Laterne –, das von einem Mann getragen wurde, während der andere mit Terpentin getränkte Lumpen und eine knapp acht Zentimeter lange Walratkerze trug. Die Lumpen wurden platziert und die Kerzen bereitgehalten; Decatur kontrollierte jeden Raum und rief dann so laut, dass alle ihn hören konnten:

»Feuer!«

Mithilfe der Laternen wurden die Kerzen angezündet und auf die Lappen fallen gelassen, dann machten sich die Feuermänner eilig auf zum Rückzug auf das Hauptdeck. Decatur folgte ihnen nach oben. Wie erwartet brannten die ausgetrockneten Holzplanken der Philadelphia, die bloß im Hafen herumgedümpelt war, lichterloh. Decatur konnte gerade noch so den Stichflammen entkommen, die aus den Luken emporschossen.

»Zurück zur Intrepid!«, schrie Decatur über die lodernden Flammen hinweg und alle Männer kletterten und sprangen zurück auf die Ketsch, die bereits das Segel hisste. Decatur war der Letzte an Bord, ließ sich von oben auf das Deck der Intrepid fallen und gab den Befehl, das Tau zur Philadelphia zu durchtrennen. Doch das fing Feuer, weswegen Decatur es kurzerhand mit seinem eigenen Säbel durchschnitt. Die Männer schnappten sich die Ruder und legten sich in die Riemen, um mit mächtigen Stößen von dem brennenden Wrack wegzukommen – doch das Feuer verursachte eine mächtige Gegenströmung, und obwohl sie um ihr Leben ruderten, konnte die Intrepid dem Sog nicht entkommen. Decatur schnappte sich den Ruderstock, drehte den Bug der Intrepid zurück zur Philadelphia – die Segel blähten sich – und wendete ganz kurz vor dem Feuer. Dann endlich glitten sie mit voller Kraft voraus, flogen den Hafenkanal entlang und auf die wartende Constitution zu. Kein einziger Amerikaner war getötet oder verletzt worden.

 

Aus der sicheren Entfernung des Ufers beobachtete ein Mann des amerikanischen Geheimdienstes namens Philo Parker das Inferno und strich sich über den Bart. Der Backenbart war ein ungewohnter Zusatz zu dem Schnauzer, den er normalerweise trug. Dieser war Teil seiner Tarnung als marokkanischer Jude, der auf Pilgerreise nach Jerusalem war. Unter der Deckung seines Vollbartes und seiner Gewänder hatte Parker alle Informationen zum Hafen, den Strömungen, den vorherrschenden Winden, den Kanonenbooten, Geschützbatterien und der Besatzung der gekaperten Fregatte zusammengetragen, die der Constitution und Decatur von Nutzen sein konnten. Diese Daten waren mit Limettensaft über einen vorgefertigten arabischen Brief geschrieben und über den dänischen Konsul in Tripolis, Nicholas Nissen, an die Constitution überstellt worden.

Noch während Parker zusah, explodierte das Waffenlager der Philadelphia. Die Druckwelle riss ihn beinahe von den Füßen. Ein paar hundert Yards rechts von ihm zersplitterten sämtliche Glasscheiben im Palast des Paschas.

Am Morgen – mit der Constitution, die an der Hafenmündung lauerte und ohne die Philadelphia, die sie aufhalten konnte – bat der Pascha von Tripolis um Frieden. Parker übernahm es, die Männer der Philadelphia, die bereits als Sklaven verkauft worden waren, wieder zurückzukaufen. Er war außerdem dazu verpflichtet, die acht Kommandosoldaten der Marine darüber zu informieren, dass sie – da Tripolis bereits kapituliert hatte – dazu verpflichtet waren, die kleine Armee, die sie aufgestellt hatten, wieder aufzulösen und die Piratenstadt, die sie erobert hatten, zurückzugeben. (»Derna« hieß sie – die Marinesoldaten hatten nicht beabsichtigt, sie einzunehmen, doch als sie um eine vollkommen harmlose Durchfahrt gebeten hatten, hatte der Potentat mit der Provokation geantwortet: »Mein Kopf oder eurer.«)

Einen Monat später las Parker in Gibraltar in einer Zeitung, dass Horatio Nelson die Zerstörung der Philadelphia »die mutigste und gewagteste Tat unserer Zeiten« genannt hatte. Dann überflog Parker beim Frühstück die Zusammenfassung der Ereignisse in der Zeitung, schmunzelte vor sich hin und butterte sich ein Scone.

1

9. Juni 1804Wien

Im Festsaal des Palais Lobkowitz waren ungefähr zweihundert Stühle aufgestellt worden, alle zur Ostseite des Raumes hin ausgerichtet, wo ein Orchester gerade die Instrumente stimmte. Thomas Grey saß in der letzten Reihe und beobachtete einen stürmischen Dirigenten dabei, wie er zwischen seinen Musikern hindurchging, hier und dort anhielt, um vereinzelt etwas anzumerken, sich einmal eine Oboe von einem verängstigt wirkenden Orchestermitglied der Holzbläser schnappte und diese selbst fertig stimmte, bevor er sie ihm dann mit unverhohlener Verachtung zurückgab.

Von seinem Äußeren ausgehend, schien er im selben Alter wie Grey zu sein, war tatsächlich jedoch zehn Jahre älter. Obwohl Grey ihn zuvor noch nie in persona gesehen hatte, war ihm sein Ruf vorausgeeilt. Er war kleiner, als Grey ihn sich vorgestellt hatte – mit etwas über einem Meter sechzig ziemlich klein also, wäre er Engländer gewesen, aber auch für einen Europäer immer noch recht klein. Sein kurz geschnittenes, nach vorn gekämmtes Haar ließ ihn ein wenig wie einen römischen Konsul aussehen, den man aus Versehen in einen Mantel mit hohem Kragen über einem Hemd mit noch höherem Kragen, braune Kniebundhosen und hohe schwarze Reitstiefel gekleidet hatte.

Der Größe des Dirigenten zum Trotz umgab ihn eine Aura der Befehlsgewalt, die Grey an seinen Vorgesetzten denken ließ, den Vorsitzenden des britischen Geheimdienstes, Sir Edward Banks. Obwohl das vielleicht auch etwas damit zu tun hatte, dass beide Herren ihr eigenes Haar offen zur Schau trugen. Sogar Grey, der gerne Sir Edwards Beispiel bei der Vermeidung von Perücken folgte, trug an diesem Abend eine, um nicht aus der Menge von Wiens Elite herauszustechen.

Diese besondere Elite bestand aus Freunden und Freundesfreunden des 7. Fürsten Lobkowitz, Joseph Franz Maximilian. Grey hatte seine Einladung vom britischen Konsul in Wien erhalten – wobei es zutreffender wäre zu sagen, ergaunert –, der diese nur äußerst widerwillig und mit beträchtlicher Verärgerung abgab. Fürst Lobkowitz war Europas berühmtester Musikmäzen und an diesem Abend sollte die private Premiere der neuesten Komposition seines berühmtesten Protegés, Ludwig van Beethoven, stattfinden. Offenbar hatte Beethoven die Symphonie – seine dritte – selbst Symphonie Bonaparte genannt. In einer Stadt, in der Napoleon aus Prinzip entweder gering geschätzt oder gehasst wurde, war das eine mutige Aussage. Doch Beethoven hatte den Status, tun und lassen zu können, was immer er wollte. Außerdem ging Grey davon aus, dass selbiger mit Napoleons Werk nicht derart vertraut war wie er selbst.

Dieser Gedanke ließ Grey zum Ziel seiner Aufgabe zurückkehren, nämlich dem Konzert beizuwohnen. Er war hier, um etwas extrem Teures entgegenzunehmen, erkauft – halb im Voraus, halb bei Übergabe – vom spanischen Botschafter im Königreich Preußen. Dieser war in deutschen Kreisen für seine Liebe zu moderner Musik wohlbekannt und ein häufiger Gast auf den Privatkonzerten des Fürsten Lobkowitz. Vor seiner Beförderung zum Botschafter war er einer der Minister des »Friedensfürsten«, Manuel Godoy, gewesen. Während Godoy dem spanischen König Karl IV. als treuer Berater gedient hatte, hatte er praktisch die komplette Kontrolle über Spanien und seine Regierung übernommen. Den Titel »Friedensfürst« verdankte er seiner Rolle als häufiger Vermittler bei Friedensverträgen zwischen den europäischen Mächten. 1802 hatte er den Vertrag von Amiens ausgehandelt, einen kurzen Frieden zwischen Frankreich und Großbritannien. Nachdem die Verhandlungen abgeschlossen waren, sandte Napoleon einen angewiderten Brief an Karl IV., in dem er Godoy als den wahren König Spaniens bezeichnete und den unwissenden Karl darüber informierte, dass dessen Ehefrau, Königin María Luisa, Godoys Geliebte war. Godoy hatte Spanien derart in der Hand, dass er, als seine Leibwache den Brief in der Post des Königs abfing, nicht nur die Zustellung desselbigen erlaubte, sondern ebenfalls zuließ, dass er Gegenstand des Hofklatsches wurde.

Kurz nach Amiens hatte Godoy einen geheimen Vertrag zwischen Spanien und Frankreich ausgehandelt. Zu der Zeit hatten die zwei Länder ein herausragendes Friedensabkommen, unter dem Spanien, im Gegenzug zu Napoleons Zusicherung, die Pyrenäen nicht zu überqueren, Neutralität zusicherte. In den zwei Jahren seit Amiens hatte es den britischen Geheimdienst enorme Bemühungen gekostet, zu bestätigen, dass es überhaupt ein geheimes Abkommen gab. Und dann galt es noch, die Namen der kleinen Gruppe aus Spaniern und Franzosen herauszufinden, die in dessen Inhalt eingeweiht waren, und schließlich einen von ihnen auszumachen, der offen dafür wäre, das Abkommen im Austausch gegen eine große Geldsumme zu enthüllen.

Einer von Greys Kollegen in Spanien hatte den bei Weitem besten Kandidaten dafür ausfindig gemacht, Fernandino María Basco y Anda. Neben seinen anderen Pflichten als einer von Godoys Privatsekretären hatte Basco als Kurier von Entwürfen zwischen den verhandelnden Parteien fungiert, als diese sich Anfang 1803 in San Ildefonso getroffen hatten. Außerdem war er dazu ausgewählt worden, eine ordentliche Abschrift des finalen Dokuments anzufertigen. Heute Abend würde Basco y Anda – der, wie die meisten Spanier, Godoys beinahe fantastische Arroganz höchst verwerflich fand – die zweite Hälfte seines Bestechungsgeldes entgegennehmen und den geheimen Pakt offenlegen. Da der Botschafter kompromisslos darauf bestanden hatte, dass nichts auf Papier festgehalten werden solle, würde Grey die Informationen mündlich erhalten.

Grey verspürte leichte Schuldgefühle, dass man ihn für diese äußerst angenehme Aufgabe ausgesucht hatte. Kollegen von ihm in Iberien und dem Heiligen Römischen Reich hatten jahrelang auf die Offenlegung des geheimen Vertrags hingearbeitet, doch hier war nun er selbst, Grey, der Mann, der die Operation ausführte, auf einer Veranstaltung, wo der Maestro höchstpersönlich sein Stück dirigierte. Grey war schlicht und ergreifend deshalb ausgewählt worden, weil er sich mit Sprachen leichttat. Er sprach besser Deutsch als seine Kollegen in Spanien und besser Spanisch als seine Kollegen in Deutschland.

»Dort sitzt ein zusätzliches Horn«, merkte da ein älterer, krank aussehender Mann an, der nun neben Grey saß.

Er war von mehreren Dienern in den Saal eskortiert worden, von denen einer ihn gestützt hatte, während der Rest von ihnen Platz schuf, sodass er den Saal durchqueren konnte. Der Mann, der sie mit seinem Stock angewiesen hatte, hatte den Dienern allerdings zu verstehen gegeben, dass er nicht weiter als bis zur letzten Reihe gehen würde, wo Grey aufgestanden war und dem unbekannten Mann auf einen Stuhl geholfen hatte. Die Diener, von denen manche persönliche Angestellte des Mannes sein mussten und andere die Livree des Hauses Lobkowitz trugen, hatten kurz wie Kolibris in der Schwebe vor einer Hyazinthe verharrt und ängstlich dreingeblickt. Mit einem gütigen Lächeln und einer höflichen, doch ausgesprochen festen Stimme hatte der Mann »Raus, bitte« zu ihnen gesagt und dann auf ihre verletzten Gesichter hin: »Dankeschön, meine Kinder.«

»Dort sitzt ein zusätzliches Horn«, hatte er nun auf Englisch zu Grey gesagt.

Grey fragte sich, welches Merkmal ihn als Engländer entlarvt hatte. Wobei er mit der Einladung des britischen Konsuls in der Hand auch nicht wirklich inkognito war.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht genug von Musik, als dass mir das auffallen würde«, erwiderte Grey auf Deutsch.

Der Mann antwortete erneut auf Englisch: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir Englisch sprechen? Ich habe schon länger nicht mehr Englisch gesprochen und würde die alten Muskeln gerne wieder etwas aufwärmen.«

»Sehr gerne, Sir.«

»Aber mein Vorhaben wird vereitelt. Sie fangen gerade an, sehen Sie.«

Umständlich deutete er mit einem geschwollenen Finger nach vorne. Beethoven stand mittig vor dem Orchester, das Gesicht dem Publikum zugewandt. Bei englischen Konzerten hatte Grey gesehen, wie moderne Orchester im neuen Stil von Haydn dirigiert wurden, wobei ein Dirigentenstab und kein hüfthoher Stock zum Klopfen benutzt wurde. Hier in Wien, der Stadt Haydns, war es also nicht verwunderlich, dass Beethoven es ihm gleichtat. Wie er so dastand, dem Publikum zugewandt und mit dem langen Stab in der Hand, sah er aus wie ein Mörder, der einen langen Degen hielt, bereit, kaltblütig jemandem die Kehle durchzuschneiden. Mit einer langsamen Streichbewegung von links nach rechts brachte er das Publikum zum Schweigen. Seine Stimme war tief, vor allem für einen Mann seiner Größe, und forderte die ungeteilte Aufmerksamkeit eines jeden im Saal ein. Er sprach Deutsch.

»Zweifelsohne hatten Sie im Laufe des Abends bereits die Gelegenheit – oder Sie werden sie noch bekommen –, Seiner Durchlaucht, dem Fürsten Lobkowitz, für seinen Großmut zu danken, dass er diesen Abend ermöglicht.«

Grey konnte den Fürsten sehen, der in der Mitte der ersten halbkreisförmigen Reihe auf einem leicht extravaganten Thron saß.

»Ich selbst muss ihm ebenfalls meinen tiefen Dank aussprechen. Für Sie ist er der Fürst; für mich ist er noch etwas Größeres, ein Mäzen. Seine Gönnerschaft ehrt mich sehr. Ich hoffe, dass ich ihn im Gegenzug ebenso ehren kann, indem ich ihm meine Symphonie Bonaparte widme.«

Einem Mann eine Symphonie zu widmen, sie jedoch nach einem anderen zu benennen, kam Grey zwar etwas absurd vor, doch er war mit den beruflichen Konventionen der Musik auch nicht weiter vertraut. Jedenfalls stand das Publikum – Grey eingeschlossen – auf, um dem Fürsten zu dieser Widmung zu applaudieren. Der Applaus hielt etwa fünfzehn Sekunden lang an, dann bedeutete der Fürst allen mit einem Wink, wieder Platz zu nehmen, und streckte die offene Hand in Beethovens Richtung, um ihn zum Beginnen aufzufordern.

Beethoven nickte und wandte sich dem Orchester zu. Er hob den Taktstock über den Kopf – zeigte damit gerade nach oben –, riss ihn dann kräftig nach unten und das Orchester schlug den ersten Akkord an. Vom ersten Moment an brachte die Musik jeden im Raum aus dem Konzept. Nach einer sehr kurzen Pause wurde derselbe gewaltige Akkord erneut angeschlagen – das Publikum wartete geradezu auf die nächste Wiederholung, denn das natürliche Gefühl (zumindest das von Grey) tendierte zu einem dreifachen Element. Stattdessen begann jedoch das Thema. Ein außergewöhnlich einfaches Thema, so einfach, dass Grey es – obwohl er kein Musikgelehrter war – als ein Auf und Ab durch einen einfachen Dreiklang in Dur erkannte. Es klang beinahe wie eine Pastorale, doch nachdem es verklungen war, schlug das Thema in Cis-Dur um. Grey spürte, wie sich ein Gefühl der Unbehaglichkeit in seiner Brust ausbreitete … als ob die geballte Emotion einer Oper, eines Don Giovanni – die Spannung der Szene, in dem der Commendatore Giovanni in die Hölle hinabzieht – in ein Dutzend Noten gepresst worden wäre. Und dann war die Musik auf einmal wieder zurück in ihrem harmlosen Pastoral-Dreiklang in Dur. Grey legte den Kopf schief, ein unbewusster Ausdruck der Verwirrtheit, die schon fast an Besorgnis grenzte. Er spürte die Anspannung des Publikums um sich herum. Das Thema baute sich auf, von dem beinahe dünnen Klang eines Horns ausgehend, dann vom ganzen Orchester, und explodierte erneut. Doch nun wurde das Thema aufgedröselt und auf individuelle Einsätze der Musik mit erschütternden Pausen dazwischen verteilt. Dann kamen die Flöten, die arglos erneut die Pastorale spielten – nur, um von den wütenden Hörnern verdrängt zu werden, die eine furiose, schnelle Wiederholung davon durchsetzten und dabei durch ein zweites Thema in ein drittes rutschten, das sanft und glatt und tröstlich war. Die Musik tänzelte vom tiefen Bass in luftige Höhen, war erst leise und schwoll dann wieder zu der schmetternden Wiederaufnahme des originalen Themas an, das mit den neuen vermischt war – dann mehr Hiebe des Orchesters durch abrupte Pausen. Und dann noch ein neues Thema? Oder nur der Abstieg zurück zum Original. Nun gab es keine Pausen mehr zwischen den Hieben, und das komplette Orchester spielte eine Wiederholung des Themas – wobei diesmal die scharfe, misstönende Note ausgelassen wurde. Diesmal war es triumphierend, als ob Haydn oder Mozart es geschrieben hätten. Feurig und energisch, doch vertraut. Die Anspannung in Greys Brust ließ etwas nach. Die Musik zog ihn mit sich wie ein Achtergespann von wilden Pferden, doch nun galoppierten sie über Grund und Boden, der ihm vertraut war. Die Streicher tanzten sich in den Vordergrund der Musik, spielerisch, und erhoben sich dann zu einer weiteren gigantischen, doch natürlichen Variation des Themas.

Das Tempo fiel dramatisch ab, wie ein Boot, das langsam an einen Kai herangleitet. Und dann brach das Originalthema wieder herein, in einer niedrigeren Tonart … nicht übermäßig schnell, aber angereichert mit etwas Zündpulver, das nur auf die Explosion wartete. Doch jetzt klangen die spielerischen Streicher weniger spielerisch und tanzten auf dem tiefen Thema herum … dem simplen, doch sehr tiefen Originalthema, das jetzt durch verschiedene Akkorde, verschiedene Dreiklänge ging. Mit jeder Variation tauchten andere Farben vor Greys innerem Auge auf. Erneut Hiebe, und wieder Fragmente der sich abwechselnden Themen, die sich mit dem Hauptthema duellierten.

Und dann, aus dem Nichts, ein Wechsel in der Tonart – glaubte Grey zumindest – und ein neues, mäanderndes Thema, ähnlich einer Tonleiter. Grey wusste es nicht genau. Er fand nicht die richtigen Worte, um es sich selbst zu beschreiben. Die tiefen Streicher und die hohen Hörner kämpften, doch nicht gegeneinander, sondern nebeneinander, wie zwei Männer Schulter an Schulter auf einer Barrikade.

Die Hörner zogen sich zurück, woraufhin Streicher anfingen, eine Art Improvisation zu spielen, sehr leise nur.

Ein Hornbläser setzte zu früh mit der Melodie des ursprünglichen Themas ein – ein Fehler? Doch dann, einen Augenblick später, spielte das ganze Orchester das Thema mit.

Hatte die Tonart erneut gewechselt? Grey konnte nicht mehr folgen. Die Musik bombardierte den Raum wie die Breitseite der HMSVictory. Und zwar wie eine schlingernde Breitseite, während der die Victory beide Seiten bekämpfte, wie sie es bei St. Vincent getan hatte.

Dann Frieden. Flöten. Ruhe. Die dann wieder kräftiger wurden, schnell wieder zu irgendeinem Thema zurückeilten. Derselbe Akkord, immer und immer wieder. Dann zurück zum Thema.

Noch eine neue Tonart? Oder nur ein neuer Akkord? Jetzt spielten die Streicher ihre eigene leichte Variation der Pastorale. Neu und luftig. Ohne sich festzulegen. Schon gleich schwoll wieder etwas an – alle Kanonen feuerten nun auf einmal, eine neue Version des Themas – bei der die vorletzte Note wiederholt und die letzte ausgelassen wurde. Hiebe, gigantische Akkorde.

DUM.

DUM.

Duuuuuum.

Der erste Satz war zu Ende und Grey fühlte sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Noch nie zuvor hatte er etwas Derartiges gehört. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn da begann schon der zweite Satz.

Dieser war langsam, leise und voller Trauer. Ein Trauermarsch. Ein Wehklagen der Hörner. Das Thema des ersten Satzes wurde zwar nicht direkt wieder aufgegriffen, war jedoch am Rande zu erahnen. Ein Echo hallte darin nach. Es war zu einem Geist geworden und dies war seine Trauermusik. Die Musik baute sich – in Greys Gedanken – entlang dieser Vorstellung auf. Als wäre sie ein Chor von Trauernden, der immer mehr anschwoll, je mehr Singende hinzukamen. Ein Moment der aufflackernden Angst entstand. Die Trauernden standen am Rande einer Klippe, blickten in den Abgrund hinab und fragten sich, ob sie gleich vornüber hinabstürzen würden. Sie rückten davon ab, entschieden sich, dem Glück eine Weile den Rücken zu kehren. Und dann versammelten sie sich wieder – eine Brigade der Trauernden – oder, wie Grey es jetzt sah, eine Brigade in Trauer, die nun die Trauer hinter sich lassen und anfangen musste, an die nächste Schlacht zu denken. Und nun auf sie zumarschieren. War das die französische oder die österreichische Armee? Vielleicht beide.

Ein Anflug von Optimismus schimmerte hindurch. Sonne hinter Wolken. Doch die Wolken waren immer noch da. Ein neues Marschtempo. Kehrte da das Thema der Pastorale zurück? Doch etwas stimmte nicht damit, etwas fühlte sich verkehrt an. Es war leise, sehr leise. Die Armee verschwand hinter dem Horizont. Und dann war sie fort.

Sogleich strömte der dritte Satz herein. Wasser durch einen Damm. Jungen rannten neben einer triumphierenden Armee her, die nach Hause marschierte, verfielen in den gleichen Schritt wie die Soldaten, reckten Stöcke wie Schwerter und Musketen. Es war überschwänglich. Triumphal … mit kleinen, darunter lauernden Momenten von angedeuteter Bedrohung, die allerdings rasch von der Freude der Feiernden weggestampft wurden. Frauen eilten, ihre Männer zu begrüßen. Deren Schritt wurde langsamer, sie begrüßten Freunde, nahmen Getränke entgegen … Erneut schwoll Triumph an, als die Männer ihre eigenen Häuser betraten, mit ihren eigenen Familien; mit ihren Frauen; und dann die Türen hinter sich schlossen. So schnell der dritte Satz hereingeströmt war, so schnell war er auch schon wieder zu Ende.

Dann ein schwindelerregender Abstieg zu einem neuen Thema im vierten Satz. Die Musik wurde leise gezupft, ein tanzender Bauer als Echo des Themas der Symphonie, eine freudige, ausdrucksstarke Variation – doch auch hier wieder mit gelegentlichen Andeutungen von geringerer Bedrohung – dann unverhohlener Bedrohung, wie einer dieser slawischen Schwerttänze. (Wo kamen denn die Slawen auf einmal her?) Allerdings war die Musik immer noch voll beträchtlicher Freude. Vielleicht waren dies auch die Geräusche des Fests auf dem Marktplatz, um die Rückkehr der Armee zu feiern … die Musik breitete sich zu dicken, breiten Harmonien aus. Und dann Hiebe – schmerzhafte Hiebe der Dissonanz. Ein neues Tempo, rasch, rasche Schrittgeschwindigkeit. Bereit, zu einem Laufen überzugehen, es hielt sich jedoch selbst zurück. Und die Freude schmolz langsam dahin, eine Art grimmige Kaltblütigkeit setzte ein. Es war weder fröhlich noch traurig, bloß kraftvoll.

Dann ging es schließlich doch in ein Laufen über – und der Triumph kehrte zurück, während die Musik rannte, über Hindernisse hinwegsprang, ihr Schwert hoch in die Luft reckte und mehr Truppen von Musik hinter sich herführte.

Dann war es vorbei.

Grey fühlte sich leicht berauscht. Er stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, und schüttelte den Kopf. Er sah hinüber zu dem älteren Mann neben ihm. Der Gesichtsausdruck des Mannes zeigte eine seltsame Mischung aus Verwunderung und eingetroffener Erwartung.

»Noch nie zuvor habe ich so etwas gehört«, sagte Grey.

»Nein«, antwortete der Mann. »Das hat niemand.«

 

Der Applaus war kurz und verhalten. Und doch, als sich das Publikum erhob – wodurch es den Dienern möglich wurde, die Stühle wegzuräumen und aus dem Konzertraum wieder einen Festsaal zu machen – drängte sich eine Menschentraube um Beethoven, denn alle wollten ein Wort oder einen Händedruck mit dem berühmten Komponisten. Beethoven nickte einigen Leuten höflich zu, allerdings ohne zu lächeln, und sprach nur mit Fürst Lobkowitz. Dann drehte er sich um, ging durch das Orchester und verschwand in irgendeinem privaten Nebenraum. Der Fürst sagte etwas zu denjenigen, die nach Beethovens Aufmerksamkeit gelechzt hatten, und folgte dann Beethoven, mit einem einfach gekleideten Mann von ungefähr zwanzig Jahren an seiner Seite. Grey wandte sich von dem Durcheinander ab, um dem alten Mann neben ihm auf die Beine zu helfen – sah jedoch, dass die Diener des Mannes bereits da waren. Einer von ihnen stieß Grey – mehr oder weniger unabsichtlich – mit dem Ellbogen an, als dieser sich beeilte, den Mann am Arm zu fassen. An einem normalen Abend hätte Grey dies vermutlich angemerkt, doch in seiner aktuellen Gefühlslage trat er einfach ein wenig zurück und holte ein Zigarillo-Etui aus seiner Hosentasche.

Der junge Mann, der den Fürsten Lobkowitz zu Beethovens Rückzugsort begleitet hatte, erschien jetzt erneut und wisperte dem alten Mann etwas ins Ohr, woraufhin dieser nickte und – seine Diener mit dem bloßen Stock wegwinkend – sich auf den Weg nach vorne machte, der junge Mann neben ihm – vermutlich, um sich zum Fürsten und Beethoven zu gesellen. Grey fragte sich, wer der Mann wohl war, hatte allerdings keine Zeit, weiter über diese Frage nachzugrübeln. Schließlich hatte er ein Rendezvous wahrzunehmen.

Eine Seite des Saals war von bodentiefen Sprossenfenstern gesäumt, die auf eine niedrige Terrasse führten. Grey öffnete eines davon und trat hinaus in die laue Nacht, das rege Treiben der Feier hinter sich lassend. Diener mit Tabletts voller Champagner waren aufgetaucht. Grey zündete sich einen Zigarillo an und wartete.

Ein paar Minuten später hörte er, wie sich eine der Türen hinter ihm öffnete – wobei der Lärm des Fests auf die Terrasse hinausschwappte. Grey drehte sich um. Es war der junge Mann, der den Alten und den Fürsten begleitet hatte. Konnte der etwa der spanische Botschafter in Preußen sein? Das bezweifelte Grey stark, sprach ihn jedoch nichtsdestotrotz mit dem Erkennungssatz an, um sich sicher zu sein.

»Kann ich Ihnen einen Zigarillo anbieten?«, fragte Grey auf Deutsch.

»Oh – ja, gerne, danke. Sehr freundlich«, antwortete der Mann, ebenfalls auf Deutsch.

Das war nicht die korrekte Parole – wäre er Greys Rendezvous gewesen, hätte er erwidern müssen: »Nein, ich bin heute Abend nicht in der Laune zu rauchen.« Wer war also dieser Mann? Grey hielt ihm sein Etui hin, damit der sich eine der langen, dünnen Zigarren nehmen konnte.

»Ich probiere gerne verschiedene Mischungen aus«, erklärte er, während Grey ein Streichholz für ihn entzündete. »Beinah ist es meine Art, die Welt zu erkunden.«

Er lächelte. »Danke, Mr …?«

»Blake. Thomas Blake.« Grey benutzte sein Pseudonym für den heutigen Abend und streckte die Hand aus. Der junge Mann schüttelte sie.

»Ferdinand Ries.«

Grey nickte und einen Moment lang rauchten sie schweigend, beide den Blick nach hinten auf die Feier gerichtet.

»Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass Sie mit dem Fürsten gesprochen haben«, eröffnete Grey das Gespräch nach einem Augenblick.

»Ja«, bestätigte Ries. »Nun ja, gesprochen vielleicht nicht – eher eine Nachricht überbracht. Ich bin Herrn van Beethovens Sekretär.«

»Ah«, machte Grey. »Das muss eine sehr faszinierende Anstellung sein.«

»Das ist sie, Sir. Ich bin außerdem einer seiner Schüler.«

»Ich wusste gar nicht, dass er unterrichtet.«

»Doch«, erklärte Ries, »allerdings nicht regelmäßig. Tatsächlich bin ich momentan sein einziger Schüler, weswegen ich auch zu den Pflichten als Sekretär genötigt wurde, ha ha. Herr van Beethoven war kurze Zeit ein Schüler meines Vaters in Bonn und Beethoven vergisst nie eine Gefälligkeit.«

Grey nickte.

»Wenn ich so frei sein dürfte, Sie zu fragen, wer der ältere Herr war, neben dem ich während des Konzerts saß? Ich sah, dass Sie ihn ebenfalls hinausbegleitet haben.«

Ries sah milde überrascht aus, allerdings nur für einen Augenblick, dann – nachdem er einen Zug von seinem Zigarillo genommen hatte – sagte er: »Das war der Komponist Herr Haydn.«

»Haydn?«, wiederholte Grey. »Potz, Blitz und Donnerschlag! Verzeihen Sie mir. Das hätte ich gerne eher gewusst.«

»Wie ich sehe, sind Sie kein Deutscher«, bemerkte Ries.

»Ich bin Engländer«, erwiderte Grey.

Ries nickte. »Selbstverständlich hat Haydn Ihr Land oft besucht. Genauso selbstverständlich sollte ich aber auch nicht den vulgären Fehler begehen, anzunehmen, dass jeder das unverdiente Glück hatte, die Bekanntschaft einiger dieser großen Männer zu machen.«

Grey nickte. Ein vernünftiger Kerl.

»Wenn Sie mir die Frage gestatten – ohne das Vertrauen ihres Arbeitgebers verletzen zu wollen – war Haydn Beethovens Lehrer?«

»Laut Haydn, ja.«, antwortete Ries lachend. »Laut Beethoven – na ja – kommt ganz darauf an, zu welcher Stunde des Tages Sie ihn das fragen. Sie haben eine etwas unstete, jedoch trotzdem sehr enge Freundschaft. Allerdings sollte ich wohl nicht mehr dazu sagen.«

Grey nickte und sie rauchten einen weiteren Moment schweigend vor sich hin.

»Ich habe noch nie so etwas wie die SymphonieBonaparte gehört«, meinte Grey schließlich.

»Nein«, erwiderte Ries, »ich auch nicht. Vielleicht haben Sie ja davon gelesen, dass Herr van Beethoven in letzter Zeit krank war. Ziemlich krank. Ich hatte gehofft, dies würde den Leidenschaften, die zu seiner Erkrankung geführt hatten und von ihr genährt wurden, ein Ende setzen.«

Grey nickte. Ein anderer Mann trat nun hinaus auf die Terrasse. Grey wollte kein abruptes Ende der Unterhaltung mit Ries erzwingen, aus Sorge, dass dies zu auffällig wäre – doch er hatte den Verdacht, dass dieser neue Mann sein spanischer Botschafter war. Es war Zeit, voranzukommen.

»Von seiner Krankheit habe ich nichts gelesen. Das tut mir sehr leid – einer von Herrn Haydns Männern sucht gerade jemanden«, fuhr Grey fort und deutete hinein zu einem imaginären Diener. »Nach Ihnen, vielleicht?«

»Ja, vermutlich – und auch wenn nicht, sollte ich in jedem Fall zurückkehren, bevor ich vermisst werde.«

Ries lächelte erneut, ließ den Stumpen des fertig gerauchten Zigarillos auf den Boden fallen und trat ihn aus. »Ich danke Ihnen, Mr Blake, für den Zigarillo.«

»Und ich Ihnen, Mr Ries, für die Gesellschaft.«

Sie schüttelten sich die Hände und Ries ging wieder hinein zum Fest, während sich Grey zu einem Mann umwandte, der sich die letzten Minuten über am Rande der Terrasse aufgehalten und in die Nacht hinausgeblickt hatte.

»Kann ich Ihnen einen Zigarillo anbieten?«, fragte Grey, als er sich ihm näherte.

»Nein danke. Ich bin heute Abend nicht in der Laune zu rauchen.«

»Die sind allerdings sehr gut«, erwiderte Grey und klappte sein Zigarillo-Etui auf. Diesmal öffnete er allerdings den doppelten Boden und offenbarte einen Scheck über den Wert von fünfundzwanzigtausend Pfund Sterling, ausgestellt von einer Bank in Genua, auf die man sich geeinigt hatte, und notariell beglaubigt mit einer Unterschrift, die der Botschafter erkannte.

Dieser nickte. Dann schüttelte er aber den Kopf, als ob er es sich anders überlegt hätte. »Nein danke, ich muss leider ablehnen. Meine Gesundheit, wissen Sie.«

Grey nickte und schloss das Etui wieder, wobei er den nun akzeptierten Scheck in der Handfläche verbarg.

In demselben leisen, jedoch normalen Plauderton fuhr der Botschafter fort: »Der Vertrag von San Ildefonso besagt Folgendes: In Anerkennung von Frankreichs Friedensabkommen mit der spanischen Krone und ihrem Reich erklärt sich Spanien dazu bereit, Großbritannien den Krieg zu erklären, seine Häfen für alle britischen Schiffe, Kriegs- wie Handelsschiffe, zu schließen und diese, in Iberien und dem Reich, allesamt Frankreich zur Verfügung zu stellen. Der Grund für die Geheimhaltung des Vertrags ist dessen Voraussetzung, dass diese Bedingungen nicht vor der Ankunft einer letzten Armada-Schiffsladung von spanischem Gold und Silber in Madrid aus unseren Mienen in Südamerika in Kraft treten werden. Ohne diese wäre Spanien nicht in der Position, einen Krieg zu führen, und ihre Verschiffung während eines Krieges würde das Risiko einer Beschlagnahmung durch die britische Marine bedeuten. Die Verschiffung wird in ihrem vollen Umfang aus nicht weniger als fünfhundertfünfzig Stangen Eisen, eintausendsechshundert Stangen Zinn, einhundertfünfzigtausend Goldbarren sowie aus fünf Millionen geprägten Gold- und Silberdollars bestehen.«

Grey widerstand dem Impuls, einen Pfiff auszustoßen. »Wann wird die Schatzflotte Südamerika verlassen?«

»Das weiß ich nicht. Niemand in Europa weiß das. Um die Verschiffung zu schützen und abzusichern, werden alle Einzelheiten dem Konsul des Flussgebiets Río de la Plata überlassen. Mit Sicherheit kann einzig und allein gesagt werden, dass sie vor Ende des Jahres ankommen muss, andernfalls müsste Spanien Großbritannien ohne sie den Krieg erklären, oder wird selbst von Frankreich besetzt. Der Vertrag lässt nur diese drei Möglichkeiten zu. Dies sind die Daten, die ich habe, vollumfänglich. Verabschieden wir uns nun voneinander und gehen getrennter Wege zurück zur Feier.«

»Wie viele Schiffe gehören zur Schatzflotte und wie viele davon sind Kriegsschiffe?«

»Wie ich bereits sagte, Mr Blake, niemand in Europa weiß mehr, als ich Ihnen schon mitgeteilt habe. Das ist alles. Und nun muss ich gehen.«

Der Botschafter streckte die Hand aus. Grey schüttelte sie und schob diskret den Scheck von seiner Handinnenfläche in die des Spaniers.

Basco y Anda ging bereits zum Saal zurück und wieder nach drinnen, von wo Grey Unterhaltungen und Gelächter vernahm. Grey war schmerzlich versucht, ihm zu folgen … Jetzt, wo er mit Ries bekannt war und ein paar Worte mit Haydn gewechselt hatte, hätte er nun ja vielleicht die Chance, mit einem der großen Männer zu sprechen, bevor der Abend vorbei war. Doch er wusste, dass die Neuigkeiten, die er erhalten hatte, nicht warten konnten, keine Stunde. Keine Minute. In nicht mehr als sechs Monaten wäre Großbritannien mit einem der reichsten und mächtigsten Reiche der Welt im Krieg. Doch jetzt, genau in diesem Moment, war es Großbritannien, das die Initiative ergreifen konnte. Und es galt, keinen Augenblick zu verlieren.

Schnellen Schrittes ging Grey am Rande des Festes entlang und trat dann hinaus auf die Straßen Wiens.

2

Zwei Wochen später und zurück in London saß Grey in seinem Büro im Alten Admiralitätsgebäude in Whitehall, dem Hauptquartier des britischen Marinegeheimdienstes. Nachdem er, seiner Meinung nach, einen angebrachten Zeitraum damit zugebracht hatte, durch die liegen gebliebene Korrespondenz eines Monats zu waten, hatte er sich – zusammen mit einem Stück Hartkäse und einer dünnen Scheibe Brot – neuen und detaillierten Zeichnungen des Hauptgesimses des Parthenons zugewandt, die von Englands Botschafter bei der Hohen Pforte, Lord Elgin, neu veröffentlicht worden waren. Sie waren außergewöhnlich. Wunderschön. Plastiken von der Komplexität und Natürlichkeit eines Renaissancegemäldes, allerdings zweitausend Jahre älter. Sie mit eigenen Augen zu sehen, stellte sich Grey vor, hätte wohl dieselbe erschütternde Macht wie die Symphonie Bonaparte, die ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte.

»Schon beim Mittagessen?«

Grey sah auf. Geraume Zeit wartete er schon auf einen Boten, der ihn in Sir Edward Banks’ Büro bestellen würde, doch in seiner offenen Tür stand stattdessen sein Kollege George Fairbanks, einer der Männer, mit dem sich Grey einen Sekretär teilte.

»Eher Frühstück, würde ich sagen«, erwiderte Grey. »Wie spät ist es denn?«

»Wo ist denn Ihre Breguet?«, fragte Fairbanks und zog seine Taschenuhr unter der Weste hervor.

»Die Feder wird gerade neu aufgezogen«, antwortete Grey.

»Halb zwei. Da Sie ja aber erst beim Frühstück sind, kann ich Sie ja vielleicht zum Mittagessen in meinen Club einladen?«

»Ich weiß nicht genau, wann ich hier fertig sein werde«, gab Grey zu bedenken.

»Ich auch nicht«, antwortete Fairbanks. »Da Sie ja aber erst beim Frühstück sind, darf ich Sie vielleicht später zum Essen in meinen Club einladen und wir nennen es Lunch? Falls Sie vor mir ankommen, lassen Sie sich einen Drink für mich geben.«

»Wie Sie möchten«, sagte Grey. »Ich danke Ihnen.«

»Sind Sie heute Morgen erst vom Kontinent zurückgekommen?«

Grey nickte. »Und wo kommen Sie her, um halb zwei?«

»Lord’s«, antwortete Fairbanks.

»Vom Spielen oder Zusehen?«

»Sie sind mir einer, Grey. Spielen, natürlich. Alte Alumni der Harrow School.«

»Mit Cricket hab ich es nicht so«, erklärte Grey. »Und, waren Sie happy und glorious?«

»Ich weiß nicht. Vermutlich spielen sie immer noch. Aber vor ein paar Stunden tauchte ein junger Bursche des Geheimdienstes beim Spielfeld auf und richtete mir aus, dass mich Sir Edward auf ein Wort sprechen wolle. Glücklicherweise konnten die Jungs Ersatz für mich finden – obwohl es so gut wie unmöglich sein dürfte, einen echten Ersatz zu finden, fürchte ich« – Grey schmunzelte – »zum Zeitpunkt meines Aufbruchs hatten wir jedoch bereits leider viel mehr Schläge einstecken müssen, als dass wir selbst getroffen hätten.«

Grey lachte.

»Haben Sie ihn schon gesehen? Sir Edward.«

Fairbanks nickte. »Allerdings hat er mich angewiesen, noch zu warten.«

»Verzeihung, die Herren«, sagte da ein junger Angestellter von Sir Edward, der hinter George Fairbanks stand und angesichts der Tatsache, dass er ihre Unterhaltung unterbrach, peinlich berührt dreinblickte. »Mr Grey, Sir Edward fragt sich, ob er Sie wohl auf ein Wort sprechen könnte.«

»Danke Ihnen, Blakeney«, antwortete Grey und stand auf. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, George.«

»Dann bis um fünf«, erwiderte Fairbanks.

 

Als Grey Sir Edward Banks’ Vorzimmer betrat, grüßte er im Vorbeigehen nacheinander die zwei diensthabenden Sekretäre mit einem Nicken und steuerte auf die Ebenholztür zu, dem Fort zu Sir Edwards Allerheiligstem.

»Bitte gehen Sie direkt hinein«, wies der zweite Sekretär ihn an.

»Danke«, antwortete Grey. Er öffnete die Tür und betrat das Büro seines Vorgesetzten, ging zu dessen Schreibtisch und wartete dann schweigend darauf, dass Sir Edward von seiner Arbeit aufblicken würde.

Nach ungefähr zwanzig Sekunden tat er das auch. »Grey«, sagte er. »Bitte setzen Sie sich.«

Grey nahm in einem der zwei gut gepolsterten Ohrensessel vor Sir Edwards Schreibtisch Platz.

»Bevor ich zur Sache komme, muss ich fragen: Wie war das Konzert?«

»Furios«, antwortete Grey. »Ich fürchte, dass ich nicht genug von Musik verstehe, um viel mehr dazu zu sagen.«

Sir Edward nickte nachdenklich. »Jedenfalls – nun komme ich zum Punkt: Die Angelegenheit mit Spanien ist ungeheuerlich, allerdings bin ich gezwungen, Sie zu enttäuschen und Ihnen mitzuteilen, dass ich Sie nicht nach Südamerika schicken werde.«

Grey lehnte sich leicht nach vorne, seine Schultermuskeln spannten sich an. »Sir?«

»Ich werde Fairbanks schicken.«

Sir Edward hatte sich ebenfalls nach vorne gelehnt und stopfte jetzt seine Pfeife. Die Verzögerung gab Grey die Gelegenheit, sich drei oder vier Dutzend gute Gründe einfallen zu lassen, deretwegen er den Auftrag nicht verlieren dürfe. Obwohl man fairerweise festhalten musste, dass es nie seiner gewesen war.

»Fairbanks ist ein guter Mann«, sagte Grey, als das Schweigen über dem Stopfen der Pfeife unerträglich wurde.

»Ja«, erwiderte Sir Edward, entzündete erst ein Streichholz und dann den Tabak. Er nahm ein paar kräftige Züge, um die Glut anzufachen, dann wedelte er das Streichholz aus und wandte sich wieder Grey zu. »Dass er ein guter Mann ist, ist allerdings nicht der Grund, warum ich ihn mit dem Auftrag der Schatzflotte betraue. Vielmehr übergebe ich diesen an ihn, weil ich Sie derzeit nicht guten Gewissens in den Südatlantik schicken kann. In den letzten anderthalb Jahren haben Sie nach Iberien und Frankreich übergesetzt, sind ins Raj und wieder zurückgereist, dann nach Frankfurt, Frankreich und nun Wien. Sie sind mindestens zwei Mal ernsthaft verwundet worden – soll heißen, Sie haben Verletzungen erlitten, an denen Sie hätten sterben können –, und ich kann nicht einmal sagen, wie viele leichtere Verwundungen Sie außerdem noch hatten. Ich habe nicht vor, Sie zu verschleißen, Grey. Sie wie eine Kanone einzusetzen, die zu oft zu schnell abgefeuert wird und dann explodiert. Und dabei sich selbst und andere zerstört.«

»Sir«, warf Grey ein, »ich versichere Ihnen, dass ich die Arbeit dem Nichtstun um einiges vorziehe. Falls Sie sich um meine Gesundheit oder meine Ausdauer sorgen, was den Auftrag angeht – dazu kann ich nur sagen, dass diese sehr viel besser durch Aktivität erhalten bleiben als durch Passivität.«

Sir Edward nickte. »Wenn Sie das nicht so sehen würden, Tom, wären Sie von keinerlei Nutzen für mich.« Er lächelte milde. »Allerdings sind Sie in der Angelegenheit unfähig, ein vernünftiges Urteil zu fällen. Fairbanks hat an der San-Ildefonso-Sache in Spanien gearbeitet; er ist bestens dafür gerüstet, die Arbeit daran wieder aufzunehmen. Ab dem heutigen Tag sind Sie für sechs Monate freigestellt.«

»Sir, bei allem Respekt-«

»Das wäre dann alles, Grey. Ich habe zu arbeiten. Sprechen Sie mit Willys und lassen Sie sich einen Gehaltsvorschuss vom Zahlmeister ausbezahlen. Wir sprechen uns dann im neuen Jahr wieder.«

Grey stand auf. Sir Edward fuhr bereits mit der Lektüre irgendeiner Mitteilung fort. Leise und mit aufsteigendem Ärger verließ Grey den Raum.

Nachdem er die Ebenholztür hinter sich geschlossen hatte, wandte er sich nach rechts und ging schnurstracks durch die offene Tür von Aaron Willys’ Büro.

»Aaron, dürfte ich bitte erfahren, was in aller Welt hier los ist? Sie haben mir zu verstehen gegeben – und wie ich finde, sehr deutlich –, dass ich diese Angelegenheit bis zum Ende verfolgen sollte. Ansonsten hätte ich die Aufgabe in Wien abgelehnt und wäre einer persönlichen Verpflichtung von größter Wichtigkeit in St. Petersburg nachgekommen. Ich glaube, dass das Wort ›Pflicht‹ gefallen ist. Allerdings auf eine recht schäbige Weise, würde ich sagen, wenn es nur dazu gedient hat, mich auf Armeslänge zu halten und wie einen Botenjungen zu benutzen.«

Willys saß hinter seinem Pult und schrieb etwas.

»Setzen Sie sich, Tom, und hören Sie mit dem Geschimpfe auf. Was für ein Unsinn.«

Er legte den Stift zur Seite und schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich damit beginnen, Sie daran zu erinnern, dass das hier kein Gesellschaftsclub ist, wo man sich die Einladungen, die man annimmt oder ablehnt, frei aussucht. Dann lassen Sie mich hinzufügen – Tom –, dass ich Sie trotz unserer langen und engen Verbindung um ein Duell bitten werde, sollten Sie mir jemals wieder Unehrlichkeit unterstellen.«

Es folgte ein Moment des Schweigens. Willys Gesicht schien versteinert. Grey war hin- und hergerissen zwischen Ärger und Zerknirschung. Die Zerknirschung siegte.

»Ich entschuldige mich, Aaron. Vorbehaltslos. Sie sind der letzte Mann, den ich je der Lüge bezichtigen würde.« Grey meinte das vollkommen aufrichtig, und Willys wusste das.

»Nun, dann vergessen wir das wieder. Ich verstehe, warum Sie wütend sind, Tom. Als ich Sie für den Hispano-Froschfresser-Vertrag ausgewählt habe, nahm ich an, wie ich fürchte, dass sich die Einzelheiten im Falle einer Kriegserklärung auf Truppeneinsätze oder Hafenabkommen beziehen würden, oder etwas von solcher Natur. Das Szenario, von dem ich ausgegangen bin, hat keine Reise in die entlegenen Winkel des spanischen Reichs vorgesehen.«

»Sie tun ja gerade so, als ob eine Reise in das Vizekönigreich des Río de la Plata ein Ausflug ins Innere von Sumatra wäre. Montevideo ist doch einer der reichsten Häfen der Welt.«

»Montevideos Reichtum ist allerdings nicht materieller Natur, Tom-«

»Sehr witzig-«

»Als Sie heute Morgen den Bericht zu Bosco abgegeben haben, hat mich Sir Edward nicht nach meiner Meinung zu Ihrer Reiseverfassung gefragt. Er sagte mir nur, dass er nicht wünsche, Sie so bald wieder derartig weit wegzuschicken, und wollte wissen, ob es Fairbanks oder Macaulay war, der die Identität von Godoys korruptem Sekretär herausgefunden hatte. Fairbanks, sagte ich ihm. Damit hatte sich die Angelegenheit. Und wenn es von dem Treffen mit dem spanischen Botschafter sonst nichts mehr gibt, an das Sie sich erinnern, muss ich nun weitermachen. Schauen Sie beim Zahlmeister vorbei, bevor Sie gehen. Informieren Sie mich, falls Sie vorhaben, das Land zu verlassen. Und seien Sie, sagen wir mal, am 1. Februar des nächsten Jahres wieder hier.«

»Nun gut, Aaron«, erwiderte Grey und stand auf. »Soll ich für ein paar Tage bei Buttle’s einkehren, damit ich leicht aufzutreiben bin, falls Sie oder Sir Edward einsehen, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben?«

»Das wird nicht nötig sein, Tom. Fahren Sie nach Hause. Gehen Sie schwimmen, jagen, lesen Sie – spazieren Sie eine Runde mit Fred. Und richten Sie Mrs Hubble und Canfield meine besten Grüße aus.«

Grey nickte, sah ein, dass es nichts weiter zu sagen gab, und verabschiedete sich: »Nun dann, machen Sie’s gut.«

Er stand auf. Willys erwiderte sein Kopfnicken und sagte: »Sie auch, Tom.«