Spion Captain Grey 1 und 2 - J. H. Gelernter - E-Book
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Spion Captain Grey 1 und 2 E-Book

J. H. Gelernter

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Beschreibung

Jagd nach Vergeltung England, 1803. Thomas Grey, Kapitän der britischen Marine und Spion im Dienste seiner Majestät, hat sich nach einem schweren Schicksalsschlag zurückgezogen und möchte nach Amerika auswandern. Der kürzlich mit den Franzosen geschlossene Frieden verspricht eine gefahrlose Überfahrt. Plötzlich kommt es jedoch zu einem Feuergefecht mit einem französischen Schiff. Grey überlebt und landet in Portugal, wo er auf einen Anwerber des französischen Geheimdienstes trifft. Dieser bietet dem Spion eine hohe Summe, damit er die Seiten wechselt. Grey willigt ein und gibt sich als Überläufer aus – nicht, um sein Land zu verraten, sondern um die einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, sich an seinem schlimmsten Feind zu rächen, der ihm alles nahm … Spiel des Deserteurs England, 1803. Eine französische Invasionsflotte steht kurz davor, die Strände Südenglands zu stürmen, als ein Mitglied aus Napoleons innerstem Kreis den britischen Marinegeheimdienst in der Hoffnung kontaktiert, mit brisanten Informationen nach London überlaufen zu können. Das internationale Schachturnier in Frankfurt gibt ihm die seltene Gelegenheit, außerhalb Frankreichs zu reisen. Der Geheimdienst schickt seinen besten Spion – und Schachspieler – Kapitän Thomas Grey, um die Flucht des Franzosen nach England zu arrangieren. Doch Greys Mission ändert sich dramatisch, als der Überläufer verlangt, dass seine pro-napoleonische Tochter ihn begleitet und erwartet, dass Grey nicht nur als Geleitschutz, sondern auch als Entführer fungiert.

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Über das Buch

Jagd nach Vergeltung:

England, 1803. Thomas Grey, Kapitän der britischen Marine und Spion im Dienste seiner Majestät, hat sich nach einem schweren Schicksalsschlag zurückgezogen und möchte nach Amerika auswandern. Der kürzlich mit den Franzosen geschlossene Frieden verspricht eine gefahrlose Überfahrt. Plötzlich kommt es jedoch zu einem Feuergefecht mit einem französischen Schiff. Grey überlebt und landet in Portugal, wo er auf einen Anwerber des französischen Geheimdienstes trifft. Dieser bietet dem Spion eine hohe Summe, damit er die Seiten wechselt. Grey willigt ein und gibt sich als Überläufer aus – nicht, um sein Land zu verraten, sondern um die einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, sich an seinem schlimmsten Feind zu rächen, der ihm alles nahm …

 

 

Spiel des Deserteurs:

England, 1803. Eine französische Invasionsflotte steht kurz davor, die Strände Südenglands zu stürmen, als ein Mitglied aus Napoleons innerstem Kreis den britischen Marinegeheimdienst in der Hoffnung kontaktiert, mit brisanten Informationen nach London überlaufen zu können. Das internationale Schachturnier in Frankfurt gibt ihm die seltene Gelegenheit, außerhalb Frankreichs zu reisen. Der Geheimdienst schickt seinen besten Spion – und Schachspieler –, Kapitän Thomas Grey, um die Flucht des Franzosen nach England zu arrangieren. Doch Greys Mission ändert sich dramatisch, als der Überläufer verlangt, dass seine pro-napoleonische Tochter ihn begleitet und erwartet, dass Grey nicht nur als Geleitschutz, sondern auch als Entführer fungiert.

J. H. Gelernter

Spion Captain Grey 1 und 2

Buch 1: Jagd nach VergeltungBuch 2: Spiel des Deserteurs

Spion Captain Grey 1 und 2

Buch 1: Jagd nach Vergeltung

Ohne den Rat und die Ermutigung meiner Eltern hätte ich dieses Buch vielleicht niemals geschrieben, weil ich nach der Schule vielleicht meinem Bauchgefühl gefolgt und zur See gefahren wäre, und, da ich im Geiste manchmal etwas abwesend bin, wäre ich vermutlich jetzt schon über Bord gegangen.

 

Daher ist dieses Buch mit Liebe ihnen gewidmet.

 

Da das nun gesagt ist – schließlich hat man nur einmal die Chance, jemandem sein erstes Buch zu widmen –, würde ich gerne noch eine Widmung für Elon »die Muskete« Musk hinzufügen, denn wenn wir mal ehrlich sind, ist der Weltraum auch nur ein sehr großer, weniger welliger Ozean, und jeder Ozean braucht einen Schriftsteller auf der Durchreise. Kann ihm bitte jemand ausrichten, dass ich ihm zur Verfügung stehe, wie Darwin damals seiner HMS Beagle?

1

13. Mai 1803

London

 

 

In einem dunklen, mit Eichenholz vertäfelten Raum im zweiten Stock des Admiralitätsgebäudes trommelte Sir Edward Banks mit den Fingern auf den Tisch und wartete darauf, zum Sprechen aufgefordert zu werden. Er musste einer unerfreulichen Pflicht nachkommen und wollte es endlich hinter sich bringen.

Man hatte es für angebracht gehalten, nahm er an, dass der Amtssitz der Admiralitäts- und Marineangelegenheiten Seiner Majestät mit demselben Eichenholz ausgestattet sein sollte, aus dem auch die Schiffe Seiner Majestät gebaut wurden. Da bald wieder Krieg ausbrechen würde – Sir Edward zweifelte nicht daran, dass der in Amiens ausgehandelte Frieden nur von kurzer Dauer sein würde –, fragte er sich, ob es England nicht vielleicht bald bereuen würde, Eichenholz für irgendetwas anderes als für Schiffsrümpfe und Planken verwendet zu haben. Er ließ seinen Blick zum Fenster und nach draußen über Whitehall wandern. Über solche Fragen musste er sich nicht den Kopf zerbrechen. Er saß nicht im Marinerat; sein Name stand nicht auf der Kapitänsliste; er war nie öffentlich genannt worden, noch würde das je passieren. Er war der Vorsitzende des Marinegeheimdienstes und stand damit außerhalb der regulären Hierarchie.

»Sir Edward«, sagte der Marineminister, »Sie hatten eine Angelegenheit bezüglich Malta vorzubringen?«

»Ja, Lord St. Vincent«, sagte Banks, »aber nur, um Sie davon zu unterrichten, dass wir unseren dortigen Mann abziehen mussten und uns deshalb auf die herkömmlichen Kanäle verlassen müssen.«

»War das nicht Captain Thomas Grey?«, bemerkte ein Vizeadmiral der Blauen, der für das Mittelmeergeschwader sprach.

»Ja.«

»Es gibt keinen Thomas Grey auf der Kapitänsliste, Sir«, sagte der Lord Marinekommissar.

»Captain Grey war nur formal ein Kapitän der Marineinfanterie, Sir«, antwortete der Admiral, »und ein sehr zuverlässiger Mann, wie ich fand.«

»In der Tat, Admiral – in letzter Zeit hatte er allerdings mit einigen Schwierigkeiten persönlicher Natur zu kämpfen. Die Ehefrau des Gentleman wurde letztes Jahr im März getötet.«

Es entstand eine kurze Pause, während der Sir Edward hoffte – vergebens, wie er wusste –, dass seine Kollegen ihm gestatten würden, die Angelegenheit damit auf sich beruhen zu lassen; er zog es deutlich vor, zu Captain Greys Problemen nicht auch noch beizusteuern, indem er zu weit in dessen Privatsphäre eindrang.

Allerdings: Obwohl es (überflüssig zu erwähnen) für einen englischen Gentleman nicht ungewöhnlich war, verwitwet zu sein, war es doch in der Tat höchst ungewöhnlich, dass seine Frau getötet worden war. Da die Angelegenheit mit der Arbeit des Geheimdienstes Seiner Majestät in Zusammenhang stand, würde der Admiralitätsausschuss weitere Details verlangen. Weitere Nachfragen wurden dem Marineminister überlassen.

»Getötet, Sir Edward?«, fragte John Jervis, Earl of St. Vincent.

»Ja, Mylord … Irgendwann im frühen Winter des Jahres eins lief ein amerikanisches Schiff namens Agnes an der Westküste Nordafrikas auf Grund. Die amerikanische Mannschaft wurde von Männern des Sahwari-Stammes gefangen genommen, die sie bis zum Umfallen schuften ließen und beinahe zu Tode prügelten, bis sie schließlich die drei überlebenden Männer – von ursprünglich 14 – auf den Sklavenmarkt nach Mogador brachten. Sie wurden von einem lokalen Machthaber erworben, der sie für Engländer hielt und versuchte, sie für uns freizukaufen. Er übermittelte eine Nachricht an unsere Dienststelle auf Malta, woraufhin Admiral Godfrey Captain Grey entsandte, um die Freilassung der Geiseln zu überwachen.

Captain Grey war bereits seit drei Jahren auf Malta stationiert gewesen und organisierte – wie Sie wissen – unser Geheimdienst-Netzwerk an den Küsten der Adria und Dalmatiens höchst erfolgreich. Wegen seiner Erfahrung in der Arbeit mit den Türken und den türkischen Vasallen in den Gebieten schlussfolgerte Godfrey – zurecht, bin ich sicher –, dass Grey der beste Mann für den Auftrag war, sich mit den barbarischen Paschas auseinanderzusetzen.

Seine Frau war eine eifrige Naturforscherin – eine ihrer Abhandlungen wurde 99 in der Royal Society verlesen – und rang Grey die Erlaubnis ab, ihr zu erlauben, die Fahrt mit ihm zu unternehmen, in der Hoffnung, das Atlasgebirge besuchen zu können. In der Tat begab sie sich mit auf die Reise und er stellte sowohl die Freilassung der Amerikaner als auch die Einladung einer englischen Botschaft nach Mogador sicher. Die Einladung werden Sie, Gentlemen, zweifellos noch in Erinnerung haben.«

Einige Mitglieder murmelten zustimmend.

»Während seiner Rückreise nach Malta traf die Brigg mit 14 Geschützen, auf der sich Grey und seine Frau mit den Amerikanern befanden – Constance, glaube ich, war der Name des Gefährts – auf die französische Fregatte Fidèle mit 32 Geschützen und wurde von ihr verfolgt … Das war vor Amiens, natürlich. Eine erbitterte Hetzjagd begann. Bevor ein frischer Wind die Fregatte zurückwarf, konnten die Franzosen die Brigg durch die extreme Reichweite ihrer Buggeschütze einholen. Bei einem Vorstoß wurde die Constance an ihrer Wasserlinie getroffen. Zu der Zeit befand sich Mrs Grey in der Plicht und kümmerte sich um die ausgezehrten und fiebernden Matrosen, die ihr Mann gerettet hatte. Die Splitter haben sie getötet. Es war ein schlimmer Tod. Sie war das einzige Opfer der Brigg.

In den darauffolgenden Monaten versuchte Captain Grey, seine Pflichten wieder aufzunehmen, Admiral Godfrey erklärte ihn allerdings für ungeeignet, oder zumindest für nicht verlässlich geeignet aufgrund –«

Sir Edward bezog sich jetzt auf einen Brief vor ihm auf dem Tisch,

»– von ›tiefgründiger und unerschütterlicher Melancholie‹. Godfrey verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass man sich in England um Greys Verfassung kümmern würde. Ich leitete alles in die Wege, um ihn in der Harley Street einer Untersuchung unterziehen zu lassen, aber er schrieb gestern aus Portsmouth, um mitzuteilen, dass er stattdessen in sein Haus in Kent bei Sheerness zurückgekehrt sei. Ich beabsichtige, ihm morgen einen Besuch abzustatten.«

Admiral Lord St. Vincent nickte Sir Edward zu, der am Tisch in die Runde blickte, um zu sehen, ob sonst noch jemand irgendwelche Fragen hatte.

Der Admiral der Blauen räusperte sich.

»Wie lange wird es dauern, bis wir einen Ersatz in Malta haben?«

»Ende des Monats werden wir einen neuen Mann dort haben. Meinen Informationen nach hat er gestern die Sandbank Nore an der Mündung der Themse passiert«, antwortete Sir Edward.

Aber er fügte hinzu: »Die Frage ›Werden wir in der Lage sein, Thomas Grey zu ersetzen?‹ bleibt allerdings trotzdem weiterhin sehr ungewiss.«

2

Thomas Grey saß im Garten seines Anwesens Marsh Downs, umgeben von verschiedenen Arten blühender Rhododendren, deren spezifische Namen er sich nie die Mühe gemacht hatte zu lernen. Jetzt würde er dies natürlich auch nie mehr tun; sie waren von seiner Frau gepflanzt worden. In ungefähr 100 Yards Entfernung kam langsam die Flut. Die Wellen, die sich am schilfigen Ende der Feuchtwiese auf seinem Grundstück brachen, kamen langsam immer höher, und bald schon würden die Vögel, die auf der Suche nach Würmern und Schnecken durch den Schlick staksten, gen Landesinnere fliegen. Einen oder zwei hatte er für sein Abendessen vorgesehen. Auf seinem Schoß ruhte ein Jagdgewehr und zu seinen Füßen sein Irish Setter Fred. Grey war froh, und ehrlich gesagt etwas überrascht, dass sich der Hund an ihn erinnerte, da Fred die letzten Jahre über – die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens – als Gefährte des Wildhüters der Downs, Canfield, verbracht hatte. Fred schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Hunde tun das immer. Ab und zu schnüffelte er an Greys Fuß, woraufhin Grey sich vorbeugte, um ihn am Kopf und im Nacken zu kraulen.

Die Sache war allerdings die, dass Grey keine besondere Lust dazu verspürte, irgendetwas zu schießen. Fred würde enttäuscht sein, aber dagegen konnte man nichts tun. Vielleicht könnte ein Spaziergang als akzeptabler Ersatz herhalten. Wie dem auch sei, seine Haushälterin Mrs Hubble – von der Grey glaubte, dass sie sich nun von ihrem Schock über seine unerwartete Rückkehr erholt hatte – würde sich zweifelsohne bereits Gedanken über seine Mahlzeit gemacht haben. Es wäre nicht gut, sie mit einem frisch erlegten Tier zu beleidigen.

Er stand auf; Fred ebenso, der gespannt wie ein Flitzebogen auf den Schuss wartete.

»Tut mir leid, mein Junge. Heute nicht. Vielleicht morgen.«

Grey atmete ein letztes Mal tief den Blumenduft ein und ging langsam zurück zum Haus, darüber nachsinnend, wie Canfield den Willen dazu aufgebracht hatte, den Garten, der ein leeres Haus umgab, so ordentlich zu halten, ohne jegliche Hoffnung, dass irgendwer anderes außer ihm und Mrs Hubble ihn sehen würde. Bevor er nach Malta aufgebrochen war, dachte Grey, hätte er den Garten für die Gegend zugänglich machen sollen. Drei Jahre toter Blütezeiten, in denen sich niemand daran erfreut hatte – was für eine Verschwendung.

Während er Richtung Süden ging, kam das Haus zum Vorschein, das sich über den Garten erhob. Es war nicht besonders groß, aber es war – wie Grey immer gefunden hatte – ungewöhnlich eindrucksvoll; die beinahe pinken Außenwände aus Ziegelsteinen wurden von einem Kupferdach bedeckt, das sich zu einem schönen Blaugrün verfärbt hatte und von dem wuchernden, dunklen, gelb-grünen Efeu noch zusätzlich betont wurde. Er hatte das Haus von seinem Anteil des Prisengeldes einer kleinen französischen Flotte gekauft, die von seinem Geheimdienst 98 gekapert worden war.

98 war das Jahr, in dem er geheiratet hatte – seine Ehe war der Grund gewesen, warum er sein Haus in der Stadt aufgegeben hatte und auf einen Landsitz gezogen war. Er hatte befürchtet, es würde sich herausstellen, dass er unfähig wäre, das Leben auf den Downs wieder aufzunehmen, alleine. Tatsächlich aber war seine Rückkehr das Einzige, das ihn irgendwie tröstete. Er und Paulette hatten keine Kinder gehabt. Gott sei Dank gab es keine Kinder, um die er sich Sorgen machen musste.

Grey stampfte leicht auf, damit der Sand von seinen Schuhsohlen rieselte, und betrat den kleinen, mit Steinen gefliesten Vorraum, wo er seinen Mantel an einen Haken hängte und seine Pistole auf einem Tisch ablegte. Er öffnete die Tür zur Speisekammer und hielt inne, als er drei Stimmen im Flur dahinter vernahm. Eine Frau und zwei Männer. Er trat ein paar Schritte zurück in den Vorraum und nahm das Jagdgewehr wieder zur Hand.

Grey durchquerte die Speisekammer, ging in das Foyer, das Gewehr in seiner Rechten, und setzte einen möglichst beiläufigen Gesichtsausdruck auf. Fred folgte ihm auf dem Fuß und schien sich zu freuen, dass das Schießen vielleicht doch noch nicht ganz von der Tagesordnung gestrichen worden war.

Mrs Hubble stand im Eingang und sprach mit Canfield und einem anderen Mann, der gerade so außer Greys Sichtweite war. Die Stimme war ein kleines bisschen tiefer, als er sie in Erinnerung hatte – zu viele Zigarren, ohne Zweifel. Gleichermaßen, allerdings, gab es keinen Zweifel daran, dass sie zu Edward Banks gehörte. Nun Sir Edward Banks; als Grey seine Stellung im Mittelmeer angetreten hatte, war er zum Ritter geschlagen worden. Grey lehnte die Jagdflinte an die Standuhr und unterbrach die Unterhaltung, die sich augenscheinlich darum drehte, herauszufinden, wo er wohl sein könnte.

»Sir Edward, bitte treten Sie doch ein«, sagte er und fügte hinzu, »danke, Canfield«, und, »Mrs Hubble, würden Sie etwas Kaffee für uns zubereiten – oder«, – zu Banks –, »ziehen Sie Tee vor?«

»Gegen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden, danke«, sagte Banks und trat über die Türschwelle. Grey nickte.

»Mrs Hubble, wenn Sie ihn uns bitte in mein Arbeitszimmer bringen könnten.«

Banks folgte Grey den Flur entlang und in einen mittelgroßen Raum, an dessen Wänden auf allen Seiten verglaste Bücherschränke standen. Banks war schon mehrmals zuvor in diesem Raum gewesen. Er fragte sich, ob die Regale zum Schutz vor der schweren, salzigen Luft verglast waren, die seine Lungen erfüllte und ihm unwillkürlich das Gefühl gab, zehn Jahre jünger zu sein.

Seine Gedanken wanderten weiter; er überlegte, ob er nicht wie Grey an die Küste ziehen sollte. Natürlich war Grey 25 Jahre jünger als er. Und verheiratet gewesen, was Banks jetzt und auch früher nie gewesen war. Der Gedanke an eine Ehe brachte ihn auf einmal schlagartig zurück zur gegenwärtigen Angelegenheit. Grey war vor einem schwarzen Globus stehen geblieben, der die Weltmeere abbildete. Er gab ihm sachte Schwung, drehte sich um und deutete auf einen Ledersessel mit Knopfpolsterung.

»Nehmen Sie bitte Platz, Sir Edward. Ich gestehe, dass ich Sie nicht erwartet habe.«

»Haben Sie nicht?«, sagte Banks. »Ich hätte gedacht, dass eine Beorderung nach London und die Tatsache, dass Sie sich 40 Meilen vor der Stadt niederlassen, sowohl zu einer Bemerkung als auch zu einem Besuch einladen.«

»Ich habe es so verstanden«, sagte Grey, »dass ich nach Hause geschickt wurde. Haben Sie es denn nicht gehört? Ich leide unter Melancholie.«

Es klopfte an der Tür. »Herein, Mrs Hubble«, sagte Grey. Die Haushälterin betrat den Raum, spürte die darin herrschende Beklemmung, stellte den Kaffee auf Greys Schreibtisch ab, ging ohne ein Wort wieder hinaus und machte die Tür hinter sich zu.

Diese kurze Unterbrechung gab Grey gerade genug Zeit, sich seiner Unverfrorenheit einem Mann gegenüber zu schämen, dem er so viel zu verdanken hatte; den er so tief bewunderte.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir Edward. Bitte, setzen Sie sich. Wie wünschen Sie ihren Kaffee?«

»Schwarz«, sagte Banks, blieb aber stehen. Er nahm eine Tasse entgegen, trank einen Schluck und ließ sich schließlich doch auf dem Sessel nieder. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Ärger; wenn überhaupt, dachte Grey, dann suggerierten die glatte Stirn und Banks’ leicht verengte, blau-graue Augen, dass die Konversation mehr oder weniger so voranschritt, wie er erwartet hatte.

»Ich habe eine Nachricht in Portsmouth hinterlassen, dass Dr. Welsh Sie diesen Nachmittag in seiner Praxis in der Harley Street erwartet. Haben Sie die Nachricht erhalten?«

»Das habe ich, Sir.«

»Ich werde Sie nicht damit in Verlegenheit bringen, Ihnen erneut mein Mitgefühl auszusprechen. Der Geheimdienst muss wissen, in welcher Verfassung Sie sind, wenn Sie von irgendeinem Nutzen für uns sein sollen.«

Grey nickte.

»Admiral Godfrey hat mir zu verstehen gegeben, dass Sie beabsichtigen, im Geheimdienst zu bleiben.«

Dieses Mal gab Grey keine Antwort.

»Ist dem so?«

»Das hatte ich geglaubt, Sir«, sagte Grey.

»Nun aber nicht mehr.«

»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Sir«, erwiderte Grey, »bin ich mir nicht sehr im Klaren darüber, wie tauglich ich sein werde.«

»Genau um das festzustellen, wie tauglich Sie sind, habe ich einen Besuch bei Welsh für Sie arrangiert.« Banks stellte seine leere Tasse ab. »Ich erwarte Meldung zu erhalten, dass er Sie bis spätestens Freitag einmal gründlich untersucht haben wird. Nun muss ich weiter nach Chatham und zu den Marinewerften. Meine Pferde sind immer noch angeschirrt.«

Er erhob sich und fuhr fort: »Wie ich schon sagte, Ende der Woche werde ich wieder zurück im Admiralitätsgebäude sein. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich finde selbst nach draußen.«

Grey wartete mit seiner Antwort zwei lange Ticks der Standuhr im Foyer ab.

»Jawohl, Sir.«

An der Tür verharrte Banks, drehte sich um und sprach kurz mit väterlicher Stimme. »Schau, Tom –«, sagte er, »es ist nicht gut, die Wolken für immer über deinem Kopf hängen zu lassen. Gottlosen Starrsinn hat Shakespeare das genannt.« Dann nahm er den offiziellen Tonfall wieder auf: »Es gibt Arbeit. Krieg zeichnet sich am Horizont ab. Ich erwarte Sie am Freitag.«

Banks öffnete die Tür und ließ sie offen stehen; er holte seinen Hut und Mantel, ohne darauf zu warten, dass ihm diese gebracht wurden, und einen Augenblick später hörte Grey, wie Banks’ Mann die Pferde antrieb.

Als Sir Edwards Kutsche davonfuhr, goss sich Grey noch eine Tasse Kaffee ein und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

3

Früh am nächsten Morgen – Mittwoch – wurde Grey in der Praxis von Dr. Welsh vorstellig, nur um zu erfahren, dass der Arzt noch gar nicht da war; er käme nie vor neun Uhr ins Büro und ob der Gentleman denn die Freundlichkeit besäße, zu warten? Grey lehnte ab und sagte, er käme später wieder. Vielleicht, dachte er, nach einer Runde im Regent’s Park, der ein paar hundert Yards weiter nördlich lag. Als Grey aus der Praxis trat, fand er es verwunderlich, dass er vor dem geschätzten Arzt auf den Beinen sein sollte; seine Vorstellung eines Arztes – im Gegensatz zu den Schiffsärzten, mit denen er viel besser vertraut war – entsprach einem enthaltsamen Gentleman der Wissenschaften, der geneigt war, mit den Hühnern ins Bett zu gehen und wieder aufzustehen. Ehrlicherweise schlief Grey dieser Tage natürlich kaum, was es einfacher gemacht hatte, noch vor dem Morgengrauen in Kent aufzubrechen.

Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass Grey wieder in London war; er hatte sich inzwischen an das maltesische Wetter gewöhnt und empfand den frischen Frühlingsmorgen als kühl. Er sah dem Anhänger eines Bauern beim Vorbeirattern zu, Gemüse mit blättrigen Köpfen hing über die Holzkisten; ein Bediensteter auf einem frühmorgendlichen Botengang hielt ihn an. Weitere Dienerschaft ging auf dem Gehweg an Grey vorbei, widmete sich zeitigen Erledigungen, ehe ihre Herrschaften erwachten, und mischte sich auf ihrem Weg zur Arbeit unter Geschäftsmänner und Ladenbesitzer. Eine Katze hatte sich auf dem von der Sonne erwärmten Pflaster neben dem Rinnstein niedergelassen; Grey hob sie hoch, bevor ihr jemand einen Tritt verpassen konnte, und trug sie die letzten paar Meter zum Regent’s Park hinüber, wo sie prompt einschlief, an das warme Eisen des Parkzauns gelehnt.

Gleich hinter dem südwestlichen Eingang des Regent’s Parks gab es eine hüfthohe Sonnenuhr aus Granit und Messing. Grey besah sie sich und kniff dann die Augen zusammen, um zur Sonne hochzublicken – und zog unbewusst sein eigenes Urteil über den Sonnenstand vor; eine Präferenz, die unter Männern, die lange Zeit auf hoher See verbracht haben, nicht ungewöhnlich ist. Es würde mindestens anderthalb Stunden dauern, bis der Doktor erschiene. Da er merkte, dass er gerade erstaunlich wenig Geduld aufbringen konnte, ging Grey wieder zur Harley Street zurück und weiter in Richtung Mayfair zu seinem Geschäftspartner. Der andere Mann, mit dem Grey heute sprechen wollte.

Aber hier war ein Weiterer, der noch nicht bei der Arbeit war. Schlief denn die ganze Stadt noch? Um ihn herum herrschte jedenfalls schon genug Geschäftigkeit. Nach dem Landleben und ein paar Jahren im Mittelmeer fand Grey London störend laut. Vielleicht war das ja die Quelle seiner Ungeduld, die er nicht abschütteln konnte. In Mr Paters Büro wurde Grey darüber informiert, dass dieser noch nicht da war – aber, sagte ein Juniorangestellter, er wäre vermutlich in seinem Club anzutreffen, wo er Greys Wissen nach oft schlief.

Pater, dieser faule Hurensohn, zum Teufel mit ihm, dachte Grey bei sich, während er sich höflich bei dem Angestellten bedankte. Ob er dem Gentleman denn einen Einspänner rufen solle? Nein, sagte Grey, er würde laufen. Es wäre nicht weit.

Egal – fügte er nicht hinzu –, es hatte keinen Sinn, einen alten Freund zu besuchen, während man in der Laune war, ihm den Kopf abzureißen. Ein Spaziergang würde ihm die Gelegenheit dazu geben, über Paters Tugenden nachzudenken. Sofern es denn welche waren.

Buttle’s, ziemlich in der Mitte der St. James’s Street gelegen, war gerade weit genug entfernt, damit Grey sich erinnern konnte, was eine oder zwei dieser Tugenden waren. Obwohl Pater in der Tat ein fauler Hurensohn war, den mehr als ein paar wenige Bekannte schon zum Teufel gejagt hatten, hatte er niemals das Geld seiner Kunden veruntreut und durch ziemlich gerissene Investments die bescheidene Summe eines Prisengeldes, das Grey als Marinekapitän gewonnen hatte, in ein respektables, aber keineswegs immenses Privatvermögen verwandelt. Was einen Geschäftsmann betraf, nahm Grey an, waren es wohl diese Tugenden, die von größter Bedeutung waren.

Paters Gelegenheitswohnsitz Buttle’s war einer der mehreren Dutzend älteren Herrenclubs, die sich nun im West End Londons aneinanderreihten. Seine Ziegelfassade, gestützt von zwei Pfeilern im Stile Michelangelos, war von der Straße weg leicht nach hinten versetzt, hinter einer Steinbrüstung und einer niedrigen Hecke. Als Grey durch die Tür des Clubs trat – in einen marineblauen Raum mit cremefarbenen Zierleisten –, fragte er sich, wie Buttle’s sich darauf verstand, immer derart sauber und einladend zu riechen, wo es sich doch so nahe am Schlamm und Dreck der Straße befand. Gab es da etwa einen ergebenen Parfümeur, der hinter einem Schreibtisch lauerte? War da vielleicht die junge Besatzung eines Schiffes, die frische Luft von irgendeinem geheimen Säulengang aus hineinfächelte?

»Guten Morgen, Mr Grey, was für eine Freude, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte Mathers, der Portier. Grey verbarg seine Überraschung darüber, dass Mathers sein Gesicht erkannt hatte; sein letzter Besuch in diesem Club lag Jahre zurück, und selbst als er in London gelebt hatte, war er kein häufiger Gast gewesen. Er war kein Mitglied.

»Mathers«, sagte Grey, »die Freude ist ganz meinerseits, seien Sie versichert. Ist Mr Pater hier?«

»Das ist er, Sir«, sagte Mathers und gab einem Pagen ein Zeichen, der im Seitenflügel wartete, und der nun ein paar kleine Orientteppiche überquerte, um sich neben Mathers aufzustellen. »Parslow«, sagte Mathers, »führen Sie Mr Grey in den Salon.«

Der Salon war ein dunkler, mit Holz vertäfelter und von Kerzen erhellter Raum, in dem braune Vorhänge die Fenster verdeckten, die schon vor langer Zeit zugemauert und ebenfalls vertäfelt worden waren, um von der Straße aus für Privatsphäre zu sorgen. Grey hatte erwartet, Pater beim Frühstück anzutreffen; tatsächlich steckte dieser aber gerade tief in einer Partie Whist, mit Kaffee zu seiner Rechten und einem Schlückchen Whiskey zu seiner Linken. Die Bartstoppeln auf seinem Kinn wiesen darauf hin, dass dies kein frühmorgendliches, sondern ein noch nicht zu Ende gebrachtes Spiel der Nacht zuvor war.

Pater bemerkte nichts, bis Parslow sich zu ihm hinunterbeugte und ihm ein paar Worte ins Ohr flüsterte. Als er aufblickte und Grey sah, klappte ihm der Mund auf; er warf seine Karten hin und stand auf, was von seinen Partnern mit einem ärgerlichen Grunzen kommentiert wurde.

»Grey, du liebe Güte, was für eine verdammte Überraschung, dich zu sehen!«, sagte Pater mit einem offenen, herzlichen Gesichtsausdruck. Sein Verhalten veränderte sich jedoch schnell, als seine Erinnerung mit der Überraschung aufholte.

»Tom, es tat mir so verdammt leid, von Paulette zu hören. Diese verfluchten französischen Bastarde.« Er hielt ihm seine Hand hin – die Grey schüttelte –, nahm dann Greys Ellenbogen und zog ihn mit zum Tisch, wo er nacheinander auf jeden der drei anderen Männer deutete.

»Langley, Slayton, Brummel: Grey.« Höfliches Nicken von jedem und auch von Grey. »Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Pater, fuhr sich mit der Hand über die unrasierte Wange und unterdrückte ein Gähnen. »Wenn du mich fragst, ist es verdammt früh, um auf den Beinen zu sein. Ist die Sonne denn überhaupt schon aufgegangen?«

»Das ist sie«, sagte Grey, der gegen seinen Willen lächeln musste, »und zwar schon vor einer ganzen Weile.«

»Aber du hast noch nichts gegessen?«

»Noch nicht.«

»Wunderbar; geh doch bitte schon einmal vor in den Speisesaal und bestell dir für den Anfang etwas – Parslow wird dich hinführen – und nach ein paar schnellen Spielzügen bin ich bei dir. Im Handumdrehen sozusagen, haha.«

 

Tatsächlich dauerte es etwas länger als das – Grey nippte an seinem Kaffee, hatte keinen Hunger; starrte geistesabwesend den Kupferstich einer römischen Ruine an, der an der waldgrünen Wand des Speisesaals hing –, die Verzögerung gab ihm allerdings Zeit, sich über eine Sache Gedanken zu machen, die ihn seit Kent nicht mehr losgelassen hatte. Seit Malta eigentlich. Und Pater war der Mann, mit dem er darüber sprechen musste. Vielleicht war die Abwesenheit des Arztes ja ein Wink des Schicksals. Nicht, dass Grey an solche Dinge glaubte, rief er sich selbst zur Ordnung.

Als sich der Geschäftsmann endlich setzte, bemerkte er die Abwesenheit jeglichen Frühstücksgeschirrs in Greys Nähe, sah verlegen aus und winkte den Kellner heran. »Hast du noch nicht angefangen? Du wirst doch nicht wegen mir gewartet haben. Ich hoffe, du verzeihst mir, Tom – während so einer heißen Partie konnte ich meinen Posten nicht verlassen. Ah, hier«, sagte er, als der Kellner zu Paters Linken eilte, »bestell dir alles, was du möchtest. Ich meine – du erinnerst dich bestimmt, wie das hier funktioniert, würde ich behaupten – nenn dem Kellner, was auch immer dir einfällt, und wenn es in London zu bekommen ist, wird die Küche es besorgen lassen und dir im Nu zubereiten, bevor die Vorspeisen und vielleicht ein Schlückchen Rum – haha – verschwunden sind.«

»Nur ein Brötchen mit Butter und noch etwas Kaffee, Danke.«

»Na gut, obwohl ich deinen Mangel an Fantasie besorgniserregend finde. Oscars, bringen Sie mir ein paar Scheiben Speck, Scones, ein bisschen von dieser Johannisbeermarmelade – und einige von diesen Pfirsichen, falls die immer noch zu bekommen sind. Bringen Sie Mr Grey auch einen, vielleicht überlegt er es sich ja noch anders. Das ist wirklich sehr gutes Obst, Tom, weißt du. Und Oscars, ein Kännchen des stärksten Tees, der je diesseits des Tibers gebraut wurde.«

Der Kellner nickte und trat zurück, und Pater setzte ein ernsteres Gesicht auf.

»Nun, Thomas, wem oder was verdanke ich dieses Treffen? Sosehr ich mich über einen rein freundschaftlichen Besuch freuen würde, befürchte ich, dass du wohl etwas Wichtigeres auf dem Herzen haben musst.«

»Ja, das habe ich. Ich beabsichtige, Marsh Downs zu verkaufen. Oder besser gesagt, ich beabsichtige, es an dich zu verkaufen.«

Pater nickte. »Hübsches Plätzchen, die Downs – bedauerlich, sie verschwinden zu sehen – aber ich verstehe durchaus. Der Verkauf sollte nicht sehr lange dauern – weißt du, in den letzten Jahren gingen einige ziemlich aufdringliche, ungebetene Nachfragen bei mir danach ein; solch ein perfekter Ort zwischen dem Meer und London. Sollte einen guten Preis dafür bekommen; ja, einen stattlichen Preis. Ich nehme an, du wirst dich nach einem neuen Haus in der Stadt umsehen? Zum Kauf oder zur Miete? Natürlich kann ich dich hier im Club unterkommen lassen, während ich mich etwas umsehe – in letzter Zeit ist der Markt zu einer wahren Goldgrube für schöne Häuser geworden, jetzt, wo der Frieden ausgerufen ist und die Mitläufer wieder zurück in die Grafschaften ziehen. Wird Mrs Hubble mit dir gehen? Ich nehme an, Canfield wird auf dem Anwesen bleiben – eine Schande allerdings, mir werden seine Ratschläge zur Jagd fehlen. Aber so sag mir doch, welche Art von Gebäude dir vorschwebt.«

»Nein, nicht London«, sagte Grey und ließ Pater Luft holen. »Wie du vielleicht noch weißt: Meine Mutter kam aus Boston.«

»In Lincolnshire?«

»Nein«, sagte Grey, »das andere, in den Vereinigten Staaten. Ein Verwandter in Amerika hat beachtliche Beteiligungen an der Holzbranche. Ich hatte schon lange ein festes Angebot von ihm, dorthin zurückzukehren und eine Position in seiner Firma zu bekleiden. Ich habe mich dazu entschlossen, es anzunehmen.«

»Zurückkehren? Thomas, wurdest du etwa in Amerika geboren? Verzeih die persönliche Frage.«

Grey schüttelte einmal kurz den Kopf, um Pater zu signalisieren, dass keine Entschuldigung von Nöten war. »Das war tatsächlich der Gegenstand einiger Diskussionen zwischen meinen Eltern. Meine Mutter behauptet, dass ich in Boston geboren wurde; mein Vater besteht darauf, dass ich von Anfang an auf englischem Territorium war, da ich an Bord eines königlichen Schiffes im Hafen von Boston auf die Welt kam. Das war allerdings vor dem Krieg.«

Das Essen kam und die zwei Männer schwiegen, während der Kellner es auftrug.

»Aber Tom, verdammt noch eins, das kannst du doch nicht ernst meinen«, sagte Pater. »Du beabsichtigst, in den Ruhestand zu gehen als – ich weiß nicht, wie der Fachbegriff lautet – ein Waldarbeiter? Holzhändler? In deinem Alter? Aber natürlich«, fügte er rasch hinzu, allerdings ohne Überzeugung, »geht mich das nichts an.«

»Ein Holzhändler«, sagte Grey. »Der Klang gefällt dir nicht? Nein, aber ich meine es durchaus ernst. Eine Veränderung ist genauso gut wie eine Auszeit, und, ich nehme an, je drastischer die Veränderung, desto besser. Ich hätte gerne einen Dispositionskredit auf das Haus; ich sehe keinen Grund, bis auf den Verkauf zu warten. Du arrangierst ein Gehalt für Canfield und Mrs Hubble, damit sie angestellt bleiben, bis sie neue Arbeitsplätze gefunden haben, und auf den Rest kann ich in einem Brief von Boston aus Anspruch erheben.«

Pater nahm sich einen Moment, um Tee einzuschenken und seine Antwort zu formulieren.

»Ich werde es genau so machen, wie du sagst, Tom, keine Angst – aber solltest du wirklich eine so große Veränderung nach einem so großen Verlust vornehmen? Kannst du denn überhaupt klar denken? Es ist schrecklich gottverdammt heiß dort im Sommer, wie du vermutlich weißt, und im Winter so kalt wie in Lappland. Und das Geschäftsleben ist überhaupt nicht mit einer Position im Außenministerium zu vergleichen.« Das Außenministerium war die Anstellung, die Grey in der Öffentlichkeit vorgab innezuhaben. »Und nachdem du ja schon im Ausland warst, sollten da London und England nicht bereits die ganze Veränderung sein, die du brauchst? Ich betone nochmals, dass dies gänzlich deine Angelegenheit ist, aber wenn es in meiner Macht stünde, dich zum Warten zu beschwören, würde ich sagen, nimm dir eine Woche Zeit, hol ein paar Ratschläge ein und sprich mit jemand Vertrautem.«

Grey aß sein Brötchen und nickte höflich. Aber am Donnerstagmorgen, als Sir Edward Banks in seinem Büro ankam, sich an seinen Schreibtisch setzte und begann, die Korrespondenz der Nacht durchzusehen, war da ein Brief von Thomas Grey. Er besah ihn sich und rief seinen Stabschef zu sich.

»Willys, dieser Brief von Grey …«

»Ich habe ihn nicht angesehen, Sir; er war als vertraulich gekennzeichnet, nur für Ihre Augen.«

Banks schob den Brief über den Schreibtisch: »Lesen Sie ihn.«

»An den ehrenwerten Sir Edward Banks, et cetera …« las der Stabschef laut vor, »was unser Treffen vom letzten Dienstag betrifft … reiche ich hiermit, wie Sie hoffentlich akzeptieren werden, meinen sofortigen Rücktritt vom Geheimdienst Seiner Majestät ein.«

4

War Fred Canfields oder Greys Hund? Grey musste sich eingestehen, dass es grausam wäre, den Hund seiner Heimat Sheerness zu entreißen und ihn mit aufs Schiff in die Neue Welt zu nehmen – besonders, nachdem er ihn nach einer Abwesenheit von drei Jahren nur für wenige Tage bei sich gehabt hatte –, kraulte ihn jedoch höchst widerwillig, wie er annahm, zum letzten Mal hinter den Ohren. Es gab einen festen Händedruck mit Canfield selbst, eine tränenreiche Umarmung von Mrs Hubble, die Grey das Versprechen abnahm, zu schreiben, und dann nahm Grey seinen Platz in einem Vierspänner nach Portsmouth ein – mit genug Gepäck, um die Reise zu überbrücken; den Rest würde Pater später verschiffen, sobald Grey eine dauerhafte Adresse in Massachusetts hatte.

Die Kutschfahrt Richtung Südwesten dauerte fast den ganzen Morgen, auf abgesunkenen Straßen mit tiefen Spurrillen, die von zweitausend Jahren Verkehr in die Erde gegraben worden waren und wegen des Baldachins aus dicken Frühlingsblättern wie Tunnel anmuteten. Am Nachmittag befand sich Grey auf einem Versorgungsboot, das durch den Hafen in Portsmouth ruderte; auf einem von Dutzenden, die Offiziere, Matrosen und Passagiere unter den großen Handels- und Kriegsschiffen hindurchbeförderten, die vor Anker lagen und auf die Gezeiten, Fahrpläne oder Befehle warteten, um abzulegen.

Er folgte seinem Gepäck an Bord des Westindienfahrers Ruby – nicht so geschmeidig und anmutig wie ein modernes Kriegsschiff, aber auf seine eigene Art und Weise sehr schön. Die Ruby war ein robustes, solides Schiff, das vielleicht 600 Tonnen transportieren konnte; mit simplen schwarz-weißen Lackierungen unter den drei Masten und dem circa 100 Quadratmeter großen, noch aufgerollten Segel. Das meiste ihrer Ladung schien schon an Bord zu sein und der Großteil ihrer Mannschaft musste gerade dafür sorgen, dass alles passgenau verstaut wurde. Die Männer, die an Deck blieben, schienen hauptsächlich mit Fragen beschäftigt zu sein, die den Bugspriet und die Takelage des Vormasts betrafen; zwei andere scheuchten Hühner nach unten, die mit auf die Reise gen Westen kommen würden. Auf dem Achterdeck – beim Kompasshäuschen – redeten zwei Offiziere miteinander und gestikulierten abwechselnd hinunter zu dem Kompass und hinauf zu den Rahen; keiner von ihnen war der Kapitän. Grey stellte sich beiden vor, schüttelte Hände und wurde unter Deck geführt.

Seine Kabine war ein kleiner, aber nicht ungemütlicher Raum in der Mitte des Schiffes, direkt unter dem Mitteldeck, mit einer Geschützpforte als Fenster – ein Luxus, den er vom Geheimdienst nicht kannte, wo alle Geschützpforten, außer den in den vorderen und hintersten Schottwänden des Kanonendecks, permanent belegt waren. Seine Truhen kamen einen Moment nach ihm an und nachdem er rasch ausgepackt hatte – nur ein Fässchen Tinte, da er sichergehen wollte, dass dieses nicht ausgelaufen war, und ein Buch, in das er sich bald vertiefen wollte –, streckte Grey seinen Kopf aus der Geschützpforte und beobachtete das Geschehen.

Obwohl er die Königliche Marineinfanterie nach seiner Rekrutierung für den Geheimdienst vor ein paar Jahren offiziell verlassen hatte – genau genommen, bevor Earl St. Vincent sie »Königliche Marineinfanterie« getauft hatte; als rot-gewandete, seetüchtige Soldaten noch Teil einer halbformellen Abteilung der Armee waren, ein Teil der Marinetruppen Seiner Majestät … Greys Gedanken schweiften ab … obwohl er vor Jahren den uniformierten Dienst verlassen hatte, hatte er heute in Erwägung gezogen, seine Uniform anzuziehen. Denn trotz des Friedens war eine offensive Rekrutierung im Gange – so offensiv wie schon seit Jahren nicht mehr; im Land herrschte zwar Frieden, aber die Admiralität weigerte sich, daran zu glauben. Männer, die normalerweise von der Bedrohung ausgenommen waren, von der Marine zwangsverpflichtet zu werden – Handelsseefahrer auf auslaufenden Schiffen, Männer ohne Erfahrung in einem seegängigen Beruf, sogar Männer mit offizieller Freistellung von Whitehall –, wurden von Zwangsrekrutierern aufgegriffen und kurzum in eine Besatzung gesteckt. Schiffe, die nach Java und New Holland fuhren, legten mit minimalen Notmannschaften ab, von denen die Rekrutierer hofften, dass sie es an einem Stück bis nach Portugal, Madeira oder Gibraltar schaffen würden, um dort die Besatzung zu erweitern. Grey wusste, dass er nur aufgrund seiner gebuchten Schiffsreise auf einem Westindienfahrer entkommen war, und weil er die Vorsichtsmaßnahme getroffen hatte, sich in seinem besten Sonntagsstaat zu kleiden – eine Aufmachung, die er mit dem ungewohnten Prozess, seine Perücke zu pudern, perfektioniert hatte. Die Kleidung und die Kabine wiesen ihn als Gentleman aus, und es herrschte noch keine solch offensive Rekrutierung, welche die bitter notwendige und dünne Unterstützung der Marine im Parlament riskieren würde, indem versehentlich jemand von echter Bedeutung zum Kap verschleppt wurde.

Von seiner Geschützpforte aus konnte Grey das Boot der Rekrutierer einen Ostindienfahrer erreichen sehen, der gerade nach seiner Rückreise von Ceylon oder Sumatra aus einlief. Alle, die entbehrt werden konnten, waren ohne Zweifel heimlich auf den Scilly-Inseln von Bord getürmt, in der Hoffnung, dem zu entgehen. Andere würden in unendlich raffinierten Verstecken zusammengepfercht ausharren. Und ein paar Wenige – ah, da war schon der Erste, der über die Reling sprang – ein paar der wenigen Männer, die schwimmen konnten, würden es riskieren, ans Ufer zu kraulen, und dann bis zum Einbruch der Dunkelheit in einer Kirche oder einem Bordell Schutz suchen. Wer konnte es ihnen schon verdenken? Sie waren wahrscheinlich fast zwei Jahre auf hoher See gewesen. Wie konnte es ein Mann beim Anblick seiner Heimat ertragen, für weitere zwei Jahre fortgeschleppt zu werden, unter der strikten, peitschenknallenden Autorität der Admiralität? Grey seufzte. Die echte Frage war allerdings, warum nur so wenige Matrosen Schwimmen lernten. »Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir schwimmen können, hätte er uns Flossen und Schuppen gegeben.« »Na ja«, wollte er die Vormastmatrosen dann immer zurückfragen, »wächst dir vielleicht ein Großsegel aus dem Rücken?« Aber es nützte nichts, wenn ein Marinesoldat mit einem Seemann stritt. Für einen Blaumantel waren die Roten unheilbare Landratten.

Es klopfte an der Kabinentür. »Herein«, sagte Grey und zog seinen Kopf zurück ins Innere.

»Der Kapitän lässt fragen, ob Sie ihn zum Abendessen mit ihrer Gesellschaft beehren würden«, sagte ein Schiffsjunge.

»Richte dem Kapitän bitte aus, dass es mir ein Vergnügen wäre«, sagte Grey und dachte darüber nach, dass diese Art von Einladung eine der Gefahren war, wenn man mit einer gepuderten Perücke herumlief.

»Das werde ich, Sir. Er nimmt das Abendessen um acht ein.«

 

*

 

Diener standen hinter jedem Gast in der großen Kapitänskajüte hinter dem Achterdeck, die als Speisesaal fungierte. Die Kabine selbst war schön – auf Hochglanz poliert, erleuchtet von der breiten Reihe sanft nach außen geneigter Fenster am Heck des Schiffes und von Kerzen in silbernen Ständern (ihr Licht spiegelte sich in den glanzgeschliffenen Eichenwänden und den silbernen Tellern wider, auf denen das Abendessen serviert werden würde). Alles war sehr im Marinestil gehalten, so auch die Besessenheit von penibler Sauberkeit – eine Besessenheit, die Grey freudig guthieß. Ebenso die Diener hinter den Stühlen der Gäste – also was den Marinestil anging – und ebenfalls der Schnitt und die Farbe des Mantels des Kapitäns und die Garderobe seiner Offiziere. Grey hatte nicht direkt etwas dagegen, wenn Handelsschiffe die Marine imitierten, konnte aber nicht anders, als es trotzdem ein bisschen lächerlich zu finden. Die meisten Handelsschiffskapitäne waren Männer, die entweder durch mangelnde Leistung oder Familienverpflichtungen nicht in der Lage gewesen waren, sich eine Position auf der Kapitänsliste zu sichern. Warum alle daran erinnern? Es war keine Schande, ein Schiff erfolgreich um die Welt zu segeln, und das mit viel weniger Einsatzmitteln und höchstens einem Drittel der Mannschaft, die ein vergleichbar schweres Kriegsschiff zur Verfügung hätte. Während sie außerdem die ganze Zeit über denselben Gefahren von Wind und Wetter und feindlichen Schiffen ausgesetzt waren, für die ein großes Handelsschiff nicht nur leichte Beute, sondern die willkommenste Beute überhaupt war.

»Captain Grey«, sagte der Kommandant und Kapitän, ein gewisser Captain Bavinger, »ich glaube nicht, dass ich Ihren Namen auf der Liste gesehen habe. Haben Sie Ihren Posten erst kürzlich bezogen?« Eine Schiffspassage unter seinem alten Dienstgrad zu buchen war noch eine Vorsichtsmaßahme dagegen gewesen, zwangsrekrutiert zu werden; Grey war normalerweise nur ein »Mr «, aber manchmal musste man eben improvisieren.

»Ich war früher ein Kapitän der Marineinfanterie, Sir.«

»Ah, ich verstehe«, sagte Bavinger. Grey führte das nicht weiter aus und Bavinger wandte sich an die anderen Passagiere, einen Pfarrer und seine junge Frau, und einen Botaniker, der eine pflaumenfarbene Jacke trug.

»Mr Kefauver, Sir«, sagte Bavinger, »haben Sie die Neue Welt bereits vorher botanisiert?«

»Das habe ich tatsächlich noch nicht, Captain«, sagte der Botaniker, stellte sein Weinglas ab und schüttelte enthusiastisch den Kopf. »Nein, bisher waren meine Studien eine Nachahmung – oder, wenn ich mir selbst schmeicheln möchte, eine Weiterführung – von Linnaeus und konzentrierten sich auf die nördlichen Regionen Europas. Nein, ich bin überaus gespannt darauf, ihre Brüder in Amerika, im Norden Amerikas, zu sehen, Sir. Tatsächlich überaus gespannt.«

»Untersuchen Sie Blumen, Mr Kefauver?«, fragte die Frau des Pfarrers.

»In der Tat, Ma’am, aber auch die Wirtspflanzen, und insbesondere den Boden, in dem sie wachsen. Ich fürchte, dass mehrere Botaniker das Medium, dem die Subjekte ihres Interesses entsprießen, vernachlässigt haben, den petrus, sozusagen, auf dem die Kirche der Botanik gebaut ist! Ja, vor allem fasziniert mich die Vielfalt der Böden, die man von Ort zu Ort vorfindet – von denen sich jeder so stark von einem nur 100 Yards entfernten Boden unterscheiden kann wie eine Rose von einer Lilie.«

»Und hat Amerika denn einen guten Boden, Mr Kefauver?«

»Das frage ich mich auch!«, sagte der Botaniker. »Das frage ich mich auch. Die Pflanzenvielfalt soll sehr groß sein, aber doch soll der Boden bekanntermaßen unter einem hohen Steinanteil leiden, der seiner gesamten Fruchtbarkeit sicherlich abträglich ist. Landwirtschaft, wie Sie wissen, ist in den südlichen amerikanischen Staaten seit jeher viel erfolgreicher – aber ist der Boden selbst der Übeltäter? Oder behindern lediglich die Steine beim Pflügen? Sicherlich gibt es nur einen Weg, um das herauszufinden, Ma’am. Mein Bestreben ist es, dank meiner Arbeit in der Neuen Welt ein Sammelwerk über Böden verfassen zu können, um der Entwicklung unserer Wissenschaft als Systema Naturae von Nutzen zu sein.«

»Aufregende Sache«, bemerkte Captain Bavinger.

»Haben Sie viel Zeit entlang der amerikanischen Küste verbracht, Sir?«, fragte der Botaniker.

»Oh, ja«, sagte Bavinger. »Ziemlich viel. Und in der Karibik, entlang der Küste Brasiliens; so weit südlich wie der Fluss Río de la Plata. Obwohl ich fürchte, dass die einzige Pflanze in der ganzen Hemisphäre, mit der ich viel Erfahrung habe, das Zuckerrohr ist.«

»Ist Zuckerrohr denn eine besonders interessante Blume, Sir?«, fragte die Pfarrersfrau.

»Ich meinte als Quelle des Rums, Ma’am. Es war ein schlechter Scherz, Verzeihung.«

»Ach so«, sagte die Pfarrersfrau. »Ist Rum denn der Saft des Zuckerrohrs?«

»Das ist destillierter Zucker, Ma’am«, sagte der Captain.

»Wobei Zuckerrohr wirklich eine schöne Blüte hat«, sagte der Botaniker. »Eine Ansammlung filigraner Stängel – zarte Flaumbüschel, sehr weich, die auf der Farbskala von braun über weiß und rosa bis hin zu fliederfarben reichen. In Südspanien habe ich ganze Felder davon in Blüte stehen sehen, genauer gesagt in Andalusien. Ausgesprochen hübsch, wirklich ausgesprochen hübsch.«

»Wie schön«, sagte die Pfarrersfrau. »Ich bin froh, dass diese armen Seelen, die die Zuckerrohrfelder bestellen, etwas Hübsches zum Anschauen haben.«

»Ja, ohne Zweifel erleichtert das die Arbeit ungemein, Ma’am«, sagte Bavinger, um höflich zu sein.

»Darf ich fragen, was Sie in New England tun werden, Herr Pfarrer?«, fragte der Botaniker.

»In New Haven wartet eine Kanzel auf mich, Mr Kefauver.«

Damit ließ er es auf sich beruhen. »Wie angenehm«, entgegnete der Botaniker.

Grey ließ seine Gedanken von der Unterhaltung abschweifen. Das Hammelfleisch des Kapitäns war annehmbar. Sein Wein mittelmäßig. Sein Steuermann war ziemlich gut. Dank eines sehr günstigen Windes hatte das Schiff bereits Ouessant passiert, die kleine Insel vor der Westspitze Großbritanniens, und befand sich nun schon draußen im Atlantik. Die Wellen waren stetig höher geworden und die Ruby warf sich ihnen entgegen, ohne erkennbar an Geschwindigkeit einzubüßen, welche Grey – vom Kielwasser aus – auf acht, vielleicht neun Knoten schätzte. Was für ein feiner Segler Bavingers Schiff doch im Backstagswind war. Nicht einer dieser hochbordigen Klötze, die man sich sonst immer unter Handelsschiffen vorstellte.

Grey blickte weiterhin auf das Kielwasser. Die Sonne war nun unter den Horizont gesunken, irgendwo jenseits des Schiffbugs, und ließ einen wolkenlosen, pfirsichrosa Himmel zurück. Für einen heißen Sommer in Boston wäre er dankbar; in Valletta hatte er sich daran gewöhnt. Und egal wie kalt die Winter wären, die Feuchtigkeit wäre niemals mit der in London vergleichbar. Doppelt so viele Sonnentage im Jahr, hatten seine amerikanischen Verwandten behauptet. Sicherlich, die Liste der Dinge, die Grey an England nicht vermissen würde, wurde vom Wetter angeführt. Auf Nimmerwiedersehen, verdammt. Und wo er schon dabei war, Dinge zu verfluchen: Auf Nimmerwiedersehen, verdammt, auch zu allem anderen, was er zurückließ. Zur Hölle mit London und dem Geheimdienst und der Admiralität und dem wahnsinnigen König. Zur Hölle mit versiegelten Befehlen und Chiffren und der Pflicht. Sollten die Männer und die Codebücher und das ganze stinkende Königreich doch in der Nordsee versinken. Was hatten sie jemals für ihn getan?

Gott sei Dank hatte er es endlich einmal selbst ausgesprochen – wenn auch nur in seinem Kopf. Er errötete leicht ob seiner rebellischen Gedanken, leerte sein Glas in einem Zug und genoss den entspannten Augenblick.

Es klopfte an der Tür und Bavingers zweiter Leutnant zur See – oder was auch immer sein Titel bei der Handelsflotte war – steckte seinen Kopf ins Zimmer.

»Ein Segel über der Kimm, Sir, es kommt von Brest.«

Der Kapitän nickte. »Danke, Mr Goff«, sagte er unbekümmert. »Mr – entschuldigen Sie, Captain – Grey: Der Wein steht neben Ihnen.«

Grey gab die Karaffe zu seiner Linken weiter, suchte den Horizont jenseits der Fenster der großen Kabine mit den Augen ab und fragte sich, ob er einen Blick auf das Segel über den sanften Wogen des Ozeans erhaschen würde.

»Verzeihen Sie mir bitte meine Unwissenheit«, sagte der Botaniker, Mr Kefauver, »aber was bedeutet ›über der Kimm‹?«

»Das bedeutet, dass über dem Horizont das Segel eines Schiffes aufgetaucht ist – wenn dann der Rest des Schiffes erscheint, ist es ›in Sicht‹.«

»Ich verstehe«, sagte Kefauver. »Müssen wir uns Sorgen machen? Könnten das nicht Piraten sein?«

»Nein, Sir, wenn es von Brest kommt, ist es sicherlich ein französisches Handelsschiff – vielleicht auf derselben Route wie wir. Auf jeden Fall gibt es zurzeit keine Piraten in diesen Gewässern. Für die Berber sind wir immer noch zu weit im Norden und mit dem Frieden haben die französischen und niederländischen Freibeuter ihre Segel einholen müssen. Sozusagen.«

Das Mahl zog sich über vier Gänge hin; Koteletts und Käse und Kaffee kamen und gingen zusammen mit dem letzten Tageslicht. Nun stand ein zunehmender Dreiviertelmond über ihnen und schien auf das Kielwasser, beinahe hell genug zum Lesen. Kurz bevor der Portwein die Runde am Tisch gemacht hatte – gerade als der Himmel von dunkelblau zu schwarz überging –, hatte Grey einen flüchtigen Blick auf das von Brest kommende Segelschiff erhascht. Jetzt war es natürlich zu dunkel, um etwas zu sehen, aber er warf trotzdem immer wieder Blicke aus den Fenstern. Es war Gewohnheit, ein Zwang. Ein kleines, intuitives Prickeln an seinem Hinterkopf. Damit das Segelschiff in weniger als einer Stunde so nah an sie herankommen konnte, sodass er es auf Höhe des Decks hatte sehen können, musste es an die zwölf Knoten fahren. Dann wahrscheinlich doch kein Handelsschiff. Vielleicht eines von diesen Freibeuterschiffen mit eingeholten Fahnen, von denen der Kapitän gesprochen hatte; vielleicht versuchte es die Ausbezahlung seiner Mannschaft zu vermeiden, indem es Post zustellte. Da wäre es nicht das erste. Auf jeden Fall war es nicht seine Angelegenheit. Grey schwenkte sein Glas und lenkte seine Gedanken auf das Buch, das er in seiner Kabine gelassen hatte – Eine Vollständige & Wissenschaftliche Geschichte der Ägyptischen Königreiche von dem Eminenten Geologen Mr John Folsom. Es sprach ihn an.

»Ein bisschen Portwein, Captain Grey?«, fragte Captain Bavinger und schob ihm die Karaffe zu.

»Danke Ihnen, Captain – ich fürchte, ich muss passen – ich bin ziemlich überwältigt von dem Ausmaß Ihres köstlichen Abendmahls; ich hoffe, Sie werden mich entschuldigen. Mir fallen schon die Augen zu.« Grey schob die Karaffe weiter zu Kefauver und stand auf.

»Natürlich, Captain Grey«, sagte Bavinger, stand ebenfalls auf, zusammen mit Kefauver und dem Pfarrer, der sich seinen Kopf ziemlich fest an der Decke anstieß.

»Guten Abend, Gentlemen.«

In seiner Kabine, mit offener Geschützpforte, durch die eine himmlische Brise hereinwehte, schlief Grey schon bald ein.

 

*

 

»Thomas, Liebster? Wo bist du?« Paulette Grey ging am Arm ihres Mannes, als sie aus dem Grandmaster’s Palace, in dem die einzige anglikanische Messe auf Malta abgehalten wurde, auf den St. George’s Square hinaustraten.

»Hmm?«, sagte Grey und wandte sich zu ihr um. »Ach, entschuldige – ich war in Gedanken vertieft.«

»Bekümmert dich etwas?«, fragte Paulette, ließ Greys Arm für einen Moment los und zupfte an einem ihrer Kirchenhandschuhe.

»Nein, nein, nur Tagträumereien, Paul, keine Angst.« Tatsächlich dachte Grey gerade über einen Papierfetzen nach, den eine fremde Hand ein paar Augenblicke zuvor, während die Kirchgänger sich gegenseitig ihr Wohlwollen bekundeten, in seine Tasche hatte gleiten lassen.

Erst vor weniger als zwei Monaten hatte Grey seinen Posten als Chef des Geheimdienstes auf Malta angetreten, aber – da Malta das Herz englischer Präsenz im zentralen Mittelmeer und ein Zwischenstopp für so viele alliierte und neutrale Schiffe war – hatte es nicht lange gedauert, bis seine Identität ans Licht gekommen war. Das hatte ihn natürlich zur Zielscheibe gemacht, sowohl für die Franzosen als auch für Spinner – aber alles in allem hielt Grey das für etwas Gutes. Es bedeutete, dass Leute, die mit den Briten geheime Geschäfte machen wollten, ihn finden konnten. Das, so glaubte er, war eine mehr als angebrachte Kompensation für die Nachteile. Vor allem, falls der mysteriöse Zettel in seiner Tasche zu etwas von Wert führte.

Es war ein ungefähr 40-minütiger Fußweg von Valletta um den Marsamxett Harbour herum zurück zum Haus der Greys auf der benachbarten Halbinsel Sliema – währenddessen Paulette ihre erste Begegnung mit einem echten afrikanischen Säugetier erläuterte: Dem nordafrikanischen Igel, der in grauer Vorzeit von Libyen bis nach Malta und Gozo gekommen war. Paulette hatte fasziniert herausgefunden, dass der Atelerix algirus, obwohl nur durch 100 Seemeilen von seinem europäischen Cousin auf Sizilien getrennt, einige einzigartige Eigenschaften aufwies. Er war kleiner, aber flinker, eher weiß als braun und ihm fehlte die Kühnheit des Erinaceus europaeus – oder, eigentlich, entweder des Erinaceus roumanicus oder des concolor, den nördlichen und südlichen Weißbrustigeln –, aber in ihren Augen war er bedeutend freundlicher. (Allerdings wies Paulette ihren Mann ehrlicherweise darauf hin, dass ein bösartiger Igel, egal welcher Spezies, schwer zu finden wäre.) Sie widmete sich gerade seiner angeblichen Immunität selbst gegenüber den giftigsten afrikanischen Schlangen und der offensichtlichen Schwierigkeit, eine Stülpnasenotter und einen Igel dazu zu bringen, sich neutral gegenüberzutreten, als sie und Grey vor ihrer Haustür ankamen und Grey sich entschuldigte, um sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen.

Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen und abgeschlossen hatte, konnte er endlich das mysteriöse Stück Papier aus seiner Tasche holen – ein eng zusammengerollter Zylinder von der Größe und Form einer einzigen getrockneten Nelke, den Grey auf seiner Schreibtischplatte entrollte.

Dort stand in winziger, verschnörkelter italienischer Handschrift: »Montag: acht: Ghajn Tuffieha: Palazzo Parisio.« Die Bedeutung erschien ihm nur allzu klar – jemand erbat ein Treffen am Ghajn Tuffieha Strand in zwanzig Stunden, am Montag um acht. »Palazzo Parisio« war nicht der beabsichtigte Treffpunkt, sondern ein Hinweis auf die Identität des Absenders – es war die Villa, die Napoleons Heim und Hauptquartier während seines kurzen Maltaaufenthalts im Juni 98 gewesen war, als er die Insel auf seinem Weg nach Ägypten eroberte.

Nach Napoleons Eroberung hatten die Franzosen zwei Jahre über Malta geherrscht; zu Anfang sehr erfolgreich. Sie hatten die Sklaverei und den Adel abgeschafft, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit etabliert – zum ersten Mal war es maltesischen Juden gestattet worden, eine Synagoge zu bauen –, die Inquisition aufgehoben und den letzten Inquisitor verbannt, ein semi-demokratisches System der Inselregierung erlassen und verkündet, dass Frankreich in jeder Stadt und jedem Dorf eine Schule bauen würde, mit Lehrern, die von Frankreich bezahlt werden würden. Zusätzlichen 60 maltesischen Studenten würden Stipendien verliehen werden, um in Paris zu studieren. Und auf einmal waren die Franzosen sehr beliebt.

Leider waren Napoleons Augen größer als Frankreichs Geldbeutel. Nach nur sechs revolutionsreichen Tagen segelte er dem Ruhm nach Ägypten entgegen und die Leutnants, die er in der Verantwortung zurückließ, fanden keinen anderen Weg, für seine Reformen zu bezahlen, als Maltas Kirchen zu plündern und den katholischen Militärorden der Malteserritter zu berauben – die unter Führung ihres Großmeisters Malta nahezu 300 Jahre lang bis zur französischen Invasion regiert hatten. Der Tropfen, der das Fass für den gewöhnlichen Malteser zum Überlaufen gebracht hatte, waren die Kirchenplünderungen, welche zuerst die Ausbezahlung von maltesischen Staatsdienern finanzierten, die durch das neue französische System ins Leben gerufen worden waren, dann aber Napoleons verzögerter Kampagne im Nahen Osten umgewidmet wurden. Proteste wurden zu Aufständen und Aufstände zu einer Revolution – einer Revolution, die schnell die Unterstützung der Briten fand, die schließlich die Kapitulation der französischen Garnison am 5. September 1800 akzeptierten.

Die maltesische Zivilregierung lud die Briten zum Bleiben ein und erklärte Malta schließlich in der Declaration of Rights of the Inhabitants of the Islands Malta and Gozo von 1802, unter dem Protektorat von George III, den sie als ihren König anerkannten, als autonom. Damit waren die Engländer wunschlos glücklich und machten die Inselnation schnell zu einem wesentlichen Teil des Empire – aber viele Malteser, wenn auch in hartnäckiger Minderheit, trauerten still und ergeben den glorreichen, französischen Idealen Napoleons hinterher und unterhielten weiterhin enge, persönliche Verbindungen nach Frankreich und zu der Regierung des Ersten Konsuls. Dies, gepaart mit seiner zentralen Lage im Mittelmeer, machte Malta so zu einem wertvollen Rädchen in der Maschinerie des britischen Geheimdienstes. Und war der Grund, warum Thomas Grey so gewillt war, eine anonyme Einladung zu einem geheimen Treffen bei Sonnenaufgang am Strand anzunehmen.

Am nächsten Morgen – Montagmorgen – erwachte Grey, klopfte ein paar winzige Malta-Eidechsen aus seinen Stiefeln und verließ das Haus noch vor Sonnenaufgang. Er beabsichtigte, als Erster am Ghajn Tuffieha zu sein, sich einen guten Aussichtspunkt zu suchen und sicherzugehen, dass ihm keine Falle gestellt worden war.

Es war ein dreistündiger Fußmarsch zu der ländlichen Seite der Insel, der Nordwestküste Maltas, wo es wenig außer Schafställen und Weberhütten gab. Beim Gehen beobachtete Grey den Himmel, wie er vor ihm von Tintenschwarz zu Violett, Rot und Pink und schließlich zu einem frischen Blau überging, ohne auch nur eine einzige Wolke. Bei Tageslicht kauerte Grey unter einem Gebüsch 50 Yards hinter dem Strand und wartete.

Um vielleicht zwei Minuten vor acht näherte sich ein Mann, alleine, und hinterließ eine Spur von Fußabdrücken im Sand. Er blieb ungefähr einen Meter vor den sich sanft brechenden Wellen stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schaute hinaus aufs Meer.

Grey beobachtete ihn zehn Minuten lang. Es gab kein Anzeichen auf eine versteckte dritte Partei und der Mann blickte auch kein einziges Mal zu irgendeinem Versteck hinter sich, in dem sich jemand hätte verbergen können. Auch kein nervöses Zucken. Grey stand auf und ging den Strand hinunter auf ihn zu.

»Guten Morgen«, sagte Grey auf Italienisch. Der Mann drehte sich um und Grey konnte zum ersten Mal sein Gesicht sehen – das gewöhnlichem Durchschnitt entsprach; glattrasiert, ziemlich gebräunt. Ein Grübchen im Kinn. Die Andeutung eines Überbisses.

»Guten Morgen«, sagte der Mann. »Sie sind Thomas Grey. Der Chef von Georges Spionen auf Malta.«

»Nein«, sagte Grey, »ich fürchte, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln; ich war äußerst verwirrt von Ihrer Nachricht. Warum haben Sie mich hierher geladen?«

»Nein«, sagte der Mann, »ich irre mich nicht. Ich habe etwas für Sie« – der Mann griff in seine Jackentasche, zog ein Rasiermesser heraus, ließ es aufschnappen und stach damit nach Greys Gesicht.

Grey hatte so etwas in der Art schon fast erwartet – er zog seinen Kopf zurück, das Messer verfehlte ihn. Grey schnappte sich den Arm des Mannes, als dieser lediglich durch die Luft fuhr, drehte ihn ihm auf den Rücken und warf den Mann zu Boden.

Dieser schlug hart auf, ließ die Klinge aber nicht fallen; er drehte sich auf alle viere, sprang Grey an und bekam ihn um die Körpermitte zu fassen.

Beide Männer fielen zu Boden; Grey unter seinen Attentäter, der versuchte, sein Messer zu benutzen und es schaffte, Greys Brust einen Schnitt zu verpassen, der einen leichten Kratzer hinterließ, während Grey den Mann von sich herunterstieß und in die Gischt warf.

Grey sprang erneut auf die Beine, als der Angreifer schon wieder in der Hocke war – er trat nach der Hand des Mannes und ließ die Klinge durch die Luft segeln; nun war es an ihm, mit vollem Körpergewicht auf den anderen zu springen, wodurch sie beide in knietiefes Wasser rollten.

Der Mann hatte sich in ein wütendes Tier mit wilden Augen verwandelt. Er verpasste Grey einen Faustschlag in den Magen; Grey versenkte seinerseits eine Faust im Gesicht des Mannes, umfasste seinen Nacken und drückte ihn unter Wasser. Der Mann schlug wild um sich. Aber nicht wild genug, um sich Greys Griff zu entwinden.

Es dauerte fast eine Minute, bis er tot war. Eine halbe Minute, bis ihm die Luft ausging, und noch eine halbe, bis der rasende Blick einem angsterfüllten wich. Er starb mit weit aufgerissenen Augen und Mund. Grey zerrte seine Leiche hoch an den Strand, wo das Wasser sie nicht mehr erreichen konnte. Alle Taschen des Mannes waren leer; auch auf der Klinge selbst fand er keinen Anhaltspunkt zu dessen Identität, also steckte er sie in seine eigene Tasche. Er würde die lokalen Schutzmänner verständigen, damit diese den Leichnam bargen und feststellen konnten, wer er war. Wer er gewesen war.

Der Schnitt auf Greys Brust brannte, aber er hatte aufgehört zu bluten und schien nicht zu ernst zu sein – nur ungefähr zehn Zentimeter lang, gleich unter seiner linken Brustwarze. Erst nach zwei Stunden, als Grey auf seinem Nachhauseweg an dem Dorf San Gwann vorbeikam, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Seine Sicht verschwamm langsam. Seine Zunge fühlte sich dick an. Er konnte nicht richtig atmen. Sein Herz raste.

Seine Gedanken wurden immer verworrener – aber nicht verworren genug, um nicht mehr zu erkennen, dass er vergiftet worden war; dass da etwas auf dieser Klinge gewesen war.

Er brach in der Tür der Kapelle Santa Margarita zusammen, nachdem er ein paar Mal schwach an den Türpfosten geklopft hatte. Dann verlor er das Bewusstsein.

 

Später fand er heraus, dass das Rasiermesser in Schwarzem Hexenkraut getränkt gewesen war – stinkendem Nachtschatten, genug, um ein Pferd zu töten. Glücklicherweise war der Schnitt nur oberflächlich. Der Mann war ein Schulmeister gewesen, der die Schuld dafür, dass er keine Arbeit finden konnte, der annullierten französischen Bildungsreform und somit den Engländern zuschrieb. Er hatte das Hexenkraut in seinem Vorgarten angebaut.

Dies teilten die Klosterbrüder des Krankenhauses Grey zwei Wochen später nach seiner Genesung mit. Die einzige Erinnerung, die er an diese Zeit selbst hatte, war an Paulette – die seine Hand hielt, ihm kein einziges Mal von der Seite wich und ihm immer und immer wieder ins Ohr flüsterte: »Ich bin hier, ich bin hier bei dir; solange ich da bin, kann nichts Schlimmes geschehen, dir wird nichts geschehen, du wirst wieder gesund werden, du wirst wieder gesund werden.«

 

*

 

Als Grey aus seinem Traum erwachte, dachte er für einen Moment, dass er wieder zurück auf Malta wäre und aus seinem Delirium aufwachte, mit Paulette an seiner Seite. Nur das Geräusch von Matrosen, die das Deck der Ruby scheuerten, holte ihn wieder zurück in die Gegenwart, erinnerte ihn daran, wo er war – es war das unverkennbare schrubb-schrubb, schrubb-schrubb von knienden Männern, die das Schiff mit Sandsteinklötzen von der Größe und Form einer Bibel reinigten. Grey konnte nicht umhin zu bemerken, dass das Tempo des Scheuerns bedeutend langsamer war als es in der Marine der Fall gewesen war. Auf diesem Schiff gab es keinen Bootsmann, der den Männern mit einem Arschtritt Dampf machte. Nichtsdestotrotz war das Schiff penibel sauber. Vielleicht konnte man sich davon eine Scheibe abschneiden.

Mit diesem Gedanken wollte Grey gerade wieder in den Schlaf zurücksinken – er hatte nichts Besonderes mehr mit diesem Tag vor –, aber ein plötzlicher warmer Luftzug erinnerte ihn an das französische Schiff, das hinter der Ruby gewesen war. Danach kam Schlafen nicht mehr infrage. Er beschloss, einmal nachzusehen, einen Kaffee zu trinken und sich dann einen gemütlichen Platz zum Lesen zu suchen. Vielleicht wieder hier, im Bett, wo ein kleines Nickerchen dann eventuell erneut in Betracht gezogen werden konnte.

Er betrat das Deck in Kniehosen und einem gemütlichen, etwas abgetragenen, braunen Mantel; keine Perücke heute und auch kein Hut. Der Steward des Kapitäns kam Grey auf dem Niedergang von oben entgegen und bot an, ihm einen Kaffee auf das Achterdeck zu bringen. Grey dankte ihm und trat hinaus in die Morgenluft.

»Captain Grey«, sagte Bavinger, »guten Tag wünsche ich Ihnen.«

»Captain Bavinger«, sagte Grey, schüttelte die Hand seines Gastgebers und blickte dann hinaus über die Heckreling. »Wie ich sehe, hat uns unser französischer Freund heute Nacht eingeholt.«

»Ja, es ist ein stolzes Segelschiff«, sagte Bavinger mit nur einem Hauch von Besorgnis in seiner Stimme. Mit vertraulichem Blick wandte er sich an Grey: »Nach so vielen Jahren des Krieges ist es, fürchte ich, nicht leicht, eine französische Korvette so nahe hinter sich zu haben, ohne die Bramsegel zu setzen, sich bereitzuhalten und klar Schiff zum Gefecht zu machen …«

Noch mehr Marine-Überheblichkeit, dachte Grey. Oder hatte der Kapitän mehr Kampferfahrung als man ihm auf den ersten Blick ansah? Bavinger fuhr fort:

»Aber ich will keinen unbegründeten Sorgen nachgeben. Gewohnheiten kann man vielleicht nicht so leicht ablegen, aber nach und nach, nehme ich an, werden wir uns alle wieder auf den Frieden einstellen.«

Grey nickte und betrachtete das französische Schiff. Es war leicht und schnell; zwei Masten und dahinter ein kurzer Kreuzmast mit gehisstem Lateinsegel. Zwanzig Kanonen … 4