Schichten - Paul Koglin - E-Book

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Paul Koglin

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Beschreibung

Das Ereignis am 14. Juli 2021 war für Paul Koglin der Anlass, diesen Roman zu schreiben. An diesem Tag wurde nicht nur das Ahrtal verwüstet. Auch die Erft wurde zum reißenden Strom. Dort wo Kraftwerke, mit Braunkohle aus den Tagebauen befeuert, massenweise CO2 ausstoßen und Mitverursacher des Klimawandels sind. Ursache und Wirkung an einem Ort! "Hambi" und Umweltschützer in ihren Protestcamps kommen in seinem Buch nicht vor. Die Schlachten zum Kohleausstieg sind geschlagen. Die Dekarbonisierung im Rheinischen Revier bis 2030 ist beschlossen. In seinem Buch geht es um die Menschen, die mit und von der Braunkohle leben und gelebt haben. Darunter gelitten, vor allem auch davon profitiert haben. Im Einklang, oft auch im Kampf mit der Natur. Paul Koglin beschreibt die Schicksale von drei Familien im Rheinischen Revier, deren Lebensgeschichten sich kreuzen. Über vier Generationen hinweg an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Anlässen. Als die Tagebaue und Kraftwerke Treiber der Industrialisierung im Rheinland waren. Die menschengemachten Eingriffe in die Natur sind gewaltig und werden Jahrhunderte sichtbar bleiben, Narben hinterlassen. Paul Koglins reale, natürliche Zeugin und auch Betroffene dieser Veränderungen ist die Erft mit ihrem vierzig Kilometer langen Unterlauf, gezeichnet von Bergbau und der Stromwirtschaft. Sie fließt nicht. Sie arbeitet sich durch das größte Braunkohlerevier in Europa. Zwei Kritikerstimmen: "Schon das Cover veranschaulicht, was Paul Koglin in seinem Roman "Schichten" bravourös gelingt: Schicht für Schicht zeigt er die generationenübergreifenden Auswirkungen des Rheinischen Tagebaus im Wandel der Zeit. Und das ohne moralischen Zeigefinger, sondern vielmehr anhand einzelner Familiengeschichten...!" Thomas Opfermann, Dozent für Kreatives Schreiben "Dieser Roman ist eine Hommage an eine Welt, so nah und doch so fern. Fünf Jahrzehnte Heimatgeschichte, die beim Lesen eine enorme Sogwirkung erzeugt. Großes Kino!" Jorgos Flambouraris, Buchhändler

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„Geschichten ereignen sich nicht. Geschichten werden erzählt.“Christoph Ransmayr

Stammbäume

Familie von Berchem auf dem Gut Berchem in Berchemrath

Wilhelm von Berchem (*1865 †1936) ∞ Margarethe von Berchem (*1868 †1895)

=> Charlotte von Berchem (*1895 †1986) ∞ Samuel Rosenberg (*1890 †1956)

=> Karl von Berchem (*1922 †1944)

=> Margarethe von Berchem (*1929 †2010) ∞ Joachim von Bredow (*1925 †1998)

=> Andreas von Bredow (*1958) ∞ Adèle Malraux (*1959)

=> Charlotte von Bredow (*1991)

=> Paul von Bredow (*1995)

Familie Röder auf der Berchemer Mühle an der Erft

Heinrich Röder (*1863 †1938) ∞ Elisabeth Königs (*1869 †1919)

=> Eva-Maria Röder (*1893 †1966)

=> Bernhard Röder (*1900 †1944)

=> Walter Röder (*1895 †1976) ∞ Elsbeth Faßbender (*1897 †1990)

=> Heinz Röder (*1924 †1945)

=> Sarah Röder (*1930 † 2015) ∞ Dr. Arnold Schön (*1924 †1999)

=> Marie Schön (*1961)

=> Marcel Schön (*1958) ∞ Franziska Grunert (*1954)

Familie Grunert aus Berchemrath

Georg Grunert (*1870 †1937) ∞ Sybille Breuer (*1875 †1910)

=> Hans Grunert (*1897 †1978) Marianne Giesen (*1897 †1981)

=> Dr. Annemarie Grunert (*1928 †2010)

=> Franziska Grunert (*1954)

Inhaltsversverzeichnis

Vorwort

DIE FLUT

DAS GUT

DAS KRAFTWERK

DIE MÜNDUNG

Dank

Quellen, Literatur- und Bildnachweise

Vorwort

Was ich in diesem Buch nicht mehr beschreiben und begründen muss, ist die Schädigung der Umwelt, der massive Ausstoß von CO2 durch die Kraftwerke im Rheinischen Revier. Die Schlachten dazu sind geschlagen. „Hambi“ ist geräumt. Die „Letzte Generation“ klebt woanders. Die Dekarbonisierung bis 2030 ist beschlossen.

Was bisher allerdings liegengeblieben ist, nicht ausreichend behandelt wurde, sind die Menschen in der Ville, in der Kölner Bucht, im Rheinland, die mit und von der Braunkohle leben und gelebt haben. Darunter gelitten, aber vor allem auch davon profitiert haben. Im Einklang, aber oft auch im Kampf mit der Natur. Die menschengemachten Eingriffe in die Natur sind gewaltig und werden lange sichtbar bleiben, Wunden und Narben hinterlassen. Das prägt die Schicksale der drei Familien und Personen, die ich für dieses Buch erfunden habe. Dabei beschreibe ich ausführlich das Leben der Familien in den ersten fünfzig Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In diesem Zeitraum sind die wichtigsten industriellen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen Umschichtungen und existentiellen Herausforderungen, auch bedingt durch die beiden Kriege, erfolgt.

Meine reale, „natürliche“ Augen- und Zeitzeugin und auch Betroffene dieser Veränderungen ist die Erft mit ihrem vierzig Kilometer langen Unterlauf, gezeichnet vom Bergbau und der Stromwirtschaft. Sie fließt nicht. Sie arbeitet sich durch das größte Braunkohlerevier in Europa.

DIE FLUT

14. Juli 2021

Er konnte nicht glauben, was er da gerade sah, als er aus dem Fenster des zweiten Stocks auf die Straße herabschaute. Wassermassen schossen an ihm vorbei. Mit ungeheurer Wucht nahmen sie alles mit, was im Wege stand. Ein roter Container wurde fortgerissen, bahnte sich unaufhaltsam den Weg im reißenden Strom. Strom? Hier floss doch sonst die sanfte, leise und zahme Erft, nicht weit weg von ihrer Quelle in der Eifel. Ein Bächlein. In der Ortsmitte eingemauert in grobes Gestein, geleitet durch das Zentrum von Bad Münstereifel.

Seit einigen Jahren stolzer Outlet Ort. Die pittoreske Altstadt erhalten und neu belebt durch Franchise-Geschäfte bekannter Marken, die zahlungskräftige Kunden aus dem Umland und von weiter her in das kleine Städtchen in die Nordeifel lockten, plätschernd begleitet und belebt von der kanalisierten, friedlichen Erft.

Die ist heute im Krieg! Die Natur hat uns den Krieg erklärt. Sie wehrt sich mit ihren Waffen. Mit Flut. Zeichen des menschengemachten Klimawandels. Sonst bemerken, erleiden ihn andere, zumeist weit weg von uns auf anderen Kontinenten. Tropenstürme, Dauerregen, Überschwemmungen in Asien und Australien. Hitze, Dürre und Trockenheit in Afrika. Waldbrände und Tornados in Nordamerika. Schmelzendes Gletschereis am Nordpol. Steigende Meeresspiegel und untergehende Inseln in der Karibik. Aber hier? Ein solches Unwetter hatte Andreas von Bredow in diesen Breiten, in der Heimat seiner Vorfahren, noch nicht erlebt. Exremwetterlagen, Starkregen und Stürme hatten in den letzten Jahren zugenommen. Aber diese Fluten der Erft hier und heute, das war eine neue, bedrohliche, bisher nicht gekannte Wetter-Dimension. Eine Naturkatastrophe, hervorgerufen und begünstigt durch die Erderwärmung. Die heftigen Regenfälle der letzten Tage ließen die Bäche und Flüsse der Eifel anschwellen, die Täler und Ortschaften fluten, wie er erst am nächsten Tag erfahren sollte. Überschwemmung, Verwüstung, Verzweiflung, Zerstörung und Tod, vor allem im Ahrtal. Die Erft, die Urft, die Kryll und die Rur wurden zu wilden und reißenden Strömen.

Als er aus dem Haus, das sein Urgroßvater vor gut hundert Jahren hatte bauen lassen, immer noch ungläubig, ängstlich, geschockt auf die Erft starrte, auf den reißenden Strom da unten, dachte er an die Erft, wie er sie kannte seit seiner Jugend. Der Fluss, der die Heimat seiner Familie geprägt hatte, das Rheinland, das Rheinische Braunkohlenrevier, gewachsenes und prosperierendes Industrieland zwischen Köln und Aachen.

Und wie die Erft genutzt, verlegt, ihr Lauf begradigt, verändert, angepasst und denaturiert wurde. Aber auch missbraucht, in Rohren unterirdisch verschwand mit warmem, abgepumptem Grundwasser aus den tiefen Gruben gespeist und in den Rhein geleitet. Die Erft: Sklavin des Braunkohleabbaus im Rheinischen Revier. Ihre Dienerin. Ließ alles mit sich machen. Bis heute?

Und er dachte an den Horizont im Westen von Köln. Sah die riesigen Kühltürme der Kraftwerke Frimmersdorf, Neurath und Niederaußem mit ihren grauweißfarbigen, dicken Rauchschwaden, die Kathedralen gleich in den Himmel wuchsen und sich mit den Wolken vermischten. Keine gotischen Kreuze, die gen Himmel strebten wie die beiden Turmspitzen des Kölner Doms in Sichtweite der mächtigen Kühlschornsteine. Dem Wettbewerber um die Lufthoheit, dem Wahrzeichen Kölns, seit fast tausend Jahren.

Schatten und Lichtreflexe über den tosenden Fluten zeichneten in der beginnenden Dämmerung ein verzerrtes Gesicht auf die Wasseroberfläche, dem berühmten Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch nachempfunden. Nur Einbildung seines an Gemälden und Bildern geschulten Gedächtnisses?

Ist diese Sintflut da unten eine Antwort, ein Zeichen des Schöpfers? Auf den massenhaften Ausstoß von CO2 der Kohlekraftwerke des Rheinischen Reviers? Hat es dieses Mal einen der größten Verursacher von Erderwärmung und Klimawandel getroffen? Belegte Ursache und zufällige Auswirkung an diesem Ort?

Umgeschichtet von Mensch und Maschine in neu geschaffene Seen, in rekultivierte Landschaften, in umgesiedelte Orte und ausgesiedelte Gehöfte mitsamt Wiesen und Feldern. Verschwundenen, gerodeten Wäldern, umgeleiteten Flüssen und mit tausenden verpflanzten Menschen. Der Salon, so wie dieses Zimmer seit Generationen genannt wurde, in dem von Bredow an den Fenstern auf die Flut starrte, hell erleuchtet von einem ausladenden Kronleuchter, war dekoriert mit gerahmten Bildern seiner Vorfahren und ihrer Güter im Rheinland und in Pommern. Gesammelt, fotografiert und gemalt von seiner Großmutter Charlotte von Berchem.

Als er zufällig auf das Bild mit dem Grafen, Charlottes Vater, schaute, glaubte er in seinen Augen einen stechenden, wissenden Blick zu erkennen, der ihn unvermittelt traf. Aber noch bevor er näher an dieses Ölgemälde herantreten konnte, hörte er aus den Etagen unter ihm ein krachendes, tosendes und berstendes Geräusch, begleitet von einem erschreckten Aufschrei. Mit einem Schlag erloschen die vielen Lichter des Kronleuchters im Salon. Die plötzliche Finsternis hier drinnen machte das Geschehen da draußen noch bedrohlicher, noch unwirklicher.

Offensichtlich war nicht nur er in dieser Dämmerstunde im Haus, sondern auch die Ladenbetreiber des Sportmarkenherstellers, denen er vor einigen Jahren die unteren beiden Etagen vermietet hatte. Andreas von Bredow kramte sein Handy aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Dabei poppten bereits die Links mit den ersten Meldungen über die verheerende Flut auf. Er hatte aber keine Zeit, sie jetzt zu lesen, sondern eilte aus seiner Wohnung und lief hinunter, um zu nachzuschauen, was die Wassermassen dort angerichtet hatten.

DAS GUT

1900 – 1918

Ein Habicht zog einsam seine Kreise in großer Höhe. Der Graf hielt schützend die rechte Hand vor seine Augen, denn die blendende Septembersonne schickte gerade einen hellen Strahl aus weißen Wattewölkchen auf diesen Teil des Burggrabens, an dessen Ufer er seine beiden Jagdhunde auf der sonntäglichen Nachmittagsrunde ausführte. Wilhelm von Berchem knöpfte seine dunkelbraune und bereits recht abgewetzte Wildlederjacke mit den vielen praktischen Taschen auf, blieb einen Moment stehen und kramte seinen Tabakbeutel hervor. Endlich hatte er mal wieder Zeit, sich genüsslich seine kurze, aus edlem Holz gefertigte Tabakpfeife zu stopfen und sie anzuzünden. Nach dem er den ersten tiefen Zug seines Spezialtabaks, importiert aus Sumatra, inhaliert hatte, strebte er den enteilten Hunden hinterher.

Auf seinem Spaziergang wurden die Hunde des Grafen plötzlich unruhig und stürmten auf das mittlerweile abgeerntete, weitläufige Weizenfeld, welches sich zwischen dem Schlossgraben und dem Berchemer Wald erstreckte. Sie kamen allerdings viel zu spät an die Stelle auf dem Stoppelacker, wo der Habicht seine Beute bereits erspäht und gepackt hatte. Der Raubvogel umklammerte den Feldhasen mit seinen Greifern und flog, schnell große Höhe gewinnend und seine Flügel weit ausschlagend, zu seinem Nest am Waldrand. Dort wartete ungeduldig der hungrige Nachwuchs.

Die Hunde trotteten unverrichteter Dinge wieder zurück zu ihrem Herrn, der auf dem unebenen und mit Unkraut übersäten Feldweg mit seinem reichlich verzierten Spazierstock, geerbt von seinem längst verstorbenem Vater, nur langsam vorankam. Es dauerte deshalb auch eine gute halbe Stunde, bis der Graf endlich den Ort erreicht hatte, den er sich heute einmal genauer anschauen wollte.

Von weitem glitzerte schon die kristallene Sandschicht und reflektierte die Strahlen der mittlerweile tiefstehenden Sonne. Das kraterförmige Loch war ungewöhnlich tief und breit. Die Hunde verharrten unruhig und unsicher am Bruchrand der Grube. Berchem konnte deutlich die verschiedenen Schichten auf dem ihm gegenüberliegenden steil abfallenden Kraterhang erkennen: Zunächst an der Oberfläche Mutterboden, dann grobkörniger Sand mit verschieden großen Steinen durchsetzt, gefolgt von einer tonartigen Erdschicht und schließlich gut erreichbar im Tagebau die Schicht mit der Kohle, die von seinen Feldarbeitern bereits freigelegt worden war und sich weiter im noch verborgenen Erdreich fortsetzte. An der tiefsten Stelle war der Kohleboden des Kraters mit dunkel schimmerndem Grundwasser vollgelaufen.

Graf Berchem dachte an die Worte des Gutachters vom Bergamt in Bonn, Bergassessor Rath. „Die Gewinnung der Braunkohle im Tagebau lohnt, sowohl was die wahrscheinliche Menge der Kohle im Boden des gräflichen Wald- und Ackerlandes als auch die abbaubare Lage der Kohleschichten betrifft.“ Der Ausruf seines Vaters Heinrich von Berchem, dessen Spazierstock sein Begleiter war, kam ihm in den Sinn: „Wir sind doch keine Köhler. Wir sind Bauern. Wir ernten, was vorher die Sonne gesehen, den Wind gefühlt und den Regen gespürt hat. Lass andere die Kohle aus den Löchern und aus den Stollen holen.“

Als der Graf sich wieder auf den Heimweg machen wollte, fiel sein Blick auf einen Reiter in einem auffälligen dunkelroten Umhang auf der ihm gegenüberliegenden Seite der Grube. Er stand an der Kante und sein Schimmel schnaubte. Umhang und Schimmel gaben ein imposantes Bild ab.

„Röder, was treibt dich hier her?“, rief der Graf seinem Gegenüber zu.

„Offensichtlich das Gleiche wie Sie, Herr Graf. Ich schaue mir das neue große Loch an.“

„Röder, wir müssen auch unter der Erde ernten. Gott zum Gruße“, verabschiedete sich Berchem und erschrak gleichzeitig über seine Worte. Wilhelm von Berchem erhob seinen Spazierstock in Richtung Röder und trat seinen Rückweg an, während er die Hunde anwies, ihm zu folgen.

Heinrich Röder schloss seinen Umhang, wendete sein Pferd und trabte davon, zunächst dem Feldweg folgend, aber dann ein Stück querfeldein zum Uferweg an die Erft. „Wagt er es doch tatsächlich“, sagte er laut vor sich her und meinte Graf Berchem. Er dachte weiter, offensichtlich ist der Graf wild entschlossen, die Kohle unter seinem Grund und Boden über Tage abzubauen, genauso wie sein Nachbar Graf Blens. Was passiert mit dem Grundwasser? Wo soll es hin, wenn es abgepumpt werden muss? In die Erft? In den extra angelegten Erft Kanal? Zurzeit lieferte der Fluss genügend Wasser. Doch die vielen neu entstehenden Kohlegruben machten ihm Sorgen.

Er liebte es, mit seinem aufmerksamen Schimmel durch die an dieser Stelle noch unberührte Flusslandschaft zu reiten, die er jetzt auf seinem Weg zur Mühle erreicht hatte. An seinem purpurroten Umhang war er von weitem zu erkennen. Der Schimmel vermied instinktiv moorigen und rutschigen Auenboden, blieb immer auf festem und sicherem Grund. So konnte sich Röder am Geschehen an den mäandernden Läufen des Flusses erfreuen und gleichzeitig seinen Gedanken nachhängen.

Die langsam einsetzende Abenddämmerung brachte Fauna und Flora noch einmal zum Erklingen und Erstrahlen an diesem warmen Spätsommertag, bevor dann die abendliche Stille einsetzte und die eher lautlosen Geschöpfe im und am Fluss die nächtliche Schicht übernahmen. Mücken und Vögel umschwirrten die Trauerweide, die mitten auf einer der vielen Wasserinseln thronte und deren von Blättern überwuchernden Zweige lange Schatten auf die flimmernde Wasseroberfläche warfen.

Röder bog jetzt auf den Reitweg ein, entlang des mittlerweile gerade verlaufenen Flusses bis zum Stauwehr, das vor seiner Mühle einen Teich bildete, aus dem die Erft dann im gemauerten Kanalstück die beiden Mühlräder mit reichlich Wasser speiste.

*

Besucher, die von Norden kamen, sahen als erstes das schlanke Glockentürmchen auf dem Walmdach des mehrstöckigen Wohnturms, die Besonderheit der Wasserburganlage, die seit mehreren Jahrhunderten der Stammsitz der Grafen von Berchem war. Zweigten sie dann von der Dorfstraße ab auf den gepflasterten Weg über die massive alte Steinbrücke, die über den Burggraben führte, gelangten sie durch das schwere, glänzend schwarzgestrichene, zweiflüglige Holztor auf den gepflasterten quadratischen Innenhof, umrahmt von Wirtschaftsgebäuden und Stallungen.

Die Mitte des Hofs zierte ein Brunnen aus rundgemauerten beigen Basaltsteinen. Nach dem Passieren des Brunnens standen die Besucher vor dem gewaltigen Turm, der mit seinen quadratischen, recht kleinen Fenstern und den diagonal weiß-rot gestrichenen Fensterläden wie eine Trutzburg wirkte. Hier wohnten der Graf und seine Familie.

Die Erft verlief in Sichtweite und speiste durch einen unterirdischen Zufluss die Wassergräben der Anlage. Vor der Außenseite des Turms machte der Burggraben einen weiten Bogen und ließ Raum für eine parkähnliche Gartenlandschaft mit Rosenbeeten, Buchsbäumen und einem kleinen Nutzgarten sowie einer großzügigen, gefliesten Terrasse, von wild wuchernden Rhododendronbüschen eingefasst. Eine dichte Reihe mächtiger, jahrhunderteralten Buchen entlang des Grabens umschloss diesen ausladenden Vorgarten der Burganlage.

*

Graf Berchem hatte sich nach dem Abendessen in sein Arbeitszimmer im zweiten Stock des Burgturms zurückgezogen und saß über die Kladde gebeugt, in der sein Verwalter Herrmanns die Erträge der letzten fünf Jahre aus dem landwirtschaftlichen Betrieb seines Guts fein säuberlich in seiner gestochen scharfen Schrift niedergeschrieben hatte: Erhebliche Rückgänge bei den letzten Ernten mit Getreide und Kartoffeln, ein über die Jahre stabiles Geschäft beim Vieh und aus der Bewirtschaftung seines Waldes. Zuwächse bei den Zuckerrüben, sicherlich auch begünstigt durch die neugebaute nahe Zuckerfabrik. Zuckerrüben machten mittlerweile fast ein Drittel der Ernte aus, Blattfrüchte damit mehr als die Hälfte im Vergleich mit Getreide.

Lohnend auch durch die Bergheimer Kreisbahn, eine gerade fertiggestellte Schmalspur-Bahnstrecke zwischen den wichtigsten Orten des Landkreises Bergheim. Die Bahn transportierte vor allem Kohle aus den verschiedenen kleinen Gruben der Ländereien anderer Güter und Kohleabbaubetrieben zu Verladestationen, verbunden mit dem Normspur-Schienennetz zu den neu entstandenen Brikettfabriken.

Berchem wusste durch seine Gespräche als Gastgeber der regelmäßig stattfindenden sonntäglichen Mittagsrunden mit unterschiedlichen Gästen aus seiner Nachbarschaft sowie aus der Lektüre der Vossischen Zeitung, dass die Industrialisierung dynamisch voranging und sich das beschauliche Rheinland verändern würde. Mit Dampf betriebene Bagger halfen den Aushub der Gruben zu beschleunigen und ersetzten einen Teil der Tagelöhner, die mit Hacken und Schaufeln das Erdreich und die Kohleflöze bearbeiteten und die zweiachsigen Wagen, Hunten genannt, füllten. Lenzpumpen beförderten das Grundwasser aus den Tagebauen. Pressmaschinen, in den Braunkohlerevieren im Osten Preußens erfunden und auch hier im Einsatz, ermöglichten die Massenfertigung der Briketts in den neuen Brikettfabriken.

Berchem packte die Kladde des Verwalters auf die Seite und entnahm der vor ihm aufgeschlagenen und in Leder gebundenen Dokumentenmappe ein Schriftstück. Unterschrieben von Graf Blens, seinem Nachbarn im Norden, und weiteren Gutsbesitzern. Das Dokument war der unterschriftsreife Vertrag zum Beitritt einer Produktionsgenossenschaft zur Förderung und Vermarktung der Braunkohle aus Bergwerksfeldern von fünf landwirtschaftlichen Gütern in der Kölner Bucht.

„Marga, was rätst du mir?“, fragte er seine ihn anlächelnde Frau auf dem Bild vor ihm. Margarethe von Berchem war schon seit fast fünfzehn Jahren tot, gestorben im Kindbett nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Charlotte. Er zwirbelte die beiden Enden seines graumelierten Schnurrbarts und bildete sich ein, dass seine Frau Margarethe auf dem Bild vor ihm jetzt gerade noch mehr strahlte als sonst.

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Grunert trat ein. Er stellte das Gläschen rheinischen Kräuterlikör, das Berchem nach dem Abendessen gerne trank, auf den kleinen runden Beistelltisch vor der Bücherwand. „Hat der Graf noch einen Wunsch?“, fragte sein Diener. Berchem wollte schon nein und gute Nacht sagen.

„Ja, doch. Lass bitte eine Einladung zur Mühle zum alten Röder bringen.

Für das Mittagessen am kommenden Sonntag.“

„Sehr wohl, gute Nacht, Herr Graf.“

„Gute Nacht, Grunert!“

Graf Berchem hatte derweil seine Entscheidung getroffen und wollte sie mit seinen Gästen, die er zum Mittagsmahl am nächsten Sonntag eingeladen hatte, besprechen.

*

Charlotte, von ihren Klassenkameradinnen auf dem katholischen Pensionat für Mädchen St. Anna in Köln nur Charly genannt, lag bereits in ihrem rosafarbenen, mit vielen Blüten bemalten Himmelbett, im Nebenzimmer des Büros und der Bibliothek ihres Vaters. Sie dachte mit Vorfreude an die bevorstehende Reise mit ihrem Vater hinüber nach England, nach London. Ihr Vater wollte dort vor allem einige Industriebetriebe besichtigen und sich neue Agrarmaschinen anschauen. Er hatte ihr aber auch versprochen, mit ihr ein kleines Besuchsprogramm zu unternehmen.

Vielleicht konnte sie während des Aufenthaltes dort auch etwas vom gesellschaftlichen Leben im kulturellen Mittelpunkt des Empire erfahren und in sich aufnehmen. Sie war eine begeisterte Leserin und verschlang alle Romane mit den aktuellen Themen aus Adel und Bürgertum, aus altem und neuem Geld, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Mittlerweile konnte sie diese Bücher auch in ihrer Originalsprache lesen. Sie freute sich schon darauf, ihrem Vater mit ihren Englischkenntnissen auf der gemeinsamen Reise zu helfen und bei vielen Gesprächen, die er dort führen würde, dabei zu sein.

Charly hatte die langen schwarzen Haare, die fast das gesamte rosafarbene Kissen bedeckten, sowie die smaragdgrünen Augen von ihrer Mutter. Sie war für ihr Alter bereits hochgewachsen mit langen Beinen, wohl väterlicherseits geerbt.

Charly schlief bereits, als ihr Vater nebenan im ledernen dunkelbraunen Lesesessel Platz genommen hatte und in die Lektüre Theodor Fontanes „Stechlin“ vertieft war. Er empfand sich als realen „rheinischen“ Wiedergänger des alten Dubslav von Stechlin, auch wenn auf der märkischen Sandbüchse eher Kartoffeln und hier in der Kölner Bucht vor allem Zuckerrüben angebaut wurden.

*

Heute hatte er seine über und über mit Mehl bestäubte Arbeitsschürze gegen einen dunkelblauen Gehrock getauscht, der seine recht kleine Gestalt etwas streckte. Heinrich Röder kramte seine alte Taschenuhr, ein Erbstück seines Vaters, aus der linken Reverstasche. Zwei Uhr. Er strich durch seine bereits ergrauten Haare, ein Zeichen der inneren Unruhe, denn Faßbender sollte schon längst da sein. Röder schaute aus dem Fenster in der Mühlenstube im Nebengebäude seines Mahlbetriebs. Zwischen den hohen alten Pappeln auf der Zufahrt zur Mühle entdeckte er jetzt das Automobil Faßbenders, das bereits die Brücke überquert hatte.

„Willkommen bei uns“, begrüßte ihn Röder.

„Danke, ich bin gerne hergekommen!“

„Ich schlage vor, wir machen erst einmal einen kleinen Rundgang.“

„Eine Stunde habe ich Zeit“, lachte Faßbender und reichte seinem Gastgeber die Hand.

Hubert Faßbender war ein vielbeschäftigter und sehr umtriebiger Geschäftsmann im Landkreis. Von seinem Vater hatte er einen kleinen Kolonialwarenladen in Bedburg übernommen, den er im Laufe der letzten Jahre zu einem Landgroßhandel ausgebaut hatte. Er versorgte nicht nur die Bauern und Kolonialwarenhändler im Kreis, sondern auch im angrenzenden Neusser und Dürener Umland. Seit neuestem war er der stolze Besitzer einer Braulizenz zum Brauen von rheinischem obergärigem Bier. Und er fuhr einen Benz Velo, eher unüblich im doch recht armen und bäuerlich geprägten Rheinland zu dieser Zeit.

Die beiden Männer standen am Schleusenwehr des Mühlenweihers. Röder zeigte Faßbender die beweglichen Schützen, die dafür sorgten, dass die Wasserzufuhr auf die beiden unterschlägigen Wasserräder dosiert werden konnte. „Nach der amtlichen Begutachtung der Erft in den 1860er Jahren verhinderte der neu entstandene Flut- und Entwässerungskanal die weitere Versumpfung des Bodens sowie die sonst regelmäßig zu beklagenden Überschwemmungen“, erläuterte Röder. „Vor allem kriegen die zahlreichen Mühlenbesitzer seitdem genügend Wasser auf ihre Mühlen.

Die Mühle gehört mittlerweile unserer Familie. Mein Vater hat sie den von Berchems abgekauft. Für das Mahlen des Getreides vom Gut entfiel damit der entsprechende Obolus“, beantwortete Röder Faßbenders entsprechende Frage. Besonders stolz war Röder auf die Qualität der Gerste. Er führte Faßbender ins Lager zu einigen Säcken mit Gerste, ließ ihn eine Handvoll durch seine Finger rieseln und anerkennend nicken. Im für einen Mühlenbetrieb doch ungewöhnlich großen Lagerraum befanden sich auch mehrere Säcke mit Saatgut und Dünger, sogar mit Kohlebriketts sowie Regale mit landwirtschaftlichem Gerät wie Hacken, Harken, Spaten, Mistgabeln und Schaufeln.

„Mein kleiner Landhandel“, sagte Röder, als Faßbender auf die Lagerartikel zeigte. „Die Bauern liefern mir ihr Korn und nehmen sich mit, was sie brauchen können“, schmunzelte Röder. „Damit verdiene ich mir etwas dazu und bin nicht zu abhängig von Ernteausfällen.“

*

Wie die Erft zum Wirtschaftsfaktor wurde!

„Und wer ist an allen diesen Übelständen schuld? Der träge und habsüchtige Mensch, der den natürlichen Wasserlauf hemmt und es sogar unterlässt, die von ihm zur Bewegung seiner Mühlräder versperrten Flussbetten gehörig zu räumen und zu vertiefen.“ So urteilte im Jahre 1852 ein Gutachter in seiner Untersuchung über die Versumpfung in den Erft Niederungen. Eigenmächtig hatten nämlich Mühlenbetreiber, im Gutachten „Triebwerksbesitzer“ genannt, Mühlenpegel verändert, um verlässlich Wasserdruck auf ihre Räder zu bekommen. Es gab zu dieser Zeit 26 Mühlen auf einer Flussstrecke von 55 km an der Erft.

Diesen ungeregelten Stauverhältnissen machte die Melioration ein Ende. Die Mühlenpegel wurden neu festgelegt und sorgten dafür, dass die Erft immer genügend Betriebswasser zur ordentlichen Bewirtschaftung der Mühlen führte und aus ihren Mühlenstaubecken auch die Bewässerungsanlagen für Wiesen und Felder gespeist werden konnten. Unterschiedliche feuchte und trockene Niederungsgebiete wurden durch die Stauanlagen ausgeglichen, und der Grundwasserspiegel entsprechen angepasst. Melioration, abgeleitet vom lateinischen Wort „melior“ (besser) ist ein Begriff der Bodenkunde, Landschaftspflege und Wasserwirtschaft.

Der Abschluss der Arbeiten an der Hauptmelioration erfolgte 1867. Dieses Jahr steht daher für einen technischen Meilenstein in der Entwicklung des Landstriches entlang der Erft. In rechtlicher Hinsicht war das Jahr 1794 von Bedeutung. Die französischen Besatzer hinterließen ihren „Code rural“ innerhalb des „Code Napoléon“ als geltende Rechtsauffassung auch im Linksrheinischen. Dieses „Ruralgesetz“ erlaubte besitzrechtliche Änderungen vor allem bei Ländereien, die den Gemeinden gehörten.

Die Meliorationsarbeiten von 1860 bis 1867 erforderten hohe Genossenschaftsbeiträge von den Erftgemeinden. Sie waren deshalb gezwungen, Gemeindeland („Bruch“) an Feuerstellen (Haushalte) im Losentscheid zu verpachten, legalisiert durch das Ruralgesetz. Die neuen Besitzer entrichteten eine jährliche Pachtsumme in die Bruchkasse und leisteten damit einen Beitrag zur Finanzierung der Melioration. Die Gemeinden pflanzten zusätzlich Pappelwälder zur Holzbewirtschaftung, um damit jetzt fehlende Einkünfte aus dem Schweidgang (Nutzungsentgelte für Weiderechte) auszugleichen. Die Melioration und damit eine geregelte Wasserwirtschaft an der Erft sorgten für geänderte Besitzverhältnisse, denn aus mittellosen Landarbeitern und Tagelöhnern konnten Bauern mit Pachtland werden. Neue Landbesitzer zusätzlich zum Adel, den Kirchen und Gemeinden. Ein erster Strukturwandel. Und die Erft wurde zu einem Wirtschaftsfaktor. Nicht nur für die Mühlen und zur Bewässerung, sondern auch für die entstehenden Zuckerrübenfabriken und für die sich langsam entwickelnde Braunkohleindustrie.

Auszug aus dem Buch: „Das Rheinische Revier im Wandel der Zeiten“

*

Dorfschullehrer Mintus schaute Heinrich Röder erwartungsvoll mit einem Nicken an. „Walter ist schon jetzt in meinem Unterricht unterfordert. Ich musste ihn in den letzten Monaten immer mit eigenen zusätzlichen Aufgaben beschäftigen, während die anderen Schüler den normalen Stoff bearbeiteten.“

Mintus saß an diesem Spätsommertag in der Röderschen Mühlenstube bei einer Tasse Tee und schlug Heinrich Röder vor, dessen Sohn Walter schon im kommenden Schuljahr auf das Gymnasium ins benachbarte Bedburg zu schicken. Walter Röder hatte am großen ovalen Tisch neben seinem Vater Platz genommen und verfolgte das Gespräch ob des Lobes seines Lehrers einerseits mit Stolz, andererseits auch zunehmend unsicher wegen der nicht voraussehbaren Reaktion seines Vaters.

Lehrer Mintus hatte bereits vom Direktor Dr. Breuer, dem Schulleiter des Gymnasiums in Bedburg, die offizielle Genehmigung für den Schulwechsel in einem Schreiben zum Gespräch mitgebracht. Röder war sehr stolz auf seinen Sohn, zog aber skeptisch fragend die Brauen hoch, als Mintus den entsprechenden Brief entfaltete und er ihn lesen ließ.

Denn dort war auch das Schulgeld aufgeführt. Er pfiff durch die Zähne, als er die Summe sah. Wie gut, dass die Vereinbarung mit Faßbender stand. Aufgrund der vielen Mühlen an der Erft und des verschärften Wettbewerbs untereinander, unterboten einige Mühlenbesitzer den etablierten Kurs, ein Sechzehntel des Ertrages einzubehalten.

Mit einer Hand strich Röder durch seine grauen Haare und schaute seinen Sohn an, der unter sich sah. Seine anderen beiden Kinder Eva-Maria, die Älteste, und Bernhard, der Jüngste, zeigten nicht annähernd die Begabung seines mittleren Kindes. Elisabeth, seine Frau, wollte nur das Beste für ihre Kinder.

„Schaffst du das?“, wandte er sich an Walter. „Früher aufstehen, ein langer Fußmarsch bei Wind und Wetter, viele Hausaufgaben, während die anderen Kinder draußen spielen oder bereits arbeiten und Geld nach Hause bringen.“ Walter nickte mehrmals, den Blick fest auf Lehrer Mintus gerichtet. „Ja, ganz bestimmt!“, setzte er überzeugt hinterher.

„Nun, dann soll es so sein“, stellte der alte Röder fest und besiegelte seine Entscheidung durch einem Handschlag mit Dorfschullehrer Mintus, der darüber glücklich und erleichtert war, wieder einen seiner Schüler aufs Gymnasium zu bringen.

*

Katharina, von Berchem wegen ihrer ungewöhnlichen Körpergröße nur die „Große“ genannt, hatte alle Hände voll zu tun mit der Vorbereitung des gräflichen Mittagstisches, es gab als Hauptgericht rheinischen Sauerbraten an diesem Sonntag. Insgesamt mussten diese Gäste verköstigt werden: Graf Blens, Landrat Berger vom Bezirksamt Bergheim, Pfarrer Schmitz aus der benachbarten Pfarrgemeinde Bedburg, Schuldirektor Dr. Breuer, der Leiter des dortigen Gymnasiums, Bergassessor Rath vom Bergamt in Bonn, Müllermeister Röder sowie Graf Berchem als Gastgeber mit seiner Tochter Charlotte und Katharina, seine Schwester, die seit dem Tod seiner Frau den Haushalt führte.

Das Mittagessen in der großen Stube mit den Ahnengemälden an den Wänden war bisher recht ruhig verlaufen. Es wurden Neuigkeiten von Land und Leuten aus der Umgebung ausgetauscht und Charlotte berichtete aus ihrem Internat, was insbesondere Dr. Breuer interessierte. Sie erzählte von ihrer bevorstehenden Reise mit ihrem Vater nach England. Von Graf Blens erhielt sie den Tipp, Scones mit Marmelade und Clotted Cream zu probieren, eine Köstlichkeit zur dortigen Teestunde am Nachmittag. Graf Blens weilte bereits vor ein paar Jahren mit seiner Gemahlin für ein paar Tage in London.

Sehr lebhaft wurde die Tafelrunde anschließend draußen bei Kaffee, Cognac und Zigarren auf der Terrasse, wohin sich die Herren zurückzogen. Es war ein sonniger, warmer Sonntag im September. Die Grillen zirpten ohne Unterlass auf den gräflichen Feldern, die Frösche quakten im Burggraben. Und das laute Vogelgezwitscher bildete den musikalischen Kontrast zum Wortgefecht auf der von wallenden und feuerrot blühenden Rhododendronbüschen umwachsenen Gartenterrasse im Vorgarten-Park der Wasserburg.

„C’est la dernière occasion“, schwadronierte mit lauter Stimme Graf Blens, dabei den goldgerahmten Kneifer auf seiner Nase wieder zurechtrückend. „Die Schätze unter unseren Böden bringen mehr als die darüber!“

„Aber der Aufwand an Menschen und Material ist auch wesentlich höher“, entgegnete Bergassessor Rath.