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In den letzten 50 Jahren hat die sich die Welt der Medien rasant verändert. Schallplatten und Tonbänder, später die Compact und Video Cassette, waren noch die bevorzugten analogen Datenträger für Musik und Filme in den 1970er Jahren. Dann wurde es zunehmend digital. Die Diskette fütterte den Computer mit Daten und Software. Optische Medien wie CD, DVD und BluRay in den folgenden Jahren verarbeiteten binäre Daten für alle Anwendungen. Das Internet wurde immer benutzerfreundlicher, das Smartphone der Computer in der Tasche. Aufnehmen von Musik war vorgestern, brennen gestern, und heute wird gestreamt und in Playlisten geteilt. Und wer weiß schon jetzt genau, was die KI morgen noch so alles ermöglichen wird? In seinem Buch unternimmt Paul Koglin seine sehr persönliche Zeitreise durch diese Medienwelt. Er verwebt seine Autobiografie damit und lädt die Leserinnen und Leser ein, sich an ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zu erinnern: Der Bandsalat der Lieblingscassette im Auto. Das erste gemeinsame Anhören der neu gekauften LP mit Freund oder Freundin. Oder gar das verschickte Mixed Tape an die große Liebe fern der Heimat. Paul Koglin war beruflicher Zeitzeuge. Mittendrin im technologischen Wandel, hat die Transformation der Medien hautnah miterlebt und lässt uns teilhaben an diesen Veränderungen. Er schreibt von den Menschen in diesen Zeiten der rapiden Veränderungen. Und von den Unternehmen, in denen sie und er tätig waren. Wie das Unternehmen Imation, das fast 21 Jahre existierte. Von 1996 bis 2017. Geboren als Ausgründung der 3M, Erfinder von Post-it und des Scotch Klebebands. Einst weltweit führender Hersteller von Datenspeicherprodukten. Zum Schluss noch Händler von IBM Medien für Rechenzentren. Geendet als Finanzunternehmen. Paul Koglin widmet sein Buch deshalb den ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Imation. Popmusik und Literatur! Popmusik ist der Resonanzboden für sein Buch. Zum Erklingen gebracht in einer Playlist. Als Soundtrack seiner Geschichte. Reflektiert und strukturiert wird seine Autobiografie durch Literatur. Popmusiker, Autoren, Dichter und Literaten kommen zu Wort. Wie Bob Dylan, Singer-Songwriter und Literaturnobelpreisträger: The Times They are a-Changin.
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Seitenzahl: 189
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Für alle ehemaligen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Imation
Vorwort
Kapitel I: 1952 – 1971
„Die Freuden der Pflicht!“
Kapitel II: 1972 – 1991
„Die ungezählte Geliebte“
Kapitel III: 1992 – 2011
“The Times They Are a-Changin‘”
Kapitel IV: Ab 2012
„Vom Üben zum Handeln“
My Playlist 100
Quellen - Literatur
Bildnachweise
Auf meinen Wänden blühen Bilder Poeten dichten im Regal
Ich schaue lese spreche mit den schaffenden Gefährten
Mein kleines Zimmer ist ein Riesenreich Nicht herrschen will ich – Dienen
Rose Ausländer
„Das darf doch nicht wahr sein, hast Du sonst gar keine anderen Interessen mehr?“ Diese Frage meiner Frau, auf einem Postit geschrieben und eingeklebt auf der ersten Seite in mein kleines Notizbuch, das ich auf unserer Reise im Sommer 2008 nach München zu schreiben begonnen hatte, kann ich heute, mit „Ja“ beantworten. Ja, jetzt ist es so weit. Jetzt habe ich die Zeit und keine anderen Interessen, als ein Buch zu schreiben. Was ist mein Thema?
Ich schreibe über das, was ich wohl am besten kenne. Ich schreibe über meine Familie und mich und über die Menschen, die ich getroffen habe. Aber ich schreibe auch über den Wandel in meinem Leben, im privaten, aber vor allem auch in meinem beruflichen Leben. Und da diese Veränderungen mit Technologien, Technik und Umwelt sowie Innovationen und Fortschritt zu tun haben, nenne ich sie Transformationsgeschichten.
Dieses Buch handelt von Menschen und Medien. Mit Medien meine ich physische, anfassbare und mobile Medien, präziser gesagt Informations- und Datenträger. Mit und ohne Inhalt, bespielt und unbespielt. Medien, die ich vermarktet habe. Ich war nicht nur dabei, sondern oft mittendrin, als diese Produkte sich wandelten, sich transformierten. Vor allem von physisch und analog zu digital. Deshalb ist das auch meine sehr persönliche Geschichte darüber, wie die Schallplatte zur Playlist wurde.
Geboren und aufgewachsen bin ich im Rheinischen Braunkohlenrevier und lebe jetzt in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Hier ist die Transformation, der Übergang in die Dekarbonisierung beschlossen. Der Wandel hat begonnen.
Meinen sehr persönlichen Blick als Augenzeuge auf diese Veränderungen, auf die Transformationen, möchte ich in diesem Buch mit dem Leser teilen: durch Geschichten, die ich erlebt und durch Menschen, die ich getroffen habe. Zum Erklingen gebracht mit Popmusik und unterlegt mit Literatur.
In der Popmusik gibt es Künstler in meinem Alter, die immer noch Songs schreiben und im Geschäft sind. Als Beispiele nenne ich stellvertretend für viele andere Paul McCartney und Sting. Musiker, Autoren, Dichter und Literaten mit ihren Werken geben diesem Buch einen Resonanzboden und Raum für Reflexionen.
Den Text habe ich im März 2022 abgeschlossen und im September 2024 zur Veröffentlichung leicht aktualisiert. Gendersprache kommt in diesem Buch nicht vor. Als Rheinländer sage ich: „Jeder Jeck is‘ anders.“ Und das ist auch gut so!
An einem sonnigen Kirmessonntag, es war der 10. August 1952, machte unter den illustren und ausgelassenen Bewohnern des Dörfchens Götzenkirchen folgende Neuigkeit die Runde: „Dat Erna hätt‘ Zwillinge!“ Mit Erna war die Frau von Alwin Koglin gemeint, beide hat das Schicksal, Krieg und Vertreibung, ins Rheinland und an die Erft verschlagen.
Der Erstgeborene des zweieiigen Zwillingspärchens wurde auf die Namen Paul Heinrich Hermann getauft. Der Rufname Paul in Andenken an einen Bruder meines Vaters gleichen Vornamens, der im 2. Weltkrieg gefallen war. Die beiden anderen Namen waren die jeweiligen Vornamen meiner beiden Opas, die ich nie kennenlernen durfte. Der Vater meines Vaters, Heinrich, wurde 1945 auf seinem Hof in Pommern von russischen Soldaten erschossen, weil er sich weigerte, sein Hab und Gut zu verlassen. Hermann schaffte es noch in den Westen, nach Frankfurt am Main, verstarb aber dort, ein paar Jahre vor meiner Geburt.
Die Kindheit von meiner Zwillingsschwester Renate und mir wurde von den Nachkriegsjahren geprägt. Es ging bescheiden und sparsam zu. Und wir wussten damals noch nicht, dass ein glückliches, ein wunderbares Leben vor uns lag, (fast) ohne Krieg, ohne Vertreibung. Eine Zeit, die es vorher niemals auf dem heutigen deutschen Staatsgebiet inkl. der vormaligen DDR gegeben hatte. Soziologen beschreiben die frühen fünfziger Jahrgänge als „goldene Generation“. Wir waren damals wenige, noch keine „Babyboomer“. Für uns gab es später genügend Ausbildungs- und Studienplätze, BAföG sowie viele andere staatliche und steuerliche Vorteile. Wir sind in den sog. Wirtschaftswunderjahren aufgewachsen, in Frieden und mit wachsendem Wohlstand: „Glöckliche Kinder“, um es mit Thomas Mann zu sagen.
Der Start war holprig. Und ein Wunder! Denn uns sollte es eigentlich wohl gar nicht geben. „Frau Koglin, das wird wohl nichts mit dem Kindersegen!“ So dürfte sich der Hausarzt meiner Mutter, der beleibte und freundliche Dr. Küppers, geäußert haben, als er meine Mutter, ausgezehrt und mit schwacher Konstitution, nach etlichen Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft, untersucht hatte. Aber dann behandelte er sie mit Hormonen. Und die führten zum erwünschten Erfolg. Sogar doppelt. Dr. Küppers war dann auch bei der Hausgeburt im kleinen, feuchten ersten Heim meiner Eltern der Geburtshelfer. Meine Mutter hat uns oft erzählt, dass diese Geburten eine Tortur waren. Aber sie hat nie geklagt, Jammern bei ihr gab es nicht.
Beide Elternteile haben je ein Drittel ihres ersten Lebens in Pommern verbracht. Im westlichen Hinterpommern und heutigen Polen. Sie haben uns Kinder davon erzählt, nicht sehr oft, denn sie wollten nicht zurückschauen. Sie wollten auch nie nach dem Krieg zurück in ihre alte Heimat. „Da ist doch sowieso alles zerstört. Unser Hof steht nicht mehr. Das will ich gar nicht sehen!“, so meine Mutter.
Aber Kinder sind ja neugierig. Ich habe doch einiges, Geschichten und Erinnerungen, aufschnappen können. Besonders, wenn die Familien beisammen waren, es Familienfeste zu feiern gab. Beim Skatspiel der Männer, rauchgeschwängert, bei Schnaps und Bier, wenn die Zunge sich löste und es leichter fiel, Geschehnisse aus der Heimat zu erzählen: „Weißt du noch, damals, kannst du dich noch an den oder an die erinnern? Wie haben wir das alles nur überstanden? Wir leben noch!“
Mein Vater Alwin Koglin war der Jüngste zu Hause, das letzte von sechs Kindern, den seine Mutter Alwine am 6. August 1913 zur Welt brachte, 16 Jahre nach der ältesten Schwester Olga. Durch diesen „Generationensprung“ hatten wir später väterlicherseits Cousins und Cousinen, die wesentlich älter und längst verheiratet waren, während wir noch Kinder waren.
In dem kleinen Ort Rotzog (heute polnisch: Rosocha) in Pommern wuchs mein Vater auf. Die knapp 300 Einwohner brauchten Nahversorgung und ein Platz für Feste. Diesen Service bot mein Großvater. Neben seinem Bauernhof gehörte ihm das einzige Lebensmittelgeschäft im Ort, er hatte das Schankrecht und stellte den Tanzboden, wenn es für die Rotzoger etwas zu feiern gab. Die älteren Brüder meines Vaters lernten Handwerke oder wurden Beamte und Kaufleute, seine beiden Schwestern heirateten – und so blieb mein Vater zu Hause, als Nachfolger vorgesehen für die Landwirtschaft, den Lebensmittelladen und den „Bürgertreff“.
Viel größer mit knapp 3.000 Einwohnern war die Nachbarstadt Pollnow (heute polnisch: Polanów) im Kreis Schlawe, ein paar Kilometer von Rotzog entfernt. Und dort wurde am 21. Februar 1920 meine Mutter geboren, als älteste von vier Geschwistern auf dem Bauernhof ihrer Eltern Marie und Hermann Holzfuß. Meine Oma übte vor ihrer Heirat den Beruf der Handarbeitslehrerin aus und war sehr geschickt in allen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Praktische Kenntnisse und Lösungen für alles im Haushalt, die sie an meine Mutter vererbt hat.
Mein Vater hat wohl schon in jungen Jahren ein Auge auf dieses Bauernmädchen aus dem Nachbarort geworfen. Es dauerte dann etwas länger mit dem Kennenlernen. Ein Jahr vor Ende des zweiten Weltkriegs heirateten meine Eltern, am 2. März 1944. Auf dem entsprechenden Hochzeitsfoto trägt mein Vater seine Uniform. Danach verloren sich die beiden aus den Augen. Mein Vater musste zurück an die Front nach Russland, meine Mutter blieb zu Hause in Pollnow, um sein Leben bangend.
Die Heimat meiner Eltern habe ich nie besucht. Vielleicht aber doch, wenn auch nur als aufmerksamer Leser. Der Historiker Christian Graf von Krockow, in Pommern geboren und die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, aus Ostpreußen stammend, haben in ihren Büchern über das Leben im Osten und über den Krieg und die Vertreibung berichtet. Eduard von Keyserling möchte ich erwähnen, der über seine baltische Heimat im vorletzten Jahrhundert lesenswerte Romane und Erzählungen geschrieben hat. Abgerundet wird dieser literarische Kanon durch Theodor Fontane, den poetischen Landschaftsmaler und imposanten Menschenerfinder aus Ruppin in der Mark Brandenburg. Sein märkischer Sand liegt zwar etwas weiter westlich als die pommersche Sandbüchse, aber was er geschrieben hat, könnte auch in Hinterpommern geschehen sein. Dabei sticht sein letzter Roman „Der Stechlin“ heraus. Der alte Dubslav von Stechlin, Besitzer des gleichnamigen Sees und Ortes sowie Bewohner des dortigen Herrenhauses, hat den kommenden Wandel vorausgesehen, den Niedergang des Adels, das Aufkommen der Demokratie und das Erstarken der Sozialdemokraten. Melusine, die smarte Schwägerin von Dubslavs Sohn Woldemar sagt als Schlusswort im Roman: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“
Ich bin mir sicher, dass auch die Höfe der Familien meiner Eltern in Pommern aus ehemaligem Eigentum von Gütern entstanden sind. Und ich weiß, dass meine Eltern diesen letzten Satz von Melusine gelebt haben, in der zweifachen Heimat, in der alten und in der neuen, in der ersten und zweiten!
Meine Eltern haben in ihrem Leben eine dramatische, existenzielle Transformation durchlitten und überlebt. Dieses technische Wort ist hier fehl am Platz. Sie waren Vertriebene und Kriegsgefangene. Meine Mutter wurde als Zivilistin und 25-jährige Frau nach Russland an den Ural verschleppt. Mein Vater als Soldat von der Ostfront ging in die russische Kriegsgefangenschaft. Über diese grausame Zeit schwiegen beide, wie so viele aus ihrer Generation.
Es war kein beredtes Schweigen, nein ein stilles Schweigen! Gedanken und Erinnerungen aus dieser Zeit wurden unterdrückt, blieben unausgesprochen. Mein Vater erzählte aus dem Krieg nur die Geschichte, dass er bei einem Treffer unverletzt blieb, weil seine Erkennungsmarke getroffen wurde. Meine Mutter berichtete, dass in ihrem Lager die Schwester meines Vaters, Amanda, ums Leben kam, sie Augenzeugin ihres Leidens, ihres Todes wurde. Die anderen Grausamkeiten, Hunger, Arbeit bis zur totalen Erschöpfung, körperliche Misshandlungen und Vergewaltigungen, darüber schwieg sie. Darüber konnte sie nicht sprechen, nicht zu uns Kindern.
Nach dieser Tortur, dem Tod im Lager entkommen, folgte die Flucht. Vertreibung aus der Heimat, Gefangenschaft und jetzt Flucht. Vom Ural über tausende von Kilometern, in Zügen, wohl auch zu Fuß, in Richtung Westen. Ergebnis der Verträge zur Gefangenenrückführung der Siegermächte und später der ersten Bundesregierung unter Kanzler Adenauer mit Russland.
Ausgezehrt, krank, meine Mutter mit Wasser in den Beinen, aber überglücklich, lebend, haben sich die beiden wiedergetroffen. Ich glaube, im Jahr 1948 im Rheinland, ca. dreißig km westlich von Köln, in Boisdorf bei Bauer Schmitz. Auf seiner Flucht hatte mein Vater wohl erfahren, dass seine Schwester Olga mit ihrer Tochter Wanda und Enkelin Heidi, deren Mutter Ella den Krieg nicht überlebt hat, ins Rheinland geflohen und dort untergekommen waren. Mein Vater wurde Knecht bei Bauer Schmitz, meine Mutter Magd.
Ihr zweiter Lebensabschnitt begann bei null. Sie lebten, hatten Arbeit und ein Scheunendach über dem Kopf. Mein Vater konnte gut mit Arbeitspferden umgehen, denn so viele Landmaschinen gab es noch nicht, so kurz nach dem Krieg.
Wie hat meine Mutter diese Zeit überstanden, überlebt? Woran hat sie sich geklammert? Was hat sie gerettet? Darauf gibt es nur eine Antwort: Ihr Glaube, ihr Glaube an Gott, der den rechten Weg weist. In vielen Stunden der Not hat sie gebetet. Und dieser Glaube hat sie ihr Leben lang begleitet. Im täglichen Tun, in den Gottesdiensten und beim Singen der Kirchenlieder. Ihr Lieblingslied war „Ein‘ feste Burg ist unser Gott“. Sie hatte eine schöne Stimme. Wir haben zu Hause oft gemeinsam gesungen, nicht nur Kirchenlieder und nicht nur zur Weihnachtszeit. Kalendersprüche des Kirchenkalenders waren ihre tägliche Lektüre. Ihr Lieblingsspruch: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Diese letzte Strophe seines berühmten Gedichts hat der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer 1944 im KZ-Flossenbürg geschrieben, in dem er 1945 von den Nazis hingerichtet wurde.
In seinem Buch „Mein Jahrhundert“ beschreibt Günter Grass unter meinem Geburtsjahr 1952, wie er mit seiner Freundin Gundel (seiner späteren Ehefrau), ein Flüchtlingsmädel aus Schlesien, Verkäuferin bei Salamander und der Fernsehansagerin Irene Koss aus dem Gesicht geschnitten, sich des Öfteren vor dem Radiogeschäft verabredete: „Nach der Tagesschau sahen wir uns vor dem Radiogeschäft eine, wie wir fanden, witzige Sendung an, in der es um die Zubereitung von Weihnachtsstollen ging. Eingerahmt war das Teiganrühren von launigen Beiträgen Peter Frankenfelds, der später mit seiner Talentsendung „Wer will, der kann“ populär wurde. Außerdem vergnügten wir uns alle an Ilse Werner, die pfiff und sang, besonders an dem Kinderstar Cornelia Froboess, einer Berliner Göre, die durch den Ohrwurm „Pack die Badehose ein“ bekannt geworden war.“
Unser erster Fernsehapparat kam 1959 ins Haus, ins neue Haus. Nach der anstrengenden Hausgeburt von Zwillingen hatten wir die üblichen Kinderkrankheiten, bei mir etwas heftiger mit Mittelohrentzündungen und häufigen Erkältungen. 1955 zogen wir vom feuchten ersten Zuhause ins neugebaute, trockene Haus.
Wie war das möglich? Meine Eltern hatten nichts außer ihre Sachen auf dem Leib, als sie aus russischer Gefangenschaft ins Rheinland flüchteten. Sie hatten durch Krieg und Vertreibung alles verloren und konnten dafür eine Entschädigung beantragen per Gesetz über den Lastenausgleich. Vor allem Immobilienbesitzer, die über Vermögen verfügten, zahlten eine Lastenausgleichsabgabe an diejenigen, die den Verlust ihres Vermögens beklagten.
Lotte und Elfriede, die gutmütigen Warmblüter, machten sich also auf den Weg und zogen den Umzugswagen vollbepackt mit dem wenigen Hab und Gut von Götzenkirchen ins 4 km entfernte Neu-Habbelrath. Mein Vater auf dem Kutschbock, die Zügel in der Hand, und ich neben ihm, meine Mutter mit meiner Schwester sicher auf dem Wagen verstaut.
Die Vorsilbe „Neu“ bei unserem Zuhause in Habbelrath ist ein erster Hinweis auf eine Umsiedlung, bedingt durch den Kohleabbau im rheinischen Braunkohlerevier, nicht Unter-, sondern Über-Tage. In einem rechteckigen Areal für ca. dreißig Grundstücke mit Handtuchgärten konnten meine Eltern Eigentum erwerben und ihr Haus errichten – Die erste Siedlung in Neu-Habbelrath im Kreis Bergheim. Die Frechener Straße verband den neuen mit dem alten Ortsteil, der bald den Abraumbaggern zum Opfer fallen sollte.
Die wenigen Ersparnisse meiner Eltern in dieser Zeit und der Lastenausgleich reichten nicht aus, um die aufgenommene Hypothek abzubezahlen. Mieteinnahmen haben geholfen. In dieser Zeit herrschte noch große Wohnungsnot. So bot die erste Etage unseres Hauses einer vierköpfigen Familie eine Unterkunft mit 3 kleinen Räumen inkl. einer Kochnische im Wohnzimmer und einem Badezimmer. Dafür hatten wir dann unser Badezimmer im Keller mit kohlebetriebenem Heißwasser-Boiler. Erst zu Beginn der sechziger Jahre waren die beiden Töchter der Mieter, eine davon Hella mit den dicken Zöpfen, flügge geworden und die Familie hatte andernorts eine Bleibe gefunden. Die große Freiheit für meine Schwester und mich: Wir konnten endlich unsere eigenen Zimmer beziehen. Die Nächte im Schlafzimmer der Eltern oder im Wohnzimmer waren für immer vorbei!
Der technische Fortschritt hielt auch bei uns Einzug. Der Kohleherd in der Küche wich einem Elektroherd mit vier Kochplatten. Er fand seinen Platz im vorherigen Badezimmer im Keller und wurde für größere Essen wieder befeuert, z. B. zu Weihnachten. Dort wurde auch eingekocht und eingelegt, Marmeladen gekocht und Säfte gepresst. Meine Mutter verarbeitete jegliches Obst und Gemüse aus unserem Garten. Was im Frühjahr, Sommer und Herbst von hungrigen Mäulern (ich war da ganz vorne dabei) nicht frisch verzehrt werden konnte, wanderte in Einmachgläser auf die Regale des Vorratskellers. Eingekocht im großen Kessel, aus dem turmartig der klobige Thermometerstab herausragte. So dampfte und brodelte es in der Kellerküche. Und hoffentlich versiegelten die Gummiringe die Deckel auf den Einmachgläsern und blieben dicht, jahrelang!
Die bäuerliche Herkunft meiner Eltern und ihre erste Anstellung in ihrer neuen Heimat beim Bauern sorgten dafür, dass wir regelmäßig eine dampfende und stinkende Fuhre Mist mit dem Unimog von Bauer Schmitz erhielten, den mein Vater zum Düngen seines Gartens verwendete. Er bewirtschaftete sogar eine Zeitlang einen zweiten Garten in Alt-Habbelrath. Es wurden auch Schweinehälften vor Ort im Keller zu Wurst verarbeitet und eingekocht. Mein Vater bevorratete Möhren in Erdmieten im Garten für den Verzehr im Winter. Meine Mutter legte Gurken und gebratene Heringe in großen Keramikgefäßen ein. Aus heutiger Sicht umweltverträgliche Vorratshaltung, keine Verpackungen, kein Abfall und reine Selbstversorgung. Der Komposthaufen als Dünger für den Garten, von Holzbrettern umrahmt, hinter der Garage, durfte nicht fehlen und sorgte für einen natürlichen Verwertungskreislauf.
Meine Mutter war eine sehr gute Köchin, die ihre pommerschen Gerichte perfekt zubereitete. Einfache und nahrhafte Kost, sehr oft mit Kartoffeln, der „pommerschen Frucht!“ Ein Beispiel „Stampfkartoffeln mit Buttermilch“ und eins meiner Lieblingsgerichte, besonders an heißen Sommertagen: „Knapp ein Kilo Kartoffeln werden weichgekocht und dann zerstampft. Dazu werden 100 g magerer gewürfelter Speck mit gehackten Zwiebeln in der Pfanne gebräunt und unter den Kartoffelbrei gerührt. Zum Würzen dienen Salz, Pfeffer und Muskat. Dieser heiße Kartoffelbrei wird in Suppentellern angerichtet und mit kalter Buttermilch übergossen.“
Die Familien hielten zusammen in der Nachkriegszeit. Krieg und Vertreibung hatten sie überstanden. Man hatte ein Dach über den Kopf und Arbeit zum Geldverdienen und Konsumieren. Aber die Integration in die neue Umgebung fiel schwer. Deshalb gehörten Familientreffen zum Alltag. Nicht nur an runden Geburtstagen. Auch in unserem Haus wurde oft gefeiert, getrunken, gegessen, viel erzählt und gelacht. Alle sprachen Hochdeutsch, wechselten dann oft bei bester Stimmung und aufkommender Sehnsucht und Melancholie zur pommerschen Heimat ins Plattdeutsche.
Bei den jeweils ältesten Brüdern meines Vaters und meiner Mutter spitzte ich die Ohren, wenn sie erzählten. Onkel Karl war Beamter und Hauptmann im Krieg. Er hatte etwas sehr Korrektes und Preußisches mit sonorer klarer Stimme und einem verschmitzten Lächeln und leuchtenden Augen. Den konnte ich mir gut als pommerscher Landjunker vorstellen. Mein Onkel Siegfried war da eher die sozialdemokratische Ausgabe. Bauernsohn und jetzt bei der Hauptpost in Frankfurt angestellt. Er hatte klare Vorstellungen und eine feine Ironie in seinen Äußerungen.
Großeltern habe ich leider nicht erlebt. Als wir meine Großmutter Marie, die bei ihren Kindern in Frankfurt am Main wohnte, besucht haben, war ich noch zu jung. Das Grab meiner Großmutter Alwine, 1949 verstorben, auf dem Friedhof in Götzenkirchen beigesetzt, habe ich jahrelang bewässert. Fahrradtouren zum Gießen des Grabs gehörten zu meinen Sommerpflichten. Ich höre noch heute den Aufschrei meiner Mutter, als sie 1956 das Telegramm aus Frankfurt mit der Todesnachricht ihrer Mutter erhalten hat.
In meinem DIN A5-Zeugnisheft der Volksschule im gelben Umschlag wird als Beruf meines Vaters „Bergarbeiter“ angegeben. Das ist falsch. Wahrscheinlich hat sich die Schulverwaltung oder meine erste Lehrerin gedacht, Väter aus Neu-Habbelrath können nur bei „Rheinbraun“ (verkürzt) arbeiten. Damit sind die „Rheinischen Braunkohlenwerke“ gemeint, eine 100%-ige Tochter der „RWE AG“. Arbeiter stimmt allerdings. Im „Elektroschmelzwerk“ in Grefrath, dem Nachbarort. Die Nähe zu den Kraftwerken aus der Verstromung der Braunkohle mit günstigen Stromkosten als Standortvorteil. In diesem Werk wurde Siliziumkarbid geschmolzen als Rohstoff für feuerfeste Heizelemente, zum Einsatz in der optischen Industrie und als Halbleitermaterial für Photodioden und Leistungselektronik. Das Werk gibt es noch heute in Grefrath, nur die Eigentümer sind andere als damals.
Nach seiner Tätigkeit als Landarbeiter fand mein Vater dort eine Anstellung bis zu seiner Vorruhestandsrente im Jahr 1976. Eine glückliche Fügung nach seiner Odyssey! Ausgestattet mit einem Arbeitsvertrag und dem Tarif der IG Chemie.
Sicher, eine schwere Arbeit – am Schmelzofen im Schichtdienst. Fünf Uhr morgens aufstehen und mit dem Fahrrad die wenigen Kilometer zur Arbeit. Die damalige Eigentümerin, das Familienunternehmen „Wacker Chemie“ aus Bayern, stellte Werkswohnungen zur Verfügung, eine Kantine und sogar ein Erholungsheim für seine Beschäftigten, eine Villa in Bad Schachen am Bodensee. Dort machten wir unsere einzigen beiden Familienurlaube, abgesehen von zahlreichen Besuchen der Verwandtschaft, die väterlicherseits im Münsterland und mütterlicherseits in Frankfurt am Main wohnte.
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die späten Mittagessen, die anfangs meine Mutter bereitete, bevor die werkseigene Kantine diese Rolle übernahm, wenn mein Vater nachmittags von der Arbeit kam. Und wir Kinder dann vom Piratenteller noch einmal mitessen konnten. Bei Schichtdiensten am Sonntag, für die es Zulagen gab, brachte unser Vater immer Bonbons aus dem firmeneigenen Kiosk mit, auf die wir uns freuten, wenn wir schon sonntags auf unseren Vater verzichten mussten.
Glücklich und zufrieden mit seinem Leben konnte mein Vater nach Beendigung seiner Beschäftigung als Vorarbeiter im Elektroschmelzwerk noch 31 Jahre seinen Ruhestand mit gesetzlicher sowie betrieblicher Rente genießen.
Im Frühjahr 1959 wurden meine Zwillingsschwester und ich eingeschult. In ein neu errichtetes Schulgebäude für die beiden ersten Grundschulklassen - in Sichtweite unseres Hauses. Da standen wir nun mit unseren gefüllten Schultüten und starteten unsere schulische Laufbahn.
Ein Jahr zuvor hatten wir Glück, noch auf den letzten Drücker für ein Jahr in den Katholischen Kindergarten gehen zu können. Vorschulische Einrichtungen in den fünfziger Jahren gab es noch nicht so viele, aber viele Kinder schon.
Unsere Klassenlehrerin in den ersten Schuljahren war (wirklich) ein Fräulein, nicht verheiratet und kleinwüchsig. Für gute Leistungen in der Schule verteilte das Fräulein Fleißkärtchen. Bei gesammelten zehn Fleißkärtchen überreichte sie den Schülern feierlich und lobend im Austausch ein Heiligenbildchen. Sie war sehr gläubig und sie lebte uns das auch vor. Ihr bereitete es mehr Schmerzen, einen Schüler zu maßregeln, ihm gar leicht mit dem Lineal auf die Finger zu schlagen als dem Schüler selbst. Es handelte sich immer um Jungen, die den Unterricht störten, nicht aufpassten oder ein Schwätzchen hielten. Gar bizarr wirkten diese Szenen des Schimpfens und Scheltens, wenn sie, klein, zierlich und zerbrechlich, vor Schülern stand, die mindestens drei Köpfe größer waren als sie, in der fünften Klasse der Volksschule, dreimal sitzen geblieben und im letzten Jahr kurz vor ihrem Abschluss.
Durch häufige Krankheiten in der körperlichen Entwicklung eingeschränkt, blieb ich bis zur fünften Klasse in der Volksschule, bevor ich dann auf die Realschule in den größeren Nachborort nach Horrem wechselte. Die letzten drei Schuljahre ging ich in die Volksschule im alten Ortsteil von Habbelrath. Ein schon in die Jahre gekommenes Gebäude mit knarzenden Dielen und nach Bohnerwachs riechend. Mit einem Wasserlöschteich auf dem Schulhof. Selbstverständlich war das eine katholische Volksschule. Die wenigen evangelischen Schüler, das waren meistens Kinder von Vertriebenen, hatten evangelischen Religionsunterricht, in unserem Falle von einer Religionslehrerin.
Mein Schulfreund Rainer, der auch in der gleichen Neubau-Siedlung wohnte wie ich, verließ die Volksschule nach der vierten Klasse und ging aufs Gymnasium in die Nachbarstadt Frechen. Mit ihm verbrachte ich die meiste Zeit. In der riesigen Brachlandschaft vor unserer Haustür, einer bereits ausgekohlten und wieder zugeschütteten Abraumfläche des Frechener Tagebaus, erforschten und bauten wir unseren Abenteuerspielplatz, bevor sich dann Neu-Habbelrath durch Straßen und weiter erschlossene Baugebiete dort ausbreitete.