Schlachtsaison - Andreas Schröfl - E-Book

Schlachtsaison E-Book

Andreas Schröfl

4,4

Beschreibung

In München werden mehrere Frauen nach dem Muster des Massenmörders Jack The Ripper umgebracht. Als ihre Freundin Susi dem Ripper zum Opfer fällt, bittet Anna ihren Bruder Alfred Sanktjohanser, den Sanktus, in diesem Fall zu ermitteln. Vergeblich versuchen er und Kommissar Bichlmaier den Schlächter zur Strecke zu bringen, noch bevor das Werk der »Kanonischen Fünf« vollendet ist. Unterstützt von Sanktus’ früheren Brauereikollegen und Dr. Engler führt sie ihre Jagd durch München mitten zur Faschingszeit.

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Andreas Schröfl

Schlachtsaison

Der »Sanktus« muss ermitteln

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © WoGi / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5342-7

Widmung

Für meine Schwiegereltern.

Peter, du wärst bestimmt auch ein guter Freund vom Sanktus gewesen!

Zitat

»Die Kriminalitätsrate in Bayern ist im Vergleich zu den restlichen Bundesländern in Deutschland am niedrigsten.München gilt als eine der sichersten Städte Deutschlands.«

Nikolaus Zirngibl, Bayerischer Justizminister, Januar 2013

Gedicht

Er schleicht sich an im Schutz der dunklen Nacht

Er zückt sein Messer und er sticht im Nu

Und nach dem Madl was er mit dir macht

Schließt du die Aug’n für immer zu

Ja hier in München liebte man die Freiheit

Die Straßen heut sind still und stumm

Zefix Gendarm so sei doch nicht so feige

Der Ripper Jack geht wieder um.

Unbekannter Musikant auf die Melodie des Wildschütz Jennerwein im Münchner Hofbräuhaus. Februar 2013

London Herbst 1888

Das Londoner East End war vollkommen mit Menschen überfüllt. Grund hierfür war ein explosionsartiger Bevölkerungsanstieg in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts, der durch den Zuzug von Osteuropäern und Russen, die vor den Judenpogromen in ihrem Land auf der Flucht waren, ausgelöst wurde. Bestialischer Gestank begleitete die Bewohner auf all ihren Wegen, die Straßen waren voll von Schmutz, und überall herrschten üble Krankheiten. Im Stadtteil Whitechapel hausten Tagelöhner, Arbeitslose und Diebe. Das Leben spielte sich draußen auf der Straße ab, und viele der ansässigen Frauen verdienten sich ihren Unterhalt als Prostituierte.

Im Herbst des Jahres 1888 nahm eine verhängnisvolle Mordserie ihren Lauf, die als »Whitechapelmorde«in aller Munde war. Elf Frauen wurden in dieser Zeit getötet. Die Opfer hießen Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catharine Eddowes und Mary Jane Kelly. Eine Reihe besonders brutaler Morde wurde als »die kanonischen Fünf«bezeichnet. Fünf Prostituierte, deren Tötung einem einzigen Mörder zugeschrieben wird. Dem bekanntesten Serienkiller aller Zeiten – Jack the Ripper!

Der Mann, der Jack the Ripper war, wurde nie gefunden, obwohl es viele Verdächtige gab. Einer davon war ein englischer Kunstmaler, Walter Sickert, der in München geboren wurde!

Anna – 03.03.2013

Benommen erwachte sie aus ihrem Tiefschlaf. Was war geschehen? Sie konnte es nicht genau sagen. Sie war zu ihm gefahren, um ihn zur Rede zu stellen. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Sie lag auf einer Art Pritsche. Hände und Füße waren an den Rahmen gefesselt, und ihr war ein Knebel in den Mund geschoben worden. Wo war sie? Wer hatte sie hierher gebracht? Reines Entsetzen stieg in ihr auf. Ihr Herz pochte wie verrückt, und ihr war vor Kopfschmerzen speiübel. Der Raum um sie herum war in rotes Licht getaucht. Sie konnte Ziegelmauern wahrnehmen, und ein unangenehmer Geruch nach Feuer lag in der Luft, aber sie war nicht im Freien. Der Raum erweckte eher den Anschein, als würde er sich in einem fensterlosen Keller befinden. Sie konnte ein Kind nach seiner Mutter rufen hören. Die Mutter antwortete und wies das Kind an, es solle zurück in die Wohnung kommen.

Es waren Schritte zu hören. Laute, feste Schritte. Die Schritte näherten sich langsam. Pochend. Sie pochten in ihrem Kopf. Plötzlich schrie eine fremde Frau: »Was soll das? Lassen Sie das!« Es folgte ein entsetzlicher Schrei. Dann war wieder Ruhe. Musik ertönte. Opernmusik? Eher ein Donnergrollen.

Eine Tür öffnete sich knarzend, und das Blut gefror ihr in den Adern. Die Gestalt, gehüllt in einen schwarzen Mantel, auf dem Kopf einen Zylinder und eine schwarze Maske vor den Augen, betrat den Raum. Sie konnte das Aufblitzen eines Skalpells erkennen. Der Schatten kam Schritt für Schritt, das Messer vor sich herführend, auf sie zu. Langsam beugte sich der Maskierte zu ihr herunter und setzte das Skalpell an ihrer Kehle an. Sie spürte, wie sich ihre Blase warm entleerte.

Mary Ann

Mary Ann Nichols wurde am 31. August tot in der Buck’s Row aufgefunden. Ihr Mörder hatte ihr die Kehle durchschnitten und den Unterleib geöffnet, um die Organe freizulegen. Es wurde jedoch kein Organ entnommen. Die Ermittler ordneten alle Verletzungen der gleichen Waffe zu. Es war offensichtlich, dass das Opfer direkt am Fundort ermordet wurde.

Ich habe es getan. Wirklich getan! Ich habe meinen ersten Mord begangen. Schuld? Weshalb? Sie hat es doch so gewollt. Sie hat es definitiv provoziert. Nicht mit mir! Es war ein wunderbares Gefühl. So plötzlich war es da. Ich war stark, überlegen. Ich bin mächtig. Macht über Leben und Tod. Nun weiß ich es sicher. Ich werde erlöst werden!

Vor einer Woche.

Münchner Morgenpost vom 29.01.2013

Grausamer Mord in Geiselgasteig – Jennifer Gold ist tot.

Am Montagabend wurde die Schauspielerin Jennifer Gold am Set der Daily Soap »München bleibt München« ermordet aufgefunden. Vom Täter fehlt jede Spur.

Ein Bericht von Rudolf Ligsalz

»Ich muss kurz noch einmal zurück. Ich hab meine Handtasche vergessen«, waren die letzten Worte des neu entdeckten Starletts Jennifer Gold, die sie ihrem Verlobten Markus F. (Name geändert) nachrief, als sie am Montagabend kurz vor sieben Uhr zurück zum Set der Serie »München bleibt München« eilte. Nachdem Markus F. und einige Bekannte fast eine Stunde vergeblich im naheliegenden Café »Filmstadt« gewartet hatten, machten sie sich auf die Suche nach der jungen Schauspielerin. Am Drehort angekommen, bot sich ihnen ein grausamer Anblick. Sie fanden Jennifer Gold leblos an einem Flaschenzug mit dem Kopf nach unten hängend. Ihre Kehle war durchtrennt worden und ihr Unterleib durch Schnitte geöffnet und förmlich ausgeweidet. Die Gedärme hinterließ der Täter am Tatort.

Annie

Annie Chapmans Leiche wurde am 8. September in einem abgelegenen Hinterhof der Hanbury Street entdeckt. Auch ihre Kehle wurde durchgeschnitten und ihr Unterleib geöffnet. Der Mörder hatte die Eingeweide über ihren ganzen Körper drapiert. Die Untersuchungen ergaben, dass ihre Gebärmutter entfernt wurde. Die Verstümmelungen deuteten auf anatomisches Wissen hin. Wieder wurde nur eine einzige Waffe verwendet.

Ich habe es wieder getan. Es musste sein, und es war ganz einfach. Viel einfacher als beim ersten Mal.

Die Filmschnalle hatte mich inspiriert. Ich habe dieses egoistische, anmaßende Luder für immer zum Schweigen gebracht. Sie spielt keine Rolle mehr. Nie wieder! Weder beim Film noch für die Kritiker und die Nachwelt. Selbst schuld ist sie. Sie ist auf mich losgegangen. Wie eine Furie. Wie eine Irre. Auf mich! Sie würde mir zeigen, wo der Barthel den Most holt, diese elende Bauernschlampe. Sie! Mir! Wenn der Bauer aufs Ross kommt, kann ihn der Teufel nicht mehr reiten! Diese blutige Anfängerin. Ich habe sie gepackt, herumgedreht, ihr den Mund zugehalten und von hinten einen Schnitt versetzt. Der Rest war Routine. Wie früher.

Heute hab ich die Adresse dieser Hure herausbekommen. Nobles Viertel, muss man schon zugeben. Wer weiß, woher sie das Geld hat? Ich kann es mir schon denken. Das mit der Aussprache hat sie am Telefon gleich geschluckt. Sie lässt mich auch sofort hinein. Ich kann so unschuldig wirken. Wir plaudern und trinken Tee. Earl Grey. Eigentlich ist sie ganz sympathisch. Wenn ich nicht wüsste, wer sie wirklich ist, würde ich auf sie hereinfallen. Mädchen, das ist heute dein letzter Tee! Mit einem Vorwand locke ich sie ins Schlafzimmer. Das Messer ist griffbereit, und ich kann meine Arbeit beginnen. Schön liegt sie am Ende da. Das rote Blut auf dem Laken und sie mitten drin. So ruhig und unschuldig. In ihrem Nachtkästchen finde ich Handschellen. Ich drapiere die Leiche. So schön! Ich ziehe ihr das Höschen aus, denn ich muss ihr die Schamlippen entfernen und damit ein Zeichen setzen.

Dienstag, 05.02.13

Na bravo! Es ist wieder jemand ermordet worden, und das genau jetzt, wo der Sanktus alles andere zu tun gehabt hat, als irgendeiner Leiche nachzurennen. Da wirst du sagen, der zieht das ja förmlich an, oder? Hast du recht, aber der Sanktus hat dieses Mal wirklich nichts dafür können. Aus und vorbei ist es mit dem Kriminalisieren, hat er sich nach den Altherren-Morden geschworen, weil Gefahr nicht zu beschreiben. Und der Kathi hat er es auch hoch und heilig versprechen müssen, weil angehende Mutterfreuden.

Ja, hast du richtig verstanden: Der Sanktus wird Vater. Kannst du dir das vorstellen? Eben! Hin- und hergerissen war er zwischen Stolz, Angst, Glück und Unwohlsein. Er, der ewige Stenz und Aushilfs-Monaco-Franze, ein Familienvater? Schwierig. Und diese Vorbereitungen! Babyläden hier, Babyläden dort, Kinderwagen, Stubenwagen, Wickelkommode, Babygewand, Trinkflaschen, Schnuller, Windeln und jetzt halt dich fest – Geburtsvorbereitungskurs! Wahnsinn kein Ausdruck. Erschwerend dazugekommen ist, dass der Sanktus seit seinen Ermittlungseskapaden eigentlich arbeitslos gewesen ist, weil mörderische Suchen durch München mit geregelter Arbeitszeit einfach unvereinbar. War auch die Meinung des Wirts vom Sternbräu-Biergarten, und das war dann letztes Jahr sein Aus als Schankkellner. War jetzt nicht wild, weil die Kathi gut verdient hat, aber wenn die Kathi in den Mutterschutz geht, dann hätte der Sanktus schon den Anspruch an sich gehabt, der Versorger zu sein. Also ein neuer Job hat her müssen und das pronto. Die Sterne für das Sanktus-Ego sind also eh nicht gut gestanden, und dann kommt seine Schwester, die Anna, auch noch wie eine Vergiftete in die Küche der Altbauwohnung am Haidhausener Johannisplatz hereingerauscht und hat geplärrt:

»Die Susi ham s’ umbracht. Irgend so eine perverse Sau. Ich kann nimmer!«

Dann hat sich die Anna in einen Stuhl plumpsen lassen, hat ihre Hände vors Gesicht geschlagen und ist in Tränen ausgebrochen.

Der Sanktus hat die Susi natürlich gekannt, weil es gibt ja bekanntlich selten jemanden, den der Sanktus nicht kennt. Außerdem war sie die beste Freundin von der Anna, also omnipräsent. Bisher zumindest.

Er hat seine Schwester natürlich nur schwer weinen sehen können, hat ihr über den Kopf gestreichelt und gesagt, sie soll ihm erst einmal alles in Ruhe erklären. Die Kathi, die der Anna die Wohnungstür geöffnet hat, hat sich auch dazugesetzt, und die Martina ist ins Bett geschickt worden, weil es schon recht spät war. Die Martina ist Kathis neunjährige Tochter, die sie in die Beziehung mitgebracht hat. Sie ist inzwischen wie ein eigenes Kind für den Sanktus, und die geben ein wunderbares Duo ab. Die Martina hat natürlich gegen die Entsendung in ihr Schlafgemach aufbegehrt, hat aber nach einem ernsten Blick seitens Sanktus den Widerstand aufgegeben.

Die Anna hat jetzt zu erzählen angefangen, und die Kathi und der Sanktus, die ja schon mehrere Leichen gesehen haben, sind bei den Ausführungen der Schwester trotzdem relativ blass geworden. Sie und die Susi wollten zusammen ins Kino gehen und hatten sich für heute am späten Nachmittag verabredet gehabt. Irgend so ein Romanzenschinken, von dem der Sanktus nicht einmal im Entferntesten gehört hat. Mit so einer Art Brad Pitt, also so ein Feind des normalen Mannes. Auf jeden Fall hat die Anna bei der Susi geklingelt, aber keine Antwort, weil Antwort, wenn du tot bist, ist ja bekanntlich eher schwierig. Die Anna hat dann aufgesperrt. Den Schlüssel hat sie noch vom letzten Urlaubsblumengießen gehabt. Sie ist also rein zur Tür und hat erst mal nach der Susi gerufen, weil Vorsicht wegen unter Umständen Männerbesuch, und es geht gerade so hoch her, dass man die Klingel nicht hören kann. Die Susi hat nämlich eine neue Flamme gehabt, hatte sie der Anna zuvor eröffnet. Näheres nach dem Kino in der Lissabon Bar. Die Anna hat sich also noch zwei-, dreimal bemerkbar gemacht, aber immer noch keine Antwort. Durch die Schlafzimmertür hat sie einen Lichtschein ausmachen können, weil es ja Winter und zu dieser Zeit schon dunkel war. Sie hat sich also langsam vorgetastet und die Susi noch einmal gerufen, aber immer noch nichts. Jetzt hat sie die Tür zum Schlafzimmer langsam aufgemacht, in Richtung Bett geschaut und ist bei dem Anblick gleich zum Kotzen ins Bad gehastet.

Die Susi ist nackt auf dem Bett gelegen. Ihre Handgelenke waren an das Kopfende gefesselt, ihre Kehle war durchgeschnitten, und zwischen ihren Beinen hat sich das Blut aus ihrer verstümmelten Vagina gesammelt. Das weiße Laken mit dem roten Fleck, ein Anblick wie die japanische Flagge, halt mit der toten Susi drauf.

»Und jetzt musst du den Mörder finden. Die Susi war doch auch deine Freundin«, hat die Anna unter Schluchzen hervorgebracht. Auftrag praktisch erteilt. Der Blick von der Kathi jetzt Wandlung von Mitleid auf Angriff, aber der Sanktus ist ihm gleich ausgewichen, dem Blick, weil Frau ist Frau, Schwester ist Schwester, aber Zwickmühle dazwischen ist Wahnsinn.

»Ja aber wer war denn von der Polizei da?«, hat der Sanktus wissen wollen.

»Der Bichä und sein komischer Franke«, hat die Anna geantwortet.

»Der Demuth? Na bravo!«, hat der Sanktus gesagt. »Aber der Bichä regelt das schon. Da braucht’s mich doch ned unbedingt, oder?«, hat er gestammelt und in Richtung Kathi geblinzelt. Dort jedoch alle Geschütze in Angriffsstellung.

»Fredi, bitte. Das ist doch die Susi!«, hat die Anna geschluchzt und ihn mit ihren großen, treuen verweinten Knopfaugen flehend angesehen.

»Ja schon. Freilich, die Susi.«

Dem Sanktus nun mehr als unwohl. Kurzer Blick zur Kathi.

»Sanktus!«, ist’s der Kathi entfahren, und sie hat ihn und die Anna mehr als giftig beäugt.

»Herrschaftszeiten!«, ist der Sanktus jetzt hochgefahren. »Ihr machts mich ja ganz deppert. Machts es doch untereinander aus, was ich darf, soll oder muss! Oder was nicht. Weiber, zefix!«

Wie du bestimmt weißt, war der Sanktus ja nicht im diplomatischen Corps daheim, und die Reaktion der beiden Damen war natürlich suboptimal für ihn. Die Anna ist wie eine Furie zur Küchen- und schließlich zur Wohnungstür hinaus, und die Kathi hat nach der Anna die selbigen Türen zugeknallt. Wo sie hingegangen ist, hat der Sanktus dann logischerweise nicht mehr sehen können. Er hat sich kopfschüttelnd ein Stern-Weißbier aufgemacht und sich trotz der Eiseskälte auf den Balkon, der zum Hinterhof geht, hinausgestellt und sein Bier getrunken. Jetzt endlich Ruhe.

Mittwoch, 06.02.2013

In der Nacht hat der Sanktus sehr schlecht geschlafen, weil Problem, die Kathi ist vor lauter Wut am Abend direkt ins Bett gegangen, und der Sanktus hat die Gelegenheit genutzt und hat einen Actionfilm, den die sich nie mit ihm angeschaut hätte, eingelegt und noch einige Biere dazu gekippt. Praktisch Junggesellendasein. Ein Traum. Halt nicht am nächsten Tag.

Als der Sanktus um fünf Uhr schon einmal aufgewacht ist, hat er das Gefühl gehabt, er hätte seinen Atem anzünden können. Geschmack im Mund, dass du dich fürchtest. Die Kathi hat sich aber eng an ihn hin geschmiegt, also anscheinend alles wieder im Lot. Frauen! Er hat lange nicht mehr einschlafen können, ist dann aber doch wieder weggedämmert und hat geträumt, dass nicht die Susi ermordet auf dem Bettlaken gelegen ist, sondern die Kathi, und ein blutiger Embryo neben ihr. Er hat einen Schrei getan, den du vermutlich noch am Viktualienmarkt hättest hören können. Die Kathi war sofort hellwach, und die Martina ist ganz verstört zu ihnen ins Bett gekrochen gekommen.

»Was is’n los?«, hat sie gefragt.

Die Kathi hat den Sanktus nur ganz entsetzt angeschaut und gefragt: »Weinst du?«

Der Sanktus hat sich natürlich geschämt, verneint und behauptet, er habe einen angehenden Katarrh. Aber irgendwie, wenn du Vater wirst, hast du näher am Wasser gebaut anscheinend. Für den Sanktus eine neue und sehr beunruhigende Erfahrung, weil halt doch eher Alpha-Tier.

Beim Frühstück war die Stimmung gelöst und ganz normaler Alltag auf dem Programm. Die Kathi eher mürrisch, der Sanktus und die Martina gut drauf. Wie immer halt. Die Kathi hat erst ein bisserl rumgedruckst, aber irgendwann hat sie sich dann doch durchgerungen, den Sanktus ernst angeschaut und gemeint:

»Sanktus, ich weiß, dass du schon zwei Mordfälle aufgeklärt hast, und dass es dich so was von reizt, der Anna zu helfen. Ich seh’s dir an der Nasenspitze an. Aber du wirst in vier Monaten Vater. Verstehst du das? Das ist zu gefährlich. Ich möcht am End ned allein mit zwei Kindern dasitzen und dich auf dem Ostfriedhof besuchen. Beim letzten Mal im Lußsee war’s ziemlich knapp. Schau mich an!«

Der Sanktus hat nur in seinen Joghurt mit Honig hineingestarrt.

»Oui, mon général!«

»Herrschaft, kannst du nicht einmal ernst bleiben, Herr Sanktjohanser? Das ist zum aus der Haut fahren mit dir!«, hat die Kathi geschimpft.

»Hast ja recht, Kathi. Ich halt mich raus. Ich versprech’s dir!«

Aber so richtig geglaubt hat er das nicht, was er gerade gesagt hat, der Herr Hobby-Detektiv.

Nachdem die Kathi zur Arbeit und die Martina in die Grundschule an der Flurstraße gegangen sind, hat der Sanktus den Frühstückstisch aufgeräumt und sich auf den Weg zum »Sternbräu« in die Landsberger Straße gemacht. »Münchener Bier-Tour« war heute auf dem Programm.

Der Herr Sanktjohanser, seines Zeichens Bierbrauer, verhinderter Braumeister und Ex-Polizist, hatte es bisher nirgends ausgehalten. Weder beim Studium in Weihenstephan noch bei der Münchner Polizei. Nicht einmal in Namibia in der dortigen Brauerei in Windhuk. In München zurück, war er wieder als Bierbrauer gegangen, doch nach den Brauereimorden seinerzeit hat er wieder vom »Sternbräu« wegmüssen, weil psychologisch, verstehst? Von da ab hat er sich als Schankkellner durchgeschlagen. Doch das war seit den Ermittlungen im letzten Sommer auch vorbei, und jetzt war er Stadtführer. Degradierung gar nix dagegen, weil wenn er ehrlich war, hat das schon sehr an seinem Ego genagt, aber was willst du machen? Und jetzt war die Kathi auch noch schwanger und würde irgendwann in Mutterschutz gehen. Wenn er nicht rechtzeitig einen Job finden würde, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als beim Kind daheim zu bleiben, und die Kathi müsste dann bald wieder ihre Arbeit aufnehmen. Der Sanktus als erziehender Kindsvater? Unmöglich kein Ausdruck. Aber kommt Zeit, kommt Rat, beziehungsweise hoffentlich Job.

Der Sanktus ist mit der Trambahn in Richtung Westend gefahren. Während der Fahrt hat er schweigend aus dem Fenster auf das schneebedeckte München gestarrt. Seine große Schwester und ihre Freundin, die Susi, sind ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Er hat die Anna selten so verzweifelt gesehen. Sie hatte ihn praktisch groß gezogen, da ihre Mutter alleinerziehend war und hat arbeiten müssen. Die Anna war immer für ihn da gewesen. Und jetzt hatte er sie abgewiesen. Gut, klar, freilich, die Kathi war schwanger und er hat nichts riskieren dürfen. Aber wie er es gedreht und gewendet hat, die Anna hat verdammt noch mal etwas gut gehabt bei ihm. Schwangere Kathi hin oder her.

»Saudumme Situation«, hat der Sanktus laut gesagt, und die ältere Frau ihm gegenüber hat ihn fragend angesehen.

»Passt scho«, hat der Sanktus gemeint und abgewinkt.

Die Frau hat ihn angelächelt, kurz darauf die »Münchner Morgenpost« herausgezogen und zu lesen angefangen. Auf der Titelseite hat ganz groß geprangt:

Schlächter schlägt wieder zu. Junge Frau in Bogenhausen ermordet. Geht ein neuer Ripper in München um?

Ein Bericht von Rudolf Ligsalz.

Darunter ein Bild von der Susi auf dem mit Blut getränkten Bett. Grauenvoll! Dass man so was veröffentlichen darf? Und woher hat der Reporter das Bild gehabt? Normalerweise wird so ein Tatort sofort abgeriegelt. Ligsalz? Rudolf Ligsalz? Ein Ligsalz Rudi ist einmal zum Sanktus in die Klasse gegangen. Im Luitpold-Gymnasium, aber der war nach der Zehnten wieder abgegangen. Ob das derselbe war? So viele Ligsalze würde es ja wohl nicht geben. Der Sanktus hat sich das Bild von der Susi noch einmal angesehen, und ihm sind die Tränen gekommen. Er hat sich noch gut an sie erinnern können, weil sie war oft bei ihnen daheim zu Besuch gewesen war. Er war als Bub sogar richtig verliebt in sie gewesen. Scheiß die Wand an … Die Frau gegenüber hat die Zeitung umgeschlagen, und er hat einen Blick auf den eigentlichen Artikel werfen können. Darin war noch ein weiteres Foto abgebildet. Eine Frau verkehrt herum aufgehängt. Das Foto war aus einem Winkel im Hintergrund aufgenommen, und man hat die Frau nur von der Seite und etwas schemenhaft erkennen können. Unter ihr war eine riesige Blutlache, und irgendetwas ist darin gelegen. Der Sanktus hat das Bild genauer betrachtet und hat sehen können, dass der Körper der jungen Frau geöffnet worden war und dass am Boden ihre Innereien gelegen sind.

»Furchtbar, ha?«, hat die Frau mit der Zeitung gefragt. »Geht’s Eahna ned guad?«

»Ich – ich hab die eine da kennt«, hat der Sanktus gestottert.

Die Frau hat nur »Um Gottes willen« geflüstert und hat sich wieder in ihre Zeitung vertieft.

Der Sanktus hat aus dem Fenster geschaut und mit einem extremen Brechreiz gekämpft. Aber eines war ihm klar: Er würde der Anna ihren Wunsch erfüllen. So viel war sicher. Das hat die Kathi verstehen müssen. Oder …?

Als der Sanktus die Gruppe vor der Brauerei von Weitem gesehen hat, war ihm schon klar, dass der Tag heute ein Satz mit »X« werden würde. Alle in hell- bis dunkelbrauner Kleidung, ein bisserl ins Graue tendierend. Beamte oder Lehrer a. D. hat sich der Sanktus gedacht. Alter 70 plus und fast alle bebrillt.

»San Sie die Gruppe Piepenbrock?«, hat der Sanktus wissen wollen.

»Piepenbrock. Jawohl, Guten Tag. Heiner Piepenbrock mein Name. Dann sind Sie wohl Herr Sanktjohanser, unser Guide? Das sind die Mönkebergs, die Schmidtkes, Herr von Uhlenbusch, Direktor Schlönske mit werter Gattin und last but not least, meine liebe Frau Dora.«

Treffer, Lehrer, ist es dem Sanktus durchs Hirn geschossen.

»I bin da Sanktus, Servus!«

»Wie meinen?«, hat der Piepenbrock gefragt und den Sanktus strafend über seine Halbbrille hinweg betrachtet.

»Ich bin der Sanktus. Sanktus von Sanktjohanser«, hat der Sanktus geantwortet.

»Wohl Sanktus Gambrinus, wa? Nunc est bibendum. Salve pater patriae bibas princeps optime. Jaja. Nockherberg. Wir haben uns vorbereitet, wie Sie sehen. Wir sind nämlich …«

»Lehrer!«, hat der Sanktus den Satz vollendet.

»Woher wissen Sie, Herr Sanktus?«, hat der Piepenbrock gefragt.

»Intuition, Herr … Dings«

»Piepenbrock!«

»Genau!«, hat der Sanktus geschlossen. »Hannover, oder?«

»Schon wieder touché. Auch Intuition?«

»Freilich«, hat der Sanktus gelogen, weil die Herkunft hat er von der Zentrale bekommen, aber das hat der Piepenheiner ja nicht wissen brauchen.

Der Sanktus ist also wieder einmal vor den geheiligten Hallen der »Sternbrauerei«, seiner Lehrbrauerei, wo sozusagen alles begann, gestanden. Das Sudhaus hat kupfern aus den großen Schaufenstern geleuchtet, und der Geruch nach süßer Maische und Hopfen duftender Bierwürze ist ihm entgegengeschwebt. Ein Traum. Gleich werden sie fragen, was da so stinkt, hat sich der Sanktus gedacht.

»Schatzi, was stinkt denn hier so fürchterlich?«, hat die Mönkebergin gefragt, und der Sanktus am Schmunzeln.

»Liebling, das ist das Bier, weißt du«, hat der alte Mönkeberg geantwortet und recht siebengescheit zum Sanktus rüber geschielt. Der hat nur gesagt: »Fast, gell!«, und hat die Gruppe durch den Torbogen des aus rotem Backstein erbauten Brauereigebäudes geschoben.

Im warmen Sudhaus hat der Sanktus erst einmal mit der Begrüßung und der Geschichte der »Sternbrauerei« begonnen. Da es draußen saukalt war, war die Gruppe in ihren faden Gewändern recht warm eingepackt, und so ist ihnen im 40 Grad heißen Sudhaus ganz schön der Schweiß aus den Poren geschossen. Natürlich haben sie es sich nicht anmerken lassen wollen und haben das Schwitzen in Kauf genommen, was den Sanktus beflügelt hat, seine Geschichte in der langen Version, also ganz ausgeschmückt, langsam und verständlich zu erzählen.

»Hase, wie bei der Gilde letztes Jahr, nicht wahr?«, hat die Frau Schlönske geflüstert.

»Jaja. Wie bei der Gilde, Häschen. Nur nicht so groß«, hat der Schlönske geantwortet, und dem Sanktus ist schon der Rauch aus dem Genick raus, aber er hat sich nichts anmerken lassen. Die Geschichte hat daraufhin halt noch ein bisserl länger gedauert. Auch dass der Hanspeter, der inzwischen Biersieder war, aus der Schaltwarte rausgekommen ist und mit dem Sanktus noch geratscht hat, hat das Ganze nicht wirklich beschleunigt. Geschieht euch recht, hat sich der Sanktus gedacht und gelächelt. Am Abend auf ein, zwei Halbe in die »Neue Kirche« ist dann noch mit dem Hanspeter ausgemacht worden.

Jetzt hat der Sanktus die völlig verschwitzten pensionierten Lehrer in den kalten Gär- und Lagerkeller geführt. Sollen sie sich doch den Tod holen, hat sich der Sanktus gedacht. Wie bei der Gilde! Im neuen Gärkeller, in dem man eigentlich nur die trichterförmigen Konen und Ausläufe der in der Betondecke eingehängten Tanks und die mannigfaltigen Rohrleitungen, Ventile und Pumpen gesehen hat, waren die Hannoveraner endlich sprachlos.

»Is das ’ne UFO-Landung?«, hat der Mönkeberg gefragt.

»Nein«, hat der Sanktus geantwortet. »Das ist der technische Minimalstandard in bayerischen Brauereien.«

Ihm war klar, dass es in 90 Prozent der 1200 bayerischen Brauereien nie im Leben so modern ausgesehen hat, aber das haben die Mönkebergs und Piepenheiners ja nicht wissen müssen.

»Wir machen nicht umsonst das beste Bier der Welt.« Also gleich noch einen drauf. »Aber es gibt auch in dieser Brauerei noch traditionelle Ecken. Wenn Sie mir bittschön folgen möchten.«

Und jetzt hinein in den saukalten Lagerkeller. Die Gruppe hat sofort zu frieren angefangen.

Auf ihrem Weg haben sie noch den Master, den Schlauch-Gernot und den Giovanni getroffen. Mit allen hat der Sanktus kurz geratscht, und die Gruppe war dann schon ein bisserl angefressen, weil vor Kälte jetzt schon am Schlottern. Aber das war dem Sanktus so was von wurscht.

Der Giovanni ist gerade in Gummistiefeln und mit Eimer und Schrubber bewaffnet durch das enge Mannloch, das sich an der Stirnseite des zylindrischen Tanks befindet, in einen der alten liegenden Lagertanks eingestiegen und hat begonnen, das Gefäß zu reinigen. »Tankschlupfen« im Brauer-Sprachgebrauch. Wenn du so einen Tank reinigst, musst du ihn erst vom Geläger, das heißt von der durch die Lagerung abgesetzten Althefe befreien und die gasförmige Kohlensäure vorher ausblasen, weil sonst würdest du drinnen ersticken. Wenn du dann im Tank bist, kannst du mit dem Ausspritzen beginnen. Als der Sanktus den Giovanni in dem Tank gesehen hat, hat er wieder an den Riemensberger Erwin und wie sie seinerzeit seine Leiche aus solch einem Tank gezogen haben, denken müssen. Da hat’s ihn gleich gefröstelt.

Der Giovanni hat in Ruhe seinen Tank mit einem Wasserschlauch ausgespritzt, und der Piepenheiner, neugieriger Lehrer, wie er war, hat seinen Beamtenschädel a.D. unbedingt durch das Mannloch hineinstecken müssen. Alles noch in Ordnung, weil drinnen ja Licht, aber dann hat er der Gruppe irgendwas zurufen wollen, hat aber seinen Kopf im Tank gelassen. Grober Fehler, weil wenn du in so einem Behälter schreist, hallt das, dass du Glocken von Rom läuten hörst, und dementsprechend ist der kleine Italiener erschrocken, hat sich mit dem laufenden Wasserschlauch umgedreht und den Piepenheiner-Schädel samt Schultern einmal so richtig runtergewaschen. Der ist natürlich hochgezuckt und hat sich seine Birne mit Schwung am Rand des Mannlochs angehauen. Der Lehrer hat jetzt die Engel singen hören. Wahrscheinlich eine ganze Schubert-Messe. Ankennen hat er sich aber nichts lassen vor dem Sanktus. Er hat die Zähne zusammengebissen, dass du es knirschen gehört hast, und seine Frau hat ihm seine verbliebenen drei Haare mit ihrem Jackenärmel getrocknet. Nun weiter in die Füllerei. Da die Abfüllanlage brandneu und gerade erst in Betrieb genommen worden war, hat der Sanktus gar nicht so oft »Oh wie bei der Gilde« gehört.

Nach der Führung ist der Sanktus samt Gruppe mit der Trambahn an der »Augustiner Brauerei« vorbei zum Stachus gefahren, dann zu Fuß durch das beigefarbene Karls­tor, entlang der Kaufinger Straße bis ins Tal zum Münchner Biermuseum. Dort hat der Sanktus alles über die Münchner Biertradition und Brauereigeschichte erzählt, und die Piepengruppe war ganz Ohr, weil München hat beim Gerstensaft halt doch einiges an Tradition zu bieten. Danach logischerweise nur eine Destination der Wahl. Das Münchner »Hofbräuhaus«. Die Traditions-Bierburg am Platzl war vom Isartor aus in fünf Minuten leicht zu Fuß zu erreichen. Dort angekommen sind der Sanktus und sein Gefolge vor einem riesigen Plakat, das eine Guillotine mit Henker gezeigt hat, stehen geblieben.

Eröffnung der Münchner Folterkammer.

Nach dem Dungeon in London und Hamburg jetzt auch hier in München.

Grauslich und blutverschmiert hat ein Henker von seinem Plakat zum Publikum hinabgeschaut. Highlight: die Jack-the-Ripper-Ausstellung. In Hamburg wäre das der Renner, hat das Plakat vermittelt. Das Ganze sei »Gleich hier in der Nähe des Platzls« ist auf einem leuchtenden Aufkleber gestanden. Links oben war ein ovales Fleckerl freigelassen, aus dem der Investor mit dem Münchner Oberbürgermeister rausgeschaut hat. Grad gegrinst haben sie, und du hast die Tausender und die Touristenzahlen aus ihren Augen geradezu rausleuchten gesehen. Der Sanktus hat genauer hingeschaut, und dann hat ihn der Blitz getroffen. Der Investor war niemand anderes als der Glöckerl Willi, ein alter Bekannter. Schmierig kein Ausdruck. Früher hatte der eine Metzgerei in der Elsässer Straße gehabt. Dorthin hat der Sanktus immer zum Einkaufen müssen. Dem Willi hast du keinen Millimeter über den Weg trauen dürfen. Der war schon als junger Mensch aufs Geld aus gewesen wie der Teufel auf die arme Seele. Wenn der Willi was zu seinem Vorteil ausnutzen hat können, hätte er auch seine Großmutter dafür verkauft. Komisch war nur, dass der nach dem Ligsalz heute schon der zweite alte Bekannte war, an den der Sanktus seit Langem nicht mehr gedacht hatte. Was würde an diesem Tag noch alles auf ihn zukommen?

Der Sanktus hat sich jetzt wegen der Reisegruppe nicht länger vor dem Folterkammerplakat aufhalten können, weil der Piepenheiner hat ihn schon ständig am Ärmel gezupft und ihn in Richtung Wirtshaus gezogen. Kennst du das Gefühl, wenn du eigentlich geistig wo anders bist, dich aber ständig einer piesackt und bei dir brodelt’s schon? Aggression kein Ausdruck. Aber als braver Guide hat der Sanktus natürlich nachgeben müssen, sonst Job wieder weg. So schnell kannst du gar nicht schauen. Also rein ins Vergnügen.

Das Hofbräuhaus kannst du dir wie eine andere Welt, einen Mikrokosmos, also wie eine fremde Galaxie vorstellen. Es ist dampfig, schwül, und du kannst nur Bier und fettes Essen riechen. Da gibt’s jodelnde Japaner, Chinesen in Tracht, singende Australier, kotzende Engländer, weinende Russen. Ein Inder in Lederjacke isst Schweinshaxen mit Pommes und viel Tabasco. Und zwischen all den Attraktionen die Blasmusikkapelle aus Altötting in historischer Tracht und daneben die Lhan, die vietnamesische Bedienung, mit acht Maß in den Händen, weil zwölf schafft sie nicht, das schmächtige Mädel. Authentizität großes Schlagwort im Münchner Hofbräuhaus.

Kaum hatten sie den für die »Gruppe Sanktjohanser« reservierten Tisch erreicht, war schon ein afrikanischer Ober da und hat die Bestellung aufgenommen. Im schönsten afrikanisch angehauchten Bayerisch hat er den Hannoveranern mit Nachdruck erklärt, dass es keine kleinen Biere, ja nicht einmal Halbliter-Krüge gäbe, sondern nur Maßen.

»Mia samma da in de Hofbrauhouse, ned in de Kindergarden!«, hat der Timothé ihnen zu verstehen gegeben. Daraufhin haben sich die Piepenheiners breitschlagen lassen und haben jeder eine Maß bestellt.

Lang hat’s nicht gebraucht, bis die Damen gehen wollten. Die Männer hätten schon noch das eine oder andere Bier vertragen, aber die Frauen – na ja, du weißt schon.

Am frühen Abend ist der Sanktus am Tresen seiner Stammkneipe, der »Neuen Kirche«, gesessen und hat andächtig in die Schaumblasen seiner Sternbräu-Weißen gestarrt. Dann hat er die Augen zugemacht und wie immer das Aroma durch seine Nase tief eingesogen. Fruchtiger Duft, gepaart mit einer säuerlichen Frische. Ein obergäriger Traum. Jetzt den Kopf in den Nacken, weil sonst hast du ja den Schaum in der Nase, und das kühle Bier geräuschvoll, prickelnd durch die Zähne hinunter. Danach hat der Sanktus wieder in sein Glas geschaut. Er hat sich zwar schon durchgerungen gehabt, dass er die Ermittlungen im Fall Susi aufnehmen würde, schon allein wegen der Anna, aber so eine gewisse Restunentschlossenheit war halt noch da. Wenn du den Sanktus kennst, weißt du ja eh, dass ihm dieser Gemütszustand in jeder Lebenslage mehr als eigen war. Anna oder Kathi? Himmel oder Hölle? Hölle eigentlich auf jeden Fall, weil recht hat er es immer nur einer machen können. Das würde einen gewaltigen Erklärungsmarathon geben. Egal bei welcher Entscheidung.

»Was sinnierst denn wieder?«, hat die Ramona, die Bedienung der »Neuen Kirche«, wissen wollen. »So wennst schaust, ist’s immer gfährlich. Grad a so wie seinerzeit beim Mord am Hias.«

Und schon war sie wieder weg.

»Hmm«, war alles, was der Sanktus von sich gegeben hat.

Plötzlich ist der Hanse, also eigentlich der Bhupinder, der indische Koch, vor ihm gestanden und hat ihn mit einem breiten Grinsen angeschaut.

»Oh, hallo Sanktus. Wie gehte dir? Du gug so sad today. What happened? What is los, Sanktus? Dir geht nick guad?«

»Mei, Hanse. Heut is der Wurm drin. Des dauert jetzt zu lang, bis ich dir des erklär.«

»Mackt nicks«, hat der Bhupinder gesagt. »Du wirst glei wieder lächeln. Meine Nickte Ashwini is su Besuck in Munich. Ick stell sie dir glei vor. Ashwini!«

Na bravo, hat sich der Sanktus gedacht. Jetzt muss er sich auch noch mit dem seiner indischen Nichte abgeben. Als ob der Tag nicht eh schon …

Aber dann ist sie auf einmal vor ihm gestanden, die Ashwini, eine hübsche junge Inderin, mit einem petrolblau leuchtenden Sari und hat ihn mit ihren großen dunklen Augen angeschaut, dass der Sanktus gleich ganz weiche Knie gekriegt hat. Das war ein Lächeln, der Wahnsinn. Ja verreck, war das ein sauberes Mädl, sein einziger Gedanke. Verreck Kaffeehaus. Und eine Figur! Der Sanktus jetzt ganz hin und weg. Langsam hat er an ihr von oben bis unten entlang geschaut. Die Ashwini ist trotz der kühlen Außentemperaturen mit Sandalen herumgelaufen. Der Sanktus, wie du weißt, ist ja auf schöne Zehen gestanden, und die von der Ashwini waren ganz vorne dabei. Er muss sauber blöd drein geschaut haben, weil ihn die Ashwini gefragt hat: »Ist was mit meinen Füßen?«

Der Sanktus jetzt vom Blitz getroffen und roter Kopf Anfänger.

»Sanktus, angenehm«, hat er gestammelt.

»Ashwini, genau soviel. Griaß di«, hat sie in lupenreinem Bayerisch geantwortet. Jetzt zweiter Blitz! Diese Frau, diese Füße und auch noch Bayerisch. Das hat doch gar nicht wahr sein können. Der Sanktus nun Blick wie ein Mondkalb. Die Ashwini hat nur gelacht und gesagt: »Gell, da schaust. Ich hab bei einer Münchner Familie in Bangalore gearbeitet. Da hab i Bayerisch glernt. Mein Onkel hat mir scho viel von dir erzählt. Aber jetzt muass i wieder was tun. Hat mi g’freit. Bis später. Servus!« Der Sanktus jetzt nur noch baff.

Die aufgehende Tür hat den Sanktus dann aus seinen Gedanken gerissen, weil ihm trotz des vorhangähnlichen roten Windfangs eine kalte Luft um die Füße gestrichen ist. Und schon ist der Kommissar Bichlmaier, genannt der »Bichä«, aus dem roten Tuch praktisch erschienen.

»Ja der Bichä, Servus!«, hat der Sanktus durch die ganze Kneipe gerufen. Hat nichts ausgemacht, weil noch früh und Wirtshaus praktisch leer.

»Jaja, der Bichä! Griaß di, Sanktus. So ein Zufall«, hat der Bichlmaier geantwortet. »Was schaust denn so verdattert?«

»Die Ashwini«, hat der Sanktus gesagt und in Richtung Küche gedeutet.

»Ashwini?«

»Eine Inderin, die Bayerisch kann!«

»Ja, Sanktus. Genau. Du, trink einfach ned so viel. Und, wia geht’s sonst, alter Haudegen?«

»Drei bis vier«, hat der Sanktus geschätzt und immer noch den Kopf geschüttelt.

»Mehr ned?«

»Naa, eher weniger. Schwester gegen Frau, koa Gaudi.«

»Soso. Wie genau, wenn man fragen darf?«

»Darfst du.«

»Und?«

»Bichä, kann das sein, dass du mich a bisserl für deppert haltst?«

»Ich? Dich? Meinst?«

»Ja, du mich. Du hast doch gestern die Anna verhört, weil sie die Susi gefunden hat. Und da kannst du dir doch deinen Teil denken, oder?«

»Ein bisserl schon.«

»Also ned!«

»Was ned?«

»Ein Zufall«, hat der Sanktus bestimmt.

»Okay. Ich geb’s zu. Ich möcht wissen, was die Anna zu dir gsagt hat, und ob sie will, ob du …«

Doch weiter ist der Bichlmaier nicht gekommen, weil sich in diesem Moment der Windfang noch einmal geöffnet hat, und der Drengler, also der Dr. Jens Engler, ist hereingebeamt worden. Raumschiff Enterprise Scheißdreck dagegen.

»Hallihallo, alle Mann an Bord?«, hat er winkend gerufen und hat sich seinen Schal vom Hals gerissen wie einer, wenn er einen Rasenmäher starten möchte. Den Kaschmirmantel hat er, wie ein Torero sein rotes Tuch, auf den Garderobenhaken geworfen.

Dem Sanktus ist wie immer ein »Um Gottes willen« entfahren. »Jetzt kommt der Depp auch noch daher.«

»Und was sagt ihr? Überraschung!«

»Wunderbar«, der Sanktus und der Bichlmaier im Chor.

»Ich hatte bei Katharina angerufen gehabt. Wollte nur mal kurz durchklingeln, wie es euch geht. Sie sagte mir, du seist hier. Aber mit dem Hanspeter. Aber dass der Pichi auch da ist, finde ich ja ganz faszinierend. Fast wie letztes Jahr. Das ganze Team. Famos, famos. Jolanda, bitte ein stilles Selters und ein schönes Glas Chardonnay. Oder nee, lieber ’nen Sauvignon Blanc. Äh, Ramona, sorry!«

Der Sanktus und der Bichlmaier haben betreten auf den Boden geschaut.

»Wo bleibt denn der Hanspeter?«, hat der Sanktus gemurmelt.

»Genau«, ist der Bichlmaier fortgefahren. »Das ist der Einzigste, der diesen Trottel im Griff hat.«

»Der Einzige, ned der Einzigste, Bichä.«

»Gscheithaferl. Aber recht hab ich.«

»Stimmt! Der hat ihn im Griff«, hat der Sanktus geflüstert.

Der Drengler hat seinen Sauvignon gekriegt und sich zu den beiden an den Tresen gesetzt.

»Ach, gestern war ich geschäftlich bei einer Wein-Degustation. Ich sage euch, die hatten edle Tropfen. Grand Crus aus dem Bordeaux von bekannten, aber auch unbekannten Châteaus.« Jetzt hat er so einen verschwörerischen Blick drauf gehabt. »Ach, das war ein Gaumen-Verwöhn-Event. Ich komme heute noch nicht aus dem Schwärmen heraus. Also Ulrike war ja auch dabei. Sie ist noch ganz eingenommen von …«

»Jens«, hat ihn der Sanktus unterbrochen. »Dein Wein wird warm. Trink amal.«

»Ach ja. Genau. Oh, ooooh. Der korkt aber heftig!«, hat der Drengler gewinselt und so einen Schweppes-Blick zutage gefördert.

»Jens?«

»Ja, Sanktus?«

»Der Wein hat einen Schraubverschluss. Host mi?«

»Oh«, hat der Drengler nur noch kleinlaut von sich gegeben.

Das Ganze hat aber nur wenige Sekunden angehalten, und der Bichlmaier hat gerade etwas sagen wollen, da hat der Drengler aus vollem Hals geplärrt: »Und, habt ihr diesen Münchner Ripper schon gefasst, ihr beiden? Sagt mal an.«

In diesem Moment ist der Hanspeter in die Wirtschaft hereingekommen.

»Hallöle, so da bin i«, hat er geflötet. »Es isch leider a bissle später worden. Mei Annouk, die hat heut auf ihre Theaterprobe gehen müssen, und da muss i halt na immer … Aber, ja. Lass ma des. Ah, der Herr Kommissar und der Herr Dr. Engler, entschuldige, der Jens, sind au da. Des freut mich aber. Wie seinerzeit. Könnt ma fascht meinen, mia han uns troffen, dass ma den Ripper finden? Heiligs Blechle. Des wenn i meiner Annouk erzähl!«

»Ja Kruzifix!«, ist es dem Sanktus entfahren. »Jetzt fangt der auch no an!«

»Was schreisch denn so? War doch nur a Späßle.«

»Er schreit, weil ihn seine Schwester zum Ermitteln animieren will, seine Kathi dagegen ist, und weil er es vor mir nicht zugeben möcht«, hat der Bichlmaier kurz zusammengefasst. »Stimmt’s, Sanktus?«

»Ja, weil s’ halt schwanger is!«, hat sich der Sanktus gerechtfertigt. »Da sind s’ halt hormongesteuert, die Weibsn. Nix kannst recht machen und irgendeine ist dir immer beleidigt. Ramona! Noch ein Weißbier bitte! Und akkurat meine Schwester muss die Leiche von der Susi finden.«

Der Drengler und der Hanspeter jetzt sprachlos, aber mit einem gewissen Leuchten in den Augen. Abenteuerlust praktisch direkt sichtbar.

»Und warum bist du heut da, Bichä? Weil du wissen willst, ob ich mich wieder einmal in einen Fall von dir einmisch, oder was?«, hat der Sanktus wissen wollen.

»Ob wir uns einmischen«, haben die beiden anderen im Duett gesungen.

»Genau. Eigentlich eher, dass ich dir, also jetzt euch, klar mach, dass sich keiner einmischt«, hat der Kommissar mit forscher Stimme verkündet. »Wir haben es vielleicht oder sogar sehr wahrscheinlich mit einem Serienmörder zu tun, der äußerst brutal vorgeht. Das ist kein so ein Brauereikiller, oder so ein … äh … Dings wie die letzten beiden Male. Das ist ein psychisch gestörter Gewaltverbrecher!«

Die drei anderen Gesprächspartner haben sich gegenseitig angesehen und gegrinst.

»Ja, somit schaffen Sie das ja gar nicht ohne uns, Pichi!«, hat der Drengler festgestellt.

»Doch«, hat der Sanktus gelästert. »Der hat ja noch seinen Assistenten, den Herrn Demuth. Gell, Bichä, der ist dir eine große Hilfe.«

Der Hanspeter hat gegluckst, und der Kommissar hat ein verdrießliches Gesicht gemacht.

»Aff!«, hat er geschossen.

»Oiso, Bichä. Erzähl!«

Der Kommissar hat noch einmal geseufzt und mit den Schultern gezuckt, gelächelt und hat losgelegt.

»Bringt ja eh nix.«

»Des is jetzt aber schneller als erwartet gangen, Bichä«, hat der Sanktus gemeint.

»Halt, halt! Also dass wir uns verstehen. Ich plauder ein bisserl aus dem Nähkästchen, aber ermittelt wird nicht.«

Nicken seitens des Triumvirats. Jaja heißt ja bekanntlich »Leck mich am Arsch!«

»Also wir sind vor einer Woche nach Geiselgasteig gerufen worden. Ein Unfall am Set von dieser Serie da, des ›München bleibt München‹. Ein kompletter Schmarrn, wenn du mich fragst. Wie wir hingekommen sind, war dort heller Aufruhr. Wachpersonal, Hausmeister und andere Leute sind da umeinander gehüpft. Die haben an dem Tag eine Szene in einer Autowerkstatt gedreht, und da war ein Flaschenzug. So ein manueller, so eine Kette. An der Kette ist eine Frau, durch einen Scheinwerfer angestrahlt, mit dem Kopf nach unten gehangen. Unter ihr eine riesen Blutlache und darin ihre kompletten Innereien. Darm, Herz, Lunge, Nieren. Die war komplett ausgenommen, und ihre Kehle war sauber durchgeschnitten. Ein Anblick, furchtbar, ich kann’s euch gar nicht beschreiben. Der Demuth ist fast ohnmächtig geworden. Der Geruch, wissts? Grausig. Der Mörder hat den Bauchraum vom Schambereich nach oben, also in dem Fall unten, bis zu den Rippen geöffnet. Wenn ein Metzger eine Sau absticht, öffnet er auch noch den Brustkorb. Dazu hat er aber anscheinend kein Werkzeug oder keine Zeit mehr gehabt. Wir haben alle am Tatort befragt. Das war eine ganze Portion, weil sie nebenan einen Film gedreht haben. Einen ›Tatort‹. Passt wie die Faust aufs Auge. Da hat die Dings, die eine da, mitg’spielt. Wisst’s es schon, wen ich mein?«

Jetzt eher verwirrte Blicke.

»Na, die die früher immer in dene Serien mitg’spielt hat und jetzt im Alter groß rauskommt. Die mit dem Heilpraktiker.«

»Die Cornelia Sandmann? Die ist doch ständig in den Medien. Schirmherrschaft hier, Schirmherrschaft da«, hat der Sanktus gefragt.